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Die Zusammenbruchstheorie Rosa Luxemburgs und die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise

Authors:
Die Zusammenbruchstheorie Rosa Luxemburgs
und die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise
Halil Güveniş, Istanbul
E-mail: guevenis@rocketmail.com
Abstract
In the present paper we show on the basis of national accounts that the accumulation problem
discovered by Rosa Luxembourg really exists and that it can be solved only if – in contrast to
Rosa Luxembourg – the state is identified as the ‘third person’ searched by her. Furthermore,
we show on the long-term behavior of the economic development in FRG, Japan and USA
that the development of capitalism has now reached a stage where the fundamental
accumulation problem has no more a possible capitalist solution and that on the long-term the
global bankruptcy threatens and finally a new economic system will be formed, which starts
from zero growth and vanishing net investments.
Zusammenfassung
In der vorliegenden Arbeit zeigen wir auf der Grundlage der volkswirtschaftlichen Gesamt-
rechnungen, dass das von Rosa Luxemburg entdeckte Akkumulationsproblem real existiert
und dass es nur gelöst werden kann, wenn – im Unterschied zu Rosa Luxemburg – der Staat
als die von ihr gesuchte ‚dritte Person’ identifiziert wird. Ferner zeigen wir am Langzeitver-
halten der Wirtschaftsentwicklung in BRD, Japan und USA, dass die Entwicklung des Kapita-
lismus heute eine Stufe erreicht hat, auf der das grundsätzliche Akkumulationsproblem keine
kapitalistische Lösungsmöglichkeit mehr besitzt und dass langfristig der globale Staatsbank-
rott droht und zum Schluss eine neue Wirtschaftsform entstehen wird, die vom Nullwachstum
und von verschwindenden Nettoinvestitionen ausgeht.
2
Einleitung
Mit der Veröffentlichung ihres Hauptwerks ‚Die Akkumulation des Kapitals’ leitete Rosa Lu-
xemburg eine Diskussion ein, die auch heute nicht als abgeschlossen gelten kann. Zwar be-
haupten Rosa Luxemburgs Kritiker seit langem, ihre Überlegungen zur Kapitalakkumulation
widerlegt zu haben und behandeln daher ihre Schrift als nur noch historisch von Interesse,
doch soll im Folgenden der Nachweis geführt werden, dass diese Widerlegungen an den Tat-
sachen vorbeigehen und dass es notwendig ist, diese Problematik erneut aufzurollen und eine
befriedigende Antwort auf die von Rosa Luxemburg aufgeworfenen Fragen zu geben.
Die Kritiker Rosa Luxemburgs greifen vornehmlich Fehler und Mängel in den von ihr aufge-
zeigten Lösungen an und vergessen dabei, sich der grundsätzlichen Fragestellung zuzuwen-
den, wie in einer Mehrwert produzierenden Gesellschaft eine vollständige Reproduktion ü-
berhaupt möglich sein könne. Deshalb möchten wir im ersten Teil dieser Arbeit auf der
Grundlage der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen zeigen, dass das von Rosa Luxem-
burg entdeckte Akkumulationsproblem real existiert und dass es nur gelöst werden kann,
wenn – im Unterschied zu Rosa Luxemburg – der Staat als die von ihr gesuchte ‚dritte Per-
son’ identifiziert wird.
Diese grundsätzliche Behandlung der Luxemburgschen Fragestellung zieht für die aktuelle
Weltwirtschaftskrise wichtige Schlussfolgerungen nach sich. Es geht um die Frage, inwiefern
die heutige Weltwirtschaftskrise im Unterschied zu früheren das kapitalistische Weltsystem
grundsätzlich vor das von Rosa Luxemburg benannte Akkumulationsproblem stellt, inwiefern
also die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise im Sinne von Rosa Luxemburg als der Beginn der
Zusammenbruchskrise des Kapitalismus interpretiert werden kann und muss. Dem Nachweis,
dass die Entwicklung des Kapitalismus heute eine Stufe erreicht hat, auf der das grundsätzli-
che Akkumulationsproblem keine kapitalistische Lösungsmöglichkeit mehr besitzt, ist der
zweite Teil dieses Aufsatzes gewidmet. Wir zeigen am Langzeitverhalten der Wirtschaftsent-
wicklung in BRD, Japan und USA, dass langfristig der globale Staatsbankrott droht und zum
Schluss eine neue Wirtschaftsform entstehen wird, die vom Nullwachstum und von ver-
schwindenden Nettoinvestitionen ausgeht.
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1. Das Einzelkapital
Der Ausgangspunkt bei Rosa Luxemburg ist ein System, das als Abstraktion nur aus Arbei-
tern und Kapitalisten besteht. Dabei ist diese Abstraktion nicht willkürlich, sondern sie be-
handelt die Grundvoraussetzung kapitalistischer Produktion, indem von Besonderheiten ver-
schiedener kapitalistischer Gesellschaften (z. B. von feudalen Relikten, Zwischenschichten)
bewusst abgesehen wird.
Zwischen Arbeitern und Kapitalisten findet folgender Prozess statt: Der Kapitalist schießt
zunächst das konstante Kapital c vor und kommt damit in den Besitz der Produktionsmittel.
Anschließend kauft er auf dem Arbeitsmarkt mit dem variablen Kapital v (Lohn) Arbeits-
kräfte für eine begrenzte Zeit. Genauer gesagt für den Zeitraum, bis die erworbenen Produkti-
onsmittel durch Abnutzung unbrauchbar geworden sind. Mit Arbeitern und Produktionsmit-
teln steigt der Kapitalist in den Produktionsprozess ein und presst dabei aus den Arbeitern
zusätzlich zum vorgeschossenen, variablen Kapital v den Mehrwert m heraus. Die während
dieses Zeitraumes erzeugten Waren haben demnach den Wert
w = c + v + m . (1.1)
Er verkauft diese Waren auf dem Markt entweder an andere Kapitalisten oder an Arbeiter, um
am Ende des Zeitraumes erneut Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu erwerben und damit
einen neuen Produktionszyklus zu beginnen. Dieser erneute Zyklus stellt eine erweiterte Pro-
duktion dar, wenn der Kapitalist den erwirtschafteten Mehrwert ganz oder teilweise zum An-
kauf von zusätzlichen Arbeitskräften und Produktionsmitteln verwendet. Eine erweiterte Pro-
duktion findet nicht statt, wenn der Kapitalist den Mehrwert ausschließlich zu Zwecken des
Konsums verwendet. Deshalb lässt sich der Mehrwert m generell in zwei Teile aufspalten:
m = m
Akk + mKm (1.2)
Hierbei ist mKm der vom Kapitalisten konsumierte Teil des Mehrwerts, während mAkk der
Teil des Mehrwerts ist, der wieder dem Kapital zugeschlagen, also akkumuliert wird.
4
Der akkumulierte Teil besteht wiederum aus zwei Teilen:
mAkk = mc + mv , (1.3)
wobei mc dem Kapitalisten zum Kauf zusätzlicher Produktionsmittel dient und mv zum
Kauf zusätzlicher Arbeitskräfte. Bei einem gegebenen Stand der Produktivkräfte gibt es für
jeden Produktionszweig ein spezifisches Verhältnis von c und v , das heißt eine spezifische
organische Zusammensetzung des Kapitals q . Eine Erweiterung der Produktion muss sich
diesem Verhältnis ebenfalls fügen, sodass gilt:
q = c / v = mc / mv (1.4)
Gleichung (1.4) hat jedoch nur Gültigkeit, wenn keine Entwicklung der Produktivkräfte statt-
findet, was konkret bedeutet, dass jeder Produktionszyklus mit der gleichen Technologie aus-
gestattet ist wie der vorangehende. Mit der Entwicklung der Technologie ergibt sich jedoch
die Möglichkeit der Rationalisierung der Produktion. Der Einsatz der Technologie bedeutet
für den Produktionsprozess, dass Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Genauer gesagt: Für
das gleiche Quantum konstantes Kapital c ist durch Rationalisierung ein geringeres Quantum
variables Kapital v notwendig. Durch technologische Entwicklung steigt also die organische
Zusammensetzung des Kapitals q an.
Damit lässt sich die Entwicklung von erweiterten Produktionszyklen bei gleichzeitigem tech-
nologischem Fortschritt folgendermaßen darstellen: Die Produktion kann mit einem neuen
Zyklus beginnen, wenn auf dem Markt der Wert
w = c + v + mc + mv + mKm (1.5)
realisiert ist und die Bedingung
mc / mv > c / v (1.6)
erfüllt wird. – Vom Standpunkt des Einzelkapitalisten könnte dieser Prozess bis in alle Ewig-
keit dauern.
5
2. Das Gesamtkapital
Während es vom Standpunkt des Einzelkapitalisten aus gesehen keinen Grund gibt, warum
der Produktionsprozess ins Stocken geraten könnte, ergibt sich vom Standpunkt des Gesamt-
kapitals aus gesehen, dass die Summe aller Produktionsprozesse nur dann Bestand haben
kann, wenn im gesellschaftlichem Maßstab die sogenannte Reproduktionsbedingung erfüllt
ist. Die Ableitung dieser Reproduktionsbedingung ergibt sich aus der stillschweigend ge-
machten Voraussetzung, dass jeder Einzelkapitalist, um in die Produktion einzusteigen, Pro-
duktionsmittel und Arbeitkräfte vorfinden muss. Das heißt, im vorangegangenen Produkti-
onsprozess muss gesamtgesellschaftlich eine bestimmte Anzahl von Produktionsmitteln er-
zeugt worden sein und gleichfalls müssen die Arbeiter durch den Konsum von Nahrungsmit-
teln etc. in den Stand versetzt worden sein, ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten zu können.
Da v und c nur optimal genutzt werden können, wenn sie in einem bestimmten Verhältnis
auftreten ( = organische Zusammensetzung des Kapitals q ), muss gesamtgesellschaftlich ein
ebenso bestimmtes Verhältnis der Erzeugung von Produktions- und Konsumtionsmitteln be-
stehen. Daraus ergibt sich eine Einteilung der gesamten Wirtschaft in eine Abteilung, in der
Produktionsmittel erzeugt werden und in eine andere Abteilung, in der Konsumtionsmittel
hergestellt werden.
Gesetzt den Fall, dass in einem Produktionszyklus beide Abteilungen im Gleichgewicht sind,
dass also die optimale Aufteilung beider Abteilungen gegeben ist, dann ist für den Erhalt des
optimalen Verhältnisses im nächsten Zyklus das folgende Schema anzuwenden: Der gemittel-
te Gesamtausstoß beider Abteilungen ergibt sich nach (1.5) zu
I. WPm = CPm + VPm + McPm + MvPm + MKmPm
(2.1)
II. WKm = CKm + VKm + McKm + MvKm + MKmKm .
Die Akkumulationsbedingung lautet nun, dass der Ausstoß der Abteilung I , die Produkti-
onsmittel herstellt, gerade so groß sein muss, wie alle in Abteilung I und II benötigten Pro-
duktionsmittel, dass weiterhin der Ausstoß der Abteilung II , die Konsumtionsmittel erzeugt,
genauso groß sein muss wie die Nachfrage nach Konsumtionsmitteln durch die Kapitalisten
und Arbeiter aus beiden Abteilungen. Konkret: Der Wert aller erzeugten Produktionsmittel,
also WPm , muss gleich sein der Summe aller in (2.1) auftretenden Glieder, die konstantes
6
Kapital bezeichnen (also CPm , McPm , CKm , McKm ). Analoges gilt für WKm , sodass sich
aus (2.1) die folgende Akkumulationsbedingung gewinnen lässt:
WPm = CPm + McPm + CKm + McKm
(2.2)
WKm = VPm + MvPm + MKmPm + VKm + MvKm + MKmKm
Aus den beiden Gleichungssystemen (2.1) und (2.2) ergibt sich durch Gleichsetzen von
WPm(2.1) = WPm(2.2) beziehungsweise durch Gleichsetzen von WKm(2.1) = WKm(2.2) die Akku-
mulationsbedingung, die notwendig erfüllt sein muss, wenn gesamtgesellschaftlich die beiden
Abteilungen im Gleichgewicht stehen sollen:
C
Km + McKm = VPm + MvPm + MKmPm (2.3)
Zur reibungslosen Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse muss genau
dieses Reproduktionsschema erfüllt sein.
3. Das Akkumulationsproblem bei Rosa Luxemburg
Wir kommen nun zur eigentlichen Fragestellung von Rosa Luxemburg. Vorauszuschicken ist,
dass sie die bislang aufgestellten Gleichungen in der hier dargestellten Form nicht kannte.
Unter Verwendung dieser Gleichungen ist es jedoch möglich, wesentlich prägnanter den Ge-
dankengang Luxemburgs nachzuvollziehen. Deshalb haben wir eine Form der Darstellung
gewählt, die sich auf die genannten Gleichungen stützt.
Den Gedankengängen Luxemburgs folgend ist die Gleichung (2.3) grundsätzlich nicht erfüll-
bar, denn angetrieben von dem Streben nach Konkurrenzfähigkeit, rationalisieren die Kapita-
listen die Produktion. Das heißt, die organische Zusammensetzung des Kapitals c / v
wächst. Die Erweiterung der Produktion lässt c und v ansteigen, jedoch die Rationalisie-
rung sorgt dafür, dass c schneller steigt als v . Da jedoch in Gleichung (2.3) auf der linken
Seite nur Glieder stehen, die das konstante Kapital c betreffen und auf der rechten Seite nur
Glieder, die das variable Kapital v betreffen, ergibt sich aus einem rascheren Wachstum von
c im Vergleich zu v , dass die linke Seite der Gleichung ebenfalls rascher wächst als die
7
rechte, sodass das Gleichgewichtszeichen in (2.3) schon nach einem Produktionszyklus nicht
mehr gelten kann.
Damit ergibt sich für Rosa Luxemburg ein grundsätzliches Problem: Auf der einen Seite ist
ein System aus Arbeitern und Kapitalisten bestehend überhaupt nicht lebensfähig, da sich kein
Gleichgewichtszustand herstellen lässt, auf der anderen Seite hat der Kapitalismus durch seine
bloße Existenz bewiesen, dass er funktioniert (wenn auch mit der Einschränkung periodischer
Krisenerscheinungen, die jedoch bisher nicht zum Zusammenbruch des Systems geführt ha-
ben). Zur Lösung dieses Problems schlägt Rosa Luxemburg vor, die auf dem kapitalistischen
Markt fehlenden Abnehmer von Konsumgütern im nichtkapitalistischen Milieu zu suchen. Sie
behauptet, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse seien nur deshalb von Bestand, weil
der kapitalistische Markt im Austauschverhältnis mit dem nichtkapitalistischen Milieu (also
vor allem mit den peripheren Ländern) steht. Der Kapitalismus werde zusammenbrechen,
sobald die nichtkapitalistischen Märkte erschöpft sind. Daraus ergibt sich auch ihre Erklärung
des Imperialismus als ein Kampf der kapitalistischen Metropolen um nichtkapitalistische Ab-
satzmärkte.
Bevor wir unseren Standpunkt zu den Luxemburgschen Überlegungen im Einzelnen darstel-
len, wollen wir nun kurz die wichtigsten Einwände darlegen, die bislang gegen Luxemburg
vorgebracht wurden.1 Dabei beschränken wir uns auf den Hauptkritikpunkt, durch den ver-
sucht wurde, die Luxemburgsche Argumentation grundsätzlich zu widerlegen, das heißt, ihr
nachzuweisen, dass die Gleichung (2.3) auch in einem aus Kapitalisten und Arbeitern beste-
henden System erfüllt werden kann. Der Hauptkritiker zu Lebzeiten Luxemburgs, Otto Bauer,
versuchte dies rechnerisch an den Reproduktionsschemata nachzuweisen.2 Allerdings kam er
hierbei in gewisse Schwierigkeiten mit dem richtigen Verhältnis der Kapitalmassen in beiden
Abteilungen, weil er annahm, der in einer Abteilung produzierte Mehrwert müsse wieder in
dieser Abteilung realisiert werden. Hierzu schreibt Ernest Mandel:
„Alle die genannten Autoren setzen grundsätzlich voraus, dass sich das Verhältnis des Werts der Pro-
duktion und der Produktionskapazität zwischen beiden Abteilungen nicht ändert, während die Nach-
frage nach Waren der Abteilung II, infolge der steigenden Mehrwertrate und der wachsenden organi-
schen Zusammensetzung des Kapitals, natürlich langsamer wächst als die Nachfrage nach Waren der
Abteilung I. Dadurch ist die Krise unvermeidlich. Aber diese konstante ‚technische Proportion’ (Otto
1 Paul M. Sweezy: Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Frankfurt, 1976; S. 239ff.
Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus. Frankfurt, 1974; S. 23ff.
Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’. Frankfurt, 1968.
2 Otto Bauer: Die Akkumulation des Kapitals, in: Die Neue Zeit, 31. Jahrgang, Band II, Nr. 27.
8
Bauer spricht von einem ‚technischen Koeffizienten’) zwischen dem Zuwachs der Produktion der Ab-
teilung I und der Produktionskapazität der Abteilung II (Sweezy) oder den zur Herstellung der zusätz-
lichen Produktionsmitteln (Bauer) ist keineswegs bewiesen.
Die Tatsache, dass eine beschleunigte Entwicklung der Abteilung I über die gesamtwirtschaftliche
Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals auch die Produktionskapazität der Abtei-
lung II vergrößern muss, beweist noch nicht, dass die Produktionskapazität der beiden Abteilungen im
selben Verhältnis steigen muss. Verändert sich aber dieses wechselseitige Verhältnis der Kapazitäten,
so kann bei stark gestiegener gesamter Warenproduktion eine verstärkte Nachfrage nach Waren der
Abteilung I durchaus von einer absolut, wenn auch in geringerem Maße gestiegenen Produktionska-
pazität begleitet sein, ohne dass Überproduktion oder Überkapazität die Folge sein muss.“3
Diese Argumentation scheint schlüssig und vom Standpunkt des Mathematikers ist ihr nicht
beizukommen, denn eine Gleichung wie (2.3) , die aus fünf additiven Gliedern besteht, macht
es immer möglich, vier der Glieder willkürlich zu wählen und dann ein fünftes Glied zu fin-
den, mit dem die Gleichung erfüllt ist. Der simpelste Fall wäre, MKmPm als fünftes Glied zu
wählen: gleichgültig, wie schnell die linke Seite der Gleichung auch steigen mag, es findet
sich immer ein MKmPm , sodass die Gleichung erfüllt ist. Das heißt, wenn die Kapitalisten der
Abteilung I (Produktionsmittelherstellung) ihren Konsum nur kräftig genug ausdehnen, so
lässt sich die Gleichung (2.3) immer erfüllen.
Ganz analog lässt sich auch MvPm als fünftes Glied auffassen. Zunächst heißt dies, dass sich
immer eine Summe an variablem Kapital im Produktionsmittelsektor finden lässt, die die
Gleichung erfüllt. Rein rechnerisch ist es also möglich, sei es durch eine Zunahme der Ar-
beitskräfte oder der Löhne, MvPm den Erfordernissen der Gleichung (2.3) anzupassen. Zu
diesem Schluss kommt auch Sweezy, wenn er über Rosa Luxemburg schreibt:
„Das Dogma, das sie niemals in Frage stellt, nämlich dass die Konsumtion der Arbeiter niemals den
Mehrwert realisieren kann, impliziert, dass der gesamte Betrag an variablem Kapital und also die
Konsumtion der Arbeiter immer, wie in der einfachen Reproduktion, konstant bleiben müssen. Tat-
sächlich aber bringt die Akkumulation typischerweise einen Zuwachs zum variablem Kapital mit sich,
und wenn dieses zusätzliche variable Kapital von den Arbeitern ausgegeben wird, realisiert es einen
Teil des Mehrwerts, der die physische Gestalt von Konsumgütern hat … Wenn man ihre Prämisse über
die Konstanz der Konsumtion akzeptiert, wäre dies zweifellos richtig … fortgesetzte Zuschläge zu den
Produktionsmitteln würden dann wirklich ‚ein Karussell, das sich in leerer Luft um sich selbst dreht’
sein.“4
3 Ernest Mandel: a.a.O., S. 33f.
4 Paul M. Sweezy: a.a.O., S. 241f .
9
Das Problem der Beweisführung gegen Luxemburg sowohl bei Mandel als auch bei Sweezy
liegt darin, dass sie rein rechnerisch feststellen, dass sich die Gleichung (2.3) lösen lasse
(was mathematisch gesehen eine Trivialität ist), dann aber darauf verzichten, den nächsten
notwendigen Schritt zu tun, nämlich die Frage zu stellen, ob die rechnerische Lösung im Ka-
pitalismus eine real mögliche ist. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nicht mehr aus dem
Reproduktionsschema, denn dieses verdeutlicht nur, was erfüllt sein müsste, um den Kapita-
lismus beständig funktionsfähig zu halten, nicht aber, ob die Dynamik der kapitalistischen
Entwicklung sich auch dementsprechend verhält.
Dies ist auch der Standpunkt Rosa Luxemburgs, wenn sie über das Marxsche Reproduktions-
schema schreibt:
„Hier ist es aber an der Zeit aufzupassen, ob wir nicht deshalb zu so erstaunlich glatten Resultaten
gelangen, weil wir immer bloß gewisse mathematische Übungen mit Addition und Subtraktion ma-
chen, die keine Überraschungen bieten können, und ob die Akkumulation nicht deshalb so ins Unend-
liche störungslos verläuft, weil das Papier sich geduldig mit mathematischen Gleichungen beschrei-
ben lässt. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, sich nach konkreten gesellschaftlichen Bedingungen
der Akkumulation umzusehen.“5
Dennoch sind die Überlegungen von Mandel und Sweezy von Interesse, denn aus ihnen geht
hervor, welcher Bereich der kapitalistischen Produktion auf seine Bewegungsgesetze hin un-
tersucht werden muss, um eine Antwort auf die Erfüllbarkeit des Reproduktionsschemas zu
geben – nämlich: das variable Kapital.
4. Schranken für das variable Kapital
Die gesamtgesellschaftliche Summe des variablen Kapitals ergibt sich aus der Zahl der Ar-
beitskräfte einerseits und aus der durchschnittlichen Höhe ihrer Löhne andererseits. Dabei ist
im Reproduktionsschema zunächst nur das variable Kapital in der Produktionsmittelindustrie
( VPm + MvPm in Gleichung (2.3) ) von Interesse. Da jedoch der Kapitalismus es dem Arbei-
ter freistellt, an wen er seine Arbeitskraft verkauft, ergibt sich eine Tendenz zur Angleichung
des Lohnniveaus in beiden Abteilungen, sodass realistischerweise das gesamte variable Kapi-
tal einer Gesellschaft zu betrachten ist.
5 Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, in: Gesammelte Werke, Bd.5. Berlin, 1981; S. 91.
10
Von den beiden Grundgrößen (Zahl der Arbeitskräfte und Lohnhöhe) soll zunächst die Lohn-
höhe untersucht werden. Tagespolitisch stellt sich das Niveau der Löhne durch den Lohn-
kampf ein. Die Kapitalisten bestehen auf dem Fortbestand ihrer Konkurrenzfähigkeit und for-
dern niedrige Löhne. Die Arbeiter hingegen drängen auf eine angemessene Lohnerhöhung
(nicht zuletzt mit dem Argument, damit eine gesamtgesellschaftlich notwendige Nachfrage zu
erzeugen). Auf welchem Niveau letztendlich ein Lohnabschluss erfolgt, ist zahlreichen insbe-
sondere auch außerökonomischen Faktoren geschuldet. Soll das Reproduktionsschema funk-
tionieren, dann müssten unter diesen Faktoren einige auf lange Sicht dominant sein, die dafür
sorgen, dass die Löhne gesamtgesellschaftlich ein Niveau annehmen, das zur Erfüllung der
Gleichung (2.3) ausreicht. Umgekehrt: Soll die Funktionsfähigkeit des Reproduktionssche-
mas widerlegt werden, müssen Faktoren gefunden werden, die auf lange Sicht grundsätzlich
verhindern, dass das Lohnniveau entsprechend dem Schema ansteigt.
Nun ist bekannt, dass es für das Lohnniveau eine untere Schranke gibt, einen Mindestlohn v0 ,
der sich zwar von Gesellschaft zu Gesellschaft und innerhalb der kapitalistischen Entwicklung
zu verändern vermag, der aber sich allgemein bestimmt, als die physische untere Schranke
unterhalb deren die Selbsterhaltung der Arbeiter und ihrer Familie (die Kinder sind die Arbei-
ter von morgen!) nicht mehr gewährleistet ist. Wird dieser Mindestlohn v0 auf Dauer unter-
schritten, kann sich das kapitalistische System nicht mehr reproduzieren, da es an Arbeitskräf-
ten fehlt. Um über die Funktionsfähigkeit des Reproduktionsschemas zu entscheiden, müsste
sich, wenn Rosa Luxemburg recht hat, analog zum Mindestlohn auch eine obere Schranke der
Durchschnittslöhne finden lassen, die nicht überschritten werden darf, wenn sich das kapita-
listische System selbst erhalten will.
Es lässt sich sofort sagen, dass diese obere Schranke nicht physischer Natur sein kann, weil es
keinen Grund dafür gibt, warum ein höherer Lohn der Gesundheit der Arbeiter schaden sollte.
Dennoch gibt es eine obere Schranke, wenn sie sich auch analog zum Mindestlohn nicht prä-
zise in Heller und Pfennig benennen lässt. Dazu folgende Überlegung: Der Mindestlohn reicht
aus, um die lebensnotwendigen Konsumgüter zu kaufen. Eine Erhöhung des Lohnes über den
Mindestlohn führt zunächst zu mehr Konsum, der subjektiv als Ausgleich für die Strapazen
der Lohnarbeit angesehen wird. Steigt das Lohnniveau weiter, so wird ein Punkt erreicht, an
dem zusätzlich zu einem ausgedehnten Konsum es möglich ist, einen Teil des Lohnes ge-
winnbringend anzulegen. Gleichgültig nun welche Anlageform bevorzugt wird (am offen-
sichtlichsten ist es beim Erwerb von Aktien), bedeutet gewinnbringendes Anlegen zumindest
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indirekt immer, dieses Geld vorzuschießen, um damit produktive Tätigkeit beginnen zu kön-
nen. Was sich umgangssprachlich als ‚gewinnbringend’ bezeichnen lässt, ist letztlich das Par-
tizipieren am Mehrwert.
Das heißt, dass es ab einem bestimmten Lohnniveau für die Lohnarbeiter möglich wird, ten-
denziell der Lohnarbeit zu entfliehen. Der direkte und häufig unterschätzte Fall ist die Ver-
selbständigung von Lohnarbeitern, also ihr Übergang zum Kapitalisten (wenn auch in aller
Regel zum Kleinkapitalisten). Aber auch andere Formen wie Teilzeitarbeit oder vorzeitiger
Ruhestand lassen sich finanzieren, wenn der Lohn so hoch ist, dass sich ein Teil davon ge-
winnbringend anlegen lässt.
Dies bedeutet nun nicht nur, dass die Ausdehnung des Konsums durch ein erhöhtes Lohnni-
veau an Grenzen stößt und damit die Gleichung (2.3) nicht erfüllt werden kann, dies bedeu-
tet auch, dass bei Überschreiten der oberen Lohnschranke dieser Prozess eine doppelte Dy-
namik gewinnt: Einerseits erhöht sich die Nachfrage nach Konsumgütern ab einem bestimm-
ten Lohnniveau kaum noch, andererseits werden die überschüssigen Gelder zum Erwerb von
konstantem Kapital verwendet, sodass die rechte (Nachfrage)Seite von (2.3) nicht beliebig
steigt, während die linke (Angebots)Seite einen zusätzlichen Zuwachs erfährt.
Neben der Erhöhung der Löhne besteht als zweite Möglichkeit zur Steigerung des gesamtge-
sellschaftlichen variablen Kapitals die Zunahme der Zahl der Lohnabhängigen. Zeitweilig
standen hierbei kapitalistische Gesellschaften vor dem Problem, dass nicht ausreichend Ar-
beitskräfte zur Verfügung standen. Doch dies ist ein vorübergehendes Phänomen, da bislang
noch immer nach kurzer Zeit durch Bevölkerungstransfers (Anwerbung, Binnenwanderung,
Zwangsumsiedlung…) eine ausreichende Anzahl von Arbeitskräften zur Verfügung stand.
Die Schranken für die Zunahme der Zahl der Lohnabhängigen liegen nicht im unzureichenden
Bevölkerungswachstum und dergleichen begründet, sondern ergeben sich aus dem Zwang zur
Rationalisierung der Produktion unter dem Druck der kapitalistischen Konkurrenz. Die Glei-
chung (2.3) in der vorliegenden Form wird damit immer unerfüllbarer, ja das Nachhinken
der Nachfrage nach Konsumgütern verschärft zusätzlich die Konkurrenz und induziert damit
erneut Rationalisierungsinvestitionen.
Damit ergibt sich für die konsumtive Nachfrage, dass die rein rechnerische Möglichkeit der
Erhöhung des variablen Kapitals in der Realität auf eindeutige Schranken stößt und folglich
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die Gleichung (2.3) real nicht erfüllt werden kann. Wenn der Kapitalismus bislang dennoch
funktioniert hat, so muss es einen Mechanismus geben, der die fehlende Konsumtion aufzu-
bringen imstande ist.
5. Der Staat als dritte Person
Rosa Luxemburgs Vorschlag zur Lösung dieses Problems bestand in der Einführung einer
‚dritten Person’, die das überschüssige Angebot durch effektive Nachfrage absorbieren sollte.
Sie sah diese Person durch das nichtkapitalistische Milieu realisiert, wobei es sich beim nicht-
kapitalistischen Milieu sowohl um nichtkapitalistische Produktionsformen im eigenen Land
(etwa in der Landwirtschaft) als auch und vor allem um periphere Länder mit vorkapitalisti-
schen Produktionsverhältnissen handeln kann. Rosa Luxemburg irrt sich jedoch, wie Sweezy
richtig darauf hingewiesen hat, 6 wenn sie glaubt, dass das nichtkapitalistische Milieu die Ab-
satzschwierigkeiten des Kapitalismus aus der Welt schaffen könnte. Wenn nämlich die nicht-
kapitalistischen Konsumenten eine Nachfrage an den kapitalistischen Markt richten können,
dann müssen sie zuvor an denselben Markt mit einem entsprechenden Angebot herangetreten
sein, damit Äquivalententausch stattfindet. Insgesamt können die nichtkapitalistischen Kon-
sumenten am kapitalistischen Markt nicht mehr kaufen, als sie an denselben Markt verkauft
haben. Damit zeigt sich aber, dass das nichtkapitalistische Milieu für das von Luxemburg ent-
deckte Akkumulationsproblem keine Lösung sein kann. Es muss sich ein anderer Mechanis-
mus, eine andere ‚dritte Person’ finden lassen.
Die Unbrauchbarkeit des nichtkapitalistischen Milieus als ‚dritte Person’ zeigt aber auch,
welche grundlegende Eigenschaft eine funktionsfähige ‚dritte Person’ besitzen muss: Es muss
eine ‚Person’ sein, die an den kapitalistischen Markt eine Nachfrage richtet, ohne dabei diese
Nachfrage durch ein vorangegangenes Angebot an demselben Markt realisiert zu haben; es
darf also kein Äquivalententausch stattfinden. Dies ist nur möglich, wenn sich die ‚dritte Per-
son’ zwangsweise und ohne Entschädigung einen Teil der gesamtgesellschaftlich erzeugten
Werte aneignet oder wenn die ‚dritte Person’ so vertrauenswürdig ist, dass sie letztlich ohne
Sicherheiten Werte durch Kreditaufnahme abschöpfen kann. In beiden Fällen bestünde die
Funktion der ‚dritten Person’ dann darin, mit den vereinnahmten Geldern die Nachfrage so
anzuheben, dass sich ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage einstellt. Die einzige
6 Paul M. Sweezy: a.a.O., S. 242.
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‚Person’, die über ausreichend Zwangsmittel verfügt, als auch hinreichend vertrauenswürdig
zur Kreditaufnahme ist, ist die ‚öffentliche Person’, der Staat. Folglich müsste die Steuererhe-
bung und die Kreditschöpfung des Staates jener Mechanismus sein, mit dem sich bislang his-
torisch das Realisierungsproblem der Kapitalisten gelöst hat.
6. Das Reproduktionsschema der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
Bisher haben wir das Akkumulationsproblem bei Rosa Luxemburg auf der Grundlage der von
Marx in ‚Kapital’ entwickelten, abstrakten Terminologie diskutiert. Wie wir aber bereits an
anderer Stelle ausgeführt haben,7 ist es möglich, das Akkumulationsproblem auch anhand der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen darzustellen und zu analysieren. Deshalb möchten
wir im Folgenden versuchen, das Marxsche Reproduktionsschema auf der Grundlage der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) zu reformulieren und damit das Akkumula-
tionsproblem auf empirisch-statistischer Basis zu diskutieren.
Der Ausgangspunkt der VGR ist ein Wirtschaftssystem, das aus Privat- und Staatssektor und
Ausland besteht. Die Grundgröße der VGR ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das von der
Verteilungs- und Verwendungsseite her folgendermaßen definiert wird:8
I. BIP = Abschreibungen + Nettonationaleinkommen – Saldo der Primäreinkommen
aus der übrigen Welt
(6.1)
II. BIP = Konsum + Bruttoinvestitionen + Exporte – Importe.
Gleichsetzen und Umformen dieser beiden Gleichungen ergibt:
Sparen = Nettonationaleinkommen – Konsum =
Bruttoinvestitionen – Abschreibungen + Exporte – Importe + (6.2)
Saldo der Primäreinkommen aus der übrigen Welt.
7 Halil Güveniş: Lösung der Klimakrise im Rahmen der Zusammenbruchskrise des Kapitalismus.
Aachen, 2011; S. 8ff.
8 Zur Definition des Bruttoinlandprodukts siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/Volkswirtschaftliche_Gesamtrechnung
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Wenn wir die Abkürzungen
S = Sparen,
Ibr = Bruttoinvestitionen,
D = Abschreibungen, (6.3)
FSA = Finanzierungssaldo des Auslands
= Exporte + Importe Saldo der Primäreinkommen aus der übrigen Welt
einführen und S, Ibr und D nach Privat- und Staatssektor auflösen, dann lässt sich Gleichung
(6.2) umformen in
SPr = (IbrPr – DPr) – FSSt – FSA , (6.4)
wobei FSSt = SSt – (IbrSt – DSt) = Finanzierungssaldo des Staates ist.
Mit Hilfe der in Gleichung (6.4) auftretenden Größe ‚Nettoinvestition’ (In = Ibr – D ) lässt sich
das Nettoanlagevermögen folgendermaßen definieren: Bruttoinvestitionen und Abschreibun-
gen sind Stromgrößen für die Bestandsgröße
Nettoanlagevermögen = NAV = NAV0 + Ibr – D , (6.5)
d. h. das Nettoanlagevermögen NAV wird gebildet, indem man über eine sehr lange Zeitpe-
riode Jahr für Jahr die Bruttoinvestitionen Ibr zum bestehenden Kapitalstock NAV0 hinzu-
zählt und die Abschreibungen D davon abzieht. Die Größe
DAD = NAV / D = (NAV0 + Ibr – D) / D (6.6)
gibt dann die durchschnittliche Abschreibungsdauer (= die Umschlagszeit des fixen Kapitals)
an, die man braucht, um das gesamte Anlagevermögen der Gesellschaft abzuschreiben. Man
beachte, dass bei dieser Definition über alle Sachanlagen der Gesellschaft mit ganz unter-
schiedlichen Nutzungsdauern extrapoliert und eine anonyme durchschnittliche Abschrei-
bungsdauer gebildet wird; in BRD haben z. B. PCs 3 Jahre Nutzungsdauer – Kopiergeräte 7,
Büromöbel 13, Wohngebäude 50.
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Lösen wir Gleichung (6.6) nach Ibr / D auf, so erhalten wir
I
br / D = DAD – DAD0 / a + 1 , (6.7)
wobei a = D / D0 ist. Nehmen wir zum Beispiel an, die durchschnittliche Abschreibungsdau-
er einer bestimmten Zeitperiode (DAD = DAD0) sei 50 Jahre und die Produktionserweiterung
für ein Jahr betrage a = 1,05 (= 5%) , so folgt aus (6.7)
I
br / D = 50 (1 – 1 / 1,05) + 1 = 3,38 , (6.8)
d. h. bei einer durchschnittlichen Abschreibungsdauer von 50 Jahren muss das Verhältnis der
Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen 3,38 sein, damit eine jährliche Produktionserweite-
rung von 5% erzielt werden kann.
50 Jahre durchschnittliche Abschreibungsdauer ist aber ein Beispiel, das in idyllischen Urzei-
ten des Kapitalismus gültig war. Gehen wir von aktuellen Verhältnissen aus, so müssen wir
für DAD = DAD0 etwa 20 Jahre durchschnittliche Abschreibungsdauer annehmen. Bei einer
jährlichen Produktionserweiterung von 5% erhalten wir dann aus Gleichung (6.7)
I
br / D = 20 (1 – 1 / 1,05) + 1 = 1,95 , (6.9)
d. h. bei einer durchschnittlichen Abschreibungsdauer von 20 Jahren muss das Verhältnis der
Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen nur noch 1,95 betragen, damit eine jährliche Produk-
tionserweiterung von 5% erzielt werden kann.
7. Diskussion des Akkumulationsproblems auf empirisch-statistischer Basis
Gleichung (6.4) ist das reformulierte Reproduktionsschema der VGR, also das Gegenstück zu
(2.3). Festzuhalten an dieser Gleichung ist, dass zu ihrer Formulierung das Wirtschaftssystem
nicht in zwei Abteilungen (Produktions- und Konsumtionsmittelindustrie bestehend aus Ar-
beitern und Kapitalisten) untergliedert wurde, wie es bei Marx bzw. Luxemburg der Fall ist.
Stattdessen wurde das BIP im gesamtgesellschaftlichen Kreislauf von der Verteilungs- und
Verwendungsseite her unterschieden und für die drei Sektoren: Privat, Staat, Ausland diese
16
beiden Seiten gleichgesetzt. Daraus folgt, dass Marx durch die in ‚Kapital’ entwickelte, abs-
trakte Terminologie sich selbst unmöglich machte, das Reproduktionsschema auf empirisch-
statistischer Basis darzustellen und zu analysieren, wohingegen Gleichung (6.4) genau die
gewünschte Form hat, die verschiedenen Aspekte des Akkumulationsproblems näher zu dis-
kutieren: Auf der linken Seite der Gleichung (6.4) steht nämlich das Sparen des Privatsektors,
also der Tendenz nach das, was Marx unter akkumuliertem Mehrwert versteht. Auf der rech-
ten Seite der Gleichung stehen der Reihe nach die Sektoren: Privat, Staat, Ausland, die ge-
meinsam den akkumulierten Mehrwert realisieren. Wollen wir auf empirisch-statistischer Ba-
sis feststellen, welche ersten, zweiten, dritten und vierten Personen den Mehrwert realisieren,
so müssen wir die auf der rechten Seite der Gleichung (6.4) aufgeführten sektoralen Größen
näher ins Auge fassen und auf die von Rosa Luxemburg aufgeworfenen Fragen eine eindeuti-
ge Antwort geben.
Die grundsätzliche Frage, die Rosa Luxemburg stellt, ist, ob der akkumulierte Teil des Mehr-
werts in einem aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Wirtschaftssystem realisiert wer-
den kann oder nicht? Ihre eigene Antwort auf diese Frage lautet: Nein, in einem aus Kapitalis-
ten und Arbeitern bestehenden System ist die Realisierung des akkumulierten Teils des
Mehrwerts nicht möglich.
Der Hauptkritiker zu Lebzeiten Luxemburgs, Otto Bauer, erwidert auf Rosa Luxemburgs
Antwort:
„Rosa Luxemburg glaubt, dass der akkumulierte Mehrwertteil nicht realisiert werden kann. In der Tat
kann er im ersten Jahre nicht realisiert werden, wenn die stofflichen Elemente des zusätzlichen pro-
duktiven Kapitals … erst im zweiten Jahre gekauft werden.“ … „Wir haben angenommen, dass die
Kapitalisten schon im ersten Jahre diejenigen Produktionsmittel kaufen, welche im zweiten Jahre
von dem Zuwachs der Arbeiterbevölkerung in Bewegung gesetzt werden, und dass die Kapitalisten
schon im ersten Jahre diejenigen Konsumtionsgüter kaufen, welche sie im zweiten Jahre an den
Zuwachs der Arbeiterbevölkerung verkaufen … Würden wir diese Annahme nicht zulassen, dann
wäre die Realisierung des im ersten Jahre erzeugten Mehrwertes in diesem Jahre in der Tat unmög-
lich.“9
Rosa Luxemburg kritisiert ganz entschieden diesen Lösungsvorschlag von Otto Bauer:
„… Aber eine solche Lösung verschiebt die Schwierigkeit nur von diesem Moment auf den nächsten.
Denn nachdem wir so annehmen, dass die Akkumulation losgegangen ist und die erweiterte Produkti-
on im nächsten Jahr eine noch viel größere Warenmasse als in diesem auf den Markt wirft, entsteht
wieder die Frage: Wo finden wir dann die Abnehmer für diese noch mehr gewachsene Warenmenge?
9 Rosa Luxemburg: a.a.O., S. 471.
17
Wird man etwa antworten: Nun, diese gewachsene Warenmenge wird auch im folgenden Jahr wieder-
um von den Kapitalisten selbst untereinander ausgetauscht und von ihnen allen verwendet, um die
Produktion abermals zu erweitern – und so fort von Jahr zu Jahr –, dann haben wir ein Karussell vor
uns, das sich in leerer Luft um sich selbst dreht.“10
Und welche Antwort gibt das reformulierte Reproduktionsschema (6.4) auf das von Rosa Lu-
xemburg benannte Akkumulationsproblem? – Nach (6.4) ist es grundsätzlich möglich, in ei-
nem aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Wirtschaftssystem den akkumulierten Teil
des Mehrwerts zu realisieren, wenn die ersten und die zweiten Privatpersonen, die Kapitalis-
ten und die Arbeiter, ihre Nettoinvestitionen (InPr = IbrPr – DPr ) so groß werden lassen können
wie ihr Sparen. In der von Marx als ‚ursprüngliche Akkumulation’ bezeichneten Geschichts-
epoche waren die Kapitalisten und die Arbeiter auf der Grundlage des Manufakturkapitalis-
mus zeitweilig sicher imstande, diese Akkumulationsbedingung in ureigenster Form, d. h.
ohne zu Hilfenahme der dritten und vierten Personen ‚Staat’ und ‚Ausland’, zu erfüllen. Erst
mit Beginn der maschinellen Produktion, ab etwa Anfang neunzehntes Jahrhundert, waren
dann auch die dritten und vierten Personen ‚Staat’ und ‚Ausland’ imstande, einen nennens-
werten Beitrag zur Realisierung des akkumulierten Mehrwerts zu leisten. – Hier darf aber
nicht vergessen werden, dass der Beitrag der dritten und vierten Personen ‚Staat’ und ‚Aus-
land’ zur Realisierung des akkumulierten Mehrwerts nicht über die Größe ‚Nettoinvestitio-
nen’ abgewickelt wird, sondern über negative Finanzierungssalden – FS = – (Gesamteinnah-
men – Gesamtausgaben), d. h. der Staat und das Ausland müssen durch Steuererhebung und
Kreditschöpfung einen gewissen Teil des Sparens des Privatsektors übernehmen, damit ihre
Finanzierungssalden überhaupt negativ werden können. Ferner darf in diesem Zusammenhang
nicht vergessen werden, dass Gleichung (6.4) für ein nach außen hin offenes System, für eine
nationale Volkswirtschaft, gilt, aber beim Übergang zu einem nach außen hin abgeschlosse-
nen System, zur Weltwirtschaft, sich reduziert auf die Beziehung
SPr = (IbrPr – DPr) – FSSt , (7.1)
d. h. die vierte Person ‚Ausland’ reduziert sich beim Übergang zur Weltwirtschaft auf die
erste, zweite und dritte Person ‚Kapitalist’, ‚Arbeiter’ und ‚Staat’. ‚Ausland’ kann also bei der
Realisierung des akkumulierten Mehrwerts formal nicht als ‚dritte Person’ gelten, wie Rosa
Luxemburg es behauptete; es sind vielmehr die ausländischen Kapitalisten, Arbeiter und Staa-
10 Rosa Luxemburg: a.a.O., S. 427.
18
ten, die durch Kreditschöpfung aus dem Sparen des Privatsektors als ‚dritte Personen’ im In-
land fungieren.
Wir kommen nun zur wichtigsten Frage der Diskussion: Dürfen wir im Lichte der Gleichung
(6.4) feststellen, dass Otto Bauer Recht hatte, als er sagte, dass die Kapitalisten den im ersten
Jahr akkumulierten Teil des Mehrwerts fürs Wachstum im zweiten Jahr realisieren (= rein-
vestieren)? – Auf den ersten Blick scheint Gleichung (6.4) in der Tat Otto Bauer Recht zu
geben. Die Kapitalisten und die Arbeiter im Privatsektor tätigen über ihre Abschreibungen
hinaus eine Nettoinvestition, die in bestimmten Geschichtsepochen das Sparen = den akkumu-
lierten Mehrwert vollständig realisieren kann. Doch es ist nicht möglich, auf der Grundlage
der Gleichung (6.4) zu behaupten, dass die Nettoinvestitionen eine Realisierung fürs Wachs-
tum im nächsten Jahr bedeuten. Wir haben bei unseren zwei Beispielfällen (6.8) und (6.9)
gesehen, dass die Kapitalisten nicht fürs Wachstum im nächsten Jahr, sondern für die Produk-
tionserweiterung um D / D0 = 1,05 (= 5%) in diesem Jahr ihr Nettoanlagevermögen im Betra-
ge ihrer Nettoinvestitionen erhöhen müssen, sodass das Verhältnis ihrer Bruttoinvestitionen
zu Abschreibungen je nach Höhe der durchschnittlichen Abschreibungsdauer der betrachteten
Zeitperiode 3,38 bzw. 1,95 beträgt. Der entscheidende Fehler im Reproduktionsschema von
Otto Bauer und Rosa Luxemburg liegt also darin, dass sie für die durchschnittliche Abschrei-
bungsdauer des Nettoanlagevermögens (= Umschlagszeit des fixen Kapitals) stillschweigend
DAD = DAD0 = 1 Jahr annehmen, sodass aus (6.6) und (6.7)
Ibr / D = 1, In = Ibr – D = 0 (7.2)
folgt. Da unter diesen Bedingungen die Nettoinvestitionen verschwinden, sieht sich Otto Bau-
er gezwungen, die Realisierung des akkumulierten Mehrwerts in eine fiktive Zukunft zu ver-
lagern. Und Rosa Luxemburg im Gegenzug sieht sich in ihrer Annahme bestätigt, dass es
grundsätzlich nicht möglich ist, in einem aus Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Wirt-
schaftssystem den akkumulierten Mehrwertteil zu realisieren. Hätte sie beim Aufstellen ihres
Reproduktionsschemas nicht die unzulässige, vereinfachende Annahme gemacht, dass die
Umschlagszeit des fixen Kapitals ein Jahr beträgt, so hätte sie sicher herausgefunden, dass die
Kapitalisten nur deshalb Kapitalisten genannt werden, weil sie Jahr für Jahr ihre Nettoinvesti-
tionen auf ihren bestehenden Kapitalstock darauf legen und damit den akkumulierten Mehr-
wertteil realisieren.
19
8. Historische Grundtendenzen der kapitalistischen Entwicklung
Nachdem wir das Akkumulationsproblem bei Rosa Luxemburg auf der Grundlage der Glei-
chungen (6.4) und (6.7) diskutiert haben, kommen wir nun zur empirisch-statistischen Dar-
stellung dieser Gleichungen in Form von Zeitreihen und Diagrammen für BRD, Japan und
USA.11 – Wir betrachten zunächst die historischen Grundtendenzen der kapitalistischen Ent-
wicklung. Anschließend analysieren wir die aus den historischen Grundtendenzen abgeleite-
ten Trends der kapitalistischen Entwicklung. Zum Schluss kommen wir zur Trendanalyse für
das reformulierte Reproduktionsschema (6.4).
* * *
Das Marxsche Reproduktionsschema kennt nur eine historische Grundtendenz: die Zunahme
der organischen Zusammensetzung des Kapitals q = c / v im Laufe der technologischen
Entwicklung. Die empirisch-statistische Behandlung dieses Problems liefert jedoch drei histo-
rische Grundtendenzen für die kapitalistische Entwicklung. Als Erstes betrachten wir die
Grundtendenz der Abschreibungsquote
D = D / BIP (8.1)
für BRD, Japan und USA:
BRD
0,0
0,1
0,2
0,3
1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015
Abschreibungsquote
11 Halil Güveniş: a.a.O., S. 139ff.
20
Japan
0,0
0,1
0,2
0,3
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Abschreibungsquote
USA
0,0
0,1
0,2
0,3
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Abschreibungsquote
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
Die in den Grafiken aufgetragenen D-Werte weisen charakteristische konjunkturelle Schwan-
kungen auf. Doch auf lange Sicht dominiert der Aufwärtstrend. Das Land mit dem höchsten
Anstieg der Abschreibungsquote ist Japan, gefolgt von der deutschen Wirtschaft, die weniger
kapitalintensiv produziert. Schlusslicht in der Triade sind die USA, die traditionell arbeitsin-
tensiv produzieren.
Die Zunahme der Abschreibungsquote im Zeitraum von 1950 bis 2015 betrachten wir als die
erste historische Grundtendenz der Wirtschaftsentwicklung in BRD, Japan und USA. Sie ist
ein Maß für die technologische Entwicklung und gibt an, in welchem Verhältnis zur Gesamt-
produktion der Verbrauch der Anlagegüter steigt. Durch den technologischen Fortschritt wer-
21
den die Unternehmen instand gesetzt, mehr Sachanlagen einzusetzen und dadurch kosten-
günstiger zu produzieren.
* * *
Als Nächstes bestimmen wir die Grundtendenz der durchschnittlichen Abschreibungsdauer
(6.6) für BRD, Japan und USA:
BRD
0
10
20
30
1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015
Durchschnittliche Abschreibungsdauer
Japan
0
10
20
30
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Durchschnittliche Abschreibungsdauer
22
USA
0
10
20
30
1951 1961 1971 1981 1991 2001 2011
Durchschnittliche Abschreibungsdauer
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
Die in den Grafiken aufgetragenen DAD-Werte weisen charakteristische konjunkturelle
Schwankungen auf. Wie zu erwarten ist, dominiert im Langzeitverhalten der gleichmäßige
Abwärtstrend. Das Land mit der geringsten durchschnittlichen Abschreibungsdauer ist Japan,
gefolgt von der deutschen Wirtschaft, deren Abwärtstrend allerdings nicht so steil verläuft wie
bei der US-Wirtschaft. Die USA bilden, wie gewohnt, das Schlusslicht in der Triade.
Die Abnahme der durchschnittlichen Abschreibungsdauer im Zeitraum von 1950 bis 2015
betrachten wir als die zweite historische Grundtendenz der Wirtschaftsentwicklung in BRD,
Japan und USA.12 Während die Zunahme der Abschreibungsquote ein Maß für die Masse der
eingesetzten technologischen Innovationen ist, gibt die Abnahme der durchschnittlichen Ab-
schreibungsdauer an, wie schnell technologische Generationen aufeinander folgen und wie
intensiv sie in einzelne Wirtschaftszweige eindringen. Mit abnehmender durchschnittlicher
Abschreibungsdauer nimmt die Abschreibungsgeschwindigkeit (= 1 / DAD), d. h. die Produk-
tivität,13 zu. Aus der Tatsache, dass die durchschnittliche Abschreibungsdauer im Zeitraum
von 1950 bis 2015 kontinuierlich abgenommen hat, ist zu schließen, dass die auf der Grund-
lage von Elektronik und Informationstechnologien stattfindenden Innovationsschübe praktisch
permanent geworden sind und jedes Unternehmen unter dem Konkurrenzdruck steht, auf Ge-
deih oder Verderb die Produktivität zu steigern. Die Folge davon ist, dass die Produktion viel
12 Ernest Mandel: a.a.O., S. 205ff.
13 Zur Kapitalproduktivität siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalproduktivität
23
effizienter und differenzierter organisiert wird und jedes Angebot schon im Entstehen den
entsprechenden Nachfragewunsch erzeugt.
* * *
Zum Schluss bestimmen wir die Grundtendenz der Produktionserweiterung D / D0 für BRD,
Japan und USA:
BRD
0,8
1,0
1,2
1,4
1992 1996 2000 2004 2008 2012
Produktionserweiterung
Japan
0,8
1,0
1,2
1,4
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010
Produktionserweiterung
24
USA
0,8
1,0
1,2
1,4
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Produktionserweiterung
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
Die in den Grafiken aufgetragenen D/D0-Werte weisen charakteristische konjunkturelle
Schwankungen auf. Auch hier dominiert im Langzeitverhalten der gleichmäßige Abwärts-
trend. Die Abnahme des Verhältnisses D / D0 im Zeitraum von 1950 bis 2015 betrachten wir
als die dritte historische Grundtendenz der Wirtschaftsentwicklung in BRD, Japan und USA.
Sie ist ein Maß für den Rückgang der Produktionserweiterung und gibt an, wie stark die Pro-
duktion jährlich steigen muss, damit bei abnehmender durchschnittlicher Abschreibungsdau-
er, d. h. bei zunehmender Produktivität, Produktion und Gesamtkonsum (= Konsum + Außen-
beitrag) im Gleichgewicht bleiben: Nach Gleichung (6.7) kommt jeder Produktionserweite-
rung D / D0 ein spezifisches Verhältnis Ibr / D zu, das einer ganz bestimmten Entwicklungs-
stufe der durchschnittlichen Abschreibungsdauer entspricht. Mit abnehmendem Verhältnis
Ibr / D und relativ schwach zunehmender Abschreibungsquote D ist aber im volkswirtschaft-
lichen Kreislauf auch die Zunahme der Gesamtkonsumquote
Gesamtkonsum / BIP = 1 – Ibr = 1 – D (Ibr / D) (8.2)
historisch festgelegt, d. h. die Produktionserweiterung D / D0 und damit die Abnahme des
Verhältnisses Ibr / D finden unter dem Gesichtspunkt statt, dass die Zunahme des Gesamt-
konsums (BIP – Ibr) / (BIP0 – Ibr 0) gerade so groß ist, dass die Bedingung für die Zunahme
der Gesamtkonsumquote (8.2) in historischer Perspektive erfüllt wird. Befindet sich die Pro-
duktions- bzw. die Investitionsneigung der betreffenden Volkswirtschaft oberhalb des histori-
schen Trends, so überwiegt auf lange Sicht die Produktionserweiterung; befindet sie sich je-
25
doch unterhalb des historischen Trends, so überwiegt langfristig gesehen die Zunahme des
Gesamtkonsums. Die Trends für das Verhältnis Ibr / D und für die Gesamtkonsumquote (8.2)
sind also historische Gleichgewichtsbedingungen für Produktion und Gesamtkonsum unter
der Bedingung, dass die durchschnittliche Abschreibungsdauer abnimmt, d. h. die Abschrei-
bungsgeschwindigkeit – die Produktivität – steigt.
9. Abgeleitete historische Trends der kapitalistischen Entwicklung
Marx leitet aus der Grundtendenz ‚Zunahme der organischen Zusammensetzung des Kapitals’
nur einen historischen Trend der kapitalistischen Entwicklung ab, nämlich: den tendenziellen
Fall der Profitrate. Die empirisch-statistische Behandlung dieses Problems liefert jedoch drei
abgeleitete historische Trends der kapitalistischen Entwicklung: 1. die Abnahme des Verhält-
nisses der Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen Ibr / D , 2. die Zunahme der Gesamtkon-
sumquote 1 – Ibr , 3. die Abnahme der Nettoinvestitionsquote D (Ibr / D – 1) . Wir möchten
im Folgenden diese drei historischen Trends der kapitalistischen Entwicklung der Reihe nach
analysieren.
* * *
Als Erstes betrachten wir nach Gleichung (6.7) den historischen Trend des Verhältnisses der
Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen Ibr / D . Der Trend der durchschnittlichen Abschrei-
bungsdauer DAD bzw. DAD0 und der Trend der Produktionserweiterung a = D / D0 sind
durch die zweite und dritte historische Grundtendenz der Wirtschaftsentwicklung in BRD,
Japan und USA bereits festgelegt. Daraus folgt nach Gleichung (6.7) der historische Trend
des Verhältnisses Ibr / D für BRD, Japan und USA:
26
BRD
0
1
2
3
1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015 2019
Das Verhaeltnis der Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen
Trendgerade
Japan
0
1
2
3
1970 1980 1990 2000 2010 2020
Das Verhaeltnis der Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen
Trendgerade
USA
0
1
2
3
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Das Verhaeltnis der Bruttoinvestitionen zu Abschreibungen
Trendgerade
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
27
Die in den Grafiken aufgetragenen Ibr/D-Werte weisen charakteristische konjunkturelle
Schwankungen auf. Im Langzeitverhalten dominiert jedoch der gleichmäßige Abwärtstrend.
Die Gleichheit von Bruttoinvestitionen und Abschreibungen (y = 1) wird von Japan im Jahr
2008 und von der deutschen Wirtschaft im Jahr 2015 erreicht. Die USA scheinen dieses Sta-
dium erst im Jahr 2037 zu erreichen. Da diese Trendvorhersagen aus den historischen Grund-
tendenzen der Wirtschaftsentwicklung in BRD, Japan und USA folgen, stellen sie sich mit
historischer Notwendigkeit ein.
* * *
Um zu sehen, ob die Zunahme des Gesamtkonsums (BIP – Ibr) / (BIP0 – Ibr 0) bzw. der Ge-
samtkonsumquote 1 – D (Ibr / D) tatsächlich die Produktionserweiterung D / D0 auslösen
kann, betrachten wir die zugehörigen Kurven zusammen mit der Vergleichskurve ‚Zunahme
des Gesamteinkommens’ (BIP – D) / (BIP0 – D0) in einer Graphik für BRD, Japan und USA:
BRD
0,6
0,8
1,0
1,2
1,4
1992 1996 2000 2004 2008 2012
Z. d. Gesamteinkommens Z. d. Gesamtkonsums
Produktionserweiterung Gesamtkonsumquote
28
Japan
0,6
0,8
1,0
1,2
1,4
1970 1980 1990 2000 2010
Z. d. Gesamteinkommens Z. d. Gesamtkonsums
Produktionserweiterung Gesamtkonsumquote
USA
0,6
0,8
1,0
1,2
1,4
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Z. d. Gesamteinkommens Z. d. Gesamtkonsums
Produktionserweiterung Gesamtkonsumquote
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
Am eindrucksvollsten ist die historische Entwicklung an der japanischen Wirtschaft zu sehen;
die Abnahme der Produktionserweiterung ist weitgehend in Übereinstimmung mit der Zu-
nahme des Gesamtkonsums und die zugehörige Gesamtkonsumquote nimmt zu, weil im Fall
‚Japan’ die Produktivität beständig steigt. – Wenn wir die deutsche Wirtschaft mit der japani-
schen vergleichen, dann stellen wir fest, dass ähnliche Verhältnisse vorliegen. Allerdings ist
der charakteristische Kurvenverlauf nicht dermaßen ausgeprägt, weil die Produktivität in
BRD nicht so extrem anstieg wie in Japan. – Der Fall ‚USA’ ist ein Sonderfall für sich allein.
Die Gesamtkonsumquote bleibt in etwa konstant, weil die Produktivität bei relativ schwach
zunehmender Abschreibungsquote nicht hinreichend genug steigt. Der Grund für diese Ent-
wicklung liegt im stark ausgeprägten negativen Außenbeitrag der USA, der den Gesamtkon-
29
sum und das Nettoanlagevermögen (zu Wiederbeschaffungspreisen) auf Kredit- und Ver-
schuldungsbasis übermäßig aufblähen lässt, ohne vorher entsprechend produziert zu haben.
Unter normalen geschichtlichen Bedingungen wäre diese Entwicklung gar nicht möglich; ein
derartiges Vertrauen des Auslands gegenüber dem Inland ist volkswirtschaftlich gesehen nicht
zu rechtfertigen und kann nur dadurch erklärt werden, dass die USA – nicht zuletzt wegen
ihrer Rolle als „Weltreservewährungshüter“ – einen Vertrauensbonus und damit einen Son-
derstatus unter den Ländern der Erde genießen.
* * *
Der Trend der Abschreibungsquote D ist durch die erste historische Grundtendenz der Wirt-
schaftsentwicklung in BRD, Japan und USA festgelegt. Der Trend des Verhältnisses der Brut-
toinvestitionen zu Abschreibungen Ibr / D ergab sich aus der Betrachtung des Trends der
Gleichung (6.7). Aus diesen beiden Trends folgt der historische Trend der Nettoinvestitions-
quote In = D (Ibr / D – 1) für BRD, Japan und USA:
BRD
-0,1
0,0
0,1
0,2
0,3
1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015
Nettoinvestitionsquote Trendgerade
30
Japan
-0,1
0,0
0,1
0,2
0,3
1970 1980 1990 2000 2010
Nettoinvestitionsquote Trendgerade
USA
-0,1
0,0
0,1
0,2
0,3
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Nettoinvestitionsquote Trendgerade
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
Die in den Grafiken aufgetragenen D(Ibr/D–1)-Werte weisen charakteristische konjunkturelle
Schwankungen auf. Im Langzeitverhalten dominiert jedoch der gleichmäßige Abwärtstrend.
Die Nulllinie der Nettoinvestitionsquote wird von BRD im Jahr 2016, von Japan im Jahr 2011
und von USA im Jahr 2057 erreicht. Damit ist der Trend der Nettoinvestitionsquote durch den
Trend der Größen D und Ibr / D historisch zwingend festgelegt.
31
10. Trendanalyse für das reformulierte Reproduktionsschema der VGR
Wir kommen nun zur Trendanalyse für das reformulierte Reproduktionsschema der VGR
(6.4). Division der Gleichung (6.4) durch das BIP ergibt
S
Pr = DPr (IbrPr / DPr – 1) – FSSt – FSA . (10.1)
Wir bestimmen den Trend aller Größen in der Gleichung (10.1) in einer Graphik für BRD,
Japan und USA:
BRD
-0,2
-0,1
0,0
0,1
0,2
1991 1995 1999 2003 2007 2011 2015
Sparquote_Pr. Nettoinvestitionsquote_Pr. Fsaldo_Staat - Fsaldo_Ausland Trendgerade Trendgerade
32
Japan
-0,1
0,0
0,1
0,2
0,3
1970 1980 1990 2000 2010
Sparquote Nettoinvestitionsquote - FSaldo_Ausland Trendgerade
USA
-0,2
-0,1
0,0
0,1
0,2
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
Sparquote_Pr. Nettoinvestitionsquote_Pr. Fsaldo_Staat - Fsaldo_Ausland Trendgerade Trendgerade
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Statistisches Bundesamt Deutschland’ (DESTATIS),
‚Economic and Social Research Institute’ (ESRI), ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
All diesen drei Ländern ist es gemeinsam, dass die Nettoinvestition des Privatsektors das Spa-
ren nicht vollständig realisieren kann, sodass zum Ausgleich des Restbetrages des Sparens der
übermäßig hohe, negative Finanzierungssaldo des Staates benötigt wird. Während BRD und
33
Japan ihr Sparen zusätzlich durch einen relativ hohen negativen Finanzierungssaldo (= durch
die Verschuldung) des Auslands realisieren, erleben die USA gerade den umgekehrten Fall:
Auf dem US-Kapitalmarkt wird nicht nur das Sparen des Privatsektors, sondern auch der rela-
tiv hohe positive Finanzierungssaldo des Auslands realisiert. Das geschieht dadurch, indem
sich der US-Staat gegenüber den ausländischen Kapitalisten, Arbeitern und Staaten extrem
hoch verschuldet.14 Den Grund für diese außergewöhnliche Entwicklung haben wir bereits
dargelegt: Das Vertrauen des Auslands gegenüber den USA ist so groß, dass der Gesamtkon-
sum und das Nettoanlagevermögen (zu Wiederbeschaffungspreisen) auf Kredit- und Ver-
schuldungsbasis über jede tatsächliche Produktion hinaus aufgebläht wird.15
Entscheidend bei den oben erhaltenen Graphiken ist, dass es eine historische Nulllinie der
Wirtschaftsentwicklung gibt, ab der die Nettoinvestitionsquote negativ wird und der Tendenz
nach nie wieder ins Positive zurückkehren kann. Diese historisch zwingend festgelegte Null-
linie wird von BRD im Jahr 2016, von Japan im Jahr 2010 und von USA im Jahr 2037 er-
reicht… Damit erreicht die Entwicklung des Kapitalismus eine Stufe, auf der das grundsätzli-
che Akkumulationsproblem keine kapitalistische Lösungsmöglichkeit mehr besitzt. Das zieht
für die aktuelle Wirtschaftslage wichtige Schlussfolgerungen nach sich: Die gegenwärtige
Weltwirtschaftskrise muss im Sinne von Rosa Luxemburg als die Zusammenbruchskrise des
Kapitalismus interpretiert werden. Langfristig droht der globale Staatsbankrott, in dessen
Folge eine neue Wirtschaftsform entstehen wird, die vom Nullwachstum und von verschwin-
denden Nettoinvestitionen ausgeht.16
* * *
14 Das ist genau das Gegenteil von dem, was Rosa Luxemburg behauptet hat. Im Fall ‚USA’ realisiert nicht das
Ausland den akkumulierten Mehrwertteil des Inlands, sondern das Inland realisiert durch Privat- und Staats-
verschuldung ausländisches Kapital.
15 Die Bilanz dieser Entwicklung ist: der US-amerikanische Privatsektor sparte (= akkumulierte) im Zeitraum
von 1929-2015 Kapital in Höhe von 28,6 Billionen USD;
das Ausland trug dazu bei mit 10,3 Billionen USD;
zur Realisierung der Gesamtsumme 38,9 Billionen USD
tätigte der US-amerikanische Privatsektor
Nettoinvestitionen in Höhe von 18,9 Billionen USD
und der US-Staat verschuldete sich in Höhe von 20,0 Billionen USD.
Quelle: Eigene Berechnungen nach den Statistiken des ‚Bureau of Economic Analysis’ (BEA).
16 Halil Güveniş: a.a.O., S. 22ff.
34
Man könnte an dieser Stelle geneigt sein, zu argumentieren, dass die von uns festgestellte
Nulllinie der Nettoinvestitionsquote keine absolute Wende darstellt und alle entscheidenden
Wachstumsgrößen wieder ins Positive zurückkehren würden, wenn der Staat kräftig genug
investiert und zusätzliche Konsumanreize schafft. Bei der Weltwirtschaftskrise in den 1930er
Jahren hat man ja gesehen, wie die US-Wirtschaft durch Roosevelts ‚New Deal’ aus der Tal-
fahrt herausgeholt wurde und später nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Etablierung der
Staatsverschuldung und des Massenkonsums endgültig das Gleichgewicht zwischen Produk-
tion und Konsum wiederhergestellt werden konnte. Genauso könnte man in der gegenwärti-
gen Weltwirtschaftskrise vorgehen und zuerst durch die Staatshilfe, dann aber durch Erschlie-
ßen prinzipiell neuer Investitions- und Konsummöglichkeiten die Wirtschaft wieder in den
sicheren Hafen des Wachstums zurückführen. Dazu wären allerdings tatkräftige Politiker nö-
tig, die rechtzeitig die Vision von einer neuen Zukunft schaffen und die Menschen von der
Notwendigkeit des Wandels überzeugen.
Gegen diese Argumentation wäre zunächst einzuwenden, dass die vom Staat getätigten zu-
sätzlichen Investitionen und Konsumanreize zwar geeignet sind, das verloren gegangene
Gleichgewicht zwischen Produktion und Gesamtkonsum wieder herzustellen, doch dadurch
können entscheidende Wachstumsgrößen nicht automatisch ins Positive zurückgeholt werden.
Es gilt hier zu erkennen, dass ab der historischen Nulllinie Gleichgewicht und Wachstum von-
einander abgekoppelt sind. Roosevelts ‚New Deal’ war deshalb so erfolgreich, weil in der
Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre die Kopplung zwischen Gleichgewicht und Wachstum
immer noch vorhanden war. Die historische Gleichgewichtsbedingung für das Verhältnis
Ibr / D lag im Jahr 1929, also zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, knapp über 2 (Gl. (6.7))
und sorgte dafür, dass jede zusätzliche, vom Staat geförderte Produktionserweiterung im his-
torischen Maßstab die zweifache private Investitionsmenge nach sich zog und dadurch die
US-Wirtschaft aus der Stagnation herausgeholt werden konnte. Im Jahr 2015 dagegen liegt
das Verhältnis Ibr / D knapp über 1 (Gl. (6.7)) und bewirkt, dass jede zusätzliche, vom Staat
geförderte Produktionserweiterung nur noch eine gleich große Bruttoinvestitionsmenge nach
sich zieht. Die US-Wirtschaft kann also im Jahr 2016 ihren Kapitalstock und damit alle ande-
ren relevanten Systemvariablen nicht mehr vergrößern und antwortet auf jede Anregung zur
Produktionserweiterung mit ihrer inzwischen enorm gestiegenen Abschreibungsgeschwindig-
keit und mit ihren brachliegenden Kapazitäten. Es ist also historisch gesehen eine Situation
entstanden, wo technologischer Fortschritt zu einer Produktivitätssteigerung geführt hat, die
nicht mehr das Wachstum, sondern unmittelbar das Schrumpfen fördert.
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