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Stumme Ohrenzeugen. Methodologische Überlegungen zur
Rekonstruktion altschwedischer Mündlichkeit
1
Steffen Höder (Kiel)
1 Einführung
Jede Untersuchung historischer Sprache muss damit umgehen, dass die
Repräsentativität des zugrunde liegenden Datenmaterials (idealerweise in Form
von Korpora) schwer bestimmbar und in jedem Fall eingeschränkt ist. Zwar sind
auch gegenwartssprachliche Korpora in der Regel eingeschränkt repräsentativ,
etwa indem sie überproportional stark standardnahe geschriebene Sprache
abbilden. Diese Form von Unausgewogenheit kann man jedoch recht gut
einschätzen, methodologisch reflektieren und bei Bedarf auch beseitigen, etwa
durch die Nacherhebung von Daten. Für ältere Sprachstufen ist dieser Mangel
hingegen gravierend und prinzipiell irreparabel, und zwar in der Regel um so
mehr, je länger die entsprechenden Perioden zurückliegen (vgl. auch C
LARIDGE
2008: 246ff.): Weite Teile der Gesamtsprache sind dann nicht direkt
beobachtbar.
Das gilt besonders für den Unterschied zwischen geschriebener und
gesprochener Sprache: Geschriebene Sprache ist zumindest in bestimmten,
wenn auch nicht immer eindeutig abgrenzbaren und zum Teil erkennbar sehr
kleinen Ausschnitten überliefert, gesprochene Sprache dagegen überhaupt nicht.
2
Das ist nicht nur für die im engeren Sinne an der Phonie als Medium
interessierten Disziplinen wie die historische Phonologie ein Problem, sondern
letztlich auch für alle anderen Bereiche historischer Linguistik, weil mit der
medialen Differenzierung im Normalfall auch strukturelle und sprachsoziale
Unterschiede einhergehen, geschriebene und gesprochene Sprache sich also
auch in Sprachsystem und Sprachgebrauch unterscheiden. Das Ausmaß
medienspezifischer Unterschiede variiert dabei je nach Einzelsprache, zumindest
minimale Unterschiede zwischen verschiedenen Varietäten oder Registern sind
jedoch wohl generell anzunehmen (vgl. B
IBER
1995).
Solche Unterschiede – und, genauer, konkrete strukturelle Merkmale der
gesprochenen Sprache in älteren Sprachstufen – sind nur mithilfe indirekter
1
Ich danke Katrin Peterson für die Korrektur einer ersten Version des Artikels.
2
So zeichnet zum Beispiel die spätaltschwedische Textüberlieferung – wie auch
entsprechende Korpora – ein stark verzerrtes Bild der sprachlichen Realität: Urbane sind
gegenüber ländlichen Varietäten deutlich überrepräsentiert, geographisch zentrale
gegenüber peripheren, der Sprachgebrauch kultureller Eliten gegenüber dem anderer
Gruppen, literarische gegenüber Gebrauchstexten sowie Übersetzungen gegenüber
originalsprachlichen Quellen.
Methoden fassbar zu machen, und zwar durch einen Prozess regelgeleiteter
Rekonstruktion. Wie bei jeder Rekonstruktion kommt es dabei darauf an, die
Überlieferungslage mit außersprachlichen und übereinzelsprachlichen Fakten
abzugleichen, um plausible Ergebnisse zu erreichen; eine Gewähr für die
Richtigkeit gibt es dabei nicht. Die erhaltenen Quellen sind gewissermaßen
‚stumme Ohrenzeugen‘ historischer Mündlichkeit, die über deren Strukturen
keinen direkten Aufschluss geben, wohl aber Anhaltspunkte bieten können, die
im Zusammenspiel mit anderen Indizien vorsichtige Schlüsse zulassen.
Die folgenden Abschnitte konkretisieren eine mögliche Vorgehensweise
anhand einiger syntaktischer Strukturen in der (spät-)altschwedischen
Mündlichkeit. Abschnitt 2 ordnet die Entwicklungen im Altschwedischen vor
dem sprachgeschichtlichen Hintergrund ein. In Abschnitt 3 werden die beiden
hier relevanten methodischen Ansätze diskutiert, die in Abschnitt 4 auf den
Beispielfall der spätaltschwedischen Relativsatzbildung angewandt werden. Ein
knappes Fazit in Abschnitt 5 schließt den Beitrag ab.
2 Sprachgeschichtliche Einordnung
Gemessen an einem kontinentaleuropäischen Maßstab ist Schwedisch eine
vergleichsweise junge Sprache, jedenfalls was seine schriftliche, gegenüber eng
verwandten Sprachen abgrenzbare Form betrifft. Das liegt daran, dass
gesellschaftliche Veränderungen, die für die historische Entwicklung
europäischer Sprachen generell prägend waren, an der nördlichen Peripherie der
damals bekannten Welt erst spät eingetreten sind. Insbesondere gilt dies für die
erst um 1100 abgeschlossene Christianisierung Schwedens, in deren Folge die
sprachsozialen Grundlagen für die Entstehung einer volkssprachlichen
Schriftlichkeit in lateinischer Graphie erst ab dem 13. Jahrhundert gegeben sind.
In der Periodisierung des Schwedischen (vgl. P
ETTERSSON
1996: 112ff.)
bezieht sich ‚Altschwedisch‘ auf die gesamte Phase lateinschriftlicher
Handschriften, also ungefähr den Zeitraum von 1225 bis 1526 (in dem die erste
schwedische Übersetzung des Neuen Testaments erschien). Eine gängige
Binnendifferenzierung unterteilt diese Periode in zwei etwa gleich lange
Zeiträume; man spricht bis 1375 vom Früh- und danach vom
Spätaltschwedischen (schw. äldre bzw. yngre fornsvenska). Ältere Sprachstufen,
die vor allem in runischen Inschriften belegt sind, sind zwar schon diatopisch
differenziert und weisen im später schwedischen Raum ostnordische Spezifika
auf, von einer einzelsprachspezifischen Überlieferung kann hier aber noch nicht
gesprochen werden.
3
3
Auch metasprachliche Evidenz spricht vor der Übernahme der lateinischen Graphie nicht
für die Wahrnehmung des Schwedischen als distinkter Sprache; einzelsprachliche
Glottonyme sind erst im 14. Jahrhundert belegt (vgl. Ottosson 2002: 789f.).
Erst ab 1400, also in der spätaltschwedischen Periode, setzt eine quantitativ
nennenswerte Textproduktion nach kontinentaleuropäischem Vorbild ein, mit der
auch der Ausbau (nach K
OCH
/O
ESTERREICHER
1994, angelehnt an K
LOSS
1978
[1952]) einer distinkten schriftsprachlichen Varietät des Altschwedischen
verbunden ist. Im Gegensatz zu den für die ältere Zeit prototypischen
Rechtstexten (insbesondere den sogenannten Landschaftsgesetzen) sind für das
geschriebene Spätaltschwedisch vor allem religiöse Prosatexte charakteristisch,
die im klösterlichen Milieu entstehen (vgl. W
OLLIN
1991). Maßgeblich für
strukturelle Innovationen in dieser Varietät ist eine kulturelle Elite, die aus hoch
gebildeten, mindestens lateinisch-schwedisch bilingualen Schreibern besteht
(W
OLLIN
1981–1983; H
ÖDER
2010: 85ff.). Folgerichtig etablieren sich im
Übergang vom Früh- zum Spätaltschwedischen mit lateinisch geprägten
textuellen Normen auch syntaktische Konstruktionen nach lateinischem Muster,
die zuvor entweder gar nicht oder höchstens okkasionell im Schwedischen
auftraten. Solche Strukturen bleiben für die schwedische Schriftlichkeit bis weit
in die Neuzeit prägend, dringen aber offenbar kaum in die gesprochene Sprache
ein (H
ÖDER
2009, 2010: 88ff.; T
ELEMAN
2003).
4
Umgekehrt nimmt die
geschriebene Sprache aber in allen Perioden durchaus Innovationen aus der
Mündlichkeit auf.
Ich spreche hier– in Anlehnung an K
OCHS
/O
ESTERREICHERS
(2007)
Unterscheidung zwischen medialen (Phonie vs. Graphie) und konzeptionellen
(kommunikative Nähe vs. Distanz) Aspekten von Mündlichkeit und
Schriftlichkeit – von der ‚medial-konzeptionellen Spaltung‘ des Schwedischen
in geschriebene und gesprochene Varietäten (H
ÖDER
2010: 88ff.). Diesen
Prozess illustriert Abb. 1:
4
Die im Spätaltschwedischen einsetzende Schriftlichkeit markiert den Beginn einer
schriftsprachlichen Kontinuität, die über den in der Reformationszeit einsetzenden
Buchdruck und die Standardisierung vor allem ab 1700 bis heute andauert. Allerdings
werden gerade die Schriftspezifika ab dem 20. Jahrhundert durch sprachplanerische
Eingriffe massiv zurückgedrängt, so dass man insgesamt von einer
Vermündlichungstendenz hin zum Gegenwartsschwedischen sprechen kann. Ausgeprägt
sind schriftspezifische Merkmale noch in konservativen Texttypen, etwa in der Rechts- und
Kirchensprache.
Frühaltschwedisch
Spätaltschwedisch Neuschwedisch
mündlich
schriftlich
gesprochen
geschrieben
gesprochen
geschriebenLatein
Abb. 1: Medial-konzeptionelle Spaltung (modifiziert nach H
ÖDER
2010: 91, Abb.
4.5)
Dabei ist der konzeptionelle Aspekt der wichtigere. Es ist keineswegs
auszuschließen, dass einzelne geschriebensprachliche Merkmale in der –
gemessen an der Gesamtbevölkerung quantitativ zu vernachlässigenden –
bilingualen Sprechergruppe auch mündlich verwendet worden sind, zumindest
nicht in bloß medialer, nicht aber konzeptioneller Mündlichkeit. Schon durch die
im Mittelalter übliche Form des Lesens als Vorlesens und durch die Praxis der
Ad-hoc-Übersetzung lateinisch konzipierter Predigten in die Volksprache ist zu
erwarten, dass schriftliche Strukturen immer auch medial mündlich realisiert
worden sind. Allerdings ist für solche Kontexte, die alle innerhalb einer kleinen
kulturellen Elite angesiedelt sind, trotzdem von einem hohen Formalitätsgrad
und damit von konzeptioneller Schriftlichkeit auszugehen, die sich von der
konzeptionell mündlichen Gemeinsprache stark abhebt.
Im Gegensatz zu den schriftspezifischen Innovationen stehen
Sprachwandelprozesse vor allem im Bereich der Morphologie und der
Morphosyntax, die insgesamt auf einen Abbau flexivischer Komplexität und
grammatischer Kategorien hinauslaufen (z. B. den vollständigen Abbau
substantivischer Kasusflexion sowie die Reduktion des Genussystems auf zwei
Genera); stellenweise entstehen allerdings auch neue Strukturen wie etwa die
Kategorie Animatheit im Pronominalsystem, also die genusmarkierte
Pronominalisierung inanimater Referenten durch den (Utrum) bzw. det
(Neutrum) gegenüber der sexusmarkierten Pronominalisierung bei animaten
Referenten mit männlichem han gegenüber weiblichem hon. Diese Prozesse
setzen bereits vor der altschwedischen Periode ein und erfassen –
medienunspezifisch – das gesamte festlandskandinavische Dialektkontinuum,
wobei periphere oder isolierte Dialekte sich bis heute konservativer verhalten als
die Küstenregionen; hier stellt der intensive Sprachkontakt zum
Niederdeutschen zumindest einen, wenn nicht den entscheidenden Faktor dar
(vgl. hierzu B
RAUNMÜLLER
2004, 2007).
Insgesamt stellt sich das Altschwedische also als eine von relativ zügigem
Wandel geprägte Sprachstufe dar, in der Veränderungen in der Gesamtsprache
von der einsetzenden medial-konzeptionellen Spaltung und der damit
zusammenhängenden Entstehung spezifisch schriftsprachlicher Merkmale
überlagert werden.
3 Methodische Ansätze
Für eine ansatzweise Rekonstruktion des gesprochenen (Spät-)Altschwedischen
bieten sich primär zwei einander komplettierende methodische Ansätze an, die
im Folgenden eingeführt werden. Mit dem operationalen Ansatz wird aus der
Medienspezifizität bestimmter Strukturen in der schriftlichen Überlieferung
darauf geschlossen, welche Strukturen im gesprochenen Altschwedischen fehlen
und welche Strukturen medienunspezifisch sind. Mit dem indirekten Ansatz
lassen sich gesprochensprachliche Strukturen in verschrifteter Form ermitteln.
3.1 Operationaler Ansatz
Dass bei älteren Sprachstufen nur schriftliche Quellen verfügbar sind, ist
paradoxerweise auch ein Problem für die Forschung zur Schriftlichkeit selbst:
Man kann zwar anhand von Korpusdaten unmittelbar erkennen, dass bestimmte
strukturelle Merkmale in der Schriftlichkeit vorkommen, aber nicht, ob es sich
um spezifisch schriftliche Merkmale handelt (H
ÖDER
2010: 101). Anders
formuliert: Die Medienspezifizität der Korpora insgesamt erlaubt keinen
Nachweis der Medienspezifizität darin enthaltener Merkmale.
Allerdings lässt sich dieses Problem annähernd lösen, wenn man andere
Sprachstufen, eng verwandte Sprachen und typologische Erkenntnisse
einbezieht. Ein Modell dafür liefert die Operationalisierung bei H
ÖDER
(2010:
111ff.). Unter prototypischen Schriftspezifika werden hier Merkmale verstanden,
die drei Kriterien erfüllen:
a. sie sind im geschriebenen Spätaltschwedischen etabliert, d. h. frequent
und produktiv;
b. sie sind innovativ, d. h. kommen in älteren Sprachstufen
(Frühaltschwedisch, Ältestes Nordisch) und zeitgleichen Sprachstufen eng
verwandter Sprachen (vor allem Altisländisch) nicht vor;
c. sie sind schriftspezifisch, d. h. beschränken sich auch in der späteren
Sprachentwicklung auf die geschriebene Sprache, ohne sich auch in der
Mündlichkeit zu etablieren.
Die Anwendbarkeit dieser Kriterien ergibt sich im Wesentlichen aus der oben
diskutierten medial-konzeptionellen Spaltung.
Dieselbe Operationalisierung lässt sich jedoch nicht nur positiv im Hinblick
auf die Schriftspezifika interpretieren, die alle Kriterien erfüllen, sondern
ermöglicht bei negativer Interpretation auch entsprechende Schlüsse auf
gesprochensprachliche Strukturen. Hier lassen sich drei Fälle unterscheiden:
a. etablierte schriftspezifische Merkmale kommen in der gesprochenen
Sprache umgekehrt nicht vor; als schriftspezifisch bewertete Strukturen
sind deshalb für die Mündlichkeit nicht oder nur marginal anzunehmen;
b. etablierte, aber gerade nicht schriftspezifische Merkmale sind auch für
das gesprochene Spätaltschwedische anzunehmen (hier kann es sich um
innovative oder ererbte Formen handeln);
c. spezifisch mündliche Merkmale, die in der Schriftlichkeit nicht
nachweisbar sind, lassen sich – mit aller gebotenen Vorsicht – zum Teil
rekonstruieren, wenn sie in der späteren Mündlichkeit etabliert sind, ihre
Entstehung aufgrund anderer Evidenz aber bereits für die ältere Zeit
anzunehmen ist.
5
Insgesamt lässt sich damit folgendes Operationalisierungsschema für die
Identifikation medienspezifischer und -unspezifischer Merkmale im
Spätaltschwedischen mit jeweils unterschiedlichen Konfigurationen aufstellen
(Tab. 1):
Mündlichkeit
spezifisch
schriftlich
nicht
medienspezifisch
spezifisch
mündlich
schriftlich etabliert
ja ja nein
innovativ ja ja/nein ja
schriftspezifisch ja nein nein
Tab. 1: Operationalisierungsschema
3.2 Indirekter Ansatz
Auch wenn gesprochene Sprache nicht direkt belegt ist, finden sich in
spätaltschwedischen Quellen durchaus Textsequenzen, in denen Mündlichkeit in
Form von direkter Rede präsentiert wird. Solche Passagen sind in der Regel
durch Quotative explizit markiert und zudem implizit durch die Verschiebung
der deiktischen Origo (Personal-, Temporal- und Lokaldeixis) erkennbar, wie (1)
mit den entsprechenden Wechseln bei Personalpronomina und Possessiva
illustriert:
(1) ST: p93
Sancte yrian swaradhe / Llath mik koma fore thina gudha
sankt Yrian antwortete lass mich kommen vor deine Götter
‚Der Heilige Georg antwortete: Lass mich vor deine Götter treten.‘
Solches Material lässt durchaus Schlüsse auf gesprochensprachliche Strukturen
zu. Grundsätzlich besteht jedoch das Problem, dass hier nicht authentische,
sondern fiktionale Mündlichkeit vorliegt: Es ‚sprechen‘ literarische Figuren,
deren Sprachgebrauch für die Mündlichkeit – im Sinne der Sprache
5
Spezifisch mündliche Merkmale können hier nicht im Detail diskutiert werden. Ein
möglicher Kandidat wäre jedoch das Vorkommen der für das gesprochene
Gegenwartsschwedische (wie auch das übrige gesprochene Festlandskandinavische)
charakteristischen epistemisch-evidentiellen Modalpartikeln wie ju ‚doch, ja‘ oder nog
‚wohl‘. Die areale Distribution dieser Klasse wie auch frühe Belege legen nahe, dass hier
eine durch den Kontakt zum Deutschen bedingte Innovation vorliegt, die das
Inselnordische nicht und die Schriftlichkeit erst spät erreicht hat.
kommunikativer Nähe (K
OCH
/O
ESTERREICHER
2007) – des schwedischen
Spätmittelalters nicht unbedingt repräsentativ sein dürfte.
Allerdings bestehen durchaus Unterschiede zwischen verschiedenen Genres.
So besteht die altschwedische Visionsliteratur zu einem großen Teil aus
Monologen, die als direkte Rede biblischer Figuren dargestellt werden. Hier
erscheint die Mündlichkeit als ein reines Stilmittel, das mit prototypisch
mündlichen Kommunikationssituationen praktisch nichts gemein hat. Beispiel
(2) zeigt den Anfang eines solchen Abschnitts, in dem theologische
Überlegungen der Jungfrau Maria im Gespräch mit dem Teufel in den Mund
gelegt sind:
(2) BL: p173
Iomffrwn gwdz modher swaradhe / Hør thw dyæffwll hwath iach
Jungfrau-
DEF
Gottes Mutter antwortete höre du Teufel was ich
tich swarar / Tha thw war skapadher tha tæktis gwd geffwa tich
dir antworte als du warst geschaffen da gefiel Gott geben dir
vndherstandilsse / ath vetha […]
Verständnis zu wissen
‚Die Jungfrau, Gottes Mutter, antwortete: Höre, Teufel, was ich dir
antworte. Als du geschaffen worden warst, gefiel es Gott, dich mit dem
Wissen auszustatten […]‘
Im Gegensatz dazu stehen dialogische Sequenzen vor allem in narrativen
Texten, die in konkrete Kommunikationssituationen eingebettet sind, selbst
wenn diese mehr oder weniger deutlich fiktionalen Charakter haben. Das
illustriert etwa die in Teilen dialogische Passage in (3), die erzählt, wie eine
Gruppe sich mit einer List über die Pflicht zur Mitarbeit beim Kirchenbau
hinwegzusetzen versucht:
(3) ST: p54f.
The komo fram oc folkit som ærwodhade taladhe til them sighiande /
sie kamen an und Volk-
DEF REL
arbeitete sprach zu ihnen sagend
Kære brødher hielpin oos for gudz skuld at ærwodha een litin tyma /
liebe Brüder helft uns für Gottes Schuld zu arbeiten eine kleine Zeit
The swaradho / wi hafwom een dödhan man at føra / thy kunnom wi
sie antworteten wir haben einen toten Mann zu führen deshalb können wir
her ekke dwelias / Tha taladhe iwlianus til them oc saghdhe / Miin kæro
hier nicht aufhalten dann sprach Julianus zu ihnen und sagte meine lieben
barn skimpen ekke mz warum herra / oc sæghin ekke osant for
Kinder spottet nicht mit unserem Herrn und sagt nicht unwahr für
gudhy / The swaradho / Sannelika førum wi een dødhan / Julianus
Gott sie antworteten wahrlich führen wir einen toten Julianus
saghdhe / wardhe oc ske æpter idhrom ordhum
sagte werde und geschehe nach euren Worten
‚Sie kamen an, und die Leute, die arbeiteten, sprachen zu ihnen: Liebe
Brüder, helft uns um Gottes willen eine Weile zu arbeiten. Sie
antworteten: Wir haben einen Toten dabei, deshalb können wir uns hier
nicht aufhalten. Da sprach Julianus zu ihnen: Meine lieben Kinder,
lästert nicht unseren Herrn, und sagt nicht die Unwahrheit vor Gott. Sie
antworteten: Wirklich, wir haben einen Toten dabei. Julianus sagte: So
soll es werden und geschehen, wie ihr sagt.‘
Hier sind trotz des offensichtlich theologischen Kontextes typische
Rahmenbedingungen gesprochener Sprache erkennbar, also etwa Face-to-face-
Kommunikation, Sprecherwechsel oder die Referenz auf im Diskurs Gesagtes.
Die entscheidende Frage ist nun, welchen Stellenwert die in Korpusdaten
belegte fiktionale Mündlichkeit für die Rekonstruktion struktureller
Besonderheiten der authentischen gesprochenen Sprache haben kann. Klar ist,
dass man nicht von einer Eins-zu-eins-Übereinstimmung ausgehen darf. Klar ist
auch, dass der Authentizitätsgrad fiktional-mündlicher Passagen je nach
literarischem Kontext verschieden ist. Im Hinblick auf die Differenz zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit bedeutet das: Fiktionale Mündlichkeit dürfte
strukturell tendenziell näher an der Schriftlichkeit liegen als authentische
Mündlichkeit, d. h. weniger gesprochensprachliche Spezifika und mehr
Schriftspezifika aufweisen als das tatsächlich gesprochene Spätaltschwedische.
Umgekehrt kann man aber zugleich annehmen, dass strukturelle Differenzen
zwischen fiktionaler Mündlichkeit und geschriebener Sprache nicht zufällig
sind, sondern gerichtet: Wo fiktionale Mündlichkeit von der Schriftlichkeit
abweicht, nähert sie sich zugleich (in unterschiedlichem Ausmaß) der
tatsächlichen Mündlichkeit an (Abb. 2).
Abb. 2: Authentische Mündlichkeit – fiktionale Mündlichkeit – Schriftlichkeit
Entsprechend sind auch sprachliche Strukturen in fiktionaler Mündlichkeit
interpretierbar: Übereinstimmungen mit der übrigen geschriebenen Sprache sind
irrelevant, Abweichungen stellen dagegen Evidenz für gesprochensprachliche
Strukturen dar.
4 Ein Beispielfall: Relativsatzbildung
Im Folgenden werden beide diskutierten methodischen Ansätze miteinander
kombiniert und im Rahmen einer Pilotstudie auf einen Beispielfall, die Bildung
von Relativsätzen im Spätaltschwedischen, angewandt.
4.1 Korpus
Für eine empirisch basierte Analyse syntaktischer Strukturen im
Spätaltschwedischen bietet sich ein Teilkorpus aus dem Hamburg Corpus of Old
Swedish with Syntactic Annotation (HaCOSSA) an (H
ÖDER
2011b). Dieses
Teilkorpus mit einem Umfang von 113.300 Wörtern enthält eine Auswahl von
Prosatexten, die verschiedene Genres repräsentieren (vgl. den Überblick in Tab.
2).
Sigle Text Genre
BA Birgitta-autografen A (Cod. Holm. A 65, SFSS 1.58) Visionsliteratur
BK Heliga Birgittas uppenbarelser, Buch 4, Kap. 1–20,
40–60 (Cod. Holm. A 5a, SFSS 1.14.2)
Visionsliteratur
BL Heliga Birgittas uppenbarelser, Buch 7 (SFSS 1.84) Visionsliteratur
CG Ordning vid val af Confessor Generalis i Vadstena
kloster (Cod. Ups. C 74)
kirchliches Statut
HA Herr abboten (Cod. Holm. D 4a, SFSS 1.28) profane Prosa
JP Aff Joan prest aff India land (Cod. Ups. C 213, SFSS
1.28)
profane Prosa
MU Heliga Mechtilds uppenbarelser (Cod. Holm. A 13, Visionsliteratur
Schriftlichkeit
fiktionale
Mündlichkeit 1
fiktionale
Mündlichkeit 2
authentische
Mündlichkeit
Sigle Text Genre
SFSS 1.32), Kap. 1–20
PP Pentateukparafrasen, Genesis (Cod. Holm. A 1, SFSS
1.60)
religiöse Prosa
SS Sermones sacri Svecice (Cod. AM 787 4°, SFSS 1.86)
Predigtsammlung
ST Själens tröst, Einleitung und Zweites Gebot (Cod.
Holm. A 108, SFSS 1.59)
religiöse Prosa
VE Stadga af år 1443 för Vadstena klosters ekonomi
(Cod. Ups. C 46)
kirchliches Statut
VF Handlingar på svenska rörande ’Vårfrupänningen’ till
Vadstena klosters byggnad och underhåll, Texte 3–8
kirchliche Akten
Tab. 2: Texte in HaCOSSA
6
Die Quellen sind auf der Basis vorhandener gedruckter Editionen digitalisiert
und im Hinblick auf bestimmte grammatische und textuelle Merkmale im XML-
Format annotiert (für die technische Dokumentation des Vorgehens und des
verwendeten Tagsets vgl. H
ÖDER
2011a, 2012). Damit stellt HaCOSSA in
korpuslinguistischer Terminologie eine Form einer Baumbank dar. Die
Annotation folgt etablierten computerphilologischen Standards und ermöglicht
damit automatisierte Abfragen der Quelltexte sowie der annotierten Merkmale in
beliebigen, auch sehr komplexen Kombinationen in Form sogenannter XPath-
Ausdrücke.
4.2 Relativsatzbildung im Altschwedischen
Das Altschwedische kennt im Wesentlichen drei Möglichkeiten der
Relativsatzbildung bei nominalen Antezedenzien (adnominale Relativsätze); es
geht hier also nicht um Relativsätze mit adverbialem Korrelat oder um freie
Relativsätze.
7
Relativsätze können zunächst durch eine Relativsubjunktion
(zumeist sum, auch þär) markiert sein, also einen satzinitialen unflektierten
Subordinator, der keine Informationen über das Antezedens oder die Funktion
des Relativums im Relativsatz kodiert; dies ist nur aus dem Kontext zu
erschließen. Beispiel (4) illustriert diesen Typ:
6
Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die Bezeichnungen der Kodizes und die
zugrunde liegenden diplomatischen Ausgaben in den Samlingar utgivna av Svenska
fornskriftsällskapet (SFSS).
7
Zur Relativsatzbildung im Altschwedischen vgl. auch den Überblick bei W
ESSÉN
(1956:
227ff.) und die Untersuchungen von L
INDBLAD
(1943) und W
ENNING
(1941).
(4a) ST: p88
Jak ær christus thin konunger som thu thiænar
ich bin Christus dein König
REL
du dienst
‚Ich bin Christus, dein König, dem du dienst.‘
(4b) ST: p87
[…] then høxte […] konunger ther nokon tidh war fødder
der höchste König
REL
irgendeine Zeit war geboren
‚[…] der höchste König, der jemals geboren wurde‘
Auch bei uneingeleiteten, d. h. nullmarkierten, Relativsätzen wie in (5) sind
Antezedens und syntaktische Funktion des Relativums nur aus dem Kontext
erkennbar:
(5a) MU: p23f
alth thz godha jak giordhe j minom mandom
alles das gute ich tat in meiner Menschlichkeit
‚all das Gute, das ich in meiner Menschlichkeit tat‘
(5b) JP: p348
Varth härberge wi soffwom i
unser Wohnung wir schlafen in
‚unsere Wohnung, in der wir schlafen‘
Daneben gibt es noch Relativsätze, die durch satzinitiale Relativpronomina (vor
allem hviliken und þän) markiert werden, also flektierte Subordinatoren, die in
Genus und Numerus vom Antezedens regiert werden, während der Kasus
(soweit überhaupt markiert) durch ihre syntaktische Funktion im Relativsatz
determiniert ist. Diesen Typ illustriert (6):
(6a) BL: p149
kærlekin / hwlkin høxth ær j allom dygdom
Liebe-
DEF
.
SG
.
M
REL
-
SG
.
M
.
NOM
höchst ist in allen Tugenden
‚die Liebe, die unter allen Tugenden die höchste ist‘
(6b) BL: p162
thet klædith om hwlkith hans korsfæstare dobbladho
das Kleid-
DEF
.
SG
.
N
um
REL
-
SG
.
N
.
ACC
seine Kreuziger spielten
‚das Kleid, um das seine Kreuziger spielten‘
Hinzu kommen hybride Bildungen, bei denen Relativpronomina und
-subjunktionen kombiniert werden wie in (7):
(7) BL: p160
mangha pawa waro før iohannez pawa hwlke som føro till hælwitis
viele Päpste waren vor Johannes Papst
REL
-
PL
.
NOM REL
fuhren zu Hölle
‚Es gab viele Päpste vor Papst Johannes, die zur Hölle fuhren‘
4.3 Ergebnisse 1: Medienspezifizität
In HaCOSSA sind die verschiedenen Strategien der Relativsatzbildung auf
Satzebene annotiert, ebenso die funktionalen Relativsatztypen (restriktive vs.
appositive Relativsätze). Anhand kombinierter Abfragen der entsprechenden
Tags lässt sich die Distribution der unterschiedlichen Strategien der
Relativsatzbildung und der funktionalen Relativsatztypen im Korpus
untersuchen. Dabei ergibt sich, dass im geschriebenen Spätaltschwedischen alle
Strategien etabliert sind, wobei es deutliche Frequenzunterschiede gibt. Tab. 3
zeigt die Distribution:
sub-
junktional
pronominal nullmarkiert
hybrid gesamt
1.147
461
193
207
2.008
Tab. 3: Strategien der Relativsatzbildung im geschriebenen Spätaltschwedischen
Subjunktionale Relativsätze sind also (mit insgesamt 57,1 % der Tokens)
weitaus häufiger als die übrigen Markierungstypen, unter denen wiederum die
pronominale Markierung (23,0 %) gegenüber den selteneren hybriden (10,3 %)
und nullmarkierten Relativsätzen (9,6 %) dominiert. Allerdings verteilen sich
die Markierungstypen unterschiedlich auf die funktionalen Relativsatztypen
(Tab. 4):
sub-
junktional
pronominal nullmarkiert
hybrid gesamt
restriktiv 766
141
174
92
1.173
appositiv 381
320
19
115
835
gesamt 1.147
461
193
207
2.008
Tab. 4: Strategien und funktionale Typen
Insbesondere restriktive Relativsätze werden deutlich seltener pronominal
markiert (12,0 %) als appositive (38,3 %). Hier deutet sich also eine Tendenz zu
einer funktionalen Differenzierung der Markierungstypen an, bei der
pronominale Relativsätze vor allem Appositivität markieren. Diese Tendenz
wird noch deutlicher sichtbar, wenn man die Strategien der Relativsatzbildung
so gruppiert, dass solche mit pronominaler Komponente (PK) und solche ohne
pronominale Komponente kontrastieren. Tab. 5 zeigt, dass appositive
Relativsätze überwiegend (52,1 %) mit einer PK markiert werden, restriktive
dagegen deutlich seltener (19,9 %).
+PK –PK gesamt
restriktiv 233
940
1.173
appositiv 435
400
835
gesamt 668
1.340
193
Tab. 5: PK-Markierung und funktionale Typen
Wie detaillierte Analysen (H
ÖDER
2009, 2010: 199ff.) vor dem Hintergrund
eines Vergleichs mit älteren Sprachstufen und eng verwandten Sprachen
ergeben, stellen gerade diese appositiven Relativsätze mit PK eine Innovation
dar. Im Frühaltschwedischen sind sie seltener, im Altwestnordischen kommen
sie nur okkasionell im sogenannten ‚gelehrten Stil‘ vor (vgl. Faarlund 2004:
259ff.). Darüber hinaus zeigt sich, dass die innovativen Strukturen im
Zusammenhang mit dem Ausbau des Altschwedischen zur Schriftsprache zu
sehen sind und konkret auf die Übernahme und Adaptation lateinischer
Satzverbindungsmuster zurückgehen (vgl. speziell zum Relativpronomen
hviliken auch W
ESSÉN
1941: 78f., L
INDBLAD
1943: 132ff., W
OLLIN
1983:
134ff.).
In dieselbe Richtung weist auch die Verteilung im Neuschwedischen. Hier
kommen Relativsätze mit PK nur in der konservativen Schriftlichkeit vor (vgl.
auch P
ETTERSSON
1976), während sich in der gesprochenen Sprache
ausschließlich Relativsätze ohne PK finden (nullmarkierte nur in restriktiven
Sätzen und nicht mit allen syntaktischen Funktionen); hybride Markierungen
fehlen ganz. Appositive Relativsätze sind im Neuschwedischen bis in die
Gegenwart stärker in der Schriftlichkeit verbreitet als in der Mündlichkeit, wo in
solchen Kontexten nicht-relative Strategien der Satzverbindung präferiert
werden, insbesondere die Pronominalisierung durch anaphorische Formen.
Insgesamt lässt sich dieses Ergebnis im Sinne der folgenden These
interpretieren: Die Entstehung appositiver und mit PK markierter Relativsätze
im Altschwedischen kann als schriftspezifische Innovation gelten; entsprechend
muss man davon ausgehen, dass sie im gesprochenen Spätaltschwedischen nicht
etabliert gewesen sind. Subjunktionale und nullmarkierte Relativsätze
erscheinen dagegen als medienunspezifisch, sie müssen also auch für das
gesprochene Spätaltschwedische angenommen werden, wobei insgesamt eher
restriktive als appositive Relativsätze anzunehmen sind.
4.4 Ergebnisse 2: Fiktionale Mündlichkeit
Ergänzend zu den bisherigen Ergebnissen können nun Unterschiede zwischen
fiktionaler Mündlichkeit und der übrigen Schriftlichkeit analysiert werden.
Grundlage ist dabei die Annotation direkter Rede im Korpus durch ein Tag auf
Satzebene (im Kontrast zum Fehlen dieses Tags außerhalb direkter Rede). Hier
ergibt sich zunächst das Bild in Tab. 6:
+PK –PK gesamt
FM restriktiv 144
440
584
appositiv 266
182
448
gesamt 410
622
1.032
ÜS restriktiv 89
500
589
appositiv 169
218
387
gesamt 258
718
976
gesamt 668
1340
2.008
Tab. 6: PK-Markierung und funktionale Typen (fiktionale Mündlichkeit vs. übrige
Schriftlichkeit)
Dieses Ergebnis scheint im Hinblick auf die Verteilung von Relativsätzen mit
bzw. ohne PK auf die funktionalen Typen zunächst den bisherigen Annahmen zu
widersprechen: Zwar tendieren sowohl in fiktionaler Mündlichkeit (FM) als
auch in der übrigen Schriftlichkeit (ÜS) deutlich eher appositive als restriktive
Sätze zur Markierung mit PK. Legt man die These zugrunde, dass mit PK
markierte und appositive Relativsätze schriftspezifische Innovationen sind und
dass außerdem fiktionale Mündlichkeit sich der authentischen Mündlichkeit
strukturell zumindest annähert, wäre aber zu erwarten gewesen, dass PK in den
als direkte Rede annotierten Passagen weniger häufig auftreten als in anderen
Textsequenzen. Stattdessen liegen die Anteile jedoch in fiktionaler Mündlichkeit
(mit 24,7 % bei den restriktiven und 59,4 % bei den appositiven Sätzen) über
denen in der übrigen Schriftlichkeit (mit nur 15,1 % bzw. 43,7 %).
Diese Analyse berücksichtigt aber noch nicht den unterschiedlichen
Authentizitätsgrad fiktional-mündlicher Passagen je nach Genre. In der Tat zeigt
ein exemplarischer Vergleich zwischen einem Visionstext (BL, 13.792 Wörter)
und einem stärker narrativen Text (ST, 20.594 Wörter) hier erhebliche
Abweichungen. Zunächst ist festzustellen, dass der Anteil direkter Rede am
Gesamtumfang des Textes stark divergiert: BL weist 82,71 % direkte Rede auf,
ST nur 22,8 %.
8
Diese Differenz reflektiert die bereits diskutierte Verwendung
von direkter Rede als Stilmittel in der Visionsliteratur, die dort vielfach in für die
Mündlichkeit atypischen Kommunikationssituationen vorkommt, während sie in
ST eher in typische Dialogsituationen eingebettet ist.
Darüber hinaus zeigen die beiden Texte auch die aufgrund des verschiedenen
Authentizitätsgrades erwartbaren Unterschiede in der Verteilung der Markierung
mit PK auf die funktionalen Relativsatztypen. Das illustriert Tab. 7:
BL ST
+PK –PK gesamt +PK –PK gesamt
FM restriktiv
44
77
121
5
36
41
appositiv
83
48
131
5
13
18
8
Zum Vergleich: Für das gesamte Korpus liegt der Anteil bei 45,8 %.
gesamt 127
125
252
10
49
59
ÜS restriktiv
8
19
27
17
101
118
appositiv
22
2
24
52
64
116
gesamt 30
21
51
69
165
234
gesamt 157
146
303
79
214
293
Tab. 7: PK-Markierung und funktionale Typen (fiktionale Mündlichkeit vs. übrige
Schriftlichkeit)
In ST liegt der Anteil von Sätzen mit PK in fiktionaler Mündlichkeit insgesamt
bei lediglich 16,9 % gegenüber 29,5 % in der übrigen Schriftlichkeit. Restriktive
Sätze sind hier insgesamt nur selten (12,2 % in FM, 14,4 % in ÜS) mit PK
markiert, appositive deutlich häufiger, insbesondere in der übrigen
Schriftlichkeit (44,8 % gegenüber nur 27,8 % in FM). Auch der Anteil
appositiver Sätze insgesamt ist in der fiktionalen Mündlichkeit deutlich geringer
(30,5 %) als in der übrigen Schriftlichkeit (50,0 %). Das entspricht recht gut den
ursprünglichen Erwartungen.
Dagegen zeichnet die Verteilung in BL ein weniger klares Bild: Hier liegt der
Anteil von Sätzen mit PK in der fiktionalen Mündlichkeit insgesamt bei 50,4 %
gegenüber 58,8 % in der übrigen Schriftlichkeit. Restriktive Sätze sind
insgesamt häufiger mit PK markiert (36,4 % in FM, 29,6 % in ÜS). Appositive
Sätze mit PK sind zwar erwartungsgemäß in fiktionaler Mündlichkeit seltener
(63,4 %) als in der übrigen Schriftlichkeit (91,7 %), insgesamt aber auch in
direkter Rede gemessen an den ursprünglichen Erwartungen wesentlich zu
häufig.
Die Einbeziehung des Authentizitätsgrades ermöglicht insgesamt also eine
differenziertere Betrachtung: Wo direkte Rede im Hinblick auf die
kommunikativen Rahmenbedingungen eher authentischer Mündlichkeit
entspricht (ST), spricht vieles für die These, dass PK und appositive Relativsätze
eher schriftspezifisch sind. Bei einem geringeren Authentizitätsgrad der
fiktionalen Mündlichkeit (BL), ist das Bild weniger deutlich oder sogar ins
Gegenteil verkehrt.
5 Fazit
Die methodologische Diskussion und die exemplarische Analyse zeigen: Man
kann von den ‚stummen Ohrenzeugen‘ historischer Mündlichkeit keine direkte
Aussage erwarten, der damit notwendige Indizienprozess ist aber dennoch recht
vielversprechend. Im Fall der spätaltschwedischen Relativsatzbildung liefert der
operationale Ansatz Ergebnisse zur Medienspezifizität bestimmter Strukturen,
die sich empirisch (per Definition) zwar nicht direkt bestätigen lassen, die aber
durch den indirekten Ansatz unterstützt werden, wenn die Analyse der
Verhältnisse in fiktionaler Mündlichkeit den unterschiedlichen
Authentizitätsgrad der jeweiligen Passagen einbezieht. Es spricht insgesamt
einiges für die These, dass die Strategien der Relativsatzbildung mit PK und der
funktionale Typ der appositiven Relativsätze, insbesondere in Kombination
miteinander, trotz ihres Vorkommens in den Quellen in der Mündlichkeit nicht
etabliert sind. Für das gesprochene Spätaltschwedische, also die
spätmittelalterliche Gemeinsprache, sind demnach primär Relativsätze ohne PK
und restriktive Relativsätze anzunehmen.
Selbstverständlich sind die Möglichkeiten damit nicht ausgereizt. Auch
anhand des verwendeten Korpus sind weitere Analysen möglich. Insbesondere
könnten neben den exemplarisch ausgewählten Texten BL und ST weitere
Quellen qualitativ im Hinblick auf den Authentizitätsgrad fiktionaler
Mündlichkeit untersucht und dann in die Diskussion einbezogen werden.
Denkbar und sinnvoll wäre auch eine differenzierte Analyse unterschiedlicher
Passagen innerhalb derselben Texte, die sich in der Funktion direkter Rede je
nach Kontext unterscheiden können. Das geht über den Rahmen der hier
vorgestellten Pilotstudie und den angestrebten methodologischen Beitrag jedoch
hinaus.
Generell erweist sich eine Rekonstruktion struktureller Merkmale
spätaltschwedischer Mündlichkeit in Ansätzen als möglich. Eine solche
Rekonstruktion schöpft ihre Plausibilität aus der Kombination unterschiedlicher
Argumente und Vorgehensweisen, in diesem Fall aus der Verbindung von
qualitativer und quantitativer korpuslinguistischer Analyse, typologischem
Abgleich, sozio- und kontaktlinguistischen Argumenten sowie
sprachhistorischem Wissen. Bei der Bewertung der Ergebnisse bleiben Vorsicht
und Skepsis jedoch geboten.
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