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Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der BNE
Die Kernidee transformativen Lernens und seine Bedeutung für informelles Lernen
In: Umweltdachverband GmbH (Hrsg.): Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Im Wandel.
Forum Umweltbildung im Umweltdachverband: Wien, S. 130-139
Transformative Bildung ist zu einem neuen Schlüsselbegriff in der Szene des globalen
Lernens und in der BNE avanciert. Doch steckt hinter dem Begriff mehr als „alter Wein in
neuen Schläuchen“? Wo liegt der Unterschied zu bisherigen Konzepten? Und wie wird die
Mündigkeit der Lernenden gewährleistet, wenn sie zu einer allumfassenden Transformation
erzogen werden sollen?
„Education is not widely regarded as a problem, although the lack of
it is. The conventional wisdom holds that all education is good, and the more
of it one has, the better...The truth is that without significant precautions,
education can equip people merely to be more effective vandals of the earth.“
(Orr 2004, S.5)
Transformative Bildung als Bildung für Transformation?
Der Begriff „Transformative Bildung“ ist seit dem Gutachten des WBGU zur „Großen
Transformation“ (2011) in der deutschsprachigen Nachhaltigkeitsszene beliebt geworden.
Der entwicklungspolitische Dachverband VENRO hat es im Rahmen einer eigenen
Veranstaltung im Vorfeld der nationalen Abschlusskonferenz zur UN-Dekade BNE
aufgegriffen1 und ein Diskussionspapier „Globales Lernen als transformative Bildung für eine
zukunftsfähige Entwicklung“ veröffentlicht. Der Leiter, der Abteilung Politik beim
evangelischen Entwicklungsdienst „Brot für die Welt“, Klaus Seitz hat in einem Vortrag in
Loccum Ende Juni 2015 sieben Thesen über eine Transformative Bildung aufgestellt (vgl.
Seitz 2015). Besonders in der Szene des Globalen Lernens avanciert das Konzept zu einem
beliebten Schlagwort, um eine Bildung für eine nachhaltige Transformation zu beschreiben.
Die Popularität des Konzeptes der transformativen Bildung geht einher mit einer
zunehmenden Kritik an einer BNE (Huckle/ Wals 2015), die vor allem aus Sicht einiger
zivilgesellschaftlichen Akteure nicht radikal genug ist und vor allem die Dimension globaler
Verteilungsgerechtigkeit und der damit verbundenen Wachstumskritik zu langsam aufgreift
(Selby/ Kagawa 2011). Zu wenig wird gefragt, inwiefern auch das herkömmliche
Bildungssystem zu einer nicht-nachhaltigen Werteentwicklung beiträgt (Seitz 2015, S. 13f.,
VENRO 2014, S. 10f.) und die mentalen Infrastrukturen (Welzer 2011) entscheidend in
einem nicht-nachhaltigen Sinne mitprägt. Doch was steckt hinter diesem neuen Hype? Was
wird mit einer transformativen Bildung gemeint?
1 http://venro.org/uploads/tx_igpublikationen/Abschlussdokumentation_BNE-Konferenz_2014.pdf
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen
(WBGU) hat den Begriff in seinem Hauptgutachten von 2011 erstmals prominent in die
Debatte gebracht. Er beschreibt die Rolle der Bildung in der gesellschaftlichen
Transformation in Richtung Nachhaltigkeit in zweifacher Hinsicht. Einerseits skizziert er eine
Transformationsbildung, die auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der
Transformationsforschung eine Bildung zur Teilhabe ermöglicht (WBGU 2011, S. 374). Sie
reflektiert „kritisch die notwendigen Grundlagen, wie ein fundiertes Verständnis des
Handlungsdruckes und globales Verantwortungsbewusstsein (...). Gleichzeitig generiert sie
Ziele, Werte und Visionen, um dem Handeln Einzelner die notwendige Richtung zu geben.“
(ebd., Hervorhebung durch die Autorin)
Andererseits beschreibt der WBGU eine transformative Bildung, „die ein Verständnis für
Handlungsoptionen und Lösungsansätze ermöglicht. Dazu gehört zum Beispiel Wissen zu
klimaverträglichem Mobilitätsverhalten, Wissen zu nachhaltiger Ernährung oder Wissen zu
generationenübergreifender Verantwortung. Entsprechende Bildungsinhalte betreffen z. B.
Innovationen, von denen eine transformative Wirkung zu erwarten oder bereits eingetreten
ist“ (ebd., Hervorhebung durch die Autorin). Mit diesem zweifachen Bildungsverständnis hat
der WBGU zwar inhaltlich an die Debatten angeknüpft, die auch im Rahmen einer BNE oder
des Globalen Lernens geführt werden, allerdings ohne die Konzeptionen der
Transformationsbildung und transformativen Bildung konzeptionell und theoretisch zu
unterfüttern oder an die erziehungswissenschaftliche Diskussion zurückzubinden.
Das würde (außer einige spitzfindige WissenschaftlerInnen) nur wenige AkteurInnen
besonders stören. Was an dem WBGU-Verständnis von transformativer Bildung jedoch auch
aus einer praktischen Perspektive zu kritisieren ist, dass er eine Art der Bildung skizziert, die
häufig als instrumentelle Bildung FÜR Nachhaltigkeit gefasst wird (vgl. u.a. Vare/ Scott 2007;
Sterling 2010). Sie informiert Individuen über die Notwendigkeit eines globalen Wandels und
unterstützt sie dabei auf der Grundlage rationaler Entscheidungen ihr Handeln in Richtung
eines geringeren ökologischen und sozialen Fußabdruckes auszurichten (Vare/ Scott 2007,
S. 193). Auch viele der internationalen BNE-Dokumente greifen auf solch ein
Bildungsverständnis zurück, das Bildungsprozesse direkt in den Dienst gesellschaftlicher
Transformationsprozesse im Kontext Nachhaltigkeit stellt. Dies dient der besseren
Durchsetzung einer BNE, weil solch ein Bildungsverständnis im Konzept relativ klar ist und
das Potential hat kurzfristig und schnell ökologische und soziale Wirkungen zu erzielen (vgl.
ebd.).
Transformative Bildung als Bildung zur Emanzipation
Kritisch angemerkt wird bei solch einer Bildung FÜR Nachhaltigkeit, dass sie Lernprozesse
instrumentalisiere und die Lernenden zu wenig dazu ermuntere in einem demokratischen
und oft auch kontroversen Diskurs über Nachhaltigkeit zu partizipieren. Wichtige Fragen
werden bei einem stärker instrumentellen Bildungsansatz ausgeklammert: Wo kommt das
relevante Nachhaltigkeits-/ Transformationswissen her? Wer hat die Themen und
Wissensgebiete für das Lehr/Lernsetting ausgesucht und nach welchen Maßstäben wird
bewertet?
Letztlich bindet sich eine so verstandene transformative Bildung/ BNE einen Bären auf, denn
schnell wird die Frage aufgeworfen, inwiefern es legitim ist, Lernende mit der
Transformationsaufgabe Nachhaltigkeit in der Absicht der persönlichen Verhaltensänderung
zu konfrontieren. Laut dem Beutelsbacher Konsens darf vor allem die politische Bildung nicht
auf eine Verhaltensänderung bei den Lernenden abzielen, da sie sonst die Pluralität diverser
Möglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft negiere (vgl. Wehling 1977) und die
Lernenden in den eigenen politischen Meinungen „überwältige“.
Daher wird in den emanzipatorischen Ansätzen BNE im Sinne einer Bildung ALS
Nachhaltige Entwicklung (Vare/Scott 2007, Sterling 2010, Wals u.a. 2008) beschrieben und
damit auf das Ziel verwiesen, Individuen zu befähigen in gesellschaftlichen
Transformationsprozessen aktiv zu partizipieren. Die emanzipatorische Form der BNE
umfasst die kritische Reflexion und kontroverse Diskussion von individuellen und
gesellschaftlichen Leitbildern, Normen und Werten. Was bedeutet Nachhaltigkeit in dem
spezifischen kulturellen Kontext? Wie sieht eine globale und gerechte Gesellschaft in den
planetaren Grenzen aus? Welches Ziel verfolgen darin Bildungsakteure und was ist die
Qualität der spezifischen Lernerfahrung?
Mit der emanzipatorischen Form der BNE wird die Selbstreflexionsfähigkeit von Individuen
gestärkt und ihre Fähigkeit gefördert als Folge einer diskursiven Praxis autonom
Entscheidungen treffen können (vgl. Sterling 2010, S. 514). Hier sollen nicht
Nachhaltigkeitswerte von Lehrenden an Lernende vermittelt werden, sondern kritisches
Denken bei Lernenden kultiviert werden – auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, dass
Individuen kurzfristig nicht unbedingt nachhaltigere Verhaltensweisen entwickeln. Der WBGU
beschreibt zwar als Ziel einer Transformationsbildung/ transformativen Bildung eine „Bildung
zur Teilhabe“ (WBGU 2011, S. 374) und würde sich mit seinem Bildungsverständnis daher
auf den ersten Blick in die emanzipatorischen Ansätze einreihen. Bei genauerem
Hinschauen zeigt sich jedoch, dass auch er den Lernenden „die notwendige Richtung“ (ebd.)
vorgeben will, von denen eine „transformative Wirkung zu erwarten“ (ebd.) ist. Letztlich bleibt
im Gutachten offen, wie diese transformative Bildung konkret aussehen kann und welche
didaktischen Methoden zu ihrer Umsetzung vorgeschlagen werden.
Transformative Lerntheorien und ihr Potential für BNE/ Globales Lernen
Ein Blick in die Theorien der Erwachsenbildung kann hier weiter Aufschluss geben, denn das
transformative Lernen ist als Perspektive bereits seit einigen Jahrzehnten diskutiert und
entwickelt worden. Herkömmliche Lerntheorien gehen meist von einem additiven
Verständnis von Lernen aus. In erfolgreichen Lernprozessen soll bei den Lernenden neues
Wissen zu bisherigen Wissensbeständen hinzugefügt werden und so zu veränderten
Handlungsdispositionen beitragen. Lernende sollen sich besser erinnern und konkret
abgesteckte Aufgaben und Probleme lösen können. Was viele Lerntheorien nur
unzureichend beachtet haben, ist die Reflexion als Ausgangspunkt und Bedingung (1) für
überlegtes Handeln, (2) für eine veränderte Interpretation von Kontexten und Situationen
sowie (3) für die Verankerung des Gelernten im dauerhaften Interpretations- und
Handlungsrepertoire (vgl. Mezirow 1997, S. 82).
Hier setzen die Ansätze des transformativen Lernens an. Sie sehen erfolgreiche
Lernprozesse dann, wenn sich die grundlegenden Muster, die dem menschlichen
Wahrnehmen und Interpretieren zugrunde liegen, verändern. „Transformatives Lernen
beinhaltet einen tiefen strukturellen Wandel der Grundannahmen des Denkens, Fühlens und
Handelns. (...) Es beinhaltet unser Selbstverständnis und unsere Selbstverortung: unsere
Beziehung zu anderen menschlichen Wesen und zur natürlichen Welt, unser Verständnis
von Machtbeziehungen in verschränkten Strukturen der Klasse, der Rasse, des
Geschlechtes, unser Verständnis des eigenen Körpers, unsere Visionen alternativer
Lebensentwürfe und unseren Sinn für Möglichkeiten für das Erreichen sozialer Gerechtigkeit
und persönlicher Erfüllung.“ (O'Sullivan /Morrell/ O’Connor 2002: xvii, Übersetzung durch die
Autorin). Das transformative Lernen lenkt also den Blick nicht auf einen Zuwachs an Wissen
und Kompetenzen, sondern auf eine Veränderung der Grundvoraussetzungen des
menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns.
Ein wichtiger Vordenker des transformativen Lernens ist Jack Mezirow gewesen. Er
beschrieb diese Grundvoraussetzung des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns als
Bedeutungsperspektiven (vgl. Mezirow 1997, S. 4) im Sinne orientierungsgebender
Schablonen für die Wahrnehmung und Interpretation neuer Erfahrungen (vgl. ebd., S. 10). In
gewisser Weise funktionieren diese Bedeutungsperspektiven wie Brillen, die vor unseren
Augen sitzen und uns eine objektive Wahrnehmung verwehren (vgl. Arnold 2009, S. 29).
Gerade weil sie im Alltag ein hohes Maß an Sicherheit bieten, sind sie besonders schwer zu
verändern – sie sind identitätsgebend und emotional verankert (vgl. auch Zeuner 2012/ Illeris
2013).
Die Problemstellungen der Nachhaltigkeit sind jedoch besonders oft mit Fragen der Identität
verknüpft. Welche Bedeutung wird einer gesunden und intakten Umwelt sowie einer globalen
Gerechtigkeit zugeschrieben? Inwiefern sieht sich das lernende Individuum selbst als
wirksam an, wenn es sich in Nachhaltigkeitsfragen engagiert? Wie stehen wichtige
Bezugspersonen der Lernenden persönlichen Veränderungen in Richtung eines auf
ökologische und soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Handelns gegenüber, also wie sind
individuelle Handlungsveränderungen sozial anschlussfähig? Das sind Fragen die im
Rahmen von transformativen Lernprozessen Identitäten verändern können – nicht als große
Identitäts-Neuentwürfe, aber als nuancierte Veränderungen von Perspektiven, die für
Lernende identitätsprägend sind. Diese Form der persönlichen Veränderungen geht weit
über einen reinen Wissenszuwachs über Transformationsprozesse hinaus.
Da die Bedeutungsperspektiven von den Lernenden selbst relativ schwer zu verändern sind,
werden transformative Lernprozesse meist durch Irritationen in den persönlichen Weltbildern
und kleine Krisen in den Perspektiven auf die Welt und das Selbst ausgelöst (Mezirow 1997;
auch Koller 2012, S. 71). Diese Irritationen können beispielsweise dann auftreten, wenn die
Lernenden einschneidende und berührende Erfahrungen machen: Filme über
Massentierhaltung, Erfolge in größeren politischen Projekten, die Mitwirkung in einer
Transition-Town-Initiative und die sich damit wandelnde Bedeutung von Nachbarschaftshilfe.
Auf der Grundlage solcher Erfahrungen werden bisherige Bedeutungsperspektiven reflektiert
und einer Veränderung zugänglich gemacht. Ein entscheidender Faktor dabei ist ein
herrschaftsfreier Diskurs mit Mitlernenden und die Möglichkeit über diese Veränderungen
kollektiv reflektieren zu können (vgl. Mezirow 1991), denn tatsächlich werden viele der
transformativen Lernprozesse in einem informellem Raum erlebt. In dem geschützten Raum
einer Gruppe kann die Reflexion und daraus folgend eine Emanzipation von bisher
verborgenen Bedeutungsperspektiven oder Welt- und Selbstbildern ausprobiert und gefestigt
werden.
Auf dieser Grundlage können Lernende neue Bedeutungsperspektiven aufbauen und
erproben. Letztlich führt dies zu mehr Reflexivität und zu einer veränderten Beziehung
(Sterling 2010) mit der menschlichen und nicht-menschlicher Mitwelt. Es ist genau dieser
tiefe strukturelle Wandel in den Grundannahmen des Denkens, Fühlens und Handelns, der
in der Konsequenz auch dazu führt, dass globale Ungerechtigkeit und Ausbeutung von
Mensch und Natur von Lernenden besser wahrgenommen und bearbeitet werden können.
Besonders die südamerikanischen Ansätze der Befreiungspädagogik (Freire 1970) haben
diesen emanzipativen Aspekt von Lernprozessen herausgearbeitet und das transformative
Lernen damit maßgeblich um eine kollektiv-soziale Perspektive erweitert. Hier steht eine
Bewusst-Werdung als Instrument der Befreiung des Menschen von subtilen
Unterdrückungsmechanismen oder latenten Alltagsideologien (Brookfield 2000) im
Mittelpunkt. Wiederum durch einen herrschaftsfreien Raum und den ehrlichen Dialog auf
Augenhöhe erproben Lernende im Rahmen problemorientierter Lernsettings ein
Wechselspiel von Aktion und Reflexion das letztlich zu einer gemeinsamen Bewusst-
Werdung über gesellschaftliche Missstände führt und diese auch verändern kann.
Transformative Lernprozesse konkret – eine Fallstudie im informellen Raum
Transformative Lernprozesse wurden auch im Rahmen einer Fallstudie der
„Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung“ untersucht (vgl. Singer-Brodowski 2016).
Dafür wurden die Lernprozesse Studierender in einem selbstorganisiertes
Nachhaltigkeitsseminar an der Universität Erfurt im Bereich des Studium Fundamentale2
analysiert. In diesem Seminar haben Studierende verschiedener Disziplinen die Möglichkeit
eigene Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Im Rahmen einer Vorlesungsreihe werden
zu Beginn des Semesters zunächst zentrale Themen der Nachhaltigkeit vorgestellt.
Anschließend findet ein Treffen mit PraxispartnerInnen (aus Stadtverwaltung,
Bildungseinrichtungen, Schulen und Nichtregierungsorganisationen der Stadt Erfurt) statt,
auf dem die PraxispartnerInnen sich selbst, ihre Organisationen und bereits konkrete
Projektideen für eine Zusammenarbeit mit den Studierenden vorstellen. Über einen Zeitraum
von ungefähr acht Wochen arbeiten die Studierenden danach mit den Praxisakteuren
zusammen, bereiten die Projekte vor und setzen sie um. Beispiele für Projekte sind die
didaktische Konzeption und Realisierung eines Waldtages für Kinder einer lokalen
Grundschule oder die Organisation eines konsumkritischen Stadtrundgangs.
2 https://www.uni-erfurt.de/nachhaltigkeit/studium-fundamentale-sustainability/
Zusätzlich haben die Studierenden die Option, eigene Projektideen zu entwickeln und
gemeinsam mit ihren KommilitonInnen durchzuführen. Das didaktische Prinzip der
Selbstorganisation erfordert von den Studierenden, dass sie alle notwendigen Schritte zur
Vorbereitung, Umsetzung und Nachbereitung der Projekte selbst gestalten. Die
Projektergebnisse werden am Ende des Semesters einem hochschulöffentlichen Publikum
vorgestellt und im Rahmen einer Projektmesse diskutiert. Zur wissenschaftlichen Bewertung
der Leistung wird von den Studierenden ein wissenschaftlicher Reflexionsbericht angefertigt,
der die Projekterfahrungen in die theoretische Debatte um Nachhaltigkeit/ BNE einordnet.
Der selbstorganisierte Charakter des Seminars wird dadurch unterstrichen, dass ein
studentisches Organisationsteam für die Koordination des gesamten Seminars zuständig ist.
Es stellt die Rücksprachen mit den wissenschaftlichen MentorInnen sicher, macht
Vorschläge für die ReferentInnen für die einführenden Vorlesungen und ist erster
Ansprechpartner für die anderen Projektgruppen sowie für die PraxispartnerInnen. Die
wissenschaftlichen MentorInnen wiederum motivieren und unterstützen das
Organisationsteam bei der Realisierung der Seminargestaltung.
Die Fallstudie stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie Studierende in diesem
selbstorganisierten und problemorientierten Nachhaltigkeitsseminar lernen und wie sie sich
den Lerngegenstand Nachhaltigkeit in diesem Seminar erschließen. Insgesamt wurden 18
Interviews geführt, 2 Gruppendiskussionen mit zwei unterschiedlichen Organisationsteams
realisiert und die Planungsseminare des Organisationsteams per Video aufgezeichnet. Die
Ergebnisse der Fallstudie finden sich ausführlich in Singer-Brodowski (im Erscheinen).
Im Kontext des Ansatzes transformativen Lernens kann festgehalten werden, dass die
Studierenden sich den Lerngegenstand Nachhaltigkeit, das Nachhaltigkeitskonzept
erschlossen in dem sie bei den für sie subjektiv relevanten Aspekten begannen, eigene
Muster zu reflektieren (eigene Ernährungsgewohnheiten, eigene Vorstellungen von
wirksamen lokalen Nachhaltigkeitsengagement, eigene Wertvorstellungen bezüglich der
Organisation im Team). Diese Aspekte waren im Sinne von Bedeutungsperspektiven eng mit
den Identitäten der Studierenden verknüpft und damit ihrer Wahrnehmung und Interpretation
der Welt zugrunde gelegt. Ein Beispiel kann das stärker verdeutlichen. Eine Studentin
beschrieb zu Beginn des Seminars, dass ihr eigenes Nachhaltigkeitsengagement aus
kleinen Projekten bestehe (Verzicht auf Fleisch in der eigenen Ernährung, Schonung von
Ressourcen im alltäglichen Leben). Durch die Teilnahme an dem Seminar begann sie auch
größere Projekte zu erkennen und diese in ihrer Wirksamkeit zu verstehen. Damit meinte sie
lokale Nachhaltigkeitsnetzwerke, politische Initiativen und Nachhaltigkeitsorganisationen in
der Stadt, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Durch die Seminarteilnahme erfuhr sie,
wie Nachhaltigkeit nicht nur im individuellen Leben umgesetzt werden kann, sondern auch
als struktureller und politischer Prozess vor Ort Wirkung zeigen kann – ein Wandel ihrer
Bedeutungsperspektive bezogen auf die Wirksamkeit in kleinen und großen Projekten.
Insgesamt nutzten die Studierenden vor allem den informellen Raum der selbstorganisierten
Gruppenarbeit dazu über ihre subjektiv relevanten Bedeutungsperspektiven zu reflektieren.
Sie gelangten darüber zu einer gesteigerten Reflexivität und zu verantwortungsvolleren
Handlungen. Nicht zuletzt konnten sie in den Projektgruppen Wertvorstellungen,
biographische Erfahrungen im Kontext Nachhaltigkeit und Emotionen diskutieren. Vor allem
das informelle Format der selbstorganisierten Projektgruppen ermöglichte ihnen, dass sie in
einem hierarchiefreien Diskursraum individuelle Handlungsalternativen besprachen oder
darüber verhandelten, wie ihre eigenen Projekte Nachhaltigkeitskriterien genügen konnten.
Transformative Lernprozesse ermöglichen
Aus der Theorie transformativen Lernens und den Ergebnissen der Fallstudie können für die
Praxis der BNE/ des Globalen Lernens einige Empfehlungen abgeleitet werden. Zwar kann
zu Recht angezweifelt werden, ob sich transformative Lernprozesse initiieren und steuern
lassen, doch einige didaktische Elemente können dazu genutzt werden, sie zu ermöglichen.
Eine wesentliche Voraussetzung für die Stimulierung transformativer Lernprozesse sind
problembasierte und selbstorganisierte Lehr-Lern-Settings, in denen Lernende konkrete
Erfahrungen mit Nachhaltigkeit machen und Reflexionsräume über diese Aktivitäten nutzen
können (vgl. auch Taylor 2007, S. 182). Es ist das Wechselspiel von Aktion und Reflexion,
das auch in verschiedenen anderen didaktischen Methoden ermöglicht werden kann
(Zukunftswerkstätten, Planspiele, Podiumsdiskussionen etc.). Was in allen didaktischen
Methoden dabei zentral bleibt, ist die Intensität der Erfahrung und die Qualität der Reflexion
darüber.
Der informelle Charakter kleiner Projektgruppen zur Umsetzung eines
Nachhaltigkeitsprojektes bietet dabei diskursive Räume zur kontroversen
Auseinandersetzung zwischen Lernenden über Nachhaltigkeitsthemen. Dabei repräsentieren
die Lernenden meist eine Wertepluralität im Kleinen, die auch gesamtgesellschaftlich
existiert. Es kann daher sehr fruchtbar sein, Lernende mit einem hohen Grad an
Nachhaltigkeitserfahrung mit „Nachhaltigkeits-Newcomern“ zu mischen. Dann werden Ziel-
und Wertekonflikte, die charakteristisch für Nachhaltigkeitsthemen sind, zwischen den
Lernenden verhandelt, ohne dass es zu einer Beeinflussung oder Überwältigung der
Lehrenden kommen kann. Dafür ist es entscheidend, dass die informellen Projektgruppen
hierarchiefreie Diskursräume kultivieren und beispielweise am Anfang der Projektarbeit
Kommunikationsregeln erstellt werden.
Nicht zuletzt lenkt die Perspektive des transformativen Lernens den Blick auf krisenhafte
Erfahrungen und emotionale Berührtheit im Kontext eines Nachhaltigkeitslernens. Besonders
die normativen Problemstellungen der Nachhaltigkeit lösen häufig auch negative Gefühle der
Überforderung, Hilflosigkeit oder auch des Widerstandes bei Lernenden aus. Diese Gefühle
sollten von Lehrenden sensibel aufgenommen und begleitet werden, zum Beispiel in einer
kollektiven Thematisierung oder individuellen Reflexion. Dann können auch die positiven
Emotionen die mit Nachhaltigkeit verknüpft sind, stärker zur Geltung kommen, wie zum
Beispiel die Selbstwirksamkeitserfahrung in der Realisierung konkreter Projekte.
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