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Saladin und der Alte vom Berge. Geschichtsdidaktische Zugriffe auf Islambilder in parabolischen westlichen Kreuzzugsromanen

Authors:
  • University of Education Freiburg im Breisgau
FACHDIDAKTIK 49
Beiträge zur
Fachdidaktik 4/2010
Felix Hinz
Saladin
und
Der Alte vom Berge
Geschichtsdidaktische Zugriffe auf Islambilder
in parabolischen westlichen Kreuzzugsromanen
Historische Romane
Der historische Roman erlebt seit ei-
nigen Jahren eine Renaissance. Bis-
lang ist es zumeist die Germanistik,
die auf diese Entwicklung reagiert,
doch auch die Geschichtsdidaktik
vermag hier einen wichtigen Bei-
trag zu liefern. Die offensichtlichen
Berührungsängste der Geschichts-
wissenschaften mit dem histori-
schen Roman liegen vermutlich da-
rin begründet, dass Historiker ihn
meist als trivialen Gegenstand be-
trachten, der Geschichte eher ver-
dreht und ausschmückt, statt sie
inhaltlich zu erhellen. Doch die-
ses Vorurteil verstellt den Blick auf
die großen Chancen, die die Unter-
suchung historischer Romane für
das Fach Geschichte hinsichtlich
der Frage nach seiner öffentlichen
Wahrnehmung bietet (Geschichts-
kultur). Die kategorische Ableh-
nung teilfiktiver Gattungen sitzt ei-
ner fachwissenschaftlichen Selbst-
täuschung auf: Gänzlich ohne Ima-
ginationen ist Geschichte – auch
streng fachwissenschaftlich verstan-
den – nicht möglich. Es lohnt also
durchaus, sich kritisch mit solchen
zu befassen.
Um dies im Folgenden näher aus-
zuführen, ist es zunächst notwen-
dig, das Genre genauer zu definie-
ren. Unstrittig ist, dass ein histori-
scher Roman in einer Zeit vor seiner
eigenen Entstehung handelt. Seine
näheren Fächer-Koordinaten be-
stimmt Hugo Aust (ein Germanist)
in seinem Standardwerk Der histo-
rische Roman treffend wie folgt: Er
„entfaltet sich im ‚Dreiländereck‘
der autonomen Poesie, der exakten
Geschichtswissenschaft und der le-
gitimierenden Didaktik. Sein Amt
liegt darin, Geschichte zu reprä-
sentieren; dies besorgt er in drei-
facher Weise: Er verlebendigt Ver-
gangenes, deutet Geschehenes und
ist selbst Teil der Geschichte.“ (Aust
1994, VII). Seine geschichtsdidak-
tisch ergiebigen Merkmale bestehen
v. a. im Zeitkonflikt bzw. im herme-
neutischen Zusammenprall unter-
schiedlicher Zeitalter (mithin der
Pluralität und also Relativität von
Zeiten und Epochen), im Reisemo-
tiv, im Motiv des Schwankens, Um-
besinnens und Frontwechsels.
Die Autoren historischer Roma-
ne sind selten Historiker, doch der
Selbstanspruch an historische Ge-
nauigkeit war von Beginn an (Sir
Walter Scott: Waverley; or Tis Sixty
Years Since, 1814) bemerkenswert
hoch. Das Grundwissen der gängi-
gen Fachbücher kann man heute bei
den meisten Autoren voraussetzen,
viele von ihnen lassen sich auch auf
Reisen von historisch relevanten Er-
innerungsorten inspirieren.
Ein homogenes Bild bietet das
breite Genre des historischen Ro-
mans jedoch nicht. Unterscheiden
lassen sich der rekonstruktive und
der parabolische Typ. Während die
rekonstruktive Variante auf die mög-
lichst authentische Wiedergabe ei-
ner historischen Epoche oder Per-
son zielt und am ehesten in der klei-
nen Teilgattung des „Professoren-
romans“ ihren Niederschlag erfährt
(Felix Dahn, Umberto Eco), versteht
die parabolische Variante die histori-
sche Kulisse eher als Spiegel für die
eigene Gegenwart (Aust 1994, 33).
Beide Varianten jedoch tun so, als
verkündeten sie im Sinne des His-
torismus die „geschichtliche Wahr-
heit“ und geben sich ein möglichst
wissenschaftliches Erscheinungs-
bild: Historische Karten, Vorwort,
Glossar, Bibliographie und biswei-
len sogar Fußnoten lassen sie fach-
lich seriös erscheinen. Das ist litera-
rische Täuschung. Bei der Behand-
lung des historischen Romans darf
nie außer Acht gelassen werden,
dass er eben erstens Roman und
zweitens keine Historie ist (Döblin
1963, 169). Auch die Fußnoten, Kar-
ten und Glossare unterliegen ggf.
der künstlerischen Freiheit.
Aus diesem Grund kann ein his-
torischer Roman methodisch nicht
Quelle für die Epoche sein, von
der er handelt. Sehr wohl jedoch
kann er unter Anwendung pers-
pektivisch-ideologiekritischer Ver-
fahren als Quelle für seine Entste-
hungszeit dienen. Besonders ergie-
big sind hier der parabolische Typ
sowie auch der historische Jugend-
Roman (für 10–14-Jährige), da ers-
terer, wie gesagt, selbstreflexive Aus-
sagen über seine Gegenwart zu tref-
fen pflegt und die zweite Art qua
definitionem einen dezidiert päda-
gogischen Ansatz verfolgt und mit-
hin eine ebenfalls gegenwartsbezo-
gene „Moral aus der Geschichte“
zieht. Vor allem in zentralistischen
Staaten wurden Jugendromane seit
den Freiheitskriegen gegen Napole-
on ganz bewusst in den Dienst der
patriotischen Wertevermittlung ge-
50 FACHDIDAKTIK
stellt. Diese ist demnach ihrerseits
historisch bedingt und kann ent-
sprechend gedeutet werden.
Ein solcher rezeptionsgeschicht-
licher Ansatz ist anspruchsvoll, setzt
bereits einen gewissen geschichtli-
chen Überblick voraus und ist daher
nur für die Sekundarstufe II geeig-
net. Die Gegenüberstellung ausge-
wählter Romanpassagen und deren
Kontrastierung mit historischem
Quellenmaterial reduziert nicht nur
erheblich den Leseaufwand, sondern
kann gezielt auf die Unterrichtsin-
tentionen der Lehrkraft zugespitzt
werden. Die Lektüre des gesamten
Romans ist jedoch methodisch nicht
ausgeschlossen. In solchen Klassen
der Sekundarstufe I, die stets meh-
rere Minuten benötigen, bis die
zum Unterricht nötige Ruhe herge-
stellt ist, können jeweils die ersten
fünf Minuten auch zum sukzessiven
Vorlesen eines historischen Romans
durch die Lehrkraft genutzt werden.
(Es ist wichtig, hier nicht Schüler/-
innen lesen zu lassen, da es in die-
ser Situation darauf ankommt, ef-
fektvoll vorzutragen und die Klasse
sich ausschließlich auf den Inhalt
konzentrieren zu lassen.) Der mo-
tivationale Effekt ist oft erstaunlich
hoch und für beide Seiten kräfte-
schonend. Der für die weitere Arbeit
mit dem Text gängige Weg dürfte
hingegen sein, den Roman kapitel-
weise als Hausaufgabe vorbereiten
zu lassen, um das Gelesene im Un-
terricht gebührend zu bearbeiten.
Hierbei kann wichtige Medienkom-
petenz vermittelt werden.
Viele Schüler/-innen werden nach
ihrer Schulzeit mit Geschichte nur
noch über Spielfilme und Romane
in Berührung kommen. Sie einer-
seits zur eigenständigen Weiterbil-
dung im Bereich der Geschichte zu
motivieren und ihnen hierfür ande-
rerseits das nötige Instrumentarium
an die Hand zu geben, muss für jede
Fachlehrkraft ein vordringliches An-
liegen sein.
Einen historischen Roman kann
man methodisch in vielfacher Wei-
se angehen. Bei jedem unterrichtli-
chen Ansatz hat es jedoch zunächst
darum zu gehen, Fakten von Fiktio-
nen (und weiter Spekulationen von
kritischen Schlussfolgerungen) zu
trennen. In einem zweiten Schritt
müssen die sich hieraus ergebenden
Differenzen interpretiert werden.
Einsatz historischer Romane im Geschichtsunterricht
Bedenken beim Einsatz historischer Romane im Geschichtsunterricht:
• RomaneenthaltenvielePassagenfachlichwertlosenFabulierens,dasfal-
sche Vorstellungen bei den Schülern/-innen wecken könnte.
• EinegeschlosseneErzählungsuggeriertnichtvorhandenehistorischeEin-
deutigkeit.
• KonkretheitkannbeimLeserdenirreführendenEindruckerwecken,esdi-
rekt mit vergangener Realität zu tun zu haben.
• PersonalisierungderGeschichtekanndazuführen,denBlickfürdieeben-
falls historisch wirkmächtigen Strukturen zu verstellen.
• RomanemiteinemtypischenUmfangvon300-600SeitenkönnenSchüler/
-innen an Zeitaufwand und Komplexität überfordern und mithin frustrie-
ren.
• Schüler/-innenkönntendurchdieRomanerzählungemotionalüberwäl-
tigt werden, sodass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erzählten
erschwert oder gar verunmöglicht wird.
Chancen beim Einsatz historischer Romane im Geschichtsunterricht:
• HistorischeRomanekönnenintrinsischeMotivationfürdasFachGeschich-
te fördern, die dazu führt, sich selbstständig auch jenseits des Unterrichts
mit historischen Fragen zu beschäftigen.
• EskönnenLückengefülltwerden,diemitschriftlicherÜberlieferungnicht
zu bedienen sind. „Stumme Gruppen“ können zum Sprechen gebracht wer-
den. Allein durch Quellenarbeit und den schulischen Unterricht ergibt sich
für Schüler/-innen oft kein schlüssiges Gesamtbild. Die zusammenhängen-
de Erzählung kann sehr viel prägender für das Geschichtsbewusstsein der
Schüler/-innen sein als die weitgehend isolierten Einzelfacetten, die der
durch Zeitnöte geprägte Unterricht bietet.
• Personizierungen(nichtzuverwechselnmitPersonalisierungen,s.o.)er-
leichtern Empathie. Durch den „Blick von unten“ können auch alltags- und
mentalitätsgeschichtliche Aspekte in den Blick genommen werden.
(Zusammengefasst u. ergänzt auf Grundlage von Rox-Helmer 2006, 16-19)
Methodische Zugriffe, einen Roman im Geschichtsunterricht zu
analysieren
a) Grundschule
• eineLesekistebasteln(d.h.ineinemSchuhkartonGegenständesammeln,
die mit bestimmten Textpassagen assoziiert werden; Objekte können ggf.
auch gemalt oder gebastelt werden; Inhaltsangabe oder Kapitelübersicht im
Kartondeckel. Die Methode dient dazu, sowohl in den Familien der Schüler/-
innen als auch im Sachunterricht Gesprächsanlässe über eine Geschichte zu
liefern.)
b) Sekundarstufe I
• einGlossaroderLexikonzumRomanerstellen,indemLemmatazuFak-
tischem und Fiktivem deutlich voneinander getrennt sind
• eineZeitleistezumRomanerstellen,wobeifaktischeGeschichteoberhalb,
fiktive Geschichte unterhalb des Zeitstrahls erscheint
• produktionsorientierteVerfahren:LückenderErzählungtriftigfüllen(Briefe,
Tagebucheinträge); alternatives Ende erfinden; Fortsetzung schreiben etc.
c) Sekundarstufe II
• einenRomanaushistorischerSichtrezensieren
• einenRomanalsQuellefürdenZeitgeistunddieMentalitätseinerEntste-
hungszeit interpretieren
FACHDIDAKTIK 51
Die Deutung fiktionaler Elemen-
te kann in vielerlei Hinsicht pädago-
gisch und didaktisch wertvolle Dis-
kussionsfragen aufwerfen, die z. B.
in Bezug auf dezidierte Lehren und
Mottos insbesondere der Jugendro-
mane neben dem historischen auch
das moralische Bewusstsein der
Schüler/-innen schärfen können.
Im Folgenden soll näher ausge-
führt werden, wie ein Roman me-
thodisch als historische Quelle für
den Zeitgeist seiner Entstehungs-
zeit genutzt werden kann. Konkret
wird dies am Bild des Westens vom
Islam gezeigt, und zwar am histori-
schen Thema „Die Kreuzzüge“, das
auch in den schulischen Curricula
enthalten ist.
Kreuzzugsromane
Das Mittelalter erfreut sich in der ak-
tuellen Geschichtskultur, das heißt
in der öffentlichen Medienwelt jen-
seits von Wissenschaft und Schu-
le, zu der auch historische Romane
zählen, einer großen Beliebtheit.
Dies mag daran liegen, dass die mit-
telalterliche Welt zwar für anders
als die heutige, aber gemeinhin für
nicht so fremd gehalten wird, dass
sie unzugänglich und unverständ-
lich wäre. Sie bietet einen bunten,
überschaubaren, bisweilen auch
schaurigen Kontrast zur anonymen,
hektischen und technisierten Ge-
genwart. Dass das in den Romanen
gezeichnete Bild dieser Epoche vor
allem Vorstellungen des 19. Jahr-
hunderts transportiert (das das „Mit-
telalter“ ja quasi erst erfand; Groeb-
ner 2008 u. 2010) und somit weit
mehr Fiktion ist, als es den meis-
ten Lesern, ja selbst den meisten
Romanautoren bewusst sein dürf-
te, erstaunt Historiker nicht. Der
„Orient“ übt von der kontemplativ
wirkenden Wüste bis hin zu westli-
chen Haremsphantasien für Euro-
päer noch immer eine große Faszi-
nation aus. Der (Lebens-) Weg von
Kreuzfahrer-Protagonisten bietet
hierbei den narrativen Faden der Fi-
gurenentwicklung, sodass man bei
den meisten Erzählungen gleichsam
behaupten könnte, dass der Kreuz-
zug für den Roman-typischen „mitt-
leren Helden“, und damit für den
sich in Empathie übenden Leser,
zum Selbstfindungstrip gerät. So
äußert zum Beispiel der junge Roger
zu seinem Vater im Roman Die Ar-
mee der Kinder von Evan Rho-
des über den Kinderkreuzzug: „Es
ist gewissermaßen mein eigener
Kreuzzug, weil ich auf dem Weg
nach Jerusalem erkennen werde,
wer ich bin und was ich sein soll.“
(Rhodes 1982, 123) Das Zeitalter der
Globalisierung bietet zwar schein-
bar unendlich viele Angebote (sei
es nun in der realen oder in der vir-
tuellen Welt, wobei letztere mittler-
weile ebenfalls höchst real ist), doch
was ihr gerade deshalb mangelt, sind
Momente der Ruhe sowie klare Ori-
entierungsmuster. Auch wenn in der
westlichen Wohlstandsgesellschaft
kaum mehr jemand bereit ist, sich
für eine Bußfahrt in Schulden zu
stürzen und sein Leben zu riskie-
ren, ist pilgern light wieder in, sei
es nun zu Fuß, mit dem Fahrrad –
oder nur in Gedanken. Denn: „Sind
wir nicht alle Pilger? Sind wir nicht
unser ganzes Leben lang Suchen-
de?“ (Schweikert 2006, 40) Wenn
dieser Prozess zudem in eine span-
nende Geschichte verpackt wird,
umso besser, denn trotz allem ver-
langen heutige Konsumgewohnhei-
ten mehr als stille Betrachtung. Die
Kreuzzüge bieten eine ideale Kom-
bination beider Bedürfnisse und er-
scheinen in parabolischen Romanen
gewissermaßen als action-Pilgern.
Und das Konzept geht offensichtlich
auf: Derzeit erscheinen in Deutsch-
land mehrere Kreuzzugsromane
monatlich. (Leicht recherchierbar
unter http://www.histo-couch.de)
Das Verhältnis von Fakten und
Fiktionen ist in parabolischen Ro-
manen, wie gesagt, ein Spiel, ein
So-tun-als-ob, bei dem auch kriti-
sche Selbstbespiegelungen des Le-
sers beziehungsweise der Gesell-
schaft des Autors und seiner Leser
erfolgen können. Tagespolitische
Debatten werden hier aufgegriffen
und in fremdem Gewand rückpro-
jiziert. Derartige aktuelle Fragen
betreffen zurzeit vor allem das Ver-
hältnis des Westens zur islamischen
Welt: Befinden sich beide auf Kolli-
sionskurs? Woraus nährt sich der
Hass islamistischer Terroristen auf
den Westen? Warum sehen auch
viele nicht-extremistische Muslime
in den derzeit laufenden westlichen
Interventionen eine Neuauflage der
Kreuzzüge? (Riley-Smith 2008, 76)
Und daraus folgend: Welche Verstän-
digungsmöglichkeiten gibt es mit
der islamischen Welt?
Analyse-Hinweise für personifizierte Geschichte
in historischen Romanen
• IstdiebetreffendePersonrepräsentativfüreinebestimmte(soziale,religi-
öse, kulturelle etc.) Gruppe?
• WirddiebetreffendePersonmiteineranderenhistorischenPersonvergli-
chen oder steht sie sogar parabolisch für eine andere – ggf. aus einer ande-
ren Zeit oder Kultur?
• IstdiebetreffendePersonüberwiegendHandelnderoderLeidenderderge-
schichtlichen Handlung und der vorherrschenden Verhältnisse?
• WelcheindividuellenodergesellschaftlichenKoniktestehenimHandlungs-
focus? Inwiefern können sie als exemplarisch gelten?
• FließenEindrückeüberhistorischeLebensverhältnisseundalltagsgeschicht-
liche Aspekte in die Handlung ein? Wird Geschichte in der Handlung für den
Leser scheinbar lebendig?
• WelchemoralischeBewertungerfährtdiebetreffendePersondurchdenEr-
zähler oder (indirekt) durch die Handlung?
• WelcheLösungenwerdenwiegefunden?WerdensiedurchdieLeistungen
Einzelner erreicht, erscheinen sie zufällig oder werden sie auf überindivi-
duelle Kräfte zurückgeführt?
(Erweitert auf Basis von Rox-Helmer 2006, 55-56)
52 FACHDIDAKTIK
Der Umstand, dass parabolische
Romane hinsichtlich dieser aktuel-
len Problemfelder bedenkenswerte
Ansätze bieten, mag den rationalen
Anreiz des Romanthemas „Kreuzzü-
ge“ ausmachen. Schließlich möch-
te man ja gern „nebenbei“ noch „et-
was lernen“.
Im Sinne der gebotenen didakti-
schen Reduktion soll der Focus im
Folgenden auf die beiden personifi-
zierten Extrempole der westlichen
Sicht auf muslimische Protagonis-
ten der Kreuzzugsromane gerich-
tet werden: einerseits auf den „Alten
vom Berge“, den Altmeister der is-
lamistischen Terrorgeschichte, und
andererseits auf Sultan Saladin, den
in westlichen Augen „edlen Muslim“
schlechthin.
Der Alte vom Berge
Der 11. September 2001 und weite-
re Anschläge in Madrid (11. 3. 2004)
und London (7. 7. 2005) markieren
einen tiefen Einschnitt hinsichtlich
des westlichen Bildes vom Islam.
US-Präsident George W. Bush jun.
reagierte, gefolgt von einer „Koali-
tion der Willigen“, mit einer Inter-
vention im Irak sowie in Afghanis-
tan. Seit diesen Ereignissen ist der
islamistische Terror medial omni-
präsent. Die genannten Interven-
tionskriege werden wiederum in
der muslimischen Welt vielfach als
neuer Kreuzzug gegen den Islam
verstanden. Aus dieser Perspektive
spielt es offenbar weniger eine Rol-
le, welche Motive im Einzelnen für
die Kriege damals und heute vorla-
gen, als vielmehr schlicht die Tatsa-
che, dass „Ungläubige“ beziehungs-
weise „der Westen“ islamisches Ge-
biet angreifen und „besetzen“.
Als Haupt des unsichtbaren, „Al-
Qaida“ genannten Feindes galt und
gilt gemeinhin Usama Bin Laden,
der sich momentan in den Bergen
der pakistanischen Stammesgebie-
te versteckt halten soll. Da man aber
weder genau weiß, über welche Au-
torität er tatsächlich 2001 verfüg-
te oder aktuell verfügt, noch, ob er
sich wirklich in Pakistan aufhält,
wirkt dies auf die westliche Phanta-
sie umso anregender und verschafft
ihm eine Aura des Unheimlichen.
Die Kreuzzugszeit kannte eine
vergleichbare Figur: Rašīd ad-Dīn
Sinān (ca. 1133/1135–1192), den
„Alten vom Berge“, Sektenführer
der schiitisch-ismailitischen Assas-
sinen im heutigen Syrien. Seine bis
in den Tod bedingungslos treuen
Attentäter waren damals unter den
fränkischen (= lateinischen) Chris-
ten so berüchtigt, dass sich noch
heute die Worte für „ermorden“ in
vielen europäischen Sprachen von
ihrem Namen herleiten (eng. to as-
sassinate, frz. assassiner, span. ase-
sinar, ital. assassinare usw.). Doch
die Assassinen ermordeten nicht
nur Christen wie in einem Fall so-
gar den König von Jerusalem (Kon-
rad von Montferrat, † 1192), sondern
bedrohten auch das Leben von Mus-
limen, z. B. des mächtigen Ayyubi-
den-Sultans Saladin, von dem weiter
unten noch die Rede sein wird und
der es nach mehreren Todesdrohun-
gen und Anschlägen auf sein Leben
schließlich aufgab, die Terror-Sek-
te seiner Herrschaft zu unterwer-
fen (Asbridge 2010, 294-296). Selbst
nur ein kleines Territorium beherr-
schend, setzten sich die Assassinen
unter Rašīd ad-Dīn Sinān auf diese
Weise mit wechselnden Bündnissen
sowohl gegen die Kreuzfahrer als
auch gegen die muslimischen An-
rainerstaaten zur Wehr.
In den meisten historischen Ro-
manen wurde „Der Alte vom Berg“
auch vor „nine-eleven“ erwartungs-
gemäß als Personifikation des Bö-
sen dargestellt, als skrupelloser Mör-
derfürst, der mit geradezu unheim-
licher Macht über seine wie seelen-
lose Puppen agierende Gefolgschaft
herrschte. So schildert Peter Ber-
ling in seinem Roman Das Blut der
Könige beispielsweise eine Szene, in
der Sinān einen Gesandten mit fol-
gender Szene psychisch zermürbt,
bis dieser ihn kleinlaut bittet, da-
mit aufzuhören: „Jedesmal, wenn
der Alte vom Berge klatschte, sprang
einer und blieb mit zerschmetter-
ten Gliedern liegen!“ (Berling 1993,
245) Robyn Young erklärt in Die
Blutritter: „Jahrhundertelang hat-
ten die syrischen Assassinen Angst
und Schrecken unter den Menschen
verbreitet, ganz gleich, ob es sich
um Christen, Sunniten oder Mus-
lime handelte. Sie waren fanatische
Anhänger des ismaelitischen Zwei-
ges des schiitischen Glaubens und
geräuschlose Mörder, deren Wage-
mut und gerissene Vorgehenswei-
se geradezu legendär waren. Zwi-
schen die Rippen unzähliger Män-
ner, die sich ihnen oder ihren Über-
zeugungen entgegenstellten, hatte
sich ein Assassinendolch gebohrt.
Bis vor fünf Jahren hatten sie die ge-
samte Gegend mittels eines Netzes
von Bollwerken beherrscht, die zu
Zeiten Saladins von ihrem berüch-
tigsten Anführer Sinan, des Alten
vom Berge, erbaut worden waren.
Und obwohl die meisten Angehöri-
gen dieses Geheimbundes, die fidais,
wie sie genannt wurden, jetzt nicht
mehr viel mehr waren als von Bay-
bars [mamelukischer Sultan, 1223–
1277, FH] kontrollierte gedungene
Mörder, genügte ihr Name immer
noch, um jedem, der ihn hörte, ei-
nen kalten Schauer über den Rü-
cken zu jagen.“ (Young 2008, 297)
Eine abweichende, als Quelle für
die Gegenwart interessante Inter-
pretation der Assassinen bietet Wolf-
gang Hohlbein in seiner Romanrei-
he Die Templerin. Hauptprotagonis-
tin dieser Geschichte ist die junge
Friesin Robin, die aufgrund einiger
schuldhafter Verstrickungen hoch-
rangiger Templer getarnt als „Bru-
der Robin“ notgedrungen mit ihnen
ins Heilige Land ziehen muss. Zu
der kleinen Gruppe dieser Templer
gehört überraschenderweise auch
der Sohn des Alten vom Berge, Sa-
lim, in den sich Robin verliebt. (So-
weit die vor dem 9/11 publizierte
Vorgeschichte.) Die historisch ver-
bürgten wechselnden Allianzen der
Sekte nimmt Hohlbein auf und dich-
tet ihnen ein Geheimbündnis mit
dem christlichen Templerorden an.
Salim begründet seine Anwesenheit
gegenüber Robin wie folgt: „Mein
Vater ist ein Scheich. Ein sehr ein-
FACHDIDAKTIK 53
flussreicher und mächtiger Mann.
Als Abbé [ein hochrangiger Temp-
ler der Gruppe, FH] vor zehn Jahren
in sein Land kam, da hat er erkannt,
daß es für unseren Stamm den si-
cheren Untergang bedeuten würde,
sich den fremden Eroberern zu wi-
dersetzen. Andere haben das nicht
erkannt und wurden ausgelöscht,
aber mein Vater und Abbé schlossen
ein Bündnis. Ich bin das Unterpfand
dafür.“ (Hohlbein 1999, 377) Diese
enge Beziehung zum geliebten As-
sassinen führt (nach dem 9/11!) zu
einer erstaunlichen Bewertung der
Sekte durch Robin: „Man sagte viel
über Raschid Sinan, den Alten vom
Berge, und manches davon mochte
wahr sein. Manches kam der Wahr-
heit vermutlich nicht einmal nahe.
Aber eines war er gewiss nicht: ein
Mörder.“ (Hohlbein 2004, 317)
Diese Meinung trifft bei den meis-
ten Templern genauso wenig auf
Zustimmung wie bei den übrigen
Kreuzfahrern. Horace, ein ebenfalls
sehr hochrangiger Templer, der aber
in das Geheimbündnis seines Or-
dens nicht eingeweiht ist, zeigt sich
dementsprechend empört.
Hier nun legt Hohlbein eine in-
teressante historische Transferleis-
tung nahe: Ist dies nicht mit dem
aktuellen Problem vergleichbar, das
die Auseinandersetzung des Wes-
tens mit der islamischen Welt prägt?
Liegt nicht hier eine mögliche Ant-
wort auf die Frage, weshalb der is-
lamistische Terror nach den westli-
chen Interventionen eher zu- statt
abnimmt? Denn ähnlich wie mittel-
alterliche Ritter Mörder oder Pfeile
aus dem Hinterhalt als ehrlos und
feige betrachteten, empfinden auch
wir jeden Selbstmordanschlag als
ehrlosen und feigen, ja als verbre-
cherischen Akt. Selbstkritisch be-
trachtet muss man jedoch einge-
stehen, dass dem auch eine gewis-
se Scheinheiligkeit innewohnt. Ein
Beduine des 12. Jahrhunderts hatte
gegen einen mittelalterlichen Ritter,
wenn er sich auf dessen Kampfes-
weise eingelassen hätte, genauso we-
nig eine Chance, wie es islamische
Armeen heute gegen eine nume-
risch entsprechende westliche hät-
ten. Aus der Position der Stärke her-
aus aber lässt sich leicht von „Ehre“,
„Fairness“ und „Moral“ sprechen –
womit das ethische Problem freilich
noch keinesfalls gelöst ist, denn die
Position, aus der man argumentiert,
sagt ja noch nichts über die Berech-
tigung der Argumente aus.
Während die historischen Assas-
sinen vor allem Fürsten terrorisier-
ten, ist die Gewalt ihrer modernen
Nacheiferer eher gegen „das Volk“
gerichtet. Diese Variante wirkt noch
perfider, sind die Opfer doch meist
völlig wehrlos. Hierbei muss man
allerdings auch bedenken, dass die
Staaten des christlichen wie auch des
arabischen Mittelalters monarchisch
organisiert waren, während sich die
aktuellen Terroranschläge gegen
demokratische Staaten richten. In
beiden Fällen soll es also diejenigen
treffen, die staatstragend sind und
langfristig die Entscheidungen tref-
fen. Der Terror führte dem Gegner
damals wie heute punktuell vor Au-
gen, was es bedeutet, sich schutzlos
und ausgeliefert zu fühlen. Genau
dieses Gefühl jedoch ist die eigent-
liche Waffe, wie Robin ganz richtig
erkennt: „Ich will nicht sagen, dass
sie [die Assassinen, FH] ungefährlich
sind, aber viel gefährlicher als ihre
Schwerter und ihr Gift ist die Furcht,
die sie in die Herzen der Menschen
säen.“ (Hohlbein 2002, 384)
Wenn man Hohlbein in diesem
Sinne deutet, ergibt sich möglicher-
weise eine aus westlicher Sicht pro-
vokante These: „Der islamistische
Terror zahlt dem Westen mit seinen
Mitteln heim, was dieser der musli-
mischen Welt mit seiner überlege-
nen Macht antut.“ In diesem Mo-
ment der Irritation liegt der didak-
tische Wert dieser These, da an ihr
kritisches Denken und moralisches
wie auch historisches Bewusstsein
geschult werden können.
Die in den Kästen wiedergegebe-
nen Romanauszüge lassen sich im
Geschichtsunterricht, ggf. ergänzt
durch weitere Materialien, ergiebig
mit der folgenden Passage Imād ad
Dīn al-Kātib al-Isfahānīs aus Kreuz-
zugszeiten und zeitgeschichtlichen
Aussagen Usama Bin Ladens kont-
rastieren (vgl. den Kasten/Zusatz-
material auf der nächsten Seite).
Saladin
Der wohl berühmteste aller his-
torischen Muslime ist der Ayyubi-
den-Sultan Salāh ad-Dīn Yūsuf b.
Aiyūb (1137/1138–1193), im Westen
schlicht „Saladin“ genannt. Noch
mehr als auf den „Alten vom Ber-
ge“ trifft auf ihn zu, dass sich um
seine Person ein historischer My-
thos gebildet hat. Der Grund hier-
für liegt erstens darin, dass es mit
Saladin erstmals seit Existenz der
Kreuzfahrerstaaten einem Sultan
gelang, alle islamischen Anrainer-
staaten unter eine zentrale Herr-
schaft zu vereinen. Erst aus dieser
Konstellation heraus war ein militä-
risches Bezwingen der fränkischen
Staaten möglich. Vor allem jedoch
erwies sich Saladin als großmüti-
ger Sieger. Obwohl die Truppen des
Ersten Kreuzzugs bei der Eroberung
Jerusalems 1099 ein Blutbad unter
der Stadtbevölkerung angerichtet
hatten, vergalt Saladin nach seiner
Rückeroberung der Heiligen Stadt
(1187) nicht Gleiches mit Gleichem.
Somit erschien der Sultan – im
Gegensatz zum hinterhältigen „Al-
ten vom Berge“, aber auch im Ge-
gensatz zu seinem brutalen Ge-
genspieler, dem englischen König
Richard I., „Löwenherz“ (1157–
1199) – als der „edle Ritter“, eine
Charakterisierung, die für die al-
lermeisten Kreuzfahrer trotz ihres
diesbezüglichen Anspruchs eben
nicht entsprach. So erklären sich
auf den ersten Blick seltsame Ver-
mischungen der Bilder, die einem in
der Saladin-Rezeption begegnen wie
z. B. in Umberto Ecos Roman Bau-
dolino: „Er [Baudolino] kam herein-
gesprengt [in die Hagia Sofia, die ge-
rade von marodierenden Kreuzfah-
rern geplündert wird, FH], präch-
tig wie Saladin, auf einem Roß mit
Schabracke, ein rotes Kreuz auf der
Brust, das gezogene Schwert in der
Hand“. (Eco 2003, 27)
54 FACHDIDAKTIK
Zusatzmaterial zur Gestaltung von Arbeitsaufgaben für den Unterricht
Imād ad Dīn al-Kātib al-Isfahānī (1125–1201) war Sekretär Sultan Nūr ad-Dīns (1118–1174) und später Saladins. Er war ein be-
gabter Literat und schrieb in einem als vollendet geltenden Arabisch, allerdings auch in z.T. ausuferndem Stil. Im unten wiederge-
gebenen Abschnitt schildert er die Ermordung Konrads, Marquis von Montferrat, 1192 durch Assassinen Rašīd ad-Dīn Sināns. Die
Schuld Richards I. von England an dem Mord ist nicht erwiesen, doch zweifellos war er der hauptsächliche Nutznießer von Konrads Tod:
„Dienstag, den 13. Rabī II […] (28. April 1192), war er [Konrad, FH] Gast beim Bischof von Tyrus und verzehrte sein letz-
tes Mahl, denn sein letzter Tag war gekommen. Vor der Tür stand, wer seine Hoffnungen abschnitt. […] Die Schergen-
engel errichteten schon den unreinen Sitz, ihn zu quälen, und die sieben Tore der Hölle hatten sich schon weit geöffnet,
begierig ihn zu verschlingen. […] Er aß und trank, sättigte sich und ließ sich’s wohl sein, trat aus dem Haus und saß auf:
da stürzten sich zwei Männer auf ihn, nein, zwei kahle Wölfe, hielten seine Bewegung mit ihren Messern auf und schlugen
ihn nieder bei den Läden. Da floh einer der beiden und trat in die Kirche, nachdem er das gemeine Leben genommen hat-
te. Durchbohrt, aber noch mit einem Hauch Leben, sagte der Marquis: ‚Tragt mich zur Kirche!‘ und sie trugen ihn dort-
hin, denn sie meinten, ihn in Sicherheit zu haben, wenn sie ihn dorthin brächten. Als ihn aber der eine der beiden Messer-
stecher sah, warf er sich erneut auf ihn, um ihn zu töten, und versetzte ihm Hieb um Hieb, Wunde um Wunde. Die Fran-
ken ergriffen die beiden Genossen und fanden, daß es zwei Abtrünnige der Fidā ī-Ismāīliten [Assassinen, FH] waren. Sie
fragten sie: ‚Wer hat euch geschickt, diesen Mord zu begehen?‘ Sie antworteten: ‚Der König von England.‘ [also Richard I.,
‚Löwenherz‘, FH] Man erzählte von ihnen, sie seien sechs Monate vorher zum Christentum übergetreten, hätten ein rei-
nes und asketisches Leben begonnen, seien ständig zur Kirche gegangen und hätten sich strenger Frömmigkeit gewid-
met. Der eine war in den Dienst Ibn Barzans getreten, der andere in den des Herrn von Sidon, um so dem Marquis nahe
zu sein und durch ihre dauernde Gegenwart sein Vertrauen zu gewinnen. Dann hatten sie sich an seinen Sattelknopf ge-
klammert und ihn ermordet. Sie erlitten den grausamsten Tod und wurden der ruchlosesten Behandlung ausgesetzt. Ein
einzigartiges Beispiel: zwei Ungläubige vergießen das Blut von Ungläubigen, zwei Verbrecher ermorden einen Verbrecher!“
(Imād ad Dīn 420-422, in: Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht 1973, 297-298)
Usama Bin Ladens „Zweiter Brief an die Muslime im Irak“. Abschrift einer aufgezeichneten Erklärung Bin Ladens, die am 18. Okto-
ber 2003 verbreitet wurde:
„Wißt, daß dieser Krieg [der USA und ihrer Koalition gegen den Irak, FH] ein neuer Kreuzzug gegen die muslimische
Welt ist und dass er enstcheidend für die internationale muslimische Gemeinschaft sein wird. Er kann gefährliche Folgen
und schädliche Auswirkungen auf den Islam und die Muslime in einem Ausmaß haben, das niemand kennt außer Gott.“
(Bin Laden 2006, 120)
Usama Bin Ladens „Botschaft an das amerikanische Volk“. Text einer Botschaft, die am 30. Oktober 2004, zwei Tage vor der amerika-
nischen Präsidentschaftswahl, verbreitet wurde.
„Beim Anblick der zerstörten Türme im Libanon [um die beiden höchsten Türme von Beirut, das Holiday Inn und den
Murr-Turm, tobte während des libanesischen Bürgerkriegs die ‚Schlacht der Hotels‘ im September 1975] ist mir die Idee
gekommen, dem Mörder mit gleicher Münze heimzuzahlen und die Türme in Amerika zu zerstören, damit Amerika ein
wenig von dem erleidet, was wir erlitten haben, und aufhört, unsere Frauen und Kinder zu töten. Damals habe ich begrif-
fen, daß es seit langem ein amerikanisches Gesetz ist, absichtlich Frauen und unschuldige Kinder zu töten: Der Staatster-
ror heißt Freiheit und Demokratie, und der Widerstand heißt Terrorismus und Opposition. […] Vor diesem Hintergrund
sind die Ereignisse vom 11. September geschehen als eine Erwiderung auf diese gewaltigen Ungerechtigkeiten, denn kann
man dem einen Vorwurf machen, der sich nur verteidigt? Ist es auch Terrorismus, wenn man sich verteidigt und den Un-
terdücker bestraft? Wenn es so ist, hatten wir keine andere Wahl.“
(Bin Laden 2006, 131-132)
Romanausschnitte: Bewertung des „Alten vom Berge“
Der Templer Horace: „‚Der Alte vom Berge? Wir sprechen von demselben Mann? Dem Obersten der Assassinen? Dem Herrn
der Meuchelmörder und Attentäter und Giftmischer?‘
Robin gemahnte sich zur Vorsicht, als sie den lauernden Unterton wahrnahm, der plötzlich in Horaces Stimme war. Zwei-
fellos hatte Horace sogar Recht, von seinem Standpunkt aus – aber wo war letzten Endes der Unterschied, ob man einen
Attentäter oder ein ganzes Heer aussandte, um seine Feinde zu töten?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Horace: ‚Ich beginne mich zu fragen, ob du nicht vielleicht zu lange Zeit bei den
Assassinen verbracht hast.‘
[… Robin:] ‚Wenn Sheik Sinan etwas zutiefst verabscheut, dann ist es die Willkür des Starken dem Schwächeren gegenüber.‘“
(Hohlbein 2004, 228-229)
Mögliche Aufgaben:
Diskutieren Sie, inwieweit die politischen Motive des historischen Rašīd ad-Dīn Sinān, diejenige seines fiktiven Abbildes in der Roman-
Reihe
Die Templerin
von Wolfgang Hohlbein und jene Usama Bin Ladens (nicht) übereinstimmen.
Stellen Sie Vermutungen darüber an, weshalb Hohlbein den ‚Alten vom Berge‘ in der vorliegenden Weise darstellt.
FACHDIDAKTIK 55
Beschreibung Saladins – drei Beispiele
In Wolfgang Hohlbeins Roman
Das Siegel
erscheint der Sultan aus Perspektive des jungen Ritters Ulrich von Wolfenstein wie folgt:
„Saladin war ein kräftig gewachsener, nicht übermäßig großer Mann. Sein Alter war schwer zu schätzen – er konnte eben-
sogut dreißig wie auch fünfzig Jahre sein. Gekleidet war er eher wie ein gemeiner Krieger, abgesehen von dem goldenen
Helm. Sein Gesicht war schmal und dunkel, ohne düster zu wirken, und wurde von einem gewaltigen, zweigeteilten Spitz-
bart beherrscht, dessen Ende er nachdenklich zwirbelte […]. Er wirkte so gar nicht wie der Mann, den Ulrich nach allem,
was er über ihn gehört hatte, erwartete. Saladin der Christenschlächter …? Kaum. Vor ihm saß ein entschlossener und
starker, aber auch edler Mann. Ulrich konnte sich gut vorstellen, daß Saladin einen Frieden ausschlug, den er nur über
Betrug und Mord erringen konnte.“ (Hohlbein 1987, 177)
Die Romanpassagen, die Saladins humanen Großmut preisen, sind überaus zahlreich; drei weitere Beispiele mögen zur Veranschauli-
chung genügen:
„Zu jener Zeit – es war das Jahr 1187 – hatte Saladin den letzten Angriff auf das christliche Jerusalem unternommen und
hatte gesiegt. Er hatte sich großmütig gezeigt, hatte alle, die ein bescheidenes Lösegeld zahlen konnten, unversehrt abzie-
hen lassen und sich damit begnügt, vor den Mauern alle Templer zu enthaupten – denn er mochte zwar großmütig sein,
darin waren sich alle einig, doch die Elitetruppe der feindlichen Invasoren zu verschonen, das konnte sich kein Kriegsherr
leisten, der dieses Namens würdig war, und das wußten auch die Templer, gehörte doch zu diesem Metier nun einmal die
Regel, daß keine Gefangenen gemacht wurden.“ (Eco 2003, 319-320)
„Am 2. Oktober des Jahres 1187 zog Saladin in Jerusalem ein. Es floss kein einziger Tropfen Blut, es wurde nicht geplün-
dert und geschändet. Keine christliche Kirche oder Kloster wurde verwüstet oder zerstört.“ (Berling 2010, 29)
„In den Augen der Nachwelt hatte er [Saladin] etwas Einzigartiges getan. Sein Name wurde unsterblich, und Saladin blieb
für alle Zeiten der einzige Sarazene, den die fränkischen Länder wirklich achteten.“ (Guillou 2000, 464)
Zusatzmaterial zur Gestaltung von Arbeitsaufgaben für den Unterricht
Bahā ad Dīn ibn Šaddād (1145–1234), trat 1188 in Saladins Dienste und blieb ihm bis zu dessen Tod eng verbunden. Seine Biogra-
phie
Die sultanischen Anekdoten und die josefischen Tugenden
(Jūsuf war Saladins eigentlicher Name) ist eine der wichtigsten Quel-
len zu Saladins Charakter. Seinem Herrn zwar aufrichtig ergeben, zeigt Bahā ad Dīn keine gespreizte Unterwürfigkeit. Seine Geschich-
te beruht zum größten Teil auf unmittelbarer Erfahrung. Die folgende Episode ereignete sich am 6. April 1191 am Tell al-Ajādijja. Die
Kreuzfahrer belagerten das an die Muslime zurückgefallene Akkon und wurden dabei ihrerseits vom Heer Saladins belagert. Trotz der
prekären Situation der Kreuzfahrer stand die nach Jerusalem zweitwichtigste Stadt Palästinas kurz vor der Übergabe. Saladin war des-
wegen höchst besorgt.
„Dem Sultan wurden fünfundvierzig Franken vorgeführt, die in Beirut gefangen waren und an dem Tag an diesem Ort
ankamen. […] Unter den Gefangenen war ein alter Mann weit vorgerückten Alters, der keinen Zahn mehr im Munde hat-
te und nicht mehr Kraft, als sich gerade noch zu bewegen. Der Sultan sagte zum Übersetzer, er solle ihn fragen: ´Was hat
dich dazu bewogen, in so hohem Alter hierher zu kommen? Wie weit ist dein Land von hier entfernt?´ Er antwortete: ‚Mein
Land liegt viele Monate der Reise von hier entfernt, und ich bin gekommen, um zum heiligen Grabe zu pilgern.‘ Den Sul-
tan bewegten diese Worte, er begnadigte ihn, ließ ihn frei und erlaubte ihm, auf einem Pferd ins fränkische Lager zurück-
zukehren. Saladins junge Söhne baten ihn, einige der Gefangenen töten zu dürfen, aber er erlaubte es ihnen nicht. Ich frag-
te ihn, warum er es ihnen verboten habe, denn ich selbst hatte ihre Bitte übermittelt. Er antwortete: ‚Damit sie sich nicht
von klein an gewöhnen, so leichthin Blut zu vergießen. Sie kennen ja nicht einmal den Unterschied zwischen einem Mus-
lim und einem Ungläubigen.‘“ (Bahā ad Dīn 211, in: Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, 1973, 255-256)
Hannes Möhring rückt den Mythos Saladin in seinem Aufsatz „Saladin und die Frage nach der religiösen Toleranz“ folgendermaßen et-
was zurecht:
„Die Prüfung der zeitgenössischen Quellen ergibt […], dass Saladin nicht etwa ein Freigeist mit philosophischen Inter-
essen gewesen ist, sondern ein frommer Muslim, der die im Koran gebotene Toleranz gegenüber Andersgläubigen beach-
tet hat. […]
Saladins Strategie der Gewährung freien Abzuges [für christliche Festungen und Städte, die sich ihm 1187–1188 ergaben,
FH] entsprang aber keineswegs der Großzügigkeit, zu der er durchaus neigte, sondern sie zielte auf die möglichst rasche
Einnahme seiner Angriffsziele. Die Kapitulation Jerusalems, wohin viele Einwohner anderer Orte geflüchtet waren, ge-
staltete sich […] schwieriger. Nachdem sich eine Belagerung als unumgänglich erwiesen hatte, verzichtete Saladin auf
VergeltungfürdasinJerusalem1099durchdieKreuzritterangerichteteBlutbaderst,alsdieVerteidigerindenvorder
Kapitulation mit Saladin geführten Verhandlungen damit drohten, nicht nur die eigenen Frauen und Kinder zu töten und
allenwertvollenBesitzzuvernichten,sondernauchdieislamischenHeiligtümerzuzerstörenunddieetwa5.000inJeru-
salem gefangengehaltenen Muslime niederzumetzeln, um dann bis zum letzten Mann gegen Saladins Truppen zu kämp-
fen. Außerdem ist der Legendenbildung entgegenzuhalten, dass zwar die meisten, aber keineswegs alle Bewohner Jeru-
salems in der Lage waren, den von Saladin verlangten Preis zu zahlen, um sich freizukaufen.“ (Möhring 2005, 157-159)
Mögliche Aufgabe:
Stellen Sie Überlegungen darüber an, wie es im kollektiven europäischen Gedächtnis zu einem positiven Saladin-Mythos gekommen
sein konnte, der sich noch heute nahezu unwidersprochen u. a. in historischen Romanen widerspiegelt.
56 FACHDIDAKTIK
Gerade der Nachsatz in Holbeins
Darstellung (S. 54 oben) ist auf-
schlussreich. Saladin erscheint hier
als eine muslimische Figur, die mi-
litärisch, vor allem aber auch mora-
lisch stark genug ist, um auch ohne
Menschenverachtung und Heimtü-
cke zum Ziel zu gelangen, die so-
wohl im Moment des Sieges wie
auch dem der Niederlage fest in ih-
ren Grundsätzen bleibt.
Man könnte in der Tat behaupten,
dass sich die westliche Welt aktu-
ell sehnlichst wünscht, solch einen
mächtigen, humanen und verlässli-
chen Politiker als Ansprechpartner
in der muslimischen Welt zu finden.
Doch ein neuer Saladin, wie ihn der
abendländische Mythos sieht, mit
dem man sich den Nahostkonflikt
und damit im Kern die Spannungen
zwischen westlicher und islamischer
Welt zu lösen zutrauen würde, ist
nicht in Sicht. (Inwieweit westliche
Politiker diesem Ideal entsprechen,
wäre nochmals ein anderes Thema.)
Unter seinen muslimischen Zeit-
genossen stand Saladin in hohem
Ansehen. Die zahlreichen Legen-
den, die sich bereits zu seinen Leb-
zeiten um ihn bildeten, beflügelten
die abendländische Rezeption der
kreuzzugskritischen europäischen
Aufklärung noch zusätzlich. Dies
kann im schulischen Geschichts-
unterricht, ggf. unter Hinzufügung
weiterer Materialien, anhand einer
zeitgenössischen Biografie des Sul-
tans sowie des aktuellen Versuchs
des Historikers Hannes Möhring,
den Mythos um Saladin erklärend
zu relativieren, verdeutlicht werden
(vgl. Kasten/Zusatzmaterial S. 55).
Aus beiden Zitatblöcken geht zudem
klar hervor, dass dem Islam Gewalt
keineswegs inhärent ist, sondern
dass – man ist geneigt zu sagen „na-
türlich“ – eine fromme Geisteshal-
tung nicht zwangsläufig zu Gewalt
führt, sondern im Gegenteil der
Fromme auch Achtung vor dem an-
deren Frommen haben kann und ge-
rade daraus seine Toleranz schöpft.
Zitierte Romane:
P. BERLING, Das Blut der Könige. Bergisch Gladbach 21993.
P. BERLING, Das Kreuz der Kinder. München 2002.
P. BERLING, Ritter zum heiligen Grab. München 2010.
F. DAHN, Die Kreuzfahrer. Befreier der heiligen Stadt Jerusalem. [Berlin 1884] Wien 1997.
U. ECO, Baudolino. München 2003.
J. GUILLOU, Die Büßerin von Gudhem. München 2000.
W. HOHLBEIN, Das Siegel. Wien 1987.
W. HOHLBEIN, Die Templerin. München 1999.
W. HOHLBEIN, Der Ring des Sarazenen. München 2002.
W. HOHLBEIN, Die Rückkehr der Templerin. München 2004.
E. RHODES, Die Armee der Kinder. Roman um den Kinderkreuzzug anno 1212. Wien 1982.
U. SCHWEIKERT, Das Siegel des Templers. München 2006.
R. YOUNG, Die Blutritter. München 2008.
Weitere zitierte Literatur:
T. ASBRIDGE, The Crusades. The War for the Holy Land. London-New York-Sydney-Toron-
to 2010.
H. AUST, Der Historische Roman (Sammlung Metzler, 278). Stuttgart 1994.
U. BIN LADEN, Botschaft an das amerikanische Volk, 30.10.2004, in: G. Kepel/J.-P. Milelli
(Hg.), Al-Quaida. Texte des Terrors. München-Zürich 2006, 131-141.
U. BIN LADEN, Zweiter Brief an die Muslime im Irak, 18.10.2003, in: G. Kepel/J.-P. Milelli
(Hg.), Al-Quaida. Texte des Terrors. München-Zürich 2006, 119-128.
Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, aus den arabischen Quellen ausgewählt und übersetzt
von Francesco Gabrieli. Zürich 1973.
A. DÖBLIN, Aufsätze zur Literatur. Olten 1963.
V. GROEBNER, Geht’s ein bisschen echter? Was wir das ‚Mittelalter‘ nennen, hat kaum et-
was mit der Zeit der Ritter zu tun, aber sehr viel mit dem 19. Jahrhundert – und mit unse-
rer Gegenwart, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 37 (19.09.2010), 63-64.
V. GROEBNER, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen. München 2008.
G. LUKÁCS, Der historische Roman. Berlin (Ost) 1955.
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Meller (Hg.), Saladin und die Kreuzfahrer. Mainz 2005, 157-161.
J. RILEY-SMITH, The Crusades, Christianity, and Islam. New York 2008.
M. ROX-HELMER, Jugendbücher im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2006.
LITERATUR
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Geht's ein bisschen echter? Was wir das ‚mittelalter' nennen, hat kaum etwas mit der zeit der ritter zu tun, aber sehr viel mit dem 19. Jahrhundert -und mit unserer Gegenwart
  • V Groebner
V. GroeBner, Geht's ein bisschen echter? Was wir das ‚mittelalter' nennen, hat kaum etwas mit der zeit der ritter zu tun, aber sehr viel mit dem 19. Jahrhundert -und mit unserer Gegenwart, in: Frankfurter allgemeine sonntagszeitung nr. 37 (19.09.2010), 63-64.
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P. BerlinG, das Blut der könige. Bergisch Gladbach 2 1993.
  • G Roman
G. lukács, der historische roman. Berlin (ost) 1955.
die armee der kinder. roman um den kinderkreuzzug anno 1212
  • Rhodes
e. rhodes, die armee der kinder. roman um den kinderkreuzzug anno 1212. Wien 1982. u. schWeikert, das siegel des templers. münchen 2006. r. YounG, die Blutritter. münchen 2008.
das kreuz der kinder
  • P Berling
P. BerlinG, das kreuz der kinder. münchen 2002.
Befreier der heiligen stadt Jerusalem
  • F Kreuzfahrer
F. dahn, die kreuzfahrer. Befreier der heiligen stadt Jerusalem. [Berlin 1884] Wien 1997. u. eco, Baudolino. münchen 2003.
die Büßerin von Gudhem
  • J Guillou
J. Guillou, die Büßerin von Gudhem. münchen 2000.
die rückkehr der templerin
  • W Hohlbein
W. hohlBein, die rückkehr der templerin. münchen 2004.
die armee der kinder. roman um den kinderkreuzzug anno 1212. Wien 1982. u. schWeikert, das siegel des templers. münchen 2006. r. YounG, die Blutritter. münchen
  • Rhodes
e. rhodes, die armee der kinder. roman um den kinderkreuzzug anno 1212. Wien 1982. u. schWeikert, das siegel des templers. münchen 2006. r. YounG, die Blutritter. münchen 2008. Weitere zitierte literatur: t. asBridGe, the crusades. the War for the holy land. london-new York-sydney-toronto 2010.