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Inklusiv denken
Eine Kritik der Entgegensetzung von Humanität und Natur
Manuskript des Beitrags von Uta Eser in: Die Welt im Anthropozän. Erkundungen im Spannungsfeld
zwischen Ökologie und Humanität/ hg. v. Wolfgang Haber, Martin Held und Markus Vogt. München
(oekom) 2016: S. 81-92
1. Einleitung
Aus den „unbequemen Wahrheiten der ökologischen Wissenschaften“ hat Wolfgang Haber (2013)
zwei persönliche Konsequenzen gezogen: Für ihn zählen „[e]thische Argumente zur Erhaltung von
Natur und Biodiversität […] nicht mehr“, und er bezeichnet „die kulturell-technische Entwicklung
der Menschheit und ihre Humanität (Ethik, Gerechtigkeit, individuelle Rechte, Gleichrangigkeit) als
mit der Ökologie (Organisation des nicht menschlichen Lebens) nicht (mehr) vereinbar“ (Haber
2013: 464). Dass Ökologie und Humanität in einem unauflöslichen Widerspruch stünden, ist eine
Auffassung, die im Diskurs des Anthropozän zwar selten so pointiert formuliert, von vielen aber
geteilt wird. Als Umweltethikerin teile ich diese Auffassung nicht. Ich denke, dass man die
Erhaltung der Natur ohne Ethik nicht begründen kann, und dass wir eine Vorstellung von Humanität
entwickeln müssen, die unserer menschlichen Naturhaftigkeit besser gerecht wird. Der vorliegende
Beitrag will diese Kritik an der Entgegensetzung von Humanität und Ökologie entwickeln und
begründen. Ich betrachte also das Verhältnis von Menschen und Natur nicht empirisch-deskriptiv,
sondern reflexiv und normativ.
Einleitend erläutere ich Begriff und Anliegen der Ethik. Danach zeige ich, dass die Vorstellung eines
notwendigen Konflikts zwischen „Mensch“ und „Natur“, die den Umweltdiskurs prägt, auf einem zu
einseitig biologischen Menschenbild beruht. Dieser Einseitigkeit möchte ich eine inklusive Sicht des
Menschen entgegensetzen. Dabei beschränke ich mich auf zwei Aspekte: die Reduktion der Vielfalt
menschlicher Lebenswirklichkeiten auf das Kollektivsubjekt „der Mensch“ und die Reduktion
menschlicher Bedürftigkeit auf naturale Bedürfnisse. Abschließend plädiere ich für einen inklusiven
Humanismus.
2. Aufgabe der Ethik
„Ethik ist die Ermittlung des guten und richtigen Handelns unter gegebenen
Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten, bezogen auf Situationen (‚Fälle‘), auf die
Haltungen von Personen und auf Institutionen“ (Mieth 1995: 505).
So habe ich es bei meiner Ausbildung am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität
Tübingen gelernt. Anhand dieser Definition lassen sich einige verbreitete Missverständnisse von
Ethik ausräumen:
Erstens weiß, wer Ethik betreibt, nicht bereits, was gut und richtig ist, sondern will es erst
herausfinden, und zwar durch Reflexion. Ethik hat es also mit Vernunftgebrauch zu tun. Sie ist
keine rein gefühlsmäßige, subjektive Angelegenheit.
Die Unterscheidung von „gutem“ und „richtigem“ Handeln weist, zweitens, auf zwei
unterschiedliche Anliegen ethischen Bemühens hin:
• Das Attribut „gut“ bezieht sich auf Handlungen oder Haltungen, die für ein erfülltes Leben
erstrebenswert sind. Sie sind Gegenstand der Strebensethik.
• Das Attribut „richtig“ hingegen zeichnet Handlungen aus, die moralisch geboten sind. Hier geht
es um ein (unbedingtes) Sollen, das vom Wollen und Streben der Einzelnen unabhängig ist.
Moralische Vorschriften müssen, drittens, auf die konkreten Bedingungen und
Handlungsmöglichkeiten der Adressaten bezogen sein. » Ultra posse nemo obligatur« („Jenseits
seines Könnens ist niemand verpflichtet") lautet ein Rechtsgrundsatz, der auch für die normative
Ethik gilt. Damit soll verhindert werden, dass die Ethik idealistische Wolkenkuckucksheime
entwirft, die anthropologische, soziale oder biologische Realitäten verkennen.
Und schließlich geht es, viertens, in einer anwendungsorientierten Ethik nicht nur um persönliche
Haltungen, sondern auch um die institutionelle Ebene. Ethik ist also nicht auf individuelle
Tugendhaftigkeit zu beschränken.
Anwendungsorientierte Umweltethik hat es nicht nur allgemein mit dem Verhältnis „des
Menschen“ zur Natur zu tun. Vielmehr stellt sie im Hinblick auf konkrete Umweltprobleme ganz
konkrete Fragen:
• Welche Handlungen sind im Hinblick auf dieses Problem geboten, welche verboten?
• Welche Handlungen und Haltungen können wir Menschen empfehlen, wenn auch nicht
vorschreiben?
Dabei sind die empirischen Bedingungen des Handelns wesentlich: Wie sind die kausalen
Zusammenhänge? Wer hat tatsächlich welche alternativen Möglichkeiten? Wenn wir in dieser sehr
konkreten Weise nicht nur fragen, um welches Handeln, sondern auch um wessen Handeln es geht,
können wir die Entgegensetzung von Humanität und Ökologie hinter uns lassen.
3. Mensch vs. Natur: Eine überkommene Alternative
Zunächst einmal müssen wir jedoch den beklagten Gegensatz zur Kenntnis nehmen. Denn in der Tat
geht im Natur- und Umweltschutz die Wertschätzung der Natur häufig mit einer Geringschätzung
des Menschen und menschlicher Errungenschaften einher. Ein unter Umweltschützern verbreiteter
Witz soll diese Beobachtung illustrieren:
Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: „Na, wie geht‘s“? „Schlecht“, antwortet
der andere, „ich habe homo sapiens“. „Keine Sorge“, erwidert darauf der erste, „das
geht vorüber!“.
Dass die Spezies Mensch hier als Krankheitserreger dargestellt wird, ist symptomatisch für die
latente Misanthropie einer politisch gewendeten Ökologie. Ähnlich pejorativ sind Darstellungen der
Menschheit als Schädling, als invasive Art, als Krebsgeschwür oder als Zeitbombe. In all diesen
Bildern erscheint „der Mensch“ als eine Bedrohung für den Planeten, die bekämpft werden muss.
Ein zentrales Motiv solches ökologisch motivierten Menschheits-Pessimismus ist das Wachsen der
Weltbevölkerung. Es gilt vielen Ökologen als Hauptursache der Umweltkrise. So konstatiert der
Zoologe Charles Elton in dem invasionsbiologischen Klassiker “The ecology of invasions by animals
and plants”:
“The reason behind this, the worm in the rose, is quite simply the human population
problem. The human race has been increasing like voles or giant snails, and we have
been introducing too many of ourselves into the wrong places” (Elton 1958: 144).
David Ehrenfeld, einer der Begründer der akademischen Disziplin Conservation Biology, vergleicht
gar die menschliche Bevölkerung mit einer Zeitbombe: “The population bomb: population control
or race to oblivion” (Ehrenfeld 1968). Humanitäre Ideale, so die gängige Argumentation, führten zu
einem nicht mehr natürlich regulierten Wachstum der Bevölkerung, und stünden damit im
Widerspruch zu ökologischen Gesetzmäßigkeiten. In Ehrenfelds einflussreichem Buch “The
arrogance of humanism” (1978) erscheint Humanismus schließlich als Synonym für eine menschliche
Hybris, die meint, alle Probleme des Lebens mit den Mitteln von Technik und Vernunft lösen zu
können.
Die skizzierte pessimistische Sicht auf die Rolle des Menschen in der Natur findet sich auch in der
Umweltethik. Insbesondere die ökologische Ethik US-amerikanischer Provenienz bestreitet die
moralische Sonderstellung des Menschen in der Natur und ist notfalls bereit, zugunsten der Natur
humanitäre Ziele einzuschränken. So vertritt etwa Holmes Rolston (1996) in seinem umstrittenen
Aufsatz “Feeding people vs. saving nature” die Auffassung, die Bekämpfung des Hungers sei nur im
Prinzip ein ehrbares Ziel; wenn aber jeder hungrige Mensch nur eine weitere Zelle in einem
Krebsgeschwür sei, verkehre sich die an sich gute Tat in eine schlechte. Auf die heftige Kritik, die
sein Beitrag auslöste, erklärte der Philosoph und bekennende Christ: “I run the risk of being
misanthropic; that is better than to risk being an arrogant humanist” (Rolston 1998: 357).
Dabei ist heute den meisten bewusst, dass die rein quantitative Betrachtung der Weltbevölkerung
zu kurz greift. Nicht die Anzahl der Menschen ist entscheidend, schreibt Cord Aschenbrenner in
einem von der Stiftung Weltbevölkerung preisgekrönten Artikel, sondern Konsumgewohnheiten und
fehlende Verteilungsgerechtigkeit:
„Nicht die schiere Menge der Menschen ist entscheidend. […] Die ökologische
Katastrophe wird eher den Bewohnern der reichen Länder mit ihren wenigen Kindern,
vielen Autos und ihrem umfassenden Raubbau an der Erde geschuldet sein als den
Habenichtsen im Süden und ihren Kindern“ (Aschenbrenner 2011).
Auch Holmes Rolston (1996) konzediert in seinem Beitrag diese drei Grundprobleme:
Überbevölkerung, Überkonsum und ungenügende Verteilung. Um die genannten Probleme zu lösen
brauchen wir meines Erachtens nicht weniger, sondern mehr Humanität. Denn
„Humanität“ bedeutet nicht einfach „Leben bewahren“, sondern „ein menschenwürdiges Leben
ermöglichen“. Ein umfassendes Verständnis von Humanität, das die oben genannten drei Probleme
adressieren kann, muss (mindestens) drei Aspekte umfassen:
• reproduktive Freiheit als Antwort auf das Wachsen der Bevölkerungsgröße,
• Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer als Antwort auf das stetige Wachsen der
Bedürfnisse,
• moralische Anerkennung der gleichen Rechte aller Menschen als Antwort auf die extreme
Ungleichverteilung von Umweltnutzen und Umweltschäden.
Um zu einem solchen Verständnis von Humanität zu kommen, müssen wir die Gegensätze
überwinden, die bislang das Diskursfeld strukturieren (siehe Tabelle 1).
Tab.1.: Gegensatzpaare, die den Naturschutzdiskurs prägen
Humanität Ökologie
Freiheit Naturgesetze
Gleichheit, Gerechtigkeit Natürliche Unterschiede
Der Mensch als bestimmender
Faktor Mensch in Natur eingebunden
Individuum Gesamtheit / Kollektiv
Menschliche Bedürfnisse Selbstwert der Natur
Kultur Wildnis
Entwicklung Bewahrung
Anthropozentrik Biozentrik
Quelle: Eigene Darstellung
Auch in der Debatte um das Anthropozän werden die hier unter der Überschrift Humanität vs.
Ökologie gegenüber gestellten Begriffe in der Regel als exklusiv gedacht: entweder Humanität oder
Ökologie, entweder Freiheit oder Naturgesetz (exemplarisch Steffen et al. 2007). Diesem Entweder-
oder müssen wir entkommen und die Begriffe als Pole eines Sowohl-als-auch denken. Wir müssen
die unterschiedlichen Seiten anerkennen, aber die Unterscheidung im Sinne einer Vermittlung auf
einer übergeordneten Ebene aufheben. Gefordert ist dabei ein inklusives Verständnis von
Menschsein, das die Spannung zwischen den Polen aushält, statt sie einseitig zugunsten einer Seite
aufzulösen. Weder kultureller noch biologischer Reduktionismus werden der Doppelnatur des
Menschen als Natur- und Kulturwesen gerecht – und auch nicht den Problemen, mit denen es die
Umweltethik zu tun hat (Eser 2003). Was wir brauchen, ist ein inklusiver Begriff von Humanismus,
der sich nicht durch Ab- und Ausgrenzung definiert. “What is commonly meant by the word
anthropocentric today”, so die Philosophin Mary Midgley (1994:11), “could also be called exclusive
humanism, as opposed to the hospitable, friendly, inclusive kind“.
4. Der Mensch – die Grenzen der Gattungsperspektive
Die Vorstellung, dass der Mensch sich durch sein technologisches Handeln langfristig den Ast absägt,
auf dem er sitzt, ist im Umweltdiskurs weit verbreitet (Abb. 1). Ein vernünftigerer Umgang mit der
Natur erscheint im Rahmen dieser Metapher als ein Gebot der Klugheit. Ethische Erwägungen sind,
so scheint es, angesichts solcher „Dummheit“ entbehrlich.
Abb. 1: Wir sägen an dem Ast auf dem wir sitzen. Bild: Scheidler, arboristik.de
Hinter dem suggestiven Kollektivsubjekt „der Mensch“ wird freilich nicht recht deutlich, welche
Handlungen und wessen Handlungen genau gemeint sind. Diese Fragen sind aber aus ethischer Sicht
entscheidend: Wer genau sägt hier eigentlich? Und wer fällt?
Betrachten wir als konkretes Beispiel eine Palmölplantage auf Borneo, für die ein Regenwald
gerodet wird. Vom Fällen der Bäume profitieren diejenigen, die Palmöl zu vielfältigsten Zwecken
verwenden, also „wir“ hier und heute. Die Folgen der Rodungen betreffen aber nicht (nur) uns
selbst, sondern (auch) andere:
• die Menschen, die vor der Rodung in diesem Regenwald lebten,
• die Menschen in Zukunft, für die es dort keinen Regenwald mehr geben wird, und
• alle anderen Lebewesen, die diesen Regenwald bewohnen.
„Täter“ und „Opfer“ sind also in diesem Fall nicht identisch. Aus ethischer Perspektive ist das
zentral: Wer anderen den Ast absägt, auf dem sie sitzen, muss sich rechtfertigen (zur
Unterscheidung von klugheits-, gerechtigkeits- und glücksethischen Aspekten ausführlich Eser et al.
2011).
Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen ist ein klassisches Thema des Umweltdiskurses.
Es lässt sich schön veranschaulichen am ökologischen Fußabdruck der Weltbevölkerung. Dieser
übersteigt bei weitem die verfügbare Fläche der Erde. Derzeit verbrauchen alle Menschen
zusammen etwa 1,5 Erden, Tendenz steigend. Das bedeutet: Wir haben unser Budget an natürlichen
Ressourcen schon vor Jahresende verbraucht. Von da an leben wir auf Kosten der zukünftigen
Menschen. Diesen Tag nennt man den Earth Overshoot Day. Er lag 1993 noch im Oktober,
mittlerweile ist es schon im August soweit (Global Footprint Network 2015).
Weit weniger im Bewusstsein (und weit unbequemer) ist die Tatsache, dass wir hier in Deutschland
zusätzlich auf Kosten anderer Menschen in anderen Regionen der Welt leben. Wir sitzen zwar alle
im selben Boot, aber wir tragen nicht alle dieselbe Verantwortung. Dies wird deutlich, wenn wir uns
die Zahlen in Tabelle 2 anschauen:
Tab. 2: Anzahl der Planeten, die wir bräuchten
Wenn jeder Mensch leben
würde wie ein Bürger dieses
Landes….
…würden wir so viel Erden
brauchen
USA 4,6
Großbritannien 2,6
Japan 2,4
Deutschland 2,0
Russland 1,8
Costa Rica 1,1
Indien 0,4
Quelle: Global Footprint Network (2009)
Die Menschen in den reichen Ländern tragen weit mehr zum Ressourcenverbrauch bei als die
Menschen in armen Länder des Südens. Hier stellen sich aus ethischer Perspektive Fragen
intragenerationeller Gerechtigkeit, die gar nicht in den Blick geraten, so lange wir nur die
Weltbevölkerung als Ganze betrachten.
Die größte Herausforderung liegt nun in der Kombination inter- und intragenerationeller
Gerechtigkeit:
• Im Hinblick auf die zukünftigen Generationen gilt es, den ökologischen Fußabdruck der
Weltbevölkerung zu reduzieren – das ist das berechtigte Anliegen des Umweltschutzes.
• Im Hinblick auf Hunger und Armut gilt es, globale Ungleichheiten zu reduzieren – das ist das
gleichermaßen berechtigte entwicklungspolitische Anliegen.
Beide Anliegen galten lange als sich ausschließend. „Umwelt oder Entwicklung“ ist eine Variante
des Gegensatzes von Ökologie oder Humanität (s. Tab. 1). Schon seit geraumer Zeit ist aber dieser
vermeintliche Gegensatz im Diskurs der Nachhaltigen Entwicklung aufgehoben (vgl. Eser 2011). Die
Brundtland-Kommission hat die Ziele des Umweltschutzes und der Entwicklungspolitik in ihrer
Definition Nachhaltiger Entwicklung programmatisch verbunden:
„Unter ‚dauerhafter Entwicklung‘ verstehen wir eine Entwicklung, die den
Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit zukünftiger
Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren
Lebensstil zu wählen“ (Hauff 1987: XV).
Beim Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 hat die Weltgemeinschaft nachhaltige Entwicklung dann
endgültig auf die politische Agenda gesetzt. Ihr erklärtes Ziel ist es, alle heute lebenden Menschen
mit allem zu versorgen, was sie brauchen, unter der Maßgabe, dass dies im gleichen Umfang auch
den zukünftigen noch möglich sein soll. Was genau „Bedürfnisse“ sind, was Menschen also wirklich
brauchen, und nicht lediglich wollen, stellt dabei die Schlüsselfrage Nachhaltiger Entwicklung dar.
5. Bedürfnisse: Was braucht der Mensch?
Die Herausforderung einer Nachhaltigen Entwicklung besteht darin, den Lebensstandard der Armen
dieser Welt zu verbessern, ohne dabei den Planeten zu ruinieren. Zentral ist hierbei die
Verteilungsfrage: Derzeit verbraucht ein Fünftel der Weltbevölkerung vier Fünftel der Ressourcen.
Wenn wir die Menschen im letzten Fünftel besser stellen wollen, haben wir zwei Möglichkeiten: den
Kuchen zu vergrößern oder die Verteilung zu ändern. Wenn wir den Kuchen vergrößern, bekommen
alle mehr und die Verteilung kann unangetastet bleiben. Das ist der Weg, den wir bislang gegangen
sind. Das permanente Wirtschaftswachstum hat ganz wesentlich den Sinn, Verteilungskämpfe zu
vermeiden und dennoch den Wunsch der schlechter Gestellten nach Besserstellung befriedigen zu
können.
Wir haben aber nur eine Erde, deren Ressourcen sich nicht nach Belieben vermehren lassen. Wenn
wir nicht inhuman sein wollen, und allen Menschen das gleiche Recht auf ein angemessenes Leben
zugestehen, dann gibt es keinen anderen Weg, als die bestehende Verteilung zu ändern: Unser
Anteil am Ressourcenverbrauch muss dramatisch sinken! Oder, um es mit einem Mahatma Gandhi
zugeschriebenen Sinnspruch zu sagen: Wir müssen uns entscheiden, einfacher zu leben, damit
andere einfach leben können.
Was aber bedeutet „einfach leben“? In seinem Nachwort zur Studie „Grenzen des Wachstums“ hat
der Club of Rome seinerzeit betont, dass es nicht darum geht, ob wir als biologische Spezies
überleben können (das wäre die Populationsperspektive der Ökologie), sondern ob wir überleben
können, „ohne in eine Existenzform zurückzufallen, die nicht lebenswert erscheint“ (Meadows et
al. 1973: 176).
Mit dem Wort „lebenswert“ ist nun ein brisantes Thema angesprochen. Denn die Frage, was ein
Leben lebenswert macht, ist die Frage nach dem Glück. Sie wird in einem modernen freiheitlichen
Staat nicht von der Politik beantwortet, sondern von jedem Einzelnen. Sie ist klassischerweise eine
Frage der Strebensethik, die jede und jeder für sich selbst beantworten muss und darf. Eine
weitere Herausforderung des Ideals einer Nachhaltigen Entwicklung besteht also darin, dass wir
angesichts der erforderlichen Unterscheidung wirklicher Bedürfnisse von bloßen Wünschen nicht
umhinkommen, normativ gehaltvolle und allgemein verbindliche Aussagen zu einer Frage zu
machen, die traditionell als Privatsache gilt. Oder, ethisch gesprochen: Wir müssen
strebensethische und sollensethische Fragen verbinden (vgl. Krämer 1998). Das bedeutet: Wir
müssen prüfen, welche Ansprüche an unser Leben so gerechtfertigt werden können, dass nicht nur
wir, sondern auch alle anderen ein Recht darauf haben.
Die Weltgemeinschaft hat sich diesbezüglich ziemlich weit vorgewagt. Im ersten Grundsatz der Rio-
Deklaration wird nicht nur das humanitäre Anliegen proklamiert, dass Menschen im Mittelpunkt der
Bemühungen um eine Nachhaltige Entwicklung stehen. Es wir darüber hinaus auch ausbuchstabiert,
was das bedeutet: „Sie haben ein Recht auf ein gesundes und produktives Leben im Einklang mit
der Natur“ (United Nations 1992: 1).
Diese Formulierung enthält nun eine mögliche Antwort auf die Frage, was Menschlichkeit bezogen
auf die Ko-Evolution von Pflanze, Tier und Mensch bedeuten kann. Das in Rio postulierte
Verständnis von Menschlichkeit umfasst drei Rechte: Das Recht auf ein gesundes Leben, das Recht
auf ein produktives Leben und − dies scheint mir bemerkenswert − das Recht auf ein Leben im
Einklang mit der Natur. Nicht länger auf Kosten der Natur, sondern im Einklang mit der Natur sollen
Menschen gesund und produktiv sein können. Hier zeichnet sich eine inklusive Sicht ab, die das
Wohlergehen von Menschen und Natur nicht länger entgegensetzt, sondern zusammendenkt. Wie
ließe sich ein solches „Recht auf ein Leben im Einklang mit der Natur“ begründen?
Der Schlüssel für eine solche Begründung liegt meines Erachtens im Begriff der Naturverbundenheit.
‚Naturverbundenheit‘ soll hier die Fähigkeit des Menschen bezeichnen, in Verbundenheit mit der
Natur zu leben und pfleglich mit ihr umzugehen. Die Philosophin Martha Nussbaum erachtet sie als
eine Grundfähigkeit des Menschen, und damit als eine Option des Guten Lebens (Nussbaum 1999:
57f.). Das Gute Leben besteht in der aristotelischen Tradition darin, die spezifisch menschlichen
Fähigkeiten zu verwirklichen. Die Fähigkeit zur Naturverbundenheit könnte das nötige Bindeglied
zwischen Sollens- und Strebensethik darstellen: Man muss sie nicht verwirklichen, aber man hat ein
Recht darauf, es zu können. Naturverbundenheit wird damit zu einem zentralen Element eines
inklusiven Humanitätsbegriffs.
Statt Menschen und Natur entgegenzusetzen, betont ein inklusiver Ansatz also die Beziehung
zwischen beiden. Ein solches Ansinnen kann sich auf zahlreiche philosophische, theologische und
psychologische Ansätze stützen, von denen ich einige exemplarisch nennen möchte:
Die Umweltpsychologie kennt das Konzept der „wesensmäßigen Relationalität“ des Menschen,
demzufolge Beziehungen konstituierende Bestandteile der Person sind (Wiggins et al. 2012: 211).
Dies gilt sowohl für Beziehungen zur menschlichen als auch zur nicht-menschlichen Umwelt.
Martin Buber hat mit seiner Schrift „Ich und Du“ eine Philosophie der Beziehung vorgelegt. Im
Unterschied zur rein instrumentellen Bezugnahme auf Menschen und Dinge, die er mit dem
Begriffspaar ‚Ich – Es‘ kennzeichnet, beruht eine wirkliche Beziehung auf Gegenseitigkeit. Eine
solche dialogische Beziehung können Menschen nicht nur mit ihresgleichen oder mit Gott, sondern
laut Buber „aus Willen und Gnade in einem“ auch mit der Natur erfahren (Buber 1984: 11 [1923]).
Und schließlich beruhen auch einige Ansätze der sog. „Tiefenökologie“ auf einem inklusiven
Humanismus, indem sie die Verwirklichung eines wahrhaft menschlichen Selbst an die
Verbundenheit mit der übrigen Welt binden (z.B. Naess 1995).
Im Unterschied zur Betonung menschlicher Angewiesenheit auf Natur hat das Konzept der
Naturverbundenheit freiheitliche Züge. Naturverbundenheit ist eine Option, die man wählen kann,
aber nicht muss. Wenn man sie wählt, ist dies ein Akt der Humanität, nicht eine Unterwerfung
unter vermeintliche Gesetze der Natur. Diesen Unterschied zwischen Freiheit und Abhängigkeit
möchte ich mit Erich Fromms Unterscheidung von kindlicher und reifer Liebe markieren. Kindliche
Liebe resultiert aus existentieller Angewiesenheit: Sie sagt: „Ich liebe Dich, weil ich dich brauche“.
Im Unterschied dazu konstituiert reife Liebe erst das Bedürfnis nach dem Anderen. Sie sagt: „Ich
brauche dich, weil ich dich liebe“ (Fromm 1956: 464). Die verbreiteten nutzenbezogenen
Naturschutzgründe (einschließlich des Konzepts der Ökosystemdienstleistungen) entsprechen dem
Modell kindlicher Liebe: Natur schützen, weil wir sie brauchen. Das Modell reifer Liebe böte hierzu
eine wichtige Ergänzung: Natur schützen, weil wir sie lieben. Die Liebe zur Natur ist eine humane
Begründung des Naturschutzes, die Nützlichkeitserwägungen weit hinter sich lässt, aber dennoch
diesseits von moralischem Selbstwert und Rechten der Natur bleibt.
6. Fazit
Die Entgegensetzung von Humanität und Natur habe ich aus drei Gründen kritisiert:
• Erstens beruht sie auf einem negativen Menschenbild, das einem positiven Naturbild
korrespondiert. „Der Mensch“, der sich nicht den Gesetzen der Natur unterwirft, gilt als
Ursache der Umweltkrise.
• Die Verwendung des Kollektivsubjekts „der Mensch“ verschleiert dabei, zweitens, wesentliche
Unterschiede, z.B. zwischen Tätern und Opfern, Nutznießern und Leidtragenden der
Umweltzerstörung. Sie verhindert damit die Wahrnehmung moralisch relevanter Unterschiede
zwischen Menschen. Nicht „der Mensch“ ist schlecht, sondern bestimmte Handlungen
bestimmter Menschen.
• Das Problem ist, drittens, nicht die Menschheit als Ganze, sondern ein extrem
ressourcenintensiver Lebensstil bestimmter Menschen auf Kosten anderer Menschen und der
Natur. Zur Bekämpfung von Überbevölkerung, Überkonsum und ungerechter Verteilung
brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Humanität. Ich habe daher für einen inklusiven
Humanismus plädiert, der ökologische und humanitäre Anliegen nicht gegeneinander ausspielt,
sondern zu verbinden sucht.
Das 1992 in Rio verabschiedete Programm einer Nachhaltigen Entwicklung stellt einen solchen
Versuch dar. Es ist humanitär begründet, insofern es Natur als Lebensgrundlage von Menschen
heute und in Zukunft bewahren will. Ein umfassendes Wohlbefinden von Menschen setzt dabei auch
das Wohlergehen der Natur voraus. Inklusiv ist diese Sicht insofern als sie Menschen nicht nur als
biologische Bedürfniswesen, sondern auch als Kulturwesen in den Blick nimmt, die soziale,
kulturelle, individuelle oder spirituelle Bedürfnisse haben, für deren Verwirklichung sie ebenfalls
auf Natur angewiesen sind. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit der Natur zu leben spielt hier eine
zentrale Rolle.
Im Mittelpunkt einer inklusiven Betrachtung steht also weder „der Mensch“ noch „die Natur“,
sondern die Art der Beziehung zwischen beiden.
Zur Illustration der Verbindung zwischen Ökologie und Humanität möchte ich abschließend das Logo
der zehnten Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitätskonvention 2010 in Aichi/ Nagoya zitieren
(Abb. 2):
Abb. 2: Logo der 10. Vertragsstaatenkonferenz der Convention on biological diversity in Nagoya, Japan, 18.-
29.10.2010 (Quelle: https://www.cbd.int/cop10/, zugegriffen 19.10.2010)
Zwar stehen hier die Menschen im Mittelpunkt, aber sie stehen nicht über den sie umgebenden
Naturwesen, sondern in Beziehung zu ihnen. Der moralische Imperativ, dass eine Menschheit sei, ist
dabei konstitutiv: Es ist gut, dass es Menschen gibt, und es soll sie auch in Zukunft geben! Ebenfalls
konstitutiv ist die Anerkennung der gleichen Rechte aller und jedes einzelnen Menschen. Sie fordert
von uns, die Vor- und Nachteile aus der Nutzung der Natur weitaus gerechter zu teilen, als das
heute der Fall ist. Und schließlich ist die menschliche Naturverbundenheit ein zentrales Merkmal
dieser Sicht: Sich emotional mit Natur zu verbinden, ist ein menschliches Bedürfnis, eine zutiefst
menschliche Fähigkeit und ein Recht, das dem Recht auf ein gesundes und produktives Leben
ebenbürtig ist.
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