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Wolfgang Sachs
Die vier E’s
Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil
Ursprünglich veröffentlicht als:
Wolfgang Sachs (1993):
Die vier E's : Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil
In: Politische Ökologie, Jg. 11, Nr. 33, S. 69-72
Die vier E's.
Merkposten für einen mass-vollen Wirtschaftsstil
Wolfgang Sachs
Wie in Papiertunneln fühlte man sich bis vor kurzem in den Gängen der U-Bahn
in Tokio. Über und über waren da die Wände mit grossflächigen Werbeplakaten
zugepflastert, Woche für Woche eine andere Schicht von Bildern und
Botschaften. Den Holzmangel Japans vor Augen, beschlossen die Stadtväter,
dieser Papierverschwendung ein Ende zu setzen: Im Namen des
Umweltschutzes wurden überall auf Bahnsteigen und in Waggons
Bildschirmgeräte aufgehängt, die jetzt das Publikum ohne Unterlass mit
Werbebotschaften bombardieren. Papier gespart - Problem gelöst?
Die Anekdote steht für einen Ansatz in der Umweltpolitik, den ich als
"Ökologie der Mittel" bezeichnen möchte. Bildschirme statt Papier, Elektronik
statt Benzinverbrauch, Wiederverwertung statt Neuherstellung, solche und
ähnliche Massnahmen zielen darauf ab, den Naturverbrauch pro
Leistungseinheit herunterzudrücken. Viel kann da geschehen, gross ist das
Potential von ausgeklügelten Motoren, Recycling und Systemtechnik, so gross,
dass manche das hohe Lied einer "Effizienzrevolution" anstimmen.
In der Tat, da ist noch viel Musik drin, doch lässt ein kühler Blick auf die
Grössenordnung der eigentlich fälligen Naturentlastung Zweifel daran
aufkommen, ob es weise ist, Ökologie auf effizientes Ressourcenmanagement
zu verkürzen. Denn die Verbrauchsreduktion, um die es geht, wenn man die
Nutzung der Natur ökologisch und im Weltmasstab gerecht gestalten will, ist
schwindelerregend: nach derzeit herumgereichten Faustformeln ist allein eine
Minderung des Energie- und Stoffdurchsatzes um 70-90% in den kommenden
Jahrzehnten dem Ernst der Lage angemessen. Ein tollkühner Optimist, wer
glaubt, dass ein solches Ziel mit blossen Effizienzsteigerungen erreicht werden
könnte! Das wird ja auch auf der Ebene der Logik deutlich, wenn man sich vor
Augen führt, dass Spareffekte auf die Dauer unweigerlich wieder von
Mengeneffekten aufgefressen werden, wenn nicht die Gesamtdynamik der
Leistungssteigerung gebremst wird. Automotoren zum Beispiel sind heute viel
effizienter als vor zwanzig Jahren, aber der Zuwachs an Autos, an
Geschwindigkeit und an gefahrenen Kilometern hat den Gewinn schon lange
annulliert. Rationalisierungserfolge helfen allenfalls Zeit zu gewinnen, sind aber
langfristig nur in einer wachstumsdezenten Gesellschaft wirksam. Herman Daly
hat diesen Sachverhalt in ein schlagendes Bild gebracht: auch ein Boot, in dem
die Lasten effizient verteilt sind, wird bei steigendem Gesamtgewicht
irgendwann untergehen - auch wenn den Insassen dann die Befriedigung bleibt,
optimiert gesunken zu sein!
Einer naturverträglichen Gesellschaft kann man in der Tat nur auf zwei Beinen
näherkommen: durch eine intelligente Rationalisierung der Mittel wie durch
eine kluge Beschränkung der Ziele. Mit anderen Worten: die
"Effizienzrevolution" bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer
"Suffizienzrevolution" begleitet wird. Nichts ist schliesslich so irrational, als
mit einem Höchstmass an Effizienz in die falsche Richtung zu jagen.
Entschleunigung oder die Entdeckung der Gemächlichkeit
Beschleunigung wurde Trumpf im 19. Jahrhundert, dieser Umbruch im
Zeitgefühl damals lässt sich deutlich in der Sprache nachzeichnen, diesem
Seismographen unterirdischer Mentalitätsverschiebungen. Hätte man etwa zum
jungen Bismarck vom "Tempo" der Zeit gesprochen, wäre man auf
Unverständnis gestossen; er hätte allenfalls an die Musik gedacht. Denn
"Tempo", das hiess "im angemessenen Zeitmass" spielen, dem Charakter einer
Komposition entsprechend. Erst zur Jahrhundertwende hin nimmt "Tempo" die
Bedeutung "hohe Geschwindigkeit" an: die Sprache spiegelt, dass das Ideal
einer Bewegung jetzt nicht mehr im jeweils rechten Mass, sondern einheitlich in
der höchstmöglichen Geschwindigkeit gesucht wurde.
Worauf diese Mentalitätsverschiebung reagierte, lässt sich ziemlich deutlich
angeben: auf die Sprengung des organischen Masses der Fortbewegung durch
Schiene und Lokomotive. Denn die Lokomotive, sie hatte mit den Schwächen
der organischen Natur aufgeräumt und schien gleichmässig und ohne
Erschöpfung dahinzueilen, während der Schienenweg sich die Landschaft
unterwarf und sich weder um Berge noch um Täler scherte. Pferde machten ja
bisher immer schlapp und auch die Landschaft zwang zu Steigung und Umweg;
jetzt aber konnte sich mit dem Triumph der Maschine über die Schranken der
Natur das Ideal einer steigerbaren und schrankenlosen Geschwindigkeit
festsetzen. Die Kinetik wurde, nach P.Sloterdijk, zur Ethik der Moderne.
Ein Bereich, wo dieser Geist des 19. Jahrhunderts hartnäckig weiterlebt, ist der
Automobilbau. Da werden uns Tempomobile mit Beschleunigungswerten und
Spitzenleistungen angeboten, als ob sie jeden Tag ein Langstreckenrennen auf
der Autobahn durchzustehen hätten. Dabei verbringt ein Auto im Schnitt 80%
seiner Betriebszeit im Stadtverkehr bei Durchnittsgeschwindigkeiten von 10-25
km/h. Tempomobile in den Stadtverkehr zu schicken ist daher ebenso rational
wie Butter mit der Kreissäge zu schneiden. Der zwanghafte Vollzug der Ideale
von gestern hat uns eine Automobilflotte beschert, die in grotesker Weise
übermotorisiert ist, mit aller Verschwendung an Energie, Material,
Sicherheitsausstattung, die sich daraus ergibt.
Beschleunigung, gründlich genug betrieben, zeigt freilich die missliche
Tendenz, sich selbst aufzuheben: man kommt immer schneller dort an, wo man
immer kürzer bleibt. Beschleunigung, das ist ihre kontraproduktive Seite, macht
gleichgültig für das Hier und Jetzt, sie ist der Feind von gelungener Gegenwart.
Daher erstaunt es nicht, dass das neue Interesse für Langsamkeit, das unter dem
Firnis des offiziellen Beschleunigungszwangs wächst, mit dem Bestreben zu tun
hat, sich aufmerksamer und grosszügiger den Situationen des Alltags zu stellen.
Der Geschmack für Gemächlichkeit bildet sich aus in der Liebe zur Gegenwart,
Intensität führt von selbst zur Verlangsamung.
Wenn wir schon unhaltbar gewordene Stellungen um der Natur und der
Gerechtigkeit willen aufgeben müssen, wäre es da nicht klug, an
niedermotorisierte Autos zu denken, die nicht in der Lage sind, schneller als,
sagen wir, 100 km/h zu fahren? Beschleunigung entsprang schliesslich der
Fortschrittsgewissheit, war die Tochter linearen Denkens. Verflüchtigt hat sich
in fortschrittsskeptischen Zeiten aber die Hoffnung, dass im Morgen alles besser
würde und deshalb Eile geboten sei; wo die Zukunft unübersichtlich geworden
ist, da hat auch das Beschleunigungsgebot seine Autorität verloren. Eine
Gesellschaft, die vom 19. Jahrhundert losgekommen ist, kann sich, so scheint
es, wieder mehr Gelassenheit leisten.
Entflechtung und die Renaissance der Orte
Ueberlebt hat sich vor dem Hintergrund der Naturkrise wohl auch jene Utopie,
die das Europa von Maastricht durchzieht: Einheit bedingungslos durch
wirtschaftliche Verflechtung zu schaffen. Gewiss, noch immer lebt die Utopie
vom alten Glanz; Spezialisierung, Effizienzsteigerung, mehr Angebot, kurz:
durch Verflechtung zu Wachstum und Wohlstand. Seit Bretton Woods jagt die
Welt und seit den Römischen Verträgen besonders Europa einem Wunschbild
nach, das sich womöglich nur in der goldenen Ausnahmeperiode der
Nachkriegszeit hat festsetzen können. Es verblassen die Mythen der
Vergangenheit vor dem Grossmythos unserer Zeit, dass die planetarische
Oekonomie ebenso erstrebenswert wie unvermeidlich sei.
Doch die Schatten werden immer länger. Zuallererst aus politischen Gründen.
Denn die "Sicherung des Wirtschaftsstandorts" wird notgedrungen zur
beherrschenden Maxime, vor der alle anderen Gestaltungswünsche, sei es das
Verlangen nach sozialer Solidarität, nach Stadtqualität oder auch nach
unverbrauchter Natur in die Knie gehen müssen. Aber so wie Demokratie durch
Abschottung stranguliert wird,, kann sie auch durch bedingungslose
Entblössung weggeblasen werden. Was immer Demokratie bedeuten mag, kann
sie jemals ohne einen Raum der Eigenständigkeit, dem Recht auf
Selbstbestimmung der eigenen Angelegenheiten, ja ohne Souveränität
auskommen?
Sodann aus ökologischen Gründen. Verflechtung heisst Transport und immer
mehr Transport. Die Entfernungen zwischen Produzent und Konsument (und
auch zwischen Konsument und Wiederverwertung bzw. Müllhalde) spreizen
sich auf; Blumen aus Kenia oder Schuhe aus Taiwan sind bekannte Beispiele.
Ausserdem vervielfachen sich die Distanzen zwischen Zulieferer und
Endfabrikanten; Autohersteller beziehen mit dem "global sourcing" Teile von
überall her in der Welt, wie selbst die Bestandteile eines simplen Joghurtbecher
in der Summe schon einen Reiseweg von 9000 km hinter sich haben. Gerade
der gegenwärtige Trend zu geringeren Fertigungstiefen verlängert die
Zuliefererketten und damit die Wegstrecken; "lean production" führt
geradewegs zu "fat transportation". Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass
sich Transport oft nur rechnet, weil die Spritkosten nicht den wahren
Knappheitsverhältnissen entsprechen und vor allem weil den Transporteuren
gestattet ist, die Schadensfolgen der Gesellschaft über den Zaun zu werfen.
Fernlastzüge vermehren sich, weil insgeheim die Annahme gilt, dass der Raum
zwischen den Bestimmungsorten nichts wert sei, also beliebig durchstossen,
betoniert, verlärmt und vergiftet werden kann. Ehrliche Preise,
Entfernungssteuern oder - warum nicht? - Zollrechte werden den Widerstand
der Raumdurchquerung erhöhen müssen; nur eine lose verflochtene Wirtschaft
wird weniger auf Natur und Gerechtigkeit drücken.
Auch hier gilt: was der Oekologie frommt, kann auch der Demokratie nützen.
Mehr wirtschaftliche Kreisläufe auf regionaler/lokaler Ebene zu schliessen,
schafft lokal verdichtete Oekonomien, also mehr Eigenständigkeit auf unterer
Ebene. Obendrein eröffnen sich mit Mikroelektronik und mit auf Sonne und
Biomasse aufbauenden Technologien neue Chancen für eine dezentralere
Produktionsweise, die - in Verbindung mit einer Art post-modernem
Heimatstolz - Europa buntscheckig gestalten könnte.
Entkommerzialisierung oder Ausschau nach den "Commons"
Woher rührt der Wohlstand eines Gemeinwesens? Seit Gründervater Adam
Smith die Arbeit, und zwar die warenerzeugende, als die Quelle des nationalen
Wohlstands gepriesen hat, ist den Oekonomen neben der Natur auch die
Gemeinschaft, die Sphäre der nicht-kommerziellen Tätigkeiten, aus dem Blick
gerutscht. Fixiert auf das Bruttosozialprodukt wie sie sind, können sie in den
zahlreichen Leistungen, die ausserhalb des Marktes erbracht werden, wie
Haushalt und Kindererziehung, Eigenarbeit und Freundschaftsdienst,
Gemeindekultur und Bürgertätigkeit, keine Wertschöpfung erkennen. Dabei
ergibt sich aus Untersuchungen, dass 30-50% der gesellschaftlichen Arbeit,
typischerweise von Frauen getragen, sich in diesem informellen Sektor
abspielen. Daher ist es kaum übertrieben zu sagen, dass die Gemeinkultur nicht-
kommerzieller Tätigkeiten das eigentliche Fundament der "Wertschöpfung"
darstellt, auf das Büro und Fabrik erst aufbauen. "Commons" ist ein
Suchbegriff, um diese verdeckte Quelle des Wohlstands ins Zentrum der
Aufmerksamkeit zu rücken.
Müssen wir nicht diese Quelle des Wohlstands neu in den Blick nehmen, wenn
wir über eine stationäre Wirtschaft oder gar eine Wirtschaftsschrumpfung
sprechen wollen? Schliesslich kann man sich doch nicht länger um die
Grossfrage unserer Zeit herumdrücken: wie ist soziale Sicherheit, wie ist ein
annehmliches Leben möglich ohne eine wachsende Wirtschaft? Eine mögliche
Antwort liegt darin, auf Wege zu sinnen, wie Ressourcen an Recht, Land,
Infrastruktur, Geld so eingesetzt werden können, dass die Bürger viele Dinge in
Selbsttätigkeit und in freier Trägerschaft tun können. Die wichtigste Ressource
allerdings ist frei verfügbare Zeit; nur wer ein Recht hat, ein Teil seines
Einkommens gegen freie Zeit einzutauschen, kann es sich leisten, an Selbsthilfe
zu denken. Auch kann von einer echten Option auf Eigenarbeit nur die Rede
sein, wenn unabhängig von einer Lohnbeschäftigung jeder wenigstens auf ein
Minimaleinkommen rechnen kann. Zeitsouveränität und Grundsicherung sind
die Pfeiler einer neuen Solidarordnung wie auch einer wachstumsindifferenten
Wirtschaft.
Entrümpelung oder die Eleganz der Einfachheit
Die Weisheitslehren aus verschiedenen Kulturen in Ost und West mögen zwar
unterschiedlicher Auffassung sein über die Natur des Universums, oder das
Geschick der Geschichte, doch einstimmig empfehlen sie ziemlich alle, in der
Lebensführung das Prinzip der Einfachheit zu kultivieren. Das kann kein Zufall
sein. Die Erfahrungen von vielen Generationen zusammenfassend, landen sie
bei der Schlussfolgerung, dass der Weg zu einem gelungenen Leben nicht über
die Akkumulation von Reichtümern führt. Dabei sind sie keineswegs von
Masochismus getrieben, der überraschende Befund ist vielmehr, dass sie
Einfachheit als einen Teil der Lebenskunst betrachten.
Denn das Gegenteil zu einem einfachen Lebensstil ist in dieser Tradition
keineswegs das luxuriöse, sondern das zerfaserte Leben. Eine Überzahl von
Dingen verstopft den Alltag, zerstreut die Aufmerksamkeit, verzettelt die
Energien, und schwächt die Kraft, eine klare Linie zu finden. Nur bei einem
vorsichtigen Umgang mit den Dingen, bleiben genügend Ressourcen an Zeit
und an Achtsamkeit, um dem eigenen Lebensprojekt richtige Gestalt zu geben.
Das Plädoyer für Einfachheit hat also mehr mit der Ästhetik der Lebensführung
zu tun als mit Moral; die Zersplitterung des Geistes ist die Gefahr, die im
Überfluss steckt. Wie bei der Kunst alles auf den massgenauen, den
beherrschten Umgang mit Farben oder Tönen ankommt, so verlangt auch die
Lebenskunst einen wohldosierten Umgang mit den materiellen Reichtümern. Es
gibt, mit anderen Worten, eine untergründige Verwandtschaft zwischen
Genügsamkeit und Genuss.
Es scheint, dass Haltungen dieser Art zwischen den Selbstbedienungsregälen
der Konsumgesellschaft hindurchfallen. Doch liegt die Stärke eines Lebensstils,
der nach Einfachheit strebt, nicht nur darin, einigermassen krisenfest zu sein,
sondern obendrein der unausrottbaren Sehnsucht nach einem richtig geführten
Leben etwas zu sagen zu haben. Wer den Kopf über der Warenschwemme
halten will, dem bleibt sowieso nichts anderes als selektiver Konsum, und wer
der Herr seiner Wünsche bleiben will, der wird das Vergnügen entdecken,
Kaufoptionen systematisch nicht wahrzunehmen. Bewusst ein Desinteresse für
zuviel Konsum zu pflegen, ist eine recht zukunftsfähige Haltung, für einen
selbst und zufällig auch für die Welt. Henry David Thoreau muss das schon
gewusst haben, als er am Walden Pond in sein Tagebuch kritzelte: "Ein Mensch
ist reich in Proportion zu den Dingen, die sein zu lassen, er sich leisten kann."