Content uploaded by Andreas Horr
Author content
All content in this area was uploaded by Andreas Horr on Mar 28, 2023
Content may be subject to copyright.
Nachbarschaftse ekte
Andreas Horr
Zusammenfassung
Das Kapitel geht der Frage nach, ob Nachbarscha en eigenständige E ekte
auf individuelle Bildungserfolge haben. Schwierig ist dabei vor allem, E ekte
der Nachbarscha en von nicht berücksichtigten Eigenscha en der Individuen
und Haushalte, sowie von den E ekten anderer Kontexte, insbesondere der
Schulen, abzugrenzen. Dies hat hohe Datenanforderungen an entsprechende
Analysen zur Folge. Die vorhandenen Studien für Europa und die USA sowie
eine Studie für Deutschland berichten fast durchweg Nachbarscha se ekte, die
im Vergleich zu individuellen E ekten aber relativ schwach sind. Zudem wird
der Zusammenhang zwischen ethnischer oder sozialer Zusammensetzung des
Wohnortes und der Zusammensetzung in den entsprechenden Schulen darge-
stellt. Die vorhandenen Studien für Deutschland stellen fest, dass Schulwahlen
ethnische und soziale Wohnsegregation noch einmal verstärken.
Problem und Fragestellung
Das folgende Kapitel beschä igt sich mit den E ekten von Nachbarscha en auf den
Bildungserfolg, das heißt mit der Frage, ob und wie sich der Wohnort auf Schulleis-
tungen und -abschlüsse von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Zunächst wird
geklärt, worum es sich bei Nachbarscha se ekten handelt, welche inhaltlichen
Mechanismen und Prozesse möglichen Nachbarscha se ekten zugrunde liegen
könnten, wie Wohnsegregation und Schulseg regation zusammenhängen und welche
methodischen und inhaltlichen Schwierigkeiten bei der empirischen Untersuchung
bestehen. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für die Auswahl geeigneter Studi-
C. Diehl et al. (Hrsg.), Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf,
DOI 10.1007/978-3-658-04322-3_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
398 Andreas Horr
en, die im Anschluss vorgestellt werden. Da die Anzahl an Studien für Deutschland
se hr bes chr änk t is t, w ird da bei auc h auf Untersuchungen i n ande ren e uropä isc hen
Ländern sowie teilweise auf US-amerikanische Studien zurückgegrien.
Unter Nachbarschaseekten werden unabhängige Einüsse von Nachbar-
schaseigenschaen auf Individuen verstanden. Zu diesen Eigenschaen der
Nachbarscha können die Zusammensetzung der dort wohnenden Bevölkerung,
das Vorhandensein bestimmter Einrichtungen, die geograsche Lage oder anderes
gehören. Nachbarschaseekte sind eine speziell auf den Wohnort bezogene Form
von Kontexteekten. Daneben gibt es andere Kontexte wie Familien, Kindergärten
oder Schulen, die mit dem Wohnort zusammenhängen und in Verbindung mit ihm
oder unabhängig davon wirken können. Analytisch wichtig ist bei der Unterschei-
dung, dass es sich tatsächlich um einen zusätzlichen Eekt der Nachbarscha handelt
und nicht um eine unberücksichtigte beziehungsweise unbeobachtete Eigenscha
eines Individuums, eines Haushaltes oder einer gesamten Region (vgl. Friedrichs
und Triemer 2008; Sampson et al. 2002; Galster 2008). Die reine Existenz von Un-
terschieden im Bildungserfolg zwischen Bewohnern verschiedener Gebiete oder
Nachbarschaen stellt noch keinen Nachbarschaseekt dar. Die Schwierigkeit liegt
darin, den unabhängigen kausalen Eekt der Nachbarscha zu identizieren und
die Vermischung von Nachbarschaseekten und Eekten unbeobachteter indivi-
dueller Eigenschaen und anderer Kontexte auf den Bildungserfolg zu vermeiden.
Das Kapitel beschäigt sich mit Eekten der Nachbarscha auf den Bildungs-
erfolg. Daneben gibt es Studien, die weitere Nachbarschaseekte auf Individuen
beziehungsweise Kinder und Jugendliche untersuchen, welche einen zusätzlichen,
indirekten Einuss auf diese haben können. So ist beispielsweise anzunehmen,
dass sich ein Einuss der Nachbarscha auf die Wahrscheinlichkeit, straällig zu
werden letztlich auch auf die Schulleistungen auswirkt1 und sich so Kausalbezie-
hungen immer weiter zurückverfolgen lassen. Die vorliegende Arbeit beschränkt
sich auf einen Überblick über Studien zur direkten Wirkung von Nachbarschaen
auf den Bildungserfolg sowie ihrer Wirkung, die über Bildungseinrichtungen ver-
mittelt wird. Da die Zusammensetzung von Schulen oder Kindergärten eng mit
dem Wohnort verbunden ist und o dieselben Mechanismen auf beiden Ebenen
zu erwarten sind, stellt sich die Frage, ob und wie beide Kontexte getrennt werden
sollen. Während Kontexteekte von Schulen und Schulklassen einen separaten
Forschungsgegenstand darstellen (vgl. in diesem Band: Schallock; Esser), wird,
1 Beispielsweise stellt Oberwittler (2007) die Existenz von Nachbarschas- und Schul-
eekten auf Jugenddelinquenz in Deutschland fest, die vor allem durch deren sozialen
Kontakte vermittelt ist.
Nachbarschaftseekte 399
soweit möglich, auf Arbeiten eingegangen, die versuchen das Verhältnis der beiden
Kontexteekte zueinander zu erfassen.
Im folgenden Abschnitt werden zunächst mögliche Mechanismen und Prozesse
vorgestellt, über die Nachbarschaseekte wirken können. In der Praxis stellt sich
die Schätzung von Nachbarschaseekten als schwierig heraus und stellt hohe
Anforderungen an die verwendeten Daten.
1 Mechanismen
Galster (2012) führt in einer umfassenden Samm lung unterschied liche Mechanis-
men von Nachbarschaseekten auf, die in der Literatur vorgeschlagen wurden,
und ordnet sie vier Schwerpunkten zu (für eine alternative Untergliederung s. z. B.
Galster 2008):
Unter sozial-interakt iven Mechanismen fasst Galster soziale Prozesse zusammen,
die innerhalb von Nachbarschaen stattnden. Sie treten auf, wenn das Verhalten
oder die Einstellungen von Bewohnern der Nachbarscha einen direkten Einuss
au f al le oder ei nen Teil sei ner Nachbar n haben. Be i kollektiver Sozialisation passen
sich Individuen aufgrund von Rollenvorbildern oder anderem sozialen Druck
lokalen sozialen Normen an. Auch bei Ansteckungseekten werden Verhalten und
Einstellungen durch den Kontakt mit Nachbarn beeinusst, diese Sozialisation
auf Nachbarschasebene kann sich zudem „epidemisch“ auswirken, etwa wenn
ein bestimmter Schwellenwert bei der Verbreitung bestimmter Einstellungen oder
Verhaltensweisen erreicht wird. Soziale Netzwerke beeinussen Sozialisationsef-
fekte, wenn diese von den individuellen Kontexten und den Gesamtnetzwerken in
Nachbarschaen abhängen. Sozialer Zusammenhalt und Kontrolle beziehungsweise
Vertrauen oder deren Abwesenheit in einer Nachbarscha beeinussen die Psyche
und das Verhalten der Bewohner. Bei Wettbewerb konkurrieren Personen inner-
halb einer Nachbarscha um lokale, begrenzte Ressourcen, während bei relativer
Deprivation der sozioökonomische Erfolg mancher Bewohner einer Nachbarscha
zu Unzufriedenheit bei weniger erfolgreichen Personen oder Haushalten führt.
Schließlich wurden über Eltern vermittelte Eekte vorgeschlagen, bei denen einer
der hier aufgeführten Mechanismen die physische oder psychische Gesundheit
von Eltern, ihr Verhalten oder materielle Ressourcen beeinusst, was sich dann
wiederum auf die Erziehung von Kindern auswirkt.
Unter Mechanismen, die sich über Umweltfaktoren auswirken, fallen Belastungen
durch Gewalt, bei der sich sichtbares gewalttätiges Verhalten in einer Nachbarscha
durch psychologische Belastung auswirkt, die physische Umgebung (Müll, Grati,
400 Andreas Horr
Lärm und allgemein die physische Bebauung einer Nachbarscha beeinussen das
Wohlbenden der Bewohner) sowie Umweltverschmutzung und -belastung.
Geograsche Mechanismen beziehen sich auf räumliche Aspekte, die nicht in
der Nachbarscha selbst aureten, sondern durch die Lage innerhalb größerer
politischer oder wirtschalicher Zusammenhänge hervorgerufen werden. Dazu
gehören Spatial Mismatch, bei dem bestimmte Nachbarschaen aufgrund räum-
licher Entfernung oder durch die Transport- oder Verkehrssituation schlechteren
Zugri auf Arbeitsangebote bieten, die den Fähigkeiten ihrer Bewohner entsprechen
sowie die Qua lität der öentlichen Verwaltung. Le tzt ere k ann i n manchen Gebieten
aufgrund geringerer Steuereinnahmen, Misswirtscha o. Ä. schlechter ausfallen,
was wiederum die Bildungs- und Lebenschancen der Bewohner verringert.
Institutionelle Mechanismen berücksichtigen das Verhalten von Akteuren, die
nicht selbst in einer Nachbarscha wohnen, aber die Chancen der dort lebenden
Bewohner beeinussen. Dazu zählen Stigmatisierung, bei der wichtige Akteure wie
Arbeitgeber oder Lehrer Bewohner eines Gebietes aufgrund der dort lebenden Be-
völkerung, der Geschichte der Nachbarscha, dem baulichen Zustand oder anderer
Eigenschaen negativ typisieren, der Zugri auf lokale institutionelle Ressourcen
und Organisationen wie das Vorhandensein von Schulen, Einrichtungen zur Kin-
derbetreuung, Büchereien, Freizeiteinrichtungen oder Krankenhäuser und deren
Qualität sowie das Vorhandensein bestimmter Akteure auf dem lokalen Markt, et wa
wenn sich die räum liche Verteilung von Supermärkten, Fast Food Restaurants oder
die Existenz illegaler Drogenmärkte auf das Verhalten der Bewohner auswirkt.
Die unterschiedlichen Mechanismen lassen mitunter gegensätzliche Eekte
erwarten. So können beispielsweise epidemische Eekte, kollektive Sozialisation
oder institutionelle Mechanismen bewirken, dass „bessere“ Nachbarschaen eine
positive Entwicklung ihrer Bewohner begünstigen. Allerdings kann nach Wettbe-
werbsmodellen und Modellen relativer Deprivation mit dem Vorhandensein von
Nachbarn mit hohem sozioökonomischem Status auch eine negative Entwicklung
der sozial schwächeren Bewohner einhergehen (Duncan und Raudenbush 2001). Die
von Galster und anderen Autoren zusammengetragenen Mechanismen werden in der
vorhandenen Literatur o als mögliche Gründe für die Erwartung oder Erklärung
von Nachbarschaseekten auf den Bildungserfolg angegeben. Fast nie können
anhand der verfügbaren Indikatoren jedoch eindeutige Mechanismen bestimmt
werden und sehr wenige Studien beanspruchen, gefundene Nachbarschaseekte
einem bestimmten Mechanismus zuordnen und andere dafür ausschließen zu
können. So bleibt etwa bei einem festgestellten Zusammenhang zwischen dem
sozioökonomischen Status einer Nachbarscha und dem Bildungserfolg der dort
lebenden Schülerinnen und Schüler unklar, wie sich diese Nachbarschaseigen-
Nachbarschaftseekte 401
scha auswirkt, solange die wirkenden Prozesse selbst in den vorhandenen Daten
nicht abgebildet werden können.
Zudem bleibt durch den starken Zusammenhang zwischen dem Wohnort
und dort vorhandenen Bildungseinrichtungen o unklar, auf welcher Ebene ein
Mechanismus wirkt.
2 Methodische Probleme bei der Untersuchung von
Nachbarschaftseekten
Im Folgenden werden grundsätzliche Schwierigkeiten und daraus folgende An-
forderungen an Daten zur Untersuchung von Nachbarschaseekten dargestellt,
um daraus Kriterien abzuleiten, nach denen die dargestellten Studien ausgewählt
wurden. Diese Zusammenstellung methodischer Herausforderungen und vor-
geschlagener Lösungsansätze basiert auf Arbeiten von Jencks und Mayer (1990),
Ellen und Turner (1997), Duncan und Raudenbush (2001), Sampson et al. (2002),
Buck (2001) und Galster (2008). Ergänzt wurde insbesondere das bislang kaum
diskutierte Problem, Nachbarschaseekte unter Kontrolle von Schulen (oder
anderen Einrichtungen) zu identizieren.
2.1 Denition, Messung und Modellierung
Akteure können soziale Beziehungen auf unterschiedlichen Nachbarschasebenen
haben, die von der Blockebene bis zu größeren Stadtbezirken reichen können. Diese
unterschiedlichen Ebenen können darüber hinaus zwischen verschiedenen Bewoh-
nern im gleichen Gebiet variieren. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten bei der
Denition der Größe von Nachbarschaen. Es besteht Uneinigkeit darüber, welche
Ebene angemessen ist (s. z. B. Nonnenmacher 2007). Sampson (2012) argumentiert,
es gebe keine „richtige“ Denition von Nachbarscha bei der Schätzung von Kon-
texteekten; stattdessen müsse die verwendete Größe an die Fragestellung und die
vermuteten Mechanismen angepasst werden (s. auch Andersson und Malmberg
2015). Der direkteste Weg herauszunden, welches Nachbarschasmaß geeignet ist,
besteht darin, parallele Analysen für unterschiedliche Nachbarschasdenitionen
zu berechnen. Üblicherweise wird die verwendete Größe der Nachbarscha durch
Datenlimitationen bestimmt. Die Eignung der verwendeten Messung sollte dann
zumindest problematisiert werden.
402 Andreas Horr
Es sollten geeignete Nachbarschascharakteristika gemessen werden. Wichtig
ist insbesondere, die tatsächlich wirkenden Faktoren oder Prozesse empirisch zu
messen. Amtliche Daten oder allgemeine Bevölkerungsumfragen stellen selten
geeignete Daten zur Verfügung, die notwendig wären, um die entsprechenden
potenziellen Nachbarschasmechanismen zu identizieren. Der Versuch, die
sozialen Prozesse in Nachbarschaen, von denen angenommen wird, dass sie
Nachbarschaseekte erzeugen, direkt zu messen, wurde vor allem in speziellen
Umfragen mit einer begrenzten Anzahl an Nachbarschaen unternommen. Bei
der Arbeit mit allgemeinen Bevölkerungsumfragen gab es verschiedene Versuche,
sinnvolle Variablen als Ersatz für die unbeobachteten sozialen Prozesse zu ver-
wenden (sozioökonomische und demograsche Indikatoren auf Aggregatsebene;
in manchen Studien auch Vertrauen und informelle Kontrolle in Nachbarschaen
oder das Vorhandensein bestimmter Einrichtungen in Nachbarschaen).
Idealerweise sollten Maße da für vorhanden sein, wie stark ein Individuum einer
bestimmten Nachbarscha ausgesetzt war beziehungsweise genauer: für die jeweiligen
Prozesse, von denen angenommen wird, dass sie Nachbarscha seekte befördern,
und ob diese Prozesse sofort wirken oder erst mit erheblicher Zeitverzögerung.
Bislang gibt es kaum Studien, welche dierenziert messen, wie stark ein Indivi-
duum bestimmten Nachbarschaseinüssen ausgesetzt war. Bei der Messung der
Dauer ist oensichtlich, dass eine punktuelle Messung des Wohnortes deutlichen
Einschränkungen unterliegt.
Der Zusammenhang zwischen einer Nachbarschaseigenscha und dem Bil-
dungserfolg kann nichtlinear sein (Jencks und Mayer 1990, S. 122; Galster 2008). So
könnte sich beispielsweise sehr hohe Arbeitslosigkeit in einem Viertel auswirken,
während eine Veränderung im mittleren Bereich keine nennenswerten Folgen
hat. Ebenso kann ein kritischer Schwellenwert für eine Nachbarschaseigenscha
bestehen, dessen Überschreitung erst Ausw irkungen hat. Nichtlineare Eekte sind
in vielen Fällen zu erwarten und sollten bei den Analysen berücksichtigt werden.
Es ist anzunehmen, dass Nachbarschaseekte nicht gleich auf alle dort leben-
den Personen wirken und Interaktionen mit individuellen Eigenschaen bestehen.
Unterscheiden sich beispielsweise die sozialen Netzwerke der Familien wohlha-
bender Schülerinnen und Schüler von denen ärmerer Familien, kann die Wirkung
der Nachbarschaszusammensetzung bei beiden Gruppen unterschiedlich sein.
Ebenso könnte über das Vorhandensein relevanten Humankapitals in Familien die
Qualität der Schule einen stärkeren oder weniger starken Einuss haben (Jencks
und Mayer 1990, S. 124). Sofern die Daten es zulassen, sollte daher die Wirkung
für verschiedene Gruppen untersucht und auf die entsprechenden individuellen
Eigenschaen kontrolliert werden, um gezielt Interaktionseekte zu berücksichtigen.
Nachbarschaftseekte 403
Bei der Messung geeigneter individueller Charakteristika und der Identikation
kausaler Eekte sind Selektionsprobleme ein zentrales Problem für die Schätzung
von Nachbarschaseekten. Viele Eigenschaen von Personen oder Familien, die
den Bildungserfolg beeinussen, spielen auch eine entscheidende Rolle bei der
Wohnortwahl. Wird auf diese individuellen Einüsse nicht kontrolliert, werden
deren Eekte fälschlicherweise der Nachbarscha zugeschrieben. Zur Schätzung
von Nachbarschaseekten sollte daher auf zeitvariierende und zeitkonstante
Charakteristiken der Individuen, die mit der abhängigen Variablen korreliert sein
könnten, kontrolliert werden, da durch die Korrelation der persönlichen Chara kte-
ristika sowohl mit der abhängigen Variablen als auch mit dem Wohnort ansonsten
die Schätzung verzerrt wird.
2
In der Praxis werden nahezu alle Datensätze, die
Sozialwissenschalern zur Verfügung stehen, in dieser Hinsicht unvollständig
sein. Das Ziel sollte daher darin bestehen, die Lücke zumindest so weit wie möglich
zu schließen. Ob Nachbarschaseekte durch räumliche Selektionsprozesse eher
überschätzt oder unterschätzt werden, ist strittig (vgl. Galster 2008, S. 10; Sykes
und Kuyper 2009, S. 2432f.).
Individuelle Eigenschaen können darüber hinaus gleichzeitig Ursache und
Wirkung davon sein, in einem bestimmten Gebiet zu wohnen (vgl. Jencks und Mayer
1990), etwa wenn Bildungsaspirationen oder soziale Netzwerke von Eltern sowohl
die Wahl des Wohnortes beeinussen als auch das Wohnen in einer bestimmten
Nachbarscha auf Aspirationen oder soziale Netzwerke einwirkt. Innerhalb des
komplexen Zusammenspiels zwischen individuellen Eigenschaen, dem Wohn-
ort, Bildungseinrichtungen und Bildungserfolg sind verzerrte Schätzer aufgrund
umgekehrter Kausalität oder Simultanität schwer zu vermeiden.
Insbesondere bei Querschnittsdaten besteht das Problem, dass lediglich die
gegenwärtigen Nachbarschaseigenschaen betrachtet werden können. Wird nun
auf eine Reihe von Kontrollvariablen zu individuellen, Familien-, Freundes- und
Schulvariablen in einem Modell kontrolliert, wird ein existierender Nachbarschas-
eekt möglicherweise „wegerklärt“, indem auf diese eigentlich vermittelnden Vari-
ablen kontrolliert wird (vgl. Sampson et al. 2002; Sampson 2008). Ebenso werden
Nachbarschaseekte mit längerfristiger Wirkung in einem solchen statischen
Modell übersehen. Längsschnittsdaten, die nur einen kurzen Zeitraum betrachten
oder keine Aussagen darüber zulassen, wie lange eine Person einer Nachbarscha
ausgesetzt war und ob Nachbarschaseigenschaen über die Zeit konstant blieben,
können dieses Problem nur eingeschränkt verringern. Es wurden verschiedene
Wege vorgeschlagen, um mit den beschriebenen Selektionsproblemen umzugehen
2 Für eine ausführliche Diskussion des Selektionsproblems in der Literatur zu Nachbar-
schaseekten siehe zum Beispiel Manski (1993) oder Hedman und van Ham (2012).
404 Andreas Horr
(vgl. Ellen und Turner 1997; Galster 2008). Studien, die eine experimentelle oder
quasiexperimentelle Zuweisung der Haushalte auf verschiedene Nachbarschaen
vornehmen, sind rar. Wenn Haushalte völlig zufällig auf Wohnorte verteilt sind,
kann eine unbeobachtete Selektion ausgeschlossen werden. Eine solche Zuwei-
sung wird allerdings aus ethischen und praktischen Gründen nur in seltenen
Fällen möglich sein. Relevanter sind daher quasiexperimentelle Zuweisungen
etwa im Rahmen staatlicher Programme, beispielsweise in Desegregations- oder
Siedlungsprogrammen. Auch hier kann Selektion üblicherweise nicht vollständig
ausgeschlossen werden, da die Teilnahme an solchen Programmen wahrscheinlich
nicht zufällig ist oder die Teilnehmenden nur in Nachbarschaen mit begrenzter
Varianz an Eigenschaen ziehen.
In der überwiegenden Mehrheit der Studien werden allerdings nichtexperimen-
telle Daten und Analyseverfahren verwendet. Bei diesen wird versucht, auf zeitkon-
stante oder ze itva riierende individuelle Eigenscha en z u kontrol lieren, um Nach-
barschaseekte zu schätzen. Darunter fallen die üblichen Regressionsverfahren,
Multilevelmodelle, Matchingverfahren, Dierencing- und Fixed-Eects-Modelle,
Instrumentalvariablenschätzer, die explizite Modellierung der Selektion sowie die
Untersuchung von Geschwistern, die denselben Familienbedingungen unterliegen,
aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlichen Nachbarschaen ausgesetzt
sein können. Die einzelnen Analyseverfahren unterscheiden sich stark darin, wie
gut sie Selektionsprobleme verringern können, welche Annahmen sie treen (die
wiederum zu neuen Schwierigkeiten führen können) und welche Anforderungen
sie an die Daten stellen.
2.2 Trennung von Nachbarschafts- und Schul- oder
Kindergarteneekten
Schulen und andere Bildungseinrichtungen stellen einen weiteren, zentralen Kontext
für den Bildungserfolg dar, der stark mit dem Wohnort verbunden ist. Ethnische
und soziale Segregation in Schulen und Kindergärten ist in erster Linie eine Folge
von Wohnsegregation. Mechanismen wie Sozialisation, Ansteckung oder relative
Deprivation sind dor t ebenso wie in der Nachbarscha zu erwarten und viele Arbeiten
trennen konzeptionell oder empirisch nicht zwischen beiden Kontexten. Das kann
gerechtfertigt sein, wenn es sich bei den sozialen Kontakten in der Nachbarscha
im Wesentlichen um dieselben Kinder und ihre Eltern handelt, mit denen etwa
Schülerinnen und Schüler auch eine Schule besuchen. Zwischen Nachbarschas- und
Schul- oder Kindergarteneekten besteht dann kein wesentlicher Unterschied. Die
Zusammensetzung der Angehörigen einer Schule oder eines Kindergartens kann
Nachbarschaftseekte 405
sich jedoch aus mehreren Gründen von denen der Nachbarscha unterscheiden.
Das ist etwa beim Besuch weiterführender Schulen der Fall, bei denen bereits eine
Selektion nach vorausgegangenen Schulleistungen stattgefunden hat. Familien
können aber auch bei anderen Schularten oder Kindergärten selektiv Einrichtungen
mit bestimmten Eigenschaen wählen. Bei Grundschulen ist durch die Existenz
von Regelschulen und verpichtenden Schulbezirken in fast allen Bundesländern
zunächst zu er warten, dass die Wahl der Schule eine direkte Folge des Wohnortes ist.
Wohnsegregation set zt sich aber auch hier nicht zwangsläug linear in Schulsegre-
gation um und einzelne Studien (Kristen 2005, 2008; Riedel et al. 2010; Schneider et
al. 2012; Schuchart et al. 2012) belegen, dass durch selektive Schulwahlen ethnische
oder soziale Segregation in Schulen über die Wohnsegregation hinaus verstärkt
wird. Insofern sich Nachbarschas- von Schul- oder Kindergarteneigenschaen
unterscheiden, ist es daher sinnvoll, zwischen den Kontexten zu unterscheiden.
Einige Studien versuchen, den Eekt von Nachbarschaen auf den Bildungserfolg
unter Kontrolle der Schule zu analysieren. Empirisch ist die Trennung zwischen
Nachbarschaseekten und den Eekten von Schulen oder Kindergärten jedoch
methodisch mit Schwierigkeiten verbunden. Bei der Schätzung von Schuleekten
bestehen grundsätzlich dieselben Herausforderungen, die oben bei der Schätzung
von Nachbarschaseekten aufgeführt wurden. Insbesondere Selektionsprobleme
bei der Schätzung kausaler Eekte werden dabei jedoch o nicht in gleichem Maße
diskutiert und bei Analysen berücksichtigt wie bei Nachbarschaseekten.
Eine o verwendete Analysestrategie besteht darin, in aufeinanderfolgenden
Modellen zunächst den Nachbarschaseekt isoliert zu schätzen und dann zu-
sätzlich auf die Schule oder Schuleigenschaen zu kontrollieren. Sinkt oder ver-
schwindet darauin der Nachbarschaseekt, wird dies darauf zurückgeführt,
dass der entsprechende Anteil des Eekts durch die Schule vermittelt sei. Da die
Schulwahl zeitlich und kausal der Wohnortwahl o nachgelagert ist, kann dieses
Vorgehen aber zu falschen Schlussfolgerungen führen. Neben dem „Wegerklären“
von Nachbarschaseekten durch kausal nachgelagerte Faktoren wird o nicht
beachtet, dass die Wahl einer Schule, die außerhalb eines Schulbezirkes liegt oder
sich aus anderen Gründen in ihrer Zusammensetzung von der Nachbarscha un-
terscheidet, wahrscheinlich nicht zufällig erfolgt. Schülerinnen und Schüler, die
eine privilegierte Schule besuchen, obwohl sie in einem benachteiligten Stadtteil
wohnen, haben womöglich beobachtete oder unbeobachtete Eigenschaen, die
sich auch auf den Bildungserfolg auswirken. Wenn diese Einussfaktoren auf die
Schulwahl nicht berücksichtigt werden, führt eine Kontrolle auf die Schule dazu,
dass auch der Koezient des Nachbarschaseekts durch endogenen Selektions-
bias verzerrt ist (s. Gelman und Hill 2007, S. 188.; Angrist und Pischke 2009,
S. 64.; Elwert und Winship 2014). Anders ausgedrückt: Nicht nur bei der Wahl
406 Andreas Horr
der Nachbarscha besteht ein Selektionsproblem, sondern auch bei der Wahl einer
Bildungseinrichtung und möglicherweise hängt die Schulwah l von anderen (beob-
achteten oder unbeobachteten) Faktoren ab als die Nachbarschaswahl. Während
das Problem, dass Haushalte nicht zufällig auf Nachbarschaen verteilt sind und
eine entsprechende Selektion berücksichtigt werden muss, in der vorhandenen
Literatur zumindest grundsätzlich akzeptiert ist, wird das Problem endogener
Selektion in Schulen oder andere Einrichtungen bislang kaum diskutiert oder in
Analysen berücksichtigt.
In Abschnitt 4.3.2 werden Studien vorgestellt, die den Zusammenhang zwischen
Wohnsegregation und Schul- oder Kindergartenseg regation in Deutschland unter-
suchen. Die Arbeiten belegen, dass Kindergarten- und Schulwahlen ethnisch und
sozial stark selektiv sind. Bereits bestehende Wohnsegregation wird in den Schulen
oder Kindergärten dadurch insgesamt noch verstärkt. Studien von Kristen (2005,
2008) und Becker (2010) weisen darauf hin, dass nicht nur der soziale und ethnische
Hintergrund der Familien die Schul- oder Kindergartenwahl beeinusst, sondern
darüber hinaus auch das Wissen über jeweils relevante Bereiche des Bildungssystems
innerhalb der sozialen und et hnischen Gruppen. Es ist daher zu vermuten, dass sich
beispielsweise auch innerhalb türk ischstämmiger Migranten diejenigen Familien,
die in benachteiligten Stadtteilen wohnen, aber eine privilegierte Schule wählen,
von solchen unterscheiden, welche die Regelschule besuchen. Dadurch besteht die
Gefahr, dass Schuleekte falsch geschätzt werden, wenn solche Einussfaktoren
nicht berücksichtigt werden. Bei einer Kontrolle auf Schuleigenschaen bei der
Schätzung von Nachbarschaseekten kann das gleichzeitig deren Ergebnisse
verzerren. Dies ist bei der Interpretation der weiter unten dargestellten Studien
zu beachten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass – von den seltenen Fäl len abgesehen,
in denen experimentelle oder quasiexperimentelle Daten vorhanden sind – zur
Untersuchung der Auswirkungen von Nachbarschaen auf den Bildungserfolg
Daten verwendet werden sollten, die umfangreiche Informationen über Nachbar-
schaseigenschaen, die Schülerinnen und Schüler, ihre Familien, Freunde und
Mitschülerinnen und -schüler sowie die von ihnen besuchten Schulen beinhalten.
Zudem sollten Personen idealerweise über einen bestimmten Zeitraum hinweg
verfolgt werden können, um messen zu können, wie lange sie einer bestimmten
Nachbarscha ausgesetzt waren (vgl. Ainsworth 2002, S. 122). Darüber hinaus
sollten die Daten die Möglichkeit bieten, auf Selektionseekte zu kontrollieren. Das
Problem endogener Selektion stellt derzeit wahrscheinlich die größte methodolo-
gische Herausforderung bei Studien zu Nachbarschaseekten dar. Obwohl dies
in der neueren Literatur deutlich herausgearbeitet wurde, fehlt es o an geeigneten
Datensätzen. Die meisten Studien verwenden Analysestrategien, in denen auf
Nachbarschaftseekte 407
beobachtete Variablen wie den sozialen Hintergrund kontrolliert wird, um Selek-
tionseekte auszugleichen. Dieses Vorgehen setzt voraus, dass die beobachteten
Variablen tatsächlich ausreichen, um den Selektionsprozess zu modellieren und
es keine weiteren unbeobachteten Faktoren gibt, die ihn beeinussen. Das kann
bei der Verwendung üblicherweise vorhandener Indikatoren wie dem Einkommen
oder dem Bildungshintergrund der Eltern nur eingeschränkt angenommen werden.
Wie oben beschrieben, ist zudem die Abgrenzung von Nachbarschaseekten zu
Schuleekten problematisch. Diese Schwierigkeiten sollten bei der Auswahl der
im Folgenden vorgestellten Studien berücksichtigt werden.
3 Auswahl der Studien
Die dargestellten Herausforderungen bei der Identikation und Interpretation
von Nachbarschaseekten leiten die Auswahl empirischer Studien. Die Messung
sowohl geeigneter Nachbarschascharakteristika als auch, wie stark ein Indiv idu-
um einem best immten Kontext ausgesetzt war, die Berücksichtigung nichtlinearer
Nachbarschaseekte und die Interaktion von Nachbarschaseigenschaen mit
individuellen Eigenschaen sind wichtige Kriterien für die Qualität empirischer
Studien. Für die grundsätzliche Auswahl der Studien waren jedoch zunächst
kausalanalytische Kriterien entscheidend. Gesucht wurden Studien mit quantita-
tiv-empirischen Analysen, die folgende Anforderungen erfüllten:
t Ethnische und/oder soziale Unterschiede werden entweder als erklärender Ef-
fekt auf Nachbarschasebene oder als zu erklärendes Phänomen auf Schüler-/
Familienebene berücksichtigt.
t
Es werden Daten mit ausreichender Fallzahl auf Individualebene und eine
Messung verwendet, die mindestens eine theoretisch begründbare, gemessene
Eigenscha auf Nachbarschasebene enthalten.
t
Es handelt sich um Experimentalstudien, quasi-experimentelle Studien oder
Längsschnittstudien, die es zu einem Mindestmaß erlauben, zwischen Kom-
positionseekten und Nachbarschaseekten zu unterscheiden und/oder auf
Selbstselektion in Nachbarschaen zu kontrollieren.
Die Suche wurde zeitlich nicht grundsätzlich eingeschränkt, al lerdings lassen sich
für die Zeit vor 1990 praktisch keine Studien zum ema nden, die experimentelle
Daten oder Längsschnittstudien verwenden. Es wurden Studien ausgeschlossen,
welche die Auswirkungen zu großer Kontexte untersuchten, bei denen nicht mehr
408 Andreas Horr
sinnvoll von Nachbarschaen gesprochen werden kann, etwa wenn sie über Ge-
meindeebene hinausgingen. Davon abweichende Studien werden erwähnt, falls
sie einen zentralen Aspekt behandeln, für den sonst keine empirische Evidenz
gefunden werden konnte.
Für Deutschland existieren zu wenige Studien, um auch nur annähernd Aussagen
über die Existenz von Nachbarschaseekten oder zugrunde liegende Mechanismen
machen zu können. Geograsch wurde das Suchfeld daher auf Europa erweitert,
aber auch hier lassen sich nur vereinzelt Studien nden, welche die ethnische Zu-
sammensetzung detaillierter betrachten oder ethnische Gruppen dierenzieren.
US-amerikanische Studien wurden dann hinzugezogen, wenn diese interessante
methodische oder inhaltliche Besonderheiten aufweisen, die in europäischen und
deutschen Studien fehlen. Aufgrund seiner herausragenden methodischen Be-
deutung ist dem amerikanischen Moving To Opportunity-Experiment ein eigener
Unterabschnitt gewidmet. Allerdings lassen sich die Ergebnisse US-amerikanischer
Studien aufgrund der großen Unterschiede in Hinblick auf Immigrationsgeschichte
und Immigrantengruppen, das Ausmaß sozialer und ethnischer Segregation und
das Bildungssystem nur eingeschränkt auf Deutschland übertragen.
4 Nachbarschaftseekte auf den Bildungserfolg:
empirische Evidenzen
Da Migranten häug in sozial schwachen Nachbarschaen und in Gebieten mit
insgesamt hohem Migrantenanteil wohnen, ist es grundsätzlich sinnvoll, auch
allgemeine Nachbarschaseekte auf den Bildungserfolg (ohne speziellen Bezug
auf Migranten) zu betrachten. Idealerweise sollten weiterhin, erstens, die Wirkung
der ethnischen Zusammensetzung eines Wohngebietes (als Nachbarschaseigen-
scha) und, zweitens, die möglicherweise unterschiedliche Wirkung auf einzelne
Migrantengruppen und Einheimische untersucht werden.
4.1 Das Moving To Opportunity (MTO)-Experiment
Das MTO-Programm wurde in den USA entworfen, um zu überprüfen, ob sich
Familien, die aus innerstädtischen Gebieten mit hoher Armut in Gebiete mit
niedrigerer Armut ziehen, in Hinblick auf verschiedene Faktoren (unter anderem
Bildung) verbessern können. Dabei wurden freiwillig teilnehmende Bewohner von
Sozialwohnungen (darunter viele alleinerziehende Mütter, Schwarze und Latinos)
Nachbarschaftseekte 409
in fünf verschiedenen Städten zufällig auf drei verschiedene Gruppen vertei lt, von
denen zwei die Möglichkeit bekamen, in ein anderes Gebiet mit niedrigerer Armut
beziehungsweise in ein Gebiet ihrer Wahl umzuziehen. Die dritte Gruppe diente
als Kontrollgruppe und erhielt kein experimentelles Treatment. Dieser Prozess der
zufälligen Zuweisung bietet zumindest theoretisch (s. dazu unten) eine nahezu
einmalige Möglichkeit, den Eekt der Nachbarscha ohne Verzerrungen durch
Selektion zu schätzen.
Die zahlreichen Analysen der Daten des MTO-Programms für verschiedene
Bildungsergebnisse, Gebiete und Altersgruppen kommen zu sehr gemischten Er-
gebnissen, und Eekte konnten o nur für spezielle Subgruppen gefunden werden.
In einer Analyse der Ergebnisse für New York untersuchten etwa Leventhal und
Brooks-Gunn (2004) die Auswirkungen der Nachbarscha auf das Wiederholen einer
Klasse, das Aussetzen oder den Verweis von der Schule sowie das Abschneiden in
Leistungstests.
3
In ein Gebiet mit niedriger Armut zu ziehen, hatte einen positiven
Eekt auf 11 bis 18-jährige Jungen gegenüber Gleichaltrigen, die in Gebieten mit
hoher Armut wohnten. In Hinblick auf die Leistungstests wurden die gefundenen
Geschlechterunterschiede zw ischen Jungen und Mädchen in Gebieten mit niedriger
Armut allerdings wieder aufgehoben. Dieser Eekt wurde nur teilweise durch die
für Hausaufgaben aufgewendete Zeit und die Sicherheit in der Schule vermittelt.
Während frühe Analysen der Daten für Baltimore zwei bis drei Jahre nach dem
Umzug auf eine stärkere Verbesserung der Schulleistungen bei jungen Kindern
hinwies (Ludwig et al. 2001), stellten Sanbonmatsu et al. (2006) fest, dass sich
diese anfänglichen Verbesserungen im Laufe der Zeit nicht fortsetzten. Insgesamt
fanden Sanbonmatsu et al. für keine Altersgruppe Belege für Verbesserungen in
Hinblick auf die Leseleistung, Mathematikleistungen, Verhalten, Schulproblemen
oder Engagement. Kling et al. (2007) stellten bei einer Analyse al ler fünf Städte für
Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 20 Jahren nur bei weiblichen
Schülern positive (lineare) Eekte auf den Bildungserfolg in Form eines vorhan-
denen Schulabschlusses fest, während bei männlichen Schülern sogar negative
Eekte auraten.
Die beschriebenen Nachbarschaseekte in den zahlreichen Auswertungen
des MTO-Experiments beziehen sich o nur auf sehr bestimmte Subgruppen,
geograsche Gebiete oder Zeiträume. Wie in Abschnitt 2.1 beschrieben, kann
eine dierenzierte Analyse wie Nachbarschaen mit individuellen Eigenschaen
interagieren gerade interessant sein. Die sehr unterschiedlichen Ergebnisse ergeben
jedoch kein sehr klares Bild, das sich mit allgemein erwarteten Mechanismen in
Einklang bringen ließe. Zur Erklärung des unerwarteten Befundes, dass Nach-
3 Ähnliche Ergebnisse nden sich unter anderem bei Katz et al. 2001.
410 Andr eas Horr
barschaseekte entgegen den Erwartungen o nicht beobachtet werden konnten,
wurden mehrere inhaltliche und methodologische Vorschläge angeführt. Unter
anderem zog ein sehr großer Anteil der umgezogenen Familien zwar in Gebiete mit
niedrigerer A rmut, jedoch nicht in Gebiete mit einer stärker gemischten et hnischen
Zusammensetzung der Nachbarscha. Ebenso ging ein Wohnortwechsel häug
nicht mit einem Wechsel auf bessere Schulen einher (s. Sanbonmatsu et al. 2006).
Daneben bestehen beim Design des MTO-Programms weitere Einschränkungen
(vgl. Clampet-Lundquist und Massey 2008). Die Ergebnisse bleiben auf Haushalte
beschränkt, die sich freiwillig zur Teilnahme an dem Programm gemeldet haben
und die kausalen Prozesse hinter den gefundenen Eekten bleiben unklar. Trotz
der randomisierten Zuweisung der Familien auf drei Gruppen war die Wahl des
Zielortes nicht vollständig zufällig, da die Familien noch zwischen verschiedenen
Nachba rscha en wä hle n kon nten . Auße rdem gab e s ei ne re lativ hoh e Za hl a n Au s-
steigern aus dem Programm sowie Haushalte, die nach relativ kurzer Zeit wieder
in ein Gebiet mit hoher Armut zurückzogen.
Obwohl mehrere Studien auf Basis des MTO-Ex periments Nachbarschaseekte
feststellen konnten, beschränken sich diese häug auf bestimmte Gruppen oder loka le
Kontexte. Die sehr gemischten Ergebnisse sprechen dafür, dass Nachbarscha sef-
fekte stark selektiv auf verschiedene Familien und Individuen wirken. Inha ltlich ist
daher umso mehr zu beachten, dass sich die Ergebnisse des MTO-Programms auf
sozial sehr schwache Familien in den USA beziehen und sich nicht ohne weiteres
auf Haushalte mit anderem sozioökonomischen oder ethnischen Hintergrund
übertragen lassen.
Ob die Beobachtung oder die Nichtbeobachtung von Nachbarschaseekten
auf methodische Probleme zurückzuführen ist und ob die Ergebnisse insgesamt
eher für die Relevanz von Nachbarschaseekten auf den Bildungser folg sprechen,
ist umstritten.
4.2 Nichtexperimentelle Studien
Experimentelle Studien stel len die Ausnahme dar. Bei den folgenden, nichtexperi-
mentellen Studien wird zunächst auf Arbeiten eingegangen, die Nachbarschasef-
fekte alleine betrachten. Vor allem aufgrund der dort verfügbaren amtlichen Daten,
die entsprechende Analysen zulassen, sind in Europa skandinavische Länder bei
diesen Studien stark überrepräsentiert. Anschließend werden Studien vorgestellt,
die Nachbarschaseekte und Schuleekte gleichzeitig schätzen. Letztlich wird
für Deutschland die Studie von Helbig (2010) ausführlicher dargestellt.
Nachbarschaftseekte 411
Garner und Raudenbush (1991) testeten für Schottland in einem Multilevelmodell
die Auswirkungen sozialer Deprivation in einer Nachbarscha auf das Abschneiden
von 2.500 Jugendlichen in Leistungstests am Ende der verpichtenden Schuljahre.
Auch unter Kontrolle einer Vielzahl individueller und familiärer Eigenschaen
sowie unter Kontrolle der Schule fanden sie einen geringen, aber signikanten
Einuss der Nachbarscha.
McCulloch und Joshi (2001) fanden für Großbritannien teilweise Auswirkungen
sozialer Deprivation auf die Ergebnisse kognitiver Leistungstests für Kinder im Alter
von 4 bis 5 Jahren, in geringerem Ausmaße für Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren,
aber nicht für Kinder zwischen 6 bis 9 Jahren. Anhand einer variierenden Opera-
tionalisierung derselben Daten in Form einer Klassikation von Nachbarschaen
identizierte McCulloch (2006) deutliche Eekte bestimmter Nachbarschastypen.
Eine der wenigen Analysen, die versucht, die den Nachbarschaseekten zu-
grunde liegenden Prozesse detaillier ter zu erfassen, wurde von Ainsworth (2002) in
den USA anhand des National Longitudinal Surveys durchgeführt, den er mit Daten
des 1990 Census über die Nachbarschaen ergänzte. Dabei wurde der Schulverlauf
von Schülerinnen und Schülern ab der achten K lasse verfolgt und eine Vielzahl an
Indikatoren (wie die Anzahl an Freunden, welche die Schule abgebrochen haben,
die Atmosphäre in der Schule, die Anzahl der Hausaufgaben, die Qualität der
Schule) u. a. mit Annahmen über zugrunde liegende Mechanismen verbunden. Er
kommt zu dem Schluss, dass insbesondere Prozesse der kollektiven Sozialisation
die gefundenen Nachbarschaseekte vermitteln. Nach Ainsworth vermitteln
die von ihm untersuchten vermittelnden Indikatoren 40 Prozent des festgestellten
Gesamteektes der Nachbarschaen.
Andersson (2004) fand in einer Multilevelanalyse für Schweden mit 2.400 Per-
sonen, die während ihrer Jugend in den 1980er- Jahren mindestens 5 Jahre lang im
gleichen Gebiet wohnten, zehn Jahre später Auswirkungen der Nachbarschasei-
genschaen auf die Anzahl erreichter Bildungsjahre. Dabei spielten sowohl soziale
Eigenschaen der Nachbarscha wie Einkommensverteilung, sozioökonomischer
Status und die Haushaltszusammensetzung als auch, in schwächerem Ausmaße,
physikalische Eigenschaen der Wohnumgebung wie die Bebauung eine Rolle. Das
Geburtsland der Individuen hatte keinen systematischen Einuss. In dieser Studie
fand allerdings nur eine schwache Kontrolle auf individuelle Eigenschaen statt.
In einer ähnlichen Studie untersuchten Andersson und Subramanian (2006)
anhand von Zensusdaten die Auswirkungen unterschiedlicher Nachbarschas-
eigenschaen im Jahr 1990 auf die Anzahl abgeschlossener Bildungsjahre im
Jahr 2000 für 200.000 schwedische Jugendliche, die mindestens 2 bis 3 Jahre in
derselben Nachbarscha in Schweden gewohnt haben. Auch unter Kontrolle von
Eigenschaen auf Ebene der individuellen Haushalte, der Gemeinde und dem Kreis
412 Andr eas H orr
bestanden Eekte der Nachbarscha. Das Vorhandensein nanzieller Ressourcen
in der Nachbarscha sowie „demograsche Instabilität“ (Anteil alleinerziehender
Mütter sowie im Ausland geborener Personen) beeinussten den Bildungserfolg,
mehr noch aber der sozioku lturelle Status in der Nachbarscha (der Anteil a n So-
zialhilfeempfängern, Arbeiterhaushalten und Nachbarn mit Universitätsabschluss).
Brännström (2004) analysierte Längsschnittsdaten von 15.000 im Jahr 1953 ge-
borenen Personen in Stockholm mithi lfe von Matchingverfahren. Für Jugendliche
dieser Kohorte, die vor dem Alter von 10 Jahren keine gemessenen Unterschiede
aufwiesen (hinsichtlich Haushaltseinkommen, Familienstruktur und Erhalt von
Sozialhilfe) wirkte es sich nicht auf die Wahrscheinlichkeit aus, im Alter von 22
Jahren eine Hochschule zu besuchen, ob sie während ihrer Jugend in armen oder
wohlhabenden Nachbarschaen lebten. Allerdings wurden in dieser Studie sehr
große Verwaltungsgebiete verwendet.
Grönqvist (2006) untersuchte in einer repräsentativen Stichprobe für Schweden,
ob das Wohnen in einer großen ethnischen Gemeinde im Jahre 1982 Auswirkungen
auf die Wahrscheinlichkeit von Immigranten der ersten und zweiten Generation
im Jahre 20 01 hatte, die weiterführende Schule abgeschlossen sowie einen Univer-
sitätsabschluss erworben zu haben (unter Kontrolle individueller Eigenschaen
sowie Eigenschaen der Eltern). Die Analysen kommen zu dem Schluss, dass die
Größe der eigenen ethnischen Gruppe die Wahrscheinlichkeit, die weiterführende
Schule abzuschließen, für Immigranten der ersten Generation verringerte, aber
nicht für Immigranten der zweiten Generation. Die relative Größe der ethnischen
Gruppe beeinusste für beide Gruppen die Wahrscheinlichkeit, einen Hochschul-
abschluss zu haben.4
Kauppinen (2007) untersuchte anhand von Registerdaten in Helsink i/Finnland
die Auswirkungen der Nachbarscha auf den Abschluss der Sekunda rstufe und die
Art des erreichten Abschlusses. Er betrachtete die Auswirkungen unterschied licher
Nachbarschasfaktoren: konzentrierte Benachteiligung (Arbeitslosenrate, Sozialhil
-
feempfänger, Anteil an Personen ohne weiterf ührende Schulbildung), konzentrierter
Wohlstand (Anteil an Personen mit tertiärer Bildung, Anteil an Berufstätigen mit
hohem Berufsprestige und Anteil an Personen mit hohem Einkommen) und man-
gelnde Stabilität (hohe Abwanderung, hoher Anteil alleinerziehender Eltern und
geringer Anteil an Hausbesitzern). Kauppinen fand keinen Nachbarschaseekt
auf das Beenden der Sekundarstufe in Helsinki, aber auf die Art des erreichten
4 Einschränkend ist anzumerken, dass in dieser Studie die Aussetzung der ethnischen
Gemeinde nur indirek t über den Wohnort und nur für ei n Jahr gemessen wu rde. Ebenfall s
sagt d ie Studie nichts über die w irkenden Mechanismen aus und es wird nicht zwischen
Migranten mit unterschiedlicher Herkun dierenziert.
Nachbarschaftseekte 413
Schulabschlusses. Konzentrierte Benachteiligung in der Nachbarscha und instabile
Nachbarschaen hatten dabei keinen Einuss auf den Bildungsabschluss, wohl
aber die Indikatoren, die auf eine wohlhabende Nachbarscha schließen lassen.
Er fand zudem keinen Hinweis darauf, dass Jugendliche mit niedrigem sozialen
Hintergrund in wohlhabenden Gebieten schlechter abschneiden würden, wie es
nach der eorie relativer Deprivation zu erwarten gewesen wäre.
Sykes und Kuyper (2009) untersuchten anhand einer für die Niederlande reprä-
sentativen Kohorten-Längsschnittstudie mit 17.836 Schülerinnen und Schülern in
weiterführenden Schulen (beginnend mit dem ersten Jahr in der weiterführenden
Schule und endend mit dem Ausscheiden aus dem Schulsystem) die Auswirkungen
von Nachbarschaseigenschaen auf den Bildungserfolg, unter Kontrolle des sozio-
ökonomischen Status der Schülerinnen und Schüler, ihres Geschlechts sowie ihrer
ethnischen Herkun. Den stärksten Einuss hatte dabei das Leben in Gebieten mit
niedrigem sozialem Status. Diese Auswirkungen bestanden dabei fast ausschließlich
für einheimische Schülerinnen und Schüler, während Schülerinnen und Schüler
mit Migrationshintergrund davon unbeeinusst blieben.5 Gleichzeitig waren
Schülerinnen und Schüler mit hohem eigenem sozioökonomischem Status durch
die Nachbarschaseigenschaen weniger beeinusst als solche mit niedrigerem.
Bygren und Szulkin (2010) untersuchten anhand einer Kombination von Schul-
und weiteren amtlichen Daten von etwa 6.500 schwedischen Schülerinnen und
Schülern die Auswirkungen des Wohnens in ethnischen Enklaven von 1990
bis 1995 auf die Schulleistungen am Ende der 9. Klasse (1995) und den späteren
Bildungserfolg. Das Wohnen in Gebieten mit vielen Gleichaltrigen der gleichen
ethnischen Herkun wirkte sich negativ auf die Schulnoten in der 9. Klasse und
die später erreichten Bildungsjahre aus. Dieser Nachbarschaseekt hing jedoch
davon ab, wie diese Gleichaltrigen in der Schule abschnitten. In einem Gebiet mit
einem hohen Anteil Gleichaltriger der gleichen ethnischen Herkun zu wohnen,
die in der Schule erfolgreich waren, führte auch unter Kontrolle individueller
und Haushaltseigenschaen zu einem besseren Abschneiden in der späteren Bil-
dungskarriere. Umgekehrt führte ein schlechtes Abschneiden der eigenethnischen
Gleichaltrigen zu schlechterem Bildungserfolg. Die später erreichten Bildungsjahre
ließen sich dabei vollständig durch die erreichten Schulnoten nach der neunten
Klasse erklären und es konnte kein darüber hinaus gehender Eekt auf den späteren
5 Als mögliche Erklärung dieses Phänomens schlagen Sykes und Kuyper vor, dass sich
die Lebenswelt von Migranten und Einheimischen auch bei gleicher Nachbarscha
grundlegend unterscheiden könnte. Ebenso könnte eine Rolle spielen, dass Schulen
mit hohem Anteil an Migra nten und niedrigem soz ioökonomischem Status zu sätzliche
staatliche Unterstütz ung erhalten und die se insbesondere die Nac hteile von Mig ranten
ausgleichen könnten.
414 Andreas Hor r
Bildungserfolg festgestellt werden. Der unmittelbare Einuss der Nachbarscha
fand hier also nur bis zur neunten Klasse statt und wirkte sich nur indirekt über die
erreichten Schulnoten auf den späteren Bildungserfolg (gemessen in Bildungsjahren)
aus. Der Bildungserfolg erwachsener Personen über 23 Jahren mit gleichem Migra-
tionshintergrund in der Nachbarscha hatte keinen Eekt auf den Bildungserfolg
der untersuchten Schülerinnen und Schüler. Da es selten vorkam, dass Schülerinnen
und Schüler einer Nachbarscha mit gleichem Migrationshintergrund schulisch
überdurchschnittlich abschnitten, ist die Tendenz des Eektes ethnischer Enk laven
insgesamt eher negativ. Ergebnisse für einzelne Migrantengruppen wurden leider
nicht berichtet, ebenso wurden ausschließlich die Auswirkungen des quantitativen
und qualitativen Anteils der eigenen ethnischen Gruppe untersucht und nicht die
des Migrantenanteils der Nachbarscha insgesamt.
Brattbakk und Wessel (2013) untersuchten die Auswirkungen von Nachbar-
schaseigenschaen auf 5.493 Jugendliche vom 14. bis zum 18. Lebensjahr in Oslo/
Norwegen auf das Abschließen eines Hochschulabschlusses bis zum 29. Lebens-
jahr. Auch unter Kontrolle des sozialen Hintergrundes und anderer individueller
Eigenschaen bestand ein signikanter Eekt des Nachbarschaskontextes. Die
jeweiligen Anteile an Bewohnern einer Nachbarscha, die eine Rente wegen Ar-
beitsunfähigkeit erhielten, Arbeitslosen und Personen, die Leistungen zur Wie-
dereingliederung erhielten, hatten den stärksten Einuss, Sozialhilfeempfänger,
Empfänger von Übergangsleistungen für alleinerziehende Eltern einen geringeren
und das durchschnittliche Bildungs- und Einkommensniveau in der Nachbarscha
den geringsten Einuss.
Andersson und Malmberg (2015) verwendeten individuell zugeschnittene,
egozentrierte Nachbarschaen, um zu untersuchen, wie sich unterschiedliche
Nachbarschasdenitionen auf die geschätzten Kontexteekte auswirken. Anhand
einer Geburtskohorte von 74.649 Personen in Schweden schätzten sie den Einuss
des Wohnorts im Alter von 15 Jahren auf die Wahrscheinlichkeit, im Alter von 30
Jahren einen Hochschulabschluss zu besitzen (unter Kontrolle des sozioökonomi-
schen Hintergrundes der Eltern). Insbesondere Nachbarschaseigenschaen wie ein
hoher Anteil an Personen mit hohem Bildungshintergrund, hohem Einkommen,
ein geringer Anteil an Personen mit Migrationshintergrund oder Sozialhilfeemp-
fän gern sowie ei ne hohe An zahl an E inf ami lienhäus ern hatt en po sitive Eekt e auf
das Abschließen eines Hochschulstudiums. Durch die Verwendung indiv iduell zu-
geschnittener Nachbarschaen, die für jeden Fall zwischen 12 und 25.600 Personen
variierten, konnten Nachbarschaseekte sehr viel besser nachgewiesen werden
und deren Schätzer waren etwa drei Mal höher als bei der Verwendung ozieller
Verwaltungsbezirke. Andersson und Malmberg argumentieren, dass kleinräumige
Nachbarschaen besonders in Hinblick auf soziale Kontrolle kleinerer K inder eine
Nachbarschaftseekte 415
Rolle spielen, während sich kollektive Sozialisation in weiträumigeren Gebieten
abspielt und sich sozia le Netzwerke und institutionelle Mechanismen wiederum in
noch weiträumigeren Gebieten auswirken. Ohne diese unterschiedliche Wirkung
von Gebietsgrößen für einzelne Mechanismen zu testen, konnten sie zeigen, dass
die meisten Kontexteekte mit der Denition der Nachbarschasgröße variieren.
Zudem wirkten sich Nachbarschaen unterschiedlich auf Männer und Frauen sowie
auf Personen mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund aus.
4.3 Nachbarschaftseekte versus Schuleekte
Bei den Auswirkungen des Schulkontextes an sich handelt es sich um ein separates
Forschungsgebiet, das in anderen Teilen dieses Bandes genauer betrachtet wird
(vgl. in diesem Band: Schallock; Esser). Durch den üblicherweise sehr starken
Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung von Nachbarschaen und der
Zusammensetzung von Schulen ist es aber sinnvoll, Studien zu betrachten, welche
das Verhältnis zwischen Kontexteekten der Nachbarschaen und der Schulen
untersuchen, wodurch die relative Bedeutung der beiden Kontexte geschätzt wer-
den kann. Solche Studien werden im ersten Teil dieses Abschnittes vorgestellt. Es
lässt sich argumentieren, dass es gerade die Schulen sind, in denen Kinder und
Jugendliche in Kontakt mit Gleichaltrigen und deren Eltern kommen und sich daher
Nachbarschaseekte indirekt über Schuleekte auswirken (Sykes und Musterd
2011). Wie oben beschrieben, ist bei der Interpretation der Ergebnisse aber Vorsicht
geboten, da die Trennung zwischen Nachbarschas- und Schuleekten inhaltlich
und in Hinblick auf die statistische Schätzung anspruchsvoll ist. Aufgrund der
methodischen und inhaltlichen Relevanz des emas „Schulwahlen“ und ihrem
Verhältnis zum Wohnort werden im zweiten Teil dieses Abschnitts empirische
Studien zu diesem ema separat dargestellt.
4.3.1 Gleichzeitige Schätzung von Nachbarschafts-
und Schuleekten
Pong und Hao (2007) überprüen in einem national repräsentativen Sample in den
USA mit 17.000 Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe, ob Unterschiede
der Nachbarschas- und Schulbedingungen zu Unterschieden des Bildungserfolgs
bei Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher ethnischer Herkun beitragen.
Dabei wirkte sich der sozioökonomische Status der Nachbarscha und der Schule
bei Migrantenkindern aus, aber nicht bei Einheimischen (bei denen der Eekt des
sozioökonomischen Status der Familie stärker war). Ebenso wirkte sich die Anzahl
der Migranten (vor allem solche mit eingeschränkten Englischkenntnissen) negativ
416 Andr eas Horr
bei Migrantenkindern, aber nicht bei einheimischen Schülerinnen und Schülern
aus. Die Wirkung auf unterschiedliche Migranten- und ethnische Gruppen war
dabei insgesamt unterschiedlich und teilweise gegensätzlich. Pong und Hao argu-
mentieren, dass Nachbarschaseekte stark durch Schuleekte vermittelt seien.
Brännström (2008) untersuchte Schul- und Nachbarschaseekte in einem
Cross-Classied Modell mit etwa 26.000 Schülerinnen und Schülern der Sekundar-
stufe in den drei größten Städten Schwedens. Er argumentiert, ein großer Anteil
des unterschiedlichen Bildungserfolgs zwischen verschiedenen Nachbarschaen
ließe sich durch den Schulkontext erklären und für die Mehrheit der Schülerinnen
und Schüler werde der Einuss der Nachbarscha über die Schule vermittelt. Unter
Kontrolle der Schule und individueller Eigenschaen erklärten Nachbarschaen
nur noch einen kleinen Teil der bestehenden Unterschiede. Schul- und Nachbar-
schaseigenschaen wirkten sich dabei unterschiedlich auf bestimmte Gruppen
aus. Armut in der Nachbarscha wies den größten Eekt auf männliche Schüler der
ersten Migrantengeneration auf. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern, deren
Mütter einen Hochschulabschluss hatten, wirkte sich für Migranten der ersten
Generation negativ aus, was auf relative Deprivation schließen lässt. Brännström
ndet Hinweise darauf, dass sich der Migrantenanteil in einer Klasse positiv auf
die Leistungen von Angehörigen der ersten Migrantengeneration auswirkt.
Kauppinen (2008) bestätigte diesen Zusammenhang für Finnland. Indem er
die oben beschriebene Studie zu Nachbarschaseekten (Kauppinen 2007) um
den Schulkontext erweiterte, untersuchte er anhand eines Samples mit 10.906
Schülerinnen und Schülern, ob Jugendliche die Sekundarstufe abschlossen und
welchen höchsten Schulabschluss sie erreichten. Das Vorhandensein wohlhaben-
der Nachbarn wirkte sich dabei auf den erreichten Bildungsabschluss aus. Diese
Auswirkungen der Nachbarscha konnten durch den Anteil an Schülerinnen und
Schülern aus White-Collar-Familien in den Schulen erklärt werden, auch wenn
ein geringerer eigenständiger Nachbarschaseekt bestehen blieb. Er interpre-
tiert seine Ergebnisse so, dass ein großer Teil der Nachbarschaseekte durch die
Schule vermittelt seien. Nachbarschas- und Schuleekte unterschieden sich darin,
dass Nachbarschaseekte nichtlinear waren und nur Nachbarschaen mit dem
höchsten durchschnittlichen Bildungshintergrund im Vergleich zu durchschnitt-
lichen Nachbarschaen einen Einuss auf die Bildungsentscheidungen hatten. Die
festgestellten Schuleekte waren dagegen linearer.
Sykes und Musterd (2011) untersuchten anhand von Längsschnittsdaten mit
9.897 Schülerinnen und Schülern (von 1999 bis zum Beenden ihrer Schul lauahn)
den Einuss von Nachbarschas- und Schuleekten in den Niederlanden in wei-
terführenden Schulen. Während, getrennt betrachtet, sowohl Nachbarschaen
als auch Schulen einen Einuss auf das Abschneiden in standardisierten Leis-
Nachbarschaftseekte 417
tungstests hatten (unter Kontrolle individueller Eigenschaen), blieb bei einem
gleichzeitigen Test nur der Eekt der Schule übrig. Der Eekt der Nachbarscha
auf den Bildungserfolg sei daher letztlich durch die Schule vermittelt und habe
keinen eigenständigen Eekt mehr. Einen expliziten Interaktionseekt zwischen
den beiden Kontexten konnten Sykes und Musterd nicht nden.
In Deutschland sind Nachbarschaseekte auf den Bildungserfolg insgesamt
empirisch kaum erforscht. In der einzigen dem Autor bekannten Studie, die auf
Längsschnittdaten basiert, untersuchte Helbig (2010) am Beispiel Berlins die
Auswirkungen der Nachbarschaszusammensetzung auf die Kompetenzent-
wicklung in der Grundschule. Helbig verwendet in seinen Analysen Daten der
ELEMENT-Studie (s. Lehmann und Nikolova 2005) von 2003 bis 2005, um die
Wirkung sozialstruktureller Nachbarschascha rakteristika auf die Entwicklung von
Lese- und Mathematikkompetenzen zu untersuchen. Dazu wurde den Daten von
3.169 Schülerinnen und Schülern der 4. bis 6. Klassen der Berliner Grundschulen6
Informationen über die Sozialstruktur der Nachbarschaen sowie Informationen
der Schulen zugespielt. Helbig unterscheidet in den Analysen zwischen drei unter-
schiedlichen Ebenen: 1. Schule oder Nachbarscha, 2. Klasse und 3. Schülerinnen
und Schüler oder Familie. Aufgrund von Datenbeschränkungen mussten Schule
und Nachbarscha in den verwendeten Multi levelmodellen als eine Ebene behandelt
werden, lediglich die Kontrolle auf einzelne, konkrete Indikatoren der Schule und
der Nachbarscha erlaubten teilweise eine Unterscheidung.7 Auf Schulebene w urde
ethnische Segregation durch den Anteil an Schülerinnen und Schülern mit nicht
deutscher Herkunssprache und auf Nachbarschasebene sozia le Segregation durch
den Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gemessen. Helbig stellt in
Mehrebenenanalysen signikante Eekte der Schul-/Nachbarschas ebene insge-
samt fest, die gegenüber individuellen Eigenschaen der Schülerinnen und Schüler
und ihrer Familien jedoch vergleichsweise gering sind. Nur ein Teil dieser Eekte
lässt sich dabei durch individuelle Eigenschaen erklären (Helbig 2010, S. 669). In
Hinblick auf konkrete Indikatoren kann er zeigen, dass sich (bei getrennter Ana-
lyse der Indikatoren auf Nachbarschas- und Schulebene) mit höheren Anteilen
an Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern in der Nachbarscha die Entwick-
lung der Lesekompetenz sowie der Mathematikkompetenz der Schülerinnen und
6 Berlin üb erweist seine Schü lerinnen und Schü ler erst nach der 6. Klas se auf Hauptschulen,
Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen.
7 Beschränkungen liegen darin, dass der individuelle Wohnort der Schülerinnen und
Schüler nicht bekannt ist und sich Kontextinformationen der Nachbarschaen auf
das Verwaltungsgebiet der Schulen beziehen. Zudem wurden auf Schul- und Nachbar-
schasebene unterschiedliche Indikatoren für soziale Benachteiligung verwendet (s.
Helbig 2010, S. 663f.).
418 Andr eas Horr
Schüler verschlechtert. Wird alleine der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit
nichtdeutscher Herkunssprache auf Schulebene betrachtet, zeigt sich, dass mit
steigendem Anteil an Migranten die Lesekompetenzentwicklung, ebenso wie die
Entwicklung der Mathematikkompetenzen auch unter Kontrolle individueller
Eigenschaen schlechter ist. Helbig ndet multivariat keinen signikanten Eekt
des individuellen Migrationshintergrundes (Helbig 2010, S. 669, S. 673).
In weiteren Analysen stellte Helbig sowohl bei Lese-, als auch Mathematik-
kompetenzen einen nichtlinearen Zusammenhang zwischen Eigenschaen der
Nachbarscha oder Schule und der Kompetenzentwicklung fest. Im Vergleich zu
einem mittleren Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern protieren Schü-
lerinnen und Schüler ausschließlich davon, in einer Nachbarscha mit einem sehr
niedrigen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern (kumuliert unter 15,15
Prozent bei den Lesekompetenzen und 10,29 Prozent bei Mathematikkompetenzen)
zu wohnen (Helbig 2010, S. 670, S. 673). Schülerinnen und Schüler protieren bei
der Entwicklung ihrer Kompetenzen dementsprechend nur von besonders positiv
geprägter Sozialstruktur (im Vergleich zu „mittleren“ Zusammensetzungen),
während Schülerinnen und Schüler in sozial schwächeren Nachbarschaen und
Schulen mit höherem Migrantenanteil nicht schlechter abschneiden als in einer
mittleren Nachbarscha.
Helbig argumentiert, seine Ergebnisse sprächen eher für eine Bestätigung der
eorie kollektiver Sozialisation als für einen epidemischen Eekt (Helbig 2010,
S. 670, S. 676). Da nur in Gebieten mit besonders positiver Sozialstruktur Schüle-
rinnen und Schüler in ihrer Kompetenzentwicklung positiv beeinusst werden,
sei die Wirkung positiver Rollenvorbilder zu vermuten. Nach der epidemischen
eorie wäre dagegen zu erwarten gewesen, dass Schülerinnen und Schüler mit
schwachem sozialem Hintergrund durch ihre Nachbarscha negativ beeinusst
würden. In Anbetracht der eingangs beschrieben Vielzahl vorgeschlagener Wir-
kungsmechanismen von Nachbarschaseekten und der Schwierigkeit, in empiri-
schen Studien geeignete Indikatoren zu nden, spezische Eekte zu identizieren
oder andere auszuschließen, handelt es sich dabei allerdings eher um vorsichtig zu
interpretierende Hinweise auf kollektive Sozialisation.
Der Fokus der Analysen liegt bei Helbig nicht auf der Erklärung ethnischer Bil-
dungsungleichheit und es liegen keine dierenzierten Untersuchungen für einzelne
ethnische Gruppen vor. Ebenso lässt die Studie keine Rückschlüsse darauf zu, ob
der Migrantenanteil auf Schulebene unterschiedlich auf Schülerinnen und Schüler
mit und ohne Migrationshintergrund wirkt.
Nachbarschaftseekte 419
4.3.2 Zusammenhang zwischen Nachbarschafts- und Schul-
oder Kindergarteneekten
Die Zusammensetzung der K inder und Jugendlichen in Kindergärten oder Schulen
ist (zumindest vor dem Übergang in weiterführende Schulen, zu einem guten Teil
aber auch danach) stark von der Bevölkerungszusammensetzung ihrer Standorte
beeinusst. Wie oben betont, ist die korrekte Schätzung von Nachbarschaseekten
unter Kontrolle der Schule schwierig, weil es wahrscheinlich nicht zufällig ist, wer
eine Bildungseinrichtung wählt, deren Zusammensetzung sich signika nt von der
des eigenen Wohnortes unterscheidet. Um das Phänomen weiter zu verdeutlichen,
werden im Folgenden Studien vorgestellt, die den Zusammenhang zwischen Wohn-
orten und Schulen oder Kindergär ten in Deutschland beleuchten und Hinweise auf
solche Selektionseekte geben. Die vorhandenen Studien untersuchten vor allem,
ob der ethnische oder soziale Hintergrund von Familien dazu führt, dass Schu-
len/Kindergärten gewählt werden, die sich in ihren Eigenschaen vom Wohnort
unterscheiden. Zudem geben sie Hinweise auf weitere relevante Eigenschaen.
Becker (2010) untersuchte, wie sich deutsch- und türkischstämmige Fami-
lien in der Wahl von Kindergärten mit hohem oder niedrigem Migrantenanteil
unterscheiden. Anhand von Befragungsdaten in 30 Städten und Gemeinden in
Südwestdeutschland (N=1.048) stellte sie fest, dass türkische Familien selbst
unter Kontrolle des Ausländeranteils im Wohngebiet Kindergärten wählen, die
im Schnitt einen um 12 Prozentpunkte höheren Migrantenanteil haben als bei
Deutschen. Je höher der Ausländeranteil im Wohngebiet, umso häuger wählen
deutsche Familien einen Kindergarten mit niedrigerem Migrantenanteil als tür-
kische Familien. Eltern, die besser über gesetzliche Regelungen von Kindergärten
informiert waren, wählen Kindergärten mit einem niedrigeren Migrantenanteil.
Der Bildungshintergrund spielte nur bei deutschen Familien eine Rolle: je höher ihr
Bildungshintergrund, umso wahrscheinlicher schickten sie ihre Kinder auf einen
Kindergarten mit niedrigerem Migrantenanteil. Für türkischstämmige Familien
konnte Becker diesen Zusammenhang nicht feststellen. Je wichtiger Eltern die
Nähe des Kindergartens und dessen Önungszeiten waren, desto eher wählten sie
Kindergärten mit hohem Migrantenanteil. Deutsche Eltern, die Freunde hatten, bei
denen alle oder die meisten Kinder einen Kindergar ten besuchten, die also Vorbil-
der zum Kindergartenbesuch im Freundeskreis hatten, wählten Kindergärten mit
einem niedrigeren Migrantenanteil. Dieser Eekt konnte nicht für türkische Eltern
gefunden werden. In separaten Analysen stellte Becker fest, dass türkischstämmige
Familien Kindergärten mit niedrigerem Migrantenanteil wählten, wenn sie viele
deutsche Freunde hatten.
Mehrere Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen Wohnsegregati-
on und Schulsegregation in Grundschulen. Da Grundschulen ganz überwiegend
420 Andreas Horr
verpichtende Einzugsgebiete haben, sollte der Zusammenhang hier besonders
hoch sein. Die dem Autor bekannten Arbeiten konzentrieren sich allerdings auf
Nordrhein-Westfalen, das sich durch die Existenz öentlicher Bekenntnisschulen
einerseits und andererseits durch die Abschaung verpichtender Grundschulbe-
zirke ab dem Schuljahr 2008/2009 gegenüber anderen Bundesländern unterschei-
det. In Nordrhein-Westfalen und kleineren Gebieten Niedersachsens existieren
öentliche katholische oder evangelische Grundschulen, die es Eltern erlauben
sollen, ihre Kinder auf Schulen zu schicken, die am ehesten ihrer religiösen Über-
zeugung entsprechen (s. Riedel et al. 2010, S. 96). Im Gegensatz zu konfessionellen
Privatschulen sind diese für die Familien kostenlos und staatlich nanziert. Auch
die Bekenntnisschulen haben Einzugsbezirke, jedoch sind diese Bezirke deutlich
größer als die nichtkonfessioneller Schulen (Makles und Schneider 2011, S. 7). Sie
geben Eltern die Möglichkeit, eine andere Schule als die zuständige Gemeinschas-
schule zu wählen, in deren Einzugsgebiet ihr Wohnort liegt (Riedel et al. 2010,
S. 96). Im Schuljahr 2006/2007 existierten in 57 Prozent der Gemeinden in Nord-
rhein-Westfalen öentliche Bekenntnisschulen (Makles und Schneider 2011, S. 7).
Mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen bestehen in allen Bundesländern zudem
festgelegte Schulbezirke, nach denen der verpichtende Besuch einer bestimmten
Grundschule durch den Wohnort bestimmt wird (Breuing 2014, S. 15.).8 Grund-
schulbezirke werden von den Gemeinden nach zweckdienlichen Gesichtspunkten
deniert, insbesondere sollen die Schulen entsprechend ihrer Kapazitäten besetzt
werden.
9
Die freie Wahl einer Grundschule ist bei verpichtenden Bezirken grund-
sätzlich nicht vorgesehen, weshalb die Zusammensetzung der Grundschulen der
Verteilung von Kindern bestimmter Eigenschaen im entsprechenden Grundschul-
bezirk entsprechen sollte. Dennoch kann es Ausnahmen geben, wenn zwingende
persönliche Gründe der Eltern vorliegen, etwa wenn eine Betreuungseinrichtung
oder der Arbeitsplatz näher an einer alternativen Schule liegt (Riedel et al. 2010,
S. 96). Durch den Besuch einer Privatschule können Grundschulbezirke weiterhin
umgangen werden. Ergebnisse aus Studien in Nordrhein-Westfalen lassen sich
aufgrund dieser Besonderheiten nur eingeschränkt auf Deutschland insgesamt
übertragen. Während in keiner der betrachteten Studien der bundesweite Regel-
8 Daneben gibt es zwischen den Bu ndesländern weitere Untersch iede, deren quantitat ive
Bedeutung aber geringer ist. Beispielsweise existieren in Bayern auch Schulbezirke für
Haupt-, Sonder- und Berufsschulen.
9 Nach Wissen des Autors i st unerforscht, nach welc hen weiteren Kriterien Grundschulb e-
zirke letztlich de niert werden. Die absicht liche Schau ng homogener oder heterogener
Schulzusammensetzu ngen erscheint aber zumindest möglich. Noreisch (2007) beschreibt
zudem Auswirkungen unterschiedlicher Bezirksgrößen au f die Zusammenset zung von
Schülerinnen und Schülern in den Schulen.
Nachbarschaftseekte 421
fall (keine staatlichen Bekenntnisschulen und verpichtende Grundschulbezirke)
betrachtet wird, unterscheiden sich die Studien dennoch darin, ob sie Zeitpunkte
vor oder nach der Abschaung verpichtender Bezirke betrachten und ob in den
untersuchten Städten staatliche Bekenntnisschulen existieren. Dadurch können die
einzelnen Aspekte zumindest teilweise getrennt betrachtet werden.
Kristen (2005, 2008) untersuchte anhand von Befragungsdaten in Essen
(Nordrhein-Westfalen) ethnische Unterschiede im Entscheidungsprozess bei der
Grundschulwahl vor Abschaung der Grundschulbezirke. Sie schreibt ethnische
Schulsegregation, die über den Wohnort hinausgeht, vor allem der Tatsache
zu, dass Migrantenfamilien seltener öentliche Bekenntnisschulen wählen. Der
Migrantenanteil entspricht in nichtkonfessionellen Schulen sehr viel stärker dem des
Wohnorts, während er bei den konfessionellen Schulen fast unabhängig vom Wohn-
ort ist (Kristen 2005, S. 39f.). In einer schrittweisen Betrachtung unterschiedlicher
Entscheidungsstufen und Bewertungen der Schulen zeigt Kristen, dass eine deutlich
höhere Zahl türkischer Familien von vorneherein ausschließlich die zugewiesene
(nichtkonfessionelle) Schule in Betracht zog (Kristen 2008, S. 501f.). Im Ergebnis
wählten 78,6 Prozent der türkischstämmigen Schülerinnen und Schüler die ihnen
zugewiesene Schule, aber nur 58,9 Prozent der deutschen. Deutlich weniger tür-
kischstämmige Schülerinnen und Schüler (17,1 % gegenüber 29,5 % bei deutschen)
wählten konfessionelle Schulen, welche im Schnitt niedrigere Ausländeranteile
hatten (Kristen 2008, S. 503). Die Wahl einer konfessionellen oder nichtkonfes-
sionellen Schule außerhalb des Schulbezirks war dagegen für die entsprechenden
Schülerinnen und Schüler nicht grundsätzlich mit einem niedrigeren Anteil an
Migranten an der Schule verbunden (Kristen 2005, S. 157f.). In weiteren Analysen
konnte Kristen zeigen, dass sich türkischstämmige Familien nicht grundsätzlich
von deutschen Familien in ihren Bewertungen der unterschiedlichen Schulen
unterschieden oder darin, wie häug sie an den entsprechenden Schulen im Falle
einer Bewerbung tatsächlich aufgenommen wurden. Ihre stärker eingeschränkten
Informationen über das Schulsystem und ihre Wahlmöglichkeiten konnten auf eine
geringe Ausstattung mit sozialem und kulturellem Kapital sowie einer geringeren
Identikation mit dem Aufnahmeland zurückgeführt werden (Kristen 2008, S. 505).
In Analysen mit 11.976 beziehungsweise 8.339 Grundschülerinnen u nd -schülern
untersuchten Riedel et al. (2010) die Bestimmungsgründe und Auswirkungen von
Grundschulwahlen in Wuppertal (NRW) im Jahr 2007, also noch vor Abschaung
verpichtender Grundschulbezirke. Hier besuchten etwa 21 Prozent der Grund-
schülerinnen und -schüler des Samples eine staatliche Bekenntnisschule. Trotz
verpichtender Grundschulbezirke besuchten 33 Prozent eine andere als die ihnen
zugewiesene Schule, davon entelen 15 Prozent auf eine alternative nichtkonfes-
sionelle Schule. Danach wählten Muslime mit 23 Prozent deutlich weniger häug
422 Andreas Horr
eine andere als die ihnen zugewiesene Schule als Nichtmuslime (33 %).10 Selbst
wenn man die konfessionellen Schulen nicht berücksichtigt, wählten 16 Prozent
der nichtmuslimischen Schülerinnen und Schüler eine alternative, nichtkonfessio-
nelle Schule, aber nur 10 Prozent der muslimischen Kinder. Die geringeren Zahlen
sind daher nicht alleine darauf zurückzuführen, dass Muslime womöglich davor
zu rüc ksc hre ckten, ein e chri stl iche Beken ntnis schu le z u wä hlen (Ri edel et a l. 2010,
S. 112.). Die Wahrscheinlichkeit, eine andere als die zugewiesene Schule zu besuchen,
erhöhte sich für beide Gruppen, je weiter die eigentlich zugewiesene Schule vom
Wohnort entfernt lag. Für muslimische Schülerinnen und Schüler hatte darüber
hinaus keiner der untersuchten weiteren Faktoren einen signikanten Einuss. Bei
nichtmuslimischen Kindern erhöhten dagegen der Anteil türkischer Bewohner im
Schulbezirk (bei Wahl einer nichtkonfessionellen Schule), eine geringe Entfernung
der nächstgelegenen, alternativen Schule mit niedrigerem Migrantenanteil (beide
Schultypen) und eine höhere Gymnasialübergangsrate der gewählten Schule (bei
nichtkonfessionellen Schulen) die Wahrscheinlichkeit, eine andere Schule zu
wählen. Die stärkere selektive Abwanderung nichtmuslimischer Schülerinnen und
Schüler führte dazu, dass der Anteil muslimischer Kinder an den ursprünglich
zugewiesenen Schulen stieg (Riedel et al. 2010, S. 115f.) und dadurch insgesamt
die Schulsegregation im Untersuchungsgebiet zunahm (Riedel et al. 2010, S. 116f.).
In ähnlich angelegten Analysen und ebenfalls für Wuppertal untersuchten
Schneider et al. (2012) die Auswirkungen der Abschaung verpichtender Grund-
schulbezi rke ab dem Schulja hr 2008/2009.
11
Bereits vor Abschaung verpichtender
Grundschulbezirke besuchten 34 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine
andere als die zugewiesene Schule und muslimische Schülerinnen und Schüler
mit 28 Prozent weniger häug als Nichtmuslime mit deutscher Staatsangehörigkeit
(34 % ). Auch hier waren diese Unterschiede nicht alleine auf die konfessionellen
Schulen zurückzuführen. Anders als beim Vergleich deutscher/türkischstämmiger
Schülerinnen und Schüler bei Kristen (2005, 2008) und anders als bei Riedel et al.
(2010), wählten in Wuppertal mehr muslimische Kinder katholische Schulen, die
den größten Anteil unter den Bekenntnisschulen ausmachen. Nach Abschaung
10 Hier wird ausschließlich nach Religionszugehörigkeit dierenziert, das heißt in der
Gruppe der nic htmusli mischen Schüleri nnen und Schüler be nden sich auch Angehörige
anderer Migrantengruppen.
11 Während be im Vergleich musli mischer mit nichtmusl imischen Schüler innen und Schüler
bei Riedel et al. (2010) sowohl Nichtmuslime m it als auch ohne deutsche Staatsangehö-
rigkeit ent halten sind, besch ränken Schneider e t al. (2012) die Gruppe der Nicht muslime
auf solche mit deutscher Staat sangehörigkeit . Dadurch ist zu erwarten, dass bei Sch neider
et al. mehr autochthone Deutsche in der Kontrollgruppe der Nichtmuslime enthalten
sind.
Nachbarschaftseekte 423
verpichtender Bezirke stieg die Wahl a lternativer Schulen insgesamt von 34 Prozent
auf 40 Prozent. Bei Muslimen und Nichtmuslimen fand ein Anstieg um etwa den
gleichen Faktor statt. Der Anstieg war bei beiden Gruppen ganz überwiegend auf
die verstärkte Wahl nichtkonfessioneller Schulen zurückzuführen. Muslimische
Schülerinnen und Schüler besuchten dabei Schulen mit durchschnittlich deutlich
niedrigeren Gymnasialübergangsraten und die größere Wahlfreiheit hatte daran
nichts geändert (Schneider et al. 2012, S. 436).
Unter Kontrolle der Distanz zur zugewiesenen Schule, der Anzahl der Schulen
im Umkreis des Wohnortes, der Gymnasialübergangsraten der zugewiesenen Schu-
le, der Entfernung zur nächstgelegenen Schule mit niedrigerem Migrantenanteil
und des Anteils der Sozialhilfeempfänger im Wohngebiet kamen Schneider et al.
(2012, S. 440) zum Ergebnis, dass im Vergleich zu 2007 nur bei Nichtmuslimen ein
signikanter Anstieg der Schulwahlen stattfand, der nicht durch diese Faktoren
erklärt werden kann. Muslimische Familien wählten dabei nur dann eine Schule
mit höheren Gymnasialübergangsraten, wenn eine solche nahe am Wohnort lag.
Die Nähe zur zugewiesenen Schule hat bei muslimischen Familien einen stärkeren
Eekt als bei nichtmuslimischen (Schneider et al. 2012, S. 440).
Die Wahl einer Schule hä ngt nicht nur von den Entscheidungen der Familien ab,
sondern auch davon, ob Schulen eine Bewerberin oder einen Bewerber aufnehmen
oder nicht. Innerhalb der rechtlichen Regelungen in Nordrhein-Westfalen können
Schulen Bewerberinnen und Bewerber ablehnen, wenn sie ihre Kapazitätsgrenzen
erreicht haben (Schneider et al. 2012, S. 441). Nach Schneider et al. wählten benach-
teiligte Familien auch dann weniger häug alternative Schulen, wenn an diesen keine
Einschränkungen bestanden. Tatsächlich benden sich in den stark nachgefragten
Schulen aber deutlich höhere Anteile an Schülerinnen und Schülern, für die diese
Schulen nicht ihre zugewiesene Schule darstellte, wobei muslimische Kinder in
diesen Schulen stark unterrepräsentiert sind. Mit der Abschaung verpichtender
Schulbezirke wählten nichtmuslimische Familien noch einmal deutlich häuger
als in den vorangehenden Jahren die stark nachgefragten Schulen.
Makles und Schneider (2011) kamen in einer Analyse von Aggregatsdaten für
ganz Nordrhein-Westfalen unter Kontrolle demograscher Veränderungen zum
gleichen Ergebnis. Unter Verwendung von Schulstatistiken auf Schul- und Schul-
klassenebene für a lle Gemeinden in Nordrhein-Westfalen für die Schuljahre 2006/07
bis 2008/09 (also vor und nach Änderung des Schulgesetzes) ergeben sich Daten von
mehr als 3.000 Schulen. Anhand von Segregationsindizes versuchten die Autoren
festzustel len, ob durch die Abscha ung der Grundschulbezirke die Schulsegregation
insgesamt gestiegen ist. Danach erhöhte sich zwar die Segregation zwischen türki-
schen und nichttürkischen Schülerinnen und Schülern über die Zeit, dies sei jedoch
auf Änderungen des Einschulungsstichtages und des Staatsangehörigkeitsgesetzes
424 Andreas Horr
zurückzuführen und nicht auf die Abschaung der Grundschulbezirke (Makles
und Schneider 2011, S. 18). Über die einzelnen Gemeinden war darüber hinaus kein
einheitlicher Segregations- oder Desegregationstrend festzustellen und es konnten
ebenfal ls keine Belege für eine Zunahme der Segregation zwischen Muslimen und
Nichtmuslimen festgestellt werden (Makles und Schneider 2011, S. 19).
Riedel et al. (2010), Schneider et al. (2012) sowie Makles und Schneider (2011)
konnten in ihren Analysen über die Religionszugehörigkeit und die Staatsangehö-
rigkeit zwar einen wahrscheinlichen Migrationshintergrund der Schülerinnen und
Schüler identizieren, aber nicht auf den sozialen Hintergrund kontrollieren. Unter
Verwendung zusätzlicher Daten einer Telefonbefragung mit Eltern in Wuppertal und
Solingen (N=1.576) untersuchten Schuchart et al. (2012) den sozioökonomischen
Status der Familien und ihre retrospektiv angegebenen Motive der Grundschulwahl,
allerdings ohne gleichzeitige Betrachtung des Migrationshintergrundes. Die Be-
fragung fand nach Abschaung der Grundschulbezirke statt und im Gegensatz zu
Wuppertal gibt es in Solingen keine öentlichen Bekenntnisschulen. Die Tendenzen
in den Verteilungsergebnissen der bisher aufgeführten Studien konnten bestätigt
werden: 31 Prozent aller Schülerinnen und Schüler besuchten eine andere als die
zuständige nichtkonfessionelle Schule und diese Abweichungen sind nicht alleine
auf konfessionelle Schulen zurückzuführen. In Solingen besuchten 22 Prozent aller
Schülerinnen und Schüler eine alternative nichtkonfessionelle Schule (Schuchart et
al. 2012, S. 510). In einem Extremgruppenvergleich stellen sie fest, dass 48 Prozent der
privilegierten Eltern in benachteiligten Wohngebieten eine alternative Schule und
dabei deutlich häuger die zuständige Bekenntnisschule wählten (im Gegensatz zu
36 % bei benachteiligten Eltern). In privilegierten Wohnumgebungen entschieden
sich Eltern aus dem unteren Statusterzil mit 39 Prozent deutlich häuger für eine
andere als die zuständige Gemeinschasgrundschule als Eltern aus dem oberen
Terzil mit 17 Prozent (Schuchart et al. 2012, S. 520). Ihre Wahlen elen dabei ganz
überwiegend auf nichtkonfessionelle Schulen. Aufgrund zu geringer Fallzahlen
verzichteten Schuchart et al. auf eine gleichzeitige Betrachtung des sozialen Hin-
tergrundes und der Religionszugehörigkeit. Isoliert betrachtet wählten Eltern mit
islamischer Religionszugehörigkeit in benachteiligten Gebieten weniger häug eine
alternative Schule als Eltern mit christlicher Religionszugehörigkeit. 24 Prozent
von ihnen gaben dafür mangelndes Wissen zum Zeitpunkt der Schulwahl an,
gegenüber 5 Prozent der christlichen Eltern (Schuchart et al. 2012, S. 530). Eltern,
die eine alternative Schule wählten, maßen der Nähe der Schule zum Wohnort
eine geringere, den anderen untersuchten Motiven aber eine höhere Bedeutung zu
(Schuchart et al. 2012, S. 511). Die Autoren konnten zwar eine höhere Präferenz für
nahe gelegene Schulen bei sozial benachteiligten Familien bestätigen, insgesamt
aber keine klare Korrelation zwischen der Ausstattung der befragten Familien
Nachbarschaftseekte 425
mit kulturellen oder sozioökonomischen Ressourcen und ihrer Motivgewichtung
feststellen. Diese Analysen stützen das Ergebnis von Kristen (2005, 2008), dass
Gruppenunterschiede bei Schulwahlen nicht hauptsächlich auf unterschiedliche
Bewertungen der Alternativen zurückzuführen sind, zumindest sind diese möglichen
alternativen Bewertungen in den retrospektiv erfragten Präferenzen nicht mehr
erkennbar. Obwohl Schuchart et al. in weiteren Analysen, in denen Eigenschaen
der Nachbarscha als Kontexte betrachtet werden, vereinzelt signikante Zusam-
menhänge feststellten, ist der Studie kein klares Bild zu entnehmen, wie der sozio-
ökonomische und kulturelle Hintergrund mit Eigenschaen der Wohnumgebung
interagiert und ob diese Unterschiede im Sinne von Nachbarschaseekten auf
kollektive Sozia lisation oder eher auf unbeobachtete individuelle oder strukturelle
Unterschiede zurückzuführen sind.
Jurczok und Lauterbach (2014) untersuchten die Schulwahl von Eltern beim
Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen in Berlin. Anhand von
Interviews mit 207 Eltern, die nach Schulpräferenzen befragt wurden, untersuch-
ten sie die Wahrscheinlichkeit, eine Schule zu bevorzugen, die nicht zu den drei
Schulen gehörte, die am nächsten an ihrem Wohnort lag. In einer benachteiligten
Wohnumgebung zu wohnen (gemessen durch Statusindikatoren wie dem Anteil
der Arbeitslosen, Empfängern von Sozialleistungen und dem Anteil an Kindern
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie Indikatoren wie dem Wande-
rungssa ldo) erhöht insgesamt die Cha nce, eine nicht-lokale Schule zu wäh len. Eltern
mit höherer Bildung wählten dabei deutlich häuger eine weiter entfernte Schule,
ein Migrationshintergrund der Familie hatte dagegen keinen zusätzlichen Eekt.
Insgesamt belegen die vorgestellten Studien, dass Kindergarten- und Schulwah-
len ethnisch und sozial stark selektiv sind und bereits bestehende Segregation am
Wohnort in Schulen oder Kindergärten dadurch insgesamt noch verstärkt wird.
Kristen (2005, 2008) und Becker (2010) weisen außerdem nach, dass zusätzlich
zum sozialen und ethnischen Hintergrund der Familien das Wissen über das Bil-
dungssystems einen Einuss auf die Wahl von Bildungseinrichtungen hat. Weitere
Faktoren sind denkbar, wurden bislang aber nicht untersucht.
5 Zusammenfassung
Dass sich Nachbarschaseekte auf den Bildungserfolg von Kinder und Jugend-
lichen auswirkt, ist keine neue Vermutung, aber erst seit vergleichsweise kurzer
Zeit wird dieser Zusammenhang anhand geeigneter Längsschnittsdaten und
Methoden empirisch untersucht. Da ethnische Wohnsegregation seit langem ein
426 Andreas Horr
stabiler Befund in Deutschland ist, kommt den Nachbarschaen eine potenziell
wichtige Rolle bei der Erklärung ethnischer Unterschiede im Bildungserfolg zu.
Zahlreiche internationale Studien belegen einen unabhängigen Eekt von Nach-
barschaen auf den individuellen Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen.
Strittig bleibt jedoch, wie stark dieser Eekt ist, wodurch er genau hervorgerufen
wird und welche Personen oder Haushalte davon vor allem betroen sind. Diese
Unklarheiten sind weitgehend auf die sehr heterogene Datenlage zurückzuführen.
Die in diesem Kapitel dargestellten Studien liefern die zum gegenwärtigen Zeitpunkt
wohl am besten belastbaren Ergebnisse zu Schätzung von Nachbarschaseekten
auf den Bildungserfolg in Europa. Da in Schweden und teilweise auch in ande-
ren skandinavischen Ländern auf umfangreiche Registerdaten im Längsschnitt
zugegrien werden kann, bezieht sich ein großer Teil der vorhandenen Studien
auf diese Länder. Trotz der wachsenden Zahl an Studien bestehen methodische
Schwierigkeiten, aufgrund derer die bisherigen Belege mit einer gewissen Vorsicht
zu interpretieren sind. Beim ema Nachbarschaseekte ist es zudem vorstellbar,
dass die Studienlage durch Publikationsbias eingeschränkt wird. Fa lls bei Analysen
keine signikanten Eekte gefunden werden, kann das sowohl dadurch begründet
sein, dass keine Eekte bestehen, als auch dadurch, dass die verwendeten Daten
nicht ausreichen, um den Eekt nachzuweisen. Dies könnte dazu führen, dass
entsprechende Studien weniger gut publiziert werden können oder Forscher sie
gar nicht erst zur Veröentlichung einreichen.
Nachbarschaseekte sind durchweg sehr viel geringer als die Eekte individu-
eller Eigenschaen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien, auch wenn
beispielsweise Sykes und Kuyper (2009) sowie einige andere Autoren argumentieren,
dass diese relativ geringen Eekte für ihre langfristige Wirkung nicht trivial sein
müssen und möglicherweise gerade sie Ansätze für politische Maßnahmen bieten
könnten. An der eigenen Migrationsbiograe oder dem sozialen Hintergrund der
Eltern kann meist wenig geändert werden kann. Ein Umzug in eine Wohngegend,
die einem Kind oder einer Jugendlichen die besten Chancen bietet, ist dagegen
vielleicht möglich, wenn auch nicht immer einfach.
In der bislang einzigen einschlägigen Studie für Deutschland ndet Helbig
(2010) Hinweise auf die positive Wirkung sozial privilegierter Nachbarschaen auf
die Entwicklung von Lese- und Mathematikkompetenzen in der Grundschule in
Berlin. Über die Wirkung der ethnischen und sozialen Zusammensetzung einer
Nachbarscha auf verschiedene ethnische Gruppen in Deutschland kann derzeit
dagegen nur spekuliert werden. Verglichen mit den USA oder einzelnen Gebieten
Europas wie den Banlieues in Frankreich, ist die ethnische und soziale Wohnse-
gregation in Deutschland deutlich geringer. Ob deswegen in zukünigen Studien
für Deutschland geringere oder gar keine Nachbarschaseekte gefunden werden,
Nachbarschaftseekte 427
bleibt abzuwarten. Die Ergebnisse skandinavischer Studien sprechen zumindest nicht
dafür, dass nur in extremen Fällen Nachbarschaseekte er wartet werden können.
Mehrere Autoren argumentieren, der Eekt der Nachbarscha sei stark über die
Zusammensetzung der Schüler in den Schulen vermittelt, auch wenn in geringerem
Maße zusätzliche, unabhängige Einüsse der Nachbarscha festgestellt werden.
Die Trennung zwischen Nachbarschas- und Schuleekten ist jedoch schwierig
und die vorhandenen Studien erlauben noch keine Aussage darüber, was überwiegt.
Solange Nachbarschaen und Schulen so eng miteinander verbunden sind, wie es
in Deutschland der Fall ist und Schulsegregation gerade in Gebieten mit einem
hohen Anteil benachteiligter Schülerinnen und Schüler noch zunimmt, sollte der
direkte oder indirekte Einuss von Wohnsegregation auf den Bildungserfolg nicht
unterschätzt werden. Schlechte Startbedingungen schon vor dem Kindergarten
oder der Schule können sich sonst langfristig negativ auswirken.
Neben den Auswirkungen auf den Bildungserfolg sollten im Gesamtbild zudem
weitere Folgen segregierter Nachbarschaen nicht vergessen werden, etwa wenn
durch getrennte Wohnorte die Interaktion zwischen den ethnischen und sozialen
Gruppen verringert und soziale Distanz und Entfremdung begünst igt wird. Dadurch
ergeben sich nicht nur Nachteile für Individuen oder einzelne Gruppen, sondern
auch für die Gesellscha insgesamt.
Literatur
Ainswor th, J.W. 2 002. Why Does It Take a Vil lage? e Mediation of Neighborhood Eects
on Educational Achievement. Social Forces 81 (1): 117–152.
Andersson, E. 2004. From Valley of Sadness to Hill of Happiness: e Signicance of Sur-
roundings for Socioeconomic Career. Urban Studies 41 (3): 641–659.
Andersson, E.K., und B. Malmberg. 2015. Context ual Eects on E ducationa l Attainment in
Individualised, Scalable Neighbourhoods: Dierences across Gender and Social Class.
Urban Studies 52 (12): 2117-2133.
Andersson, E., und S.V. Subramanian. 2006. Explorations of Neighbourhood and Educa-
tional Outcomes for Young Swedes. Urban Studies 43 (11): 2013–2025.
Angrist, J.D., und J.-S. Pischke. 2009. Mostly Harmless Econometrics: An Empiricist’s Com-
panion. Princeton, NJ: Princeton University Press.
Becker, B. 2010. Ethnische Unterschiede bei der Kindergartenselektion: Die Wahl von un-
terschiedlich stark segregierten Kindergärten in deutschen und türkischen Familien.
In Vom Kindergarten bis zur Hochschule. Die Generierung von ethnischen und sozialen
Dispar itäten in der Bildungsbi ographie, hrsg. B. Bec ker, und D. Reimer, 17–47. Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaen.
428 Andreas Horr
Bränns tröm, L. 2004 . Poor Places, Poor Prospects? Counterfact ual Models of Neighbourhood
Eects on Social Exclusion in Stockholm, Sweden. Urban Studies 41 (13): 2515–2537.
Bränns tröm, L. 2008. Ma king eir Mark : e Eects of Neighbourhood and Upper Second-
ary School on Educationa l Achievement. European Sociological Review 24 (4): 463–478.
Brattba kk, I., und T. Wessel. 2013. Long-term Neighbou rhood Eects on Educat ion, Income
and Employment among Adolescents in Oslo. Urban Studies 50 (2): 391–406.
Breuing, K. 2014. Schulwahl und Schulwettbewerb im dualen System: Zur Auebung der
Berufsschulbezirke in Nordrhein-Westfalen. Wiesbaden: Springer.
Buck, N. 2001. Identifying Neighbourhood Eects on Social Exclusion. Urban Studies, 38
(12): 2251–2275.
Bygren, M., und R. Szulkin. 2010. Ethnic Environment During Childhood and the Educa-
tional Attainment of Immigrants Children in Sweden. Social Forces 88 (3): 1305–1330.
Clampet-Lundqu ist, S., und D.S. Massey. 2008: Neighborhood Ee cts on Economic Self-Su f-
ciency: A Reconsideration of the Moving to Opportunity Experiment. e American
Journal of Sociology 114 (1): 107–143.
Duncan, G.J., und S.W. Raudenbush. 2001. Neighborhoods and Adolescent Development:
How Can We Determine the Links? In Does it Take a Village? Community Eects on
Children, Adolescents, and Families, hrsg. A. Booth, und A.C. Crouter, 105–136. Mah-
wah, NJ: Lawrence Erlbaum.
Ellen, I.G., und M .A. Turner. 1997. Does Neighborhood M atter? Assessing recent Evidence.
Housing Policy Debate 8 (4): 833–866.
Elwert, F., und C. Winship. 2014. Endogenous Selection Bias: e Problem of Conditioning
on a Collider Variable. Annual Review of Sociology 40: 31–53.
Friedrichs, J., und S. Triemer. 2008. Gespaltene Städte? Soziale und ethnische Segregation in
deutschen Großstädten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaen.
Galster, G. 2008. Quantifying the Eect of Neighbourhood on Individuals: Challenges,
Alternative Approaches, and Promising Directions. Schmollers Jahrbuch 128 (1): 1–42.
Galst er, G. 2012. e Mechan ism(s) of Neighbourhood Ee cts: eory, Evidence, a nd Policy
Implicat ions. In Neighbourhoo d Eects Researc h: New Perspective s, hrsg. M. Van Ham, D.
Manle y, N. B ailey, L. Simpson, und D. Maclennan, 23 –56. Dordrecht: Spri nger Netherlands.
Garner, C.L., und S.W. Raudenbush. 1991. Neighborhood Eects on Educational Attain-
ment: A Multilevel Analysis. Sociology of Education 64 (4): 251–262.
Gelman, A., und J. Hill. 2007. Data Analysis Using Regression and Multilevel/Hierarchical
Models. New York: Cambridge University Press.
Grönqvis t, H. 2006. Eth nic Enclaves and the At tainments of Im migrant Children. European
Sociological Review 22 (4): 369–382.
Hedman , L., und M. van Ha m. 2012. Understanding Neighbourhood Eects: Sele ction Bias
and Residential Mobility. In Neighbourhood Eects Research: New Perspectives, hrsg.
M. Van Ham, D. Manley, N. Bailey, L. Simpson, und D. Maclennan, 79–99. Dordrecht:
Springer Netherlands.
Helbig, M. 2010. Neighborho od does matter! Soziost rukturel le Nachbarscha scharakteristi ka
und Bildungserfolg. Kölner Zeitschr i für Soziologie und Sozialpsychologie 62 (4): 65 5– 679.
Jencks, C., und S. Mayer. 1990. e Social Consequences of Growing Up in a Poor Neigh-
borhood. In Inner-City Poverty in the United States, hrsg. L.E. Lynn Jr., G.H. Michael,
und S. McGeary, 111–186. Washington, DC: National Academy Press.
Jurczok, A., u nd W. Lauterbach. 2014. Schulwa hl von Eltern: Zur Ge ographie von Bildungs-
chancen in benachteiligten städtischen Bildungsräumen. In Urbane Ungleichheiten.
Nachbarschaftseekte 429
Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, hrsg. P.A. Berger, C. Keller, A.
Klärner, und R. Neef, 135–155. Wiesbaden: Springer VS.
Katz, L.F., J.R. Kling, und J.B. Liebman. 2001. Moving-to Opportunity in Boston: Early
Results of a Randomized Mobility Experiment. Quarterly Journal of Economics 116 (2):
607–654.
Kauppinen, T.M. 2007. Neighborhood Eects in a European City: Secondary Education of
Young People in Helsinki. Social Science Research 36 (1): 421–444.
Kauppinen, TM. 2008. Schools as Mediators of Neighbourhood Eects on Choice Between
Vocational and Academic Tracks of Secondary Education in Helsinki. European Socio-
logical Review 24 (3): 379–391.
Kling, J.R., J.B. Liebman, und L.F. Katz. 2007. Experimental Analysis of Neighborhood
Eects. Econometrica 75 (1): 83–119.
Kristen, C. 2005. School Choice and Ethnic School Segregation: Primary School Selection in
Germany. Münster: Waxmann.
Kristen, C. 2008. Primary School Choice and Ethnic School Segregation in German Ele-
mentary Schools. European Sociological Review 24 (4): 495–510.
Lehma nn, R.H., und R. Nikolova. 2 005. Erhebung zum Lese- und Mathematikverständni s –
Entwicklung in den Jahrgangsstufen 4 bi s 6 in Berlin. Bericht über die Unters uchung 2003
an Berliner Grundschulen und grund ständigen Gymnasien. Berlin: Senat sverwaltung für
Bildung, Jugend und Sport.
Leventha l, T., und J. Brooks- Gunn. 2004. A R andomized Study of Neig hborhood Eects on
Low-Income Chi ldren’s Educationa l Outcomes. Developmental Psychology 40 (4): 488 –50 7.
Ludwig, J., H.F. Ladd, J.G. Duncan, J. Kling, und K .M. O’Regan. 20 01. Urban Poverty and
Educational Outcomes. Brookings-Wharton Papers on Urban Aairs: 147–201.
Makles, A., und K. Schneider. 2011. Segregation in Primary Schools – do School Districts
Really Matter? Evidence from Policy Reforms. Schumpeter Discussion Papers No. 3.
Wuppertal: Universität Wuppertal.
Manski, C. 1993. e Identication of Endogenous Social Eects: e Reection Problem.
Review of Economic Studies 60 (3): 531–542.
McCullo ch, A. 2006. Variat ion in Children’s Cognit ive and Behaviour al Adjustment between
Dierent Types of Place i n the British Nationa l Child Development Study. Social Science
Medicine 62 (8): 1865–1879.
McCullo ch, A., und H.E. Joshi. 20 01. Neighbourhood and Fami ly Inuences on the Cogni-
tive Ability of Children in the British National Child Development Study. Social Science
Medicine 53 (5): 579–591.
Nonnenmacher, A. 2007. Eignen sich Stadtteile für den Nachweis von Kontexteekten?
Kölner Zeitschri für Soziologie und Sozialpsychologie 59 (3): 493–511.
Noreisch, K. 2007. School Catchment Area Evasion: e Case of Berlin, Germany. Journal
of Education Policy 22 (1): 69–90.
Oberw ittler, D. 2007. e Eects of Neighbourhood Poverty on Adolescent Problem Behav-
iours: A Multi-level Analysis Dierentiated by Gender and Ethnicity. Housing Studies
22 (5): 781–803.
Pong, S.-L., und L . Hao. 2007. Neighborhood and Scho ol Factors in the School Per formance
of Immigrants’ Children. International Migration Review 41 (1): 206–241.
Riedel, A., K. Schneider, C. Schuchart, und H. Weishaupt. 2010. School Choice in German
Primary Schools: How Binding are School Districts? Journal for Educational Research
Online 2 (1): 94–120.
430 Andreas Horr
Sampson, R.J. 2008. Moving to Inequality: Neighborhood Eects and Experiments Meet
Social Structure. American Journal of Sociology 114 (1):189–231.
Sampson, R.J. 2012. Great American City: Chicago and the Enduring Neighborhood Eect.
Chicago: University of Chicago Press.
Sampson, R .J., J. Moreno, und T. Gannon-Rowley. 2002 . Assessing „Neig hborhood Eects“:
Socia l Processes and New Di rections in Research. Annual Review of Sociology 28: 443–478.
Sanbonmatsu, L., J.R. K ling, G.J. Duncan, u nd J. Brooks-Gunn. 20 06. Neighborhoods a nd
Academic Achievement: Results from the Moving to Opportunity Experiment. Journal
of Human Resources 41 (4): 649–691.
Schneider, K., C. Schuchart, H. Weishaupt, und A. R iedel. 2012. e Eect of Free Primary
School Choice on Et hnic Groups – Evidence from a Polic y Reform. European Journal of
Political Economy 28 (4): 430–444.
Schuchart, C., K. Schneider, H. Weishaupt, und A. Riedel. 2012. Welchen Einuss hat die
Wohnumgebung auf d ie Grundschulw ahl von Eltern? Ana lysen zur Bedeut ung von kon-
textuellen und familiären Merkmalen für das Wahlverhalten. Zeitschri für Empirische
Pädagogik 26 (4): 504–534.
Sykes, B., u nd H. Kuyper. 2009. Neighb ourhood Eects on Youth Educat ional Achievement
in the Netherlands: Ca n Eects be Identied a nd Do ey Vary by Student Background
characteristics? Environment and Planning A 41 (10): 2417–2436.
Sykes, B., und S. Musterd. 2011. Examining Neighbourhood and School Eects Simultane-
ously: What does the Dutch Evidence Show? Urban Studies 48 (7): 1307–1331.