Das politische Projekt einer Union europäischer Staaten war räumlich, architektonisch, politisch, rechtlich, strukturell und vertraglich immer in Bewegung. In Bewegung waren auch die Leitideen, die den durchaus mühsamen Prozess des politischen Zusammenwachsens unterschiedlicher Völker und Nationen als „Narrativ", d.h. als sinnstiftende, aus einem vorder- und einem hintergründigen Text bestehende
... [Show full abstract] Erzählung, begleitet haben. Anfangs, d.h. direkt nach dem Krieg, war dies das für alle unmittelbar einsichtige Narrativ einer „Friedensgemeinschaft". Auch das Narrativ einer friedenssichernden „Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft'' hatte auf dem Hintergrund des Prosperitätsstrebens und der wirtschaftlichen Aufbruchsstimmung der Europäer in den 60er bis 80er Jah ren des 20. Jahrhunderts seine nicht weiter rechtfertigungsbedürftige Plausibilität. Seit dem Vertrag von Maastricht (1993)¹, mit dem der Aus bau der „Europäischen Union" (EU) zu einer vollumfänglichen politischen und sozialen Union vorangetrieben und vertieft werden sollte, steht das Narrativ einer „Wertegemeinschaft" im Mittelpunkt der Verträge. Mit ihm sollte nicht nur das
immer engere Zusammenrücken der europäischen Völker und Nationen motiviert werden, es sollte auch den identitätsstiftenden Kern eines zukünftigen europäischen Ethos benennen.
,,Die Werte, auf die sich die Union gründet" und die das politische Projekt prägen sollen,
sind daher in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages (2009) ausdrücklich festgehalten: es sind „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet." Die EU ist in ihrem Handeln - sei es innen- oder außenpolitisch - diesem Wertefundament verpflichtet und verfolgt das
Ziel, diese Werte zu fördern (so Artikel 3).