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Möglichkeiten und Grenzen der Prognose "Krimineller Karrieren"

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In den letzten zwei bis drei Jahren kam es immer häufiger zu medialen Berichterstattungen über sogenannte „Clans“ und deren Aktivitäten. Zumeist sind hiermit arabische Großfamilien gemeint, welche sich unter anderem in Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet, Bremen, Niedersachsen und Berlin immer weiter ausbreiten und die Polizei an ihre Belastungsgrenze bringen würden. Die Diskussion rund um das „Problemfeld Clans“ scheint erst in den letzten Jahren an medialer und politischer Relevanz gewonnen zu haben, obwohl es sich bei genauerer Betrachtung gar nicht um ein neues Phänomen handelt. Gerade dieser Umstand der Intensivierung des, insbesondere durch die Massenmedien getragenen, öffentlichen Diskurses um ein bereits seit Jahrzehnten bestehendes Phänomen führte zur Konstruktion eines neuen gesellschaftlichen Problems, das geeignet ist, moralische Panik auszulösen (vgl. Cohen 2011[1972]): xxvii). Dabei ist den Massenmedien nicht die Rolle als aktiver Konstrukteur moralischer Panik zuzuschreiben. Sie reproduzieren lediglich dominierende oder wachsende Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft (ebd. 2011[1972]): 11). So werden ganze Familien mit kriminellen Gruppierungen gleich gesetzt: „Der Name Miri steht in der Hansestadt für organisierte Kriminalität vom Feinsten“ (Herrnkind & Mathes 2014: o.S.), als Problem für das gesellschaftliche Zusammenleben beschrieben: „Der Fall Osman zeigt, was die Clan-Welt für diejenigen bedeutet, die das Pech haben, in unmittelbarer Nachbarschaft zu leben“ (Fleischhauer 2019: o.S.) oder als Gefahr für den Staat und seine Einrichtungen dargestellt: „Clans unterwandern zunehmend Ämter und Jobcenter“ (o.V. 2019: o.S.). Dieser mediale Diskurs begünstigt die Konstruktion türkisch-arabischer Familienclans als sogenannten Folk Devil. Der Begriff bezeichnet nach Cohen (2011[1972]): 1) eine Person oder Gruppe, die von einer Mehrheitsgesellschaft, kommuniziert durch Massenmedien, als deviant oder Verursacher sozialer Probleme, beziehungsweise als Gefahr für gesellschaftliche Werte und Interessen angesehen wird. Dem gesellschaftlichen und Wertewandel unterworfen handelt es sich bei Folk Devils um eine vom jeweiligen Zeitgeist und der politischen Stimmung abhängige, sehr heterogene und dynamische Gruppe, der unter anderem schon Rocker, Sinti/Roma und Juden im dritten Reich zugeordnet werden konnten (vgl. Cohen 2011[1972]): 3, 56). Zum Effekt sozialer Ausgrenzung, der zugleich die gesellschaftliche Integration erschwert, kommen potentiell Labelingeffekte hinzu (vgl. Becker 1963, u.a.), die die fortgesetzte, kollektive Begehung von Straftaten begünstigen können. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die öffentliche Diskussion über das Phänomen, die Ursachen und die Bekämpfungsmöglichkeiten, die sich stets zwischen den Polen der gesicherten und ungesicherten Erkenntnisse bewegt und in welcher zumeist schnelle und harte, vermehrt repressive Reaktionen des Staates gefordert werden (z. B. Welt 2018; CDU/CSU 2019; siehe auch Regierungskommission „Mehr Sicherheit für Nordrhein-Westfalen“ 2019). Ebenfalls interessant ist die Reaktion der staatlichen Institutionen, die zunächst überwiegend auf „altbewährte“ Handlungsmuster zurückzugreifen versuchen, in der Hoffnung diesem Phänomen Herr werden zu können. Hier kann insbesondere im Bereich Polizei der Rückgriff auf Zero-Tolerance-Strategien und Präsenzkonzepte mit stark erhöhtem Personalansatz angeführt werden, wie sie in der heutigen Zeit häufig zu beobachten sind, zuletzt als Reaktion auf die sogenannte Rocker-Problematik (z. B. Spiegel Online 2012; Gewerkschaft der Polizei 2013). Die Art der angesprochenen öffentlichen ¬– und auch wissenschaftlichen – Debatte und die daraus quasi automatisch resultierenden, tradierten Maßnahmen der Polizei verwundern umso mehr, wenn man die spürbare gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrachtet, die häufig mit den Schlagworten Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit beschrieben wird. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf den Zusammenhang von öffentlich-wissenschaftlicher Debatte und polizeilichen Reaktionen im Spannungsfeld zwischen gesicherten und ungesicherten Erkenntnissen am Beispiel des Phänomenbereichs „Clankriminalität“.
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Die kriminologische Forschung zu mehrfacher Straffälligkeit hat vielfältige theoretische Ansätze entwickelt und empirische Befunde hervorgebracht (zusammenfassend u. a. Blumstein et al. 1988; Boers 2007; Farrington 2003, 2005; Piquero et al. 2003). Die Beobachtung, dass individuelle Lebensläufe von wiederkehrendem kriminellem Handeln geprägt sind, und die Aussicht, diese Persistenz vor dem Beginn zu prognostizieren oder zumindest sehr früh zu diagnostizieren und darauf aufbauend Möglichkeiten zu erschließen, wiederholtes kriminelles Handeln zu unterbinden, verleihen diesem Zweig der kriminologischen Forschung immer wieder neuen Antrieb.
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Der Darstellung ausgewählter soziologischer Erklärungsansätze für Gewaltkriminalität muss eine Benennung der Grenzen des Vorhabens vorangehen. Erstens ist zu beachten, dass es um Erklärungen von Gewaltkriminalität geht, also die vielfältigen Formen von Gewalt, die strafrechtlich nicht als Kriminalität gelten, ausgeschlossen bleiben. Da diese Grenzziehungen von den jeweils nationalen Rechtssystemen vorgenommen werden und historisch erheblichen Änderungen unterworfen sind, bleibt der Gegenstandsbereich notwendig unscharf definiert. Zweitens weist der Gewaltbegriff insbesondere innerhalb strafrechtlicher Kontexte eine enge Fixierung auf physische Gewalt auf, so dass angesichts längerfristiger Veränderungen alltagsweltlicher Konzeptionen von Gewalt die strafrechtliche Perspektive den realen „Gewaltproblemen“ zunehmend unangemessener wird. Drittens stellen wir auf individuelle Gewaltkriminalität ab, einerseits einleuchtend, weil z. B. Genozide sicher einer anderen Erklärung bedürfen als ein Handtaschenraub, andererseits aber auch fragwürdig, weil die rein strafrechtliche Einordnung einer Straftat als Tat eines einzelnen nicht garantieren kann, dass nicht komplexe Gruppenprozesse und -bezüge von entscheidender Bedeutung für das Geschehen waren. Ob daher der Umstand, dass laut polizeilicher Kriminalstatistik die ganz überwiegende Mehrheit der Gewaltdelikte z. B. in Deutschland - und dies mit zunehmender Tendenz in den letzen 20 Jahrenin Alleintäterschaft begangen werden, bedeutet, dass die Erklärung individueller Gewaltkriminalität eine Erklärung von Gewaltkriminalität überhaupt darstellt, ist durchaus fraglich.
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Der soziale Umbruch in Mittel- und Osteuropa hat im Bereich der sozialwissenschaftlichen und kriminologischen Forschung zwei Prozesse in Gang gesetzt, die auch auf dieser Tagung eine große Rolle gespielt haben:
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Die kriminologische Forschung zu mehrfacher Straffälligkeit hat zahlreiche theoretische Ansätze entwickelt und empirische Befunde hervorgebracht (zusammenfassend u. a. Blumstein et al. 1988; Boers 2007; Farrington 2003, 2005; Piquero et al. 2003, Schumann in diesem Band). Die Beobachtung, dass individuelle Lebensläufe von wiederkehrendem kriminellem Handeln geprägt sind, und die Aussicht, diese Persistenz vor dem Beginn zu prognostizieren oder zumindest sehr früh zu diagnostizieren und darauf aufbauend Möglichkeiten zu erschließen, wiederholtes kriminelles Handeln zu unterbinden, verleihen diesem Zweig der kriminologischen Forschung immer wieder neuen Antrieb. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit wiederholter Straffälligkeit gewinnt durch die unmittelbare Anwendungsorientierung zudem weit reichende kriminalpolitische Bedeutung. Die Instanzen sozialer Kontrolle, wie Polizei, Gericht und Strafvollzug, sind bestrebt, wiederholt auffällige junge Tatverdächtige durch spezielle Maßnahmen davon abzubringen, weitere Straftaten zu begehen. Vor allem die Polizei hat im Umgang mit jungen Intensivtätern spezielle Maßnahmen entwickelt, um dieser Tatverdächtigengruppe die gesetzlichen Normen mit Nachdruck aufzuzeigen und damit zugleich die Position der Polizei als Instanz sozialer Kontrolle zu bestärken.
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A description of selected sociological approaches to explaining violent crime must first begin by defining the limits of the project. It should be noted, firstly, that we are dealing with explanations of criminal violence, and thus the many and diverse forms of violence which criminal law does not consider to be crimes are excluded. Since these boundaries are defined by the respective national legal systems and historically have been subject to considerable change, the definition of the topic can never be totally precise. Secondly, the notion of violence reveals a narrow fixation on physical violence, particularly in contexts of criminal law, and given long-term changes in everyday conceptions of violence, the criminal law perspective increasingly loses step with the real “violence problems.” Thirdly, we focus on individual violent crime, which on the one hand makes sense because genocides obviously require a different explanation to purse-snatching, but on the other hand this is questionable because the purely legal classification of a crime as the act of an individual cannot rule out that complex group processes and group relations contributed significantly to the event. Police crime statistics for Germany and many other countries reveal that the vast majority of crimes of violence are committed by one offender acting alone, and this trend has increased over the last 20 years. But this does not at all imply that the explanation of individual violent crime is thus also an explanation of violent crime in its totality.
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Die kriminologische Forschung zu mehrfacher Straffälligkeit hat zahlreiche theoretische Ansätze entwickelt und empirische Befunde hervorgebracht (zusammenfassend u. a. Blumstein et al. 1988; Boers 2007; Farrington 2003, 2005; Piquero et al. 2003, Schumann in diesem Band). Die Beobachtung, dass individuelle Lebensläufe von wiederkehrendem kriminellem Handeln geprägt sind, und die Aussicht, diese Persistenz vor dem Beginn zu prognostizieren oder zumindest sehr früh zu diagnostizieren und darauf aufbauend Möglichkeiten zu erschließen, wiederholtes kriminelles Handeln zu unterbinden, verleihen diesem Zweig der kriminologischen Forschung immer wieder neuen Antrieb. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit wiederholter Straffälligkeit gewinnt durch die unmittelbare Anwendungsorientierung zudem weit reichende kriminalpolitische Bedeutung. Die Instanzen sozialer Kontrolle, wie Polizei, Gericht und Strafvollzug, sind bestrebt, wiederholt auffällige junge Tatverdächtige durch spezielle Maßnahmen davon abzubringen, weitere Straftaten zu begehen. Vor allem die Polizei hat im Umgang mit jungen Intensivtätern spezielle Maßnahmen entwickelt, um dieser Tatverdächtigengruppe die gesetzlichen Normen mit Nachdruck aufzuzeigen und damit zugleich die Position der Polizei als Instanz sozialer Kontrolle zu bestärken.
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Die kriminologische Forschung zu mehrfacher Straffälligkeit hat zahlreiche theoretische Ansätze entwickelt und empirische Befunde hervorgebracht (zusammenfassend u. a. Blumstein et al. 1988; Boers 2007; Farrington 2003, Farrington 2005; Piquero et al. 2003). Die Beobachtung, dass individuelle Lebensläufe von wiederkehrendem kriminellem Handeln geprägt sind, und die Aussicht, diese Persistenz vor dem Beginn zu prognostizieren oder zumindest sehr früh zu diagnostizieren und darauf aufbauend Möglichkeiten zu erschließen, wiederholtes kriminelles Handeln zu unterbinden, verleihen diesem Zweig der kriminologischen Forschung immer wieder neuen Antrieb. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit wiederholter Straffälligkeit gewinnt durch die unmittelbare Anwendungsorientierung zudem weitreichende kriminalpolitische Bedeutung. Die Instanzen sozialer Kontrolle, wie Polizei, Gericht und Strafvollzug, sind bestrebt, wiederholt auffällige junge Tatverdächtige durch spezielle Maßnahmen davon abzubringen, weitere Straftaten zu begehen. Die Polizei hat im Umgang mit jungen Intensivtätern spezielle Maßnahmen entwickelt, um dieser Tatverdächtigengruppe die gesetzlichen Normen mit Nachdruck aufzuzeigen und damit die Position der Polizei als Instanz sozialer Kontrolle zu bestärken.
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