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Oxford
Germall
Studies,Vol. 40,
No.
3,
2011
VORMÄRZ,
FRÜHREALISMUS,
BIEDERMEIERZEIT,
RESTAURATIONSZEIT?
KOMPARATISTISCHE
KONTURIERUNGSVERSUCHE
FÜR
EINE
KONTURLOSE
EPOCHE
MANFRED
ENGEL
Universität
des
Saarlandes
Schon
die
Vielfalt
der
verwendeten
Epochenname11
belegt,
dass
die
literaturgeschichtliche
Konturierung
der
Restaurationszeit
bis
heute
problernatisch
geblieben
ist.
Vor
dent
Hintergrur1d
der
Entwicklung
der
europäischen
Rornantik
versucht
der
vorliegende
Beitrag,
die
Restaurationszeit
aus
höchst
unter-
schiedlich
au~fallenden
Vermittlungsversuchen
zwischen
idealistische11
Sintifiguren und
einent
neuen,
dezidiert anti-idealistischen Wirklichkeitsbegriff
zu
bestimmen. Als Beispiele für
solche
Hybrid-
bildungen
werden
abschlifj]end
Goethes
Wande1jahre,
Büchners
Lenz
und Imrnermanns
Münch-
hausen
erörtert.
Jeder
Literarhistoriker
weiß,
dass literarische
Epochen
auf
komplexen
-
und
imn1er
prekären
-
Konstruktionen
beruhen:
Aus
einein
heterogenen
Textense1nble
werden
die
The1nen
und
Verfahren
herauspüpariert,
die
im
literarischen
Systein
innovativ
sind
und
sich
zugleich
als
Antworten
auf
aktuelle
Zeitfragen
begreifen
lassen.
Dabei
wird
jedem
Spezialisten
zunächst
einmal
die
Konstruktion
der
je
eigenen
Epoche
als
besonders
schwierig
erscheinen,
da
er
hier
ja
über
das umfassendste
Detailwissen
verfügt.
Aber
es
gibt
auch
objektivere
Kriterien
für
das
Vorliegen
eines
besonders
großen
literarhistorischen
Problempotentials:
Ein
recht
sicheres
Indiz
ist
schon
das
Fehlen
eines
einheitlich
gebrauchten
Epochennamens,
ein
zweites die
Inkongruenz
mit
dein
kmnparatistischen
Schema
von
Großepochen,
das
den
europäischsprachigen
Literaturen
gemeinsan1 ist.
Auf
die
Zeit
zwischen
1815
und
1848 treffen gleich
beide
Kriterien
zu.
I.
Die
Strömungen
Zur
Benennung
der
Epoche
zwischen
Romantik
und
Realis1nus
werden
in
der
Germanistik
nicht
weniger
als sechs
Bezeichnungen
verwendet.
Grundsätzlich
sind
Epochennamen
eigentlich
ohne
große
Bedeutung:
Ihre
Ursprünge
sind
heterogen
(Philosophie-,
Kunst
und
Realgeschichte,
Selbstbezeichnungen
literarischer
oder
künstlerischer
Bewegungen,
© 2011 W
S.
Maney
&
Son
Ltd
DOI:
10.1179/0o787191
Ix6oo866
KOMPARATISTISCHE
KONTURIERUNGSVERSUCHE
2II
etc.)
und
ihre
Anwendung
nur
durch
Tradition
sanktioniert;
zu
'Begriffen'
werden
sie
erst
durch
literaturwissenschaftliche
Definition
(oder
'bewahrende
Rekonstruktion').
Daher
ist
ihre
Wortsernantik
irrelevant,
ja
nicht
selten
eher
irreführend-
so ist
etwa
die
längst
abgeschlossene
Moderne
alles
andere
als
'rnodern'
und
der
'Realismus'
nur
sehr
bedingt
'realistisch' (irn
Sinne
unseres
gegenwärtigen
Begriffsgebrauchs).
Irn
Falle
der
uns
interessierenden
Epoche
ist die
Narnenswahl
jedoch
nicht
ganz
so beliebig: Gleich
drei
der
gebräuchlichen
Epochennarnen
sind
recht
eigentlich
Bezeichnungen
für
konkurrierende
(Teil-)'Strömungen'
oder
'Bewegungen'
der
Gesamtepoche,
so dass
ihre
Erhebung
zmn
Epochennan1en
eine
aktuelle
Stellungnahme
ün
historischen
Streit
impliziert.
Aber
lassen
wir
die
Kandidaten
für
einen
Epochennamen
zunächst
einfach
eimnal
Revue
passieren:
(1)
Der
forschungsgeschichtlich
älteste
davon
ist
natürlich
'Biedermeier':
U1n 1900 als
Begriff
der
Möbel-
und
Kunstgeschichte
eingeführt
und
1927 erstmals
auf
die
Literatur
der
Zeit
übertragen,
war
'Biedenneier'
1 bis
in
die späten
6oer
Jahre
der
unangefochtene,
wenn
auch
nie
unumstrittene
Epochenname:'
Nach
Neuentdeckung
und
Aufwertung
anderer
Strömungen
wurde
der
Begriff
dann
zunehmend
eingeschränkt
zur
Sannnelbezeichnung
für
die
politisch
und
ästhetisch
konservativeren
Autoren
der
Epoche,
also
etwa
Friedrich
Rückert
(1788-1866),
Ferdinand
Raimund
(1790-1836),
Franz
Grillparzer
(1791-1872),
August
von
Platen
(1796-1835),
Karl
hnmermann
(1796-1840),
Annette
von
Droste-
Hülshoff
(1797-1848),
Jereinias
Gotthelf
(1797-1854),Johann
Nestroy
(1801-1862),
Nikolaus
Lenau
(1802-1850)
und
Eduard
Mörike
(1804-1875).
Während
der
Biedenneier-Begriff
so
immer
enger
gefasst
wurde,
gab es
umgekehrt
diverse Versuche,
eine
der
beiden
Konkurrenz-Strömungen
zur
eigentlich
Epoche-
prägenden
zu
ernennen.
Weniger
erfolgreich
war
dabei
(2)
das-
vor
allem
in
der
Zeit
zwischen
1830
und
1840
aktive
'Junge
Deutschland'.
3
Eine
Gruppe
ün
engeren
Sinne
bilden
die
Autoren
zwar
nur
für
den
Bundestags-Beschluss
vom
10.
Dezeinher
1835:
Dieser
verbietet
die
Schriften
einer
"literarischen
Schule",
die
aus
Heinrich
Heine
(1797-1856),
Karl
Gutzkow
(18rr-1878),
Heinrich
Laube
(1806-1884),
LudolfWienbarg
(1802-1872)
und
Theodor
Mundt
(1808-1861)
bestehen
soll;
Ludwig
Börne
(1786-1837)
wird
zwar
nicht
aufgeführt,
gehört
aber
offensichtlich
zmn
weiteren
Umfeld
der
na1nentlich
Genannten.
Was diese
Autoren
verbindet-
und
was es
auch
ermöglicht,
Georg
Büchner
(1813-1837)
und
Christian
Dietrich
Grabbe
(18or-1836)
im
weiteren
Sinne
zur
gleichen StrÖinung
zu
rechnen
-
sind
gemeinsame
Merkmale
wie: liberales politisches
Engagement,
Wirklichkeitszuwendung,
offene literarische
Strukturen
und
eine
scharfe
Polemik
gegen
die
Schriften
von
Klassik
und
Romantik.
So
wendet
sich
etwa
Gutzkow
gegen
die
"Kunstonanie
des
verflossenen
Jahrhunderts",
4
Büchner
gegen
die
Kunst
und
Literatur
der
' Abgeleitet ist der
Begriffbekanntlich
von
der Figur eines "Gottlieb Biedermaier", den Ludwig
Eichrodt
und
Adolf
Kußmaul
ab
1855
in
den
Münchner
Fliegenden
Blättern
als
satirisch gezeichneten Prototyp des
zeitgenössischen Bürgers
erfunden
hatten.
2 Vgl.
den
von
Elfriede
Neubuhr
herausgegebenen Sanm1elband:
Begrijfsbestin11nung
des
literarischen
Biedenneier,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1974 (=Wege der Forschung, Bd. 318), bes. die
Einleitung der Herausgeberin
(S.
r-34)
mit
umfassendem Forschungsbericht.
3
Die
ilmner
noch
beste Einfiihrung ist: Heh1mt Koopmann,
Das
Junge
Deutschland:
Eine Einführung,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
4 Karl Gutzkow, 'Vom Berliner Journalismus',
in
Fon11n
der
Journal-Literatur:
Eine
antikritische
Quartalschrift
1/2
(1831), 151-204, hier
S.
r8o.
212
MANFRED
ENGEL
"idealistischen
Periode"
5
und
Heine
verkündet,
bekanntermaßen,
gleich das
"Ende
der
Kunstperiode".
6
(3)
Erfolgreicher
als
dasJunge
Deutschland
war
inderneueren
Germanistik
der
vor
allem
zwischen
1840
und
1848
publizierende
'Vormärz',
zu
dem
etwa
August
Heinrich
Hoff-
mann
von
Fallersleben (1798-1874),
Ferdinand
Freiligrath
(1810-1876),
Georg
Herwegh
(1817-1875),
Robert
Eduard
Prutz
(1816-1872)
und
Georg
Weerth
(1822-1856)
gehören.
Bei
diesen
Autoren
verbinden
sich
jung-
bzw. linkshegelianische, sozialistische
oder
früh-
marxistische
Ideologien
mit
einem
dezidiert
engagierten,
auf
direkte
Agitation
ausgelegten
Literaturbegriff-
was
übrigens
in
der
Zeit
zu
erstaunlichen
Verkaufserfolgen
führte.
Trotz
hohen
Auflagen
war
der
Vormärz
offensichtlich
nicht
gerade
prägend
für
den
Gesamtzeitraum
der
Epoche.
Dennoch
hat
er
im
Wettstreit
der
Epochennamen
heute
zweifellos die
Spitzenposition
erreicht?
Die
germanistischen
Anhänger
'eingreifender
Literatur'
haben
so,
mit
einigem
Erfolg,
eine
'eingreifende
Literaturgeschichtsschreibung'
praktiziert,
die
nach
dem
Prinzip der
ausgleichenden
Ungerechtigkeit
die
jahrzehntelange
Marginalisierung
der
politisch
aktiven
Autoren
kurzerhand
mit
der
der
bisher
kanonisierten
konservativen
Autoren
beantwortet.~'
(4)
Parteiisch
war
aber
natürlich
auch
die
Empfehlung
des sicher
besten
Kenners
der
Epoche:
Friedrich
Sengle
hatte
in
seiner
monumentalen
dreibändigen
Monographie
den
Gesamtterminus
'Biedermeierzeit'
vorgeschlagen,
der
vom
Teilsystem
'Biedermeier'
streng
zu
unterscheiden
seiY
Als
Gesamtbezeichnung
ist das freilich
auch
nicht
neutraler,
als es
beispielsweise
eine
vom
Vormärz
zu
unterscheidende
'Vormärzzeit'
wäre.
(5)
Immer
Außenseiter
ün
Rennen
war
der
von
Ulrich
Fülleborn
vorgeschlagene
Epochenname
'Frührealismus'.
10
Das
lag
sicher
auch
an
der
Namensbildung,
da
Epochen-
termini
mit
den
Präfixen
'Früh-'
'Vor-'
oder
'Post-',
nicht
ganz
zu
Unrecht,
als
proble-
matische
Verlegenheitslösungen
beargwöhnt
werden.''
Unabhängig
von
der
Namensfrage
scheinen
mir
aber
Fülleborns
Arbeiten
wesentliche
Beiträge
für
die
Epochenbestimmung
-'
So etwa
im
'Kunstgespräch'
in~
Lenz;
Georg
Büchner,
Dic!Jtungen,
2 Bde., hrsg.
v.
Henri
und
Rosemarie
Poschmann, Frankfurt
a.
M.:
Deutscher
Klassiker Verlag, 1992
und
1999, Bd.
1,
S.
233.
6 Vgl. etwa:
Heinrich
Heine,
Die
rolltantisehe
Schule,
in
Werke,
12
Bde., hrsg.
v.
Klaus Briegleb,
München:
Hanser, I 976, Bd.
5,
S.
357-504,
hier
S.
360
und
passim.
7
Die
Etfolgsgeschichte des Begriffes reicht
von
der
Pionierarbeit
von
Peter
Stein,
Epochenproblern
Vormärz,
1815-1848, Stuttgart: Metzler, 1974, bis zu
der
den
aktuellen Diskussionsstand
dokumentierenden
Monographie
von
Norbert
Otto
Eke,
Eiriführung
in
die
Literatur
des
Vonnärz, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2005.
8 So
werden
in
der
in
Anm.
7
erwähnten
Einfiihrung
Ekes
weder
Grillparzer
noch
Mörike
oder
Droste-
Hülshoffausftlhrlich dargestellt; das Personenregister weist ftlr Grillparzer
und
Droste-Hülshoffje
einen,
fi.ir
Mörike
zwei Einträge
auf
(wobei
es
sich meist
um
bloße
Erwähnungen
handelt).
9
Friedrich
Sengle,
Biedermeierzeit:
Deutsche
Literatur
in1
Spanm11IJZ.ifeld
zwischen Restauration und Revolution
1815-1848, 3 Bde., Stuttgart: Metzler, 1971, I972
und
I980.
'0
Ulrich
Fülleborn, 'Frührealismus
und
Biedermeierzeit',
in
Begrlf!Sbestiniiiiiiiigen,
S.
189-207;
wieder
als:
'"Erweislose"
Wirklichkeit: Frührealismus
und
Biedermeierzeit',
in
Besitz und
Sprache:
Ausgewählte
AJ,ifsätze,
hrsg.
v.
Günter
Blamberger,
Manfred
Engel
und
Monika
Ritzer,
München:
Fink,
2000,
S.
102-27. V gl.
auch
die
im
gleichen Sa1mnelband
nachgedruckten
Aufsätze: 'Offenes Geschehen
in
geschlossener
Form:
Grillparzers
Dramenkonzept.
Mit
einem
Ausblick
auf
Raimund
und
Nestroy'
(S.
128-53)
und
'Friedrich
Rückerts
geschichtlicher
Ort
im
:fiührealistischen
Kontext'
(S.
I
84-96)
sowie die
Monographie
Das
drarnatische
Geschehen
in1
Werle
Pranz
Grillparzers:
Ein
Beitra,r;
zur
Epochenbestimnutng
der
deutschen
Dichtung
in1
19.
Jahrhundert,
München:
Fink, 1966, bes.
S.
7-42
und
266-322.
" Das gilt natürlich
noch
in
gesteigertem
Maße
ftlr
neuere
Bestrebungen
der
Vormärz-Forschung, die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
zum
'Nachmärz'
zu erklären; vgl. Eke,
S.
8-9
und
passim.
KOMPARATISTISCHE
KONTURIERUNGSVERSUCHE
213
zu
liefern:
Seine
(an
den
Sprachgebrauch
Franz
Grillparzers angelehnte)
Formel
vom
'erweislosen
Geschehen'-
einem
"eigen-sinnigen
Geschehen", das
dem
"eigen-willigen,
aufbestimmte
Zwecke
ausgehenden
Handeln
der
Personen"
unvermittelt
gegenüberstehe
2
-ist
nicht
nur
erhellend
für
den
Wirklichkeitsbegriff
der
Gesamtepoche,
sondern
liefert
auch
ein
wichtiges
Korrektiv
für
das Klischee
der
angeblich
so
harmlosen,
brav
konservativen
Biedermeier-
Autoren.
Mein
persönliches
Fazit aus dieser
Übersicht
ist
klar
und
einfach:
Schon
aus
elementar
logischen
Gründen
scheint
es
mir
unsinnig,
einen
Teil
zumNamenfür
das
Ganze
zu
machen.
Daher
käme
für
mich
nur
ein
strömungsunabhängiger
Begriff
in
Frage
-
und
da
bietet
sich
am
ehesten
(6)
der der
'Restaurationszeit'
an.
Denn
dieser
Terminus
ist offensichtlich
für
alle
Autoren
der
Zeit
zutreffend
und
impliziert
keine
Wertentscheidung
zwischen
den
rivalisierenden
Strömungen.
Der
Einwand,
dass
der
Begriff
'Restaurationszeit',
"die
Einheit
der
Epoche
in
ihrer
konservativen
(und
eben
nicht
revolutionär-demokratischen)
Wertigkeit
bestimmen"
würde,'
3
scheint
mü··
wenig
schlüssig.
Auf
reaktionäre
politische
Tendenzen
und
ein
Klima
der
Repression
zu
verweisen,
schließt
den
Protest
gegen
diese
Verhältnisse
ein-
an
dem
übrigens
alle
Autoren
der
Epoche
teilhaben,
auch
die
angeblich
konservativen.
II.
Eine
komparatistische
Perspektive
Freilich
ist
mit
der
Findung
eines
deskriptiv-neutralen
Epochennamens
noch
nicht
viel
erreicht.
Das
zentrale
Problem
bei
der
Bestimmung
der
Restaurationszeit
liegt-
auch
das
dürfte
mein
kurzer
Überblick
verdeutlicht
haben
-offensichtlich
darin,
über
das
bloße
Konstatieren
eines
Nebeneinanders
von
konservativ
biedermeierlichen
und
engagiert
jung-deutseben
sowie
vormärzliehen
Strömungen
hinauszukommen.
Ausgangspunkt
dafür
soll
ein
Zitat
aus
einem
programmatischen
Text
von
1827 sein:
Die
Muse der
Modernen
[ ... ] spürt, daß in der Schöpfung nicht
alles
im
menschlichen
Sinne schön ist, daß
es
Häßliches gibt neben
dem
Schönen, Mißgestaltetes dicht
beim
Anmutigen, Groteskes hinter
dem
Erhabenen [ ...
].
Die Dichtung macht
es
jetzt
wie
die Natur; sie gesellt [ ... ] den Schatten zum Licht,
das
Groteske
zum
Erhabenen,
mit
anderen Worten:
den
Körper zur Seele,
das
Animalische zum Geist [ ... ] : alles,
was
es
in
der
Natur
gibt, ist in der Kunst. [ ... ]
Es
gibt weder
Regeln
noch
Vorbilder, oder besser:
es
gibt keine anderen
Regeln
als
die allgemeinen Gesetze der Natur.
Das
ließe
sich
leicht
für
ein
Manifest
der
Restaurationszeit
halten,
das aus
dem
Umkreis
des
Jungen
Deutschland
sta1nmen
könnte.
In
Wahrheit
handelt
es sich
aber
um
eine
Montage
von
Textstücken
aus
einer
bekannten
Programmschrift
der
französischen
Romantik:
dem
Vorwort
zu
Victor
Hugos
Drama
Cromwell (1827).
14
Ich
gebe
gerne
sofort zu, dass
12
Fülleborn,
'"Erweislose"
Wirldichkeit',
S.
110.
'3 Eke,
S.
16.
'4
Victor
Hugo,
'Vorwort zu
Crornwell',
in
Französische
Poetiken,
hrsg.
v.
Frank-Rutger
Hausmann
u.a.,
Stuttgart:
Reclam,
1978,
Bd.
2,
S.
31-56,
bes. 33, 34, 39,
47-
Hier
der
französische Originaltext:
"la
muse
moderne
[ ... ] sentira que
taut
dans la creation
n'
est pas
humainement
beau,
que
le laid y existe i
cote
du
beau, le difforme pres
du
gracieux, le grotesque au revers
du
sublime [ ... ].
[La
poesie]
se
mettra i faire
comme
la nature, i
meler
dans ces creations [ ... ]
l'ombre
i la lumiere, le grotesque au sublime,
en
d'autres
termes, le corps i l'ame, la
bete
i l'esprits [ ... ]:
taut
ce
qui
est dans la nature est dans l'art. [ ... ] Il
n'y
a
ni
regles,
ni
modeles;
Oll
plutot
il
n'y
a d'autres regles que les lois generales de la nature"; 'Preface de Cromwell''
214
MANFRED
ENGEL
meine
Zitat-Auswahl
und
Montage
manipulativ
ist;
im
Originalzusammenhang
wäre
die
rmnantische
Grundierung
der
Argumentation
leichter
erkennbar-
aber
selpst
dann
bliebe
es
eine
Rmnantik,
die
dem
Germanisten
sehr
fremd
erscheinen
muss.
Wie
bereits die
Kapitelüberschrift
signalisierte,
geht
es
mir
im
Folgenden
danun,
ein
Problem
der
deutschsprachigen
Literaturgeschichte
aus
der
komparatistischen
Außen-
perspektive
zu
betrachten.
In
der
langen
Herausgeberarbeit
am
Sammelband
Rornantic
Prose
Fiction
1s musste
ich
mich
ausführlich
mit
den
europäischsprachigen
Romantiken
beschäftigen.
Dabei
stieß
ich
auf
eine
ganze
Reihe
von
verblüffenden
Parallelen
zwischen
der
europäischen
Romantik
des
19.
Jahrhunderts
und
der
deutschsprachigen
Restaurationszeit,
die
der
wesentlich
engere
germanistische
Romantikbegriff
verdeckt.
Komparatistisch
gesehen
zerfällt
die
europäische
Romantik
in
zwei
Phasen,
die
aber
sehr
viel
eher
als zeitlich
und
räumlich
getrennte
Teilsysteme
erscheinen.
Das
liegt
an
der
Verspätung,
mit
der
sich die
romantische
Bewegung
in
den
romanischen
Ländern
und
in
Osteuropa
im
alleremeinen
insbesondere
aber
natürlich
in
Frankreich
durchsetzt,
wobei
sich
tJ
'
die
Versp~itung
dort
n;:1türllch aus
der
besonders
z~ihlebigen
Vorherrschaft
des Klassizismus
erktirt.
In
Deutschland
und
Großbritannien
setzen die
jeweiligen
Romantiken
anrühernd
zeitgleich
in
der
zweiten
Hälfte
der
1790er
Jahre
ein'
6 (wobei
man
im
komparatistischen
Zugriff
übrigens
den
für
Germanisten
so
wichtigen
Unterschied
zwischen
Klassik
und
Romantik
meist
völlig
ignoriert).
Beide
Romantiken
haben
über
Coleridge
und
seine
Schelling-Rezeption
zudem
auch
einen
direkten
Kontakt.'
7
Europäisch
prägend
ist
dann
vor
allem
die deutsche
Rmnantik
-
vermittelt
in
etwas
verdünnter,
da
die
Jenenser
Frühromantik
ausklammernder
Form
durch
zwei
europaweit
verbreitete
Bücher:
Madame
de
Staels De
ll_Allemagne
(1813)
und
August
Wilhelm
Schlegels
Vorlesungen
über
dramatische
Kunst und Literatur
(gehalten
1808,
Erstdruck
1809!ro).'8
Während
die
deutsche
Hochrmnantik
bereits 1815/20
endet,
liegt
die
Blütezeit
der
französischen
Romantik
erst
zwischen
1830 -
Durchsetzung
der
Romantik
in
der
berühmten
'Bataille
rmnantique'
bei
der
Aufführung
von
Victor
Hugos
Dra1na Hernani
-
und
1850; die
Konstitutionsphase
der
Bewegung
ist
etwa
zwischen
1815
und
1830
anzusetzen.
Auch
in
Russland
setzt sich
die
Romantik
ähnlich
spät
durch,
nä1nlich
etwa
zwischen
1820
und
1840.
In
allen
genannten
Fällen
folgt
auf
die
jeweilige
nationale
Romantik
dann
unmittelbar
der
Realismus,
der
relativ
synchron
einsetzt.
Worin
besteht
nun
die
Eigenheit
dieser,
europäisch
gesehen,
zweiten
Romantikphase,
die
zeitlich
ja
in
etwa
mit
der
deutschsprachigen
Restaurationszeit-Literatur
zusa1nmenfällt?
Wie
stark
hier
die
Verwerfungen
gegenüber
dem
gennanistischen
Epochendenken
ausfallen,
in
CEu1'res
cornpletes:
Critique, hrsg.
v.
Jean Pierre
Reynaud,
Paris:
Robert
Laffont, 1985,
S.
r-44,
bes. 9,
17,
23.
1s Ronwntic
Prose
Fiction,
hrsg.
v.
Gerald Gillespie, Manfred Engel
und
Bernard Dieterle, Amsterdam:
Benjamins, 2008.
16
Vgl. etwa Tieck, Der
blonde
Eckbert
(1797);
Tieck/Wackenroder,
Herzensergi~ßungen
eines
kunstliebenden
Klosterbruders
(1796); Tieck, Franz
Sternbalds
Wanderungen
(1798); Wordsworth/Coleridge,
Lyrical
Ballads
(1798).
17 In
der
zweiten englischen
Romantikergeneration
sind
nur
Shelley
und
-
in
deutlich reduziertem
Maße
Keats -
zur
(europäisch gesehen) ersten
Romantikphase
zu rechnen;
weder
Byron
noch
Scott stehen
mit
ihr
in
irrrendeinem signifikanten Zusa1m11enhang.
IH
Zu
De~ails
vgl.
Manfred
Engel
und
Ji.ü·gen Lehmann,
'The
Aesthetics
of
German
Idealism
and
Its
Reception
in
European
Romanticism',
in
Nonjictional
Rornantic
Prose:
Expanding
Borders,
hrsg.
v.
Steven
P.
Sondrup, Virgil
Nemoianu
und
Gerald Gillespie, Amsterdam: Benjamins, 2004,
S.
69-96.
KoMPARATISTISCHE
KoNTUR1ERUNGSVERSUCHE
215
lässt sich
schon
allein
durch
einige
Autorennamen
zeigen:
Zur
französischen
Romantik
zählen
etwa
auch
Stendhal
(1773-1842)
und
Balzac (1799-1850),
zur
russischen
Gogol
(1809-1852)
und
Lermontov
(1814-1841).
Inhaltlich
ist diese
'zweite'
Rmnantik
vor
allein
durch
die
folgenden
drei
Merkmale
charakterisiert:
(1)
Eines
der
wichtigsten
Schlagworte
der
zweiten
europäischen
Romantikphase
ist
der
'Weltschmerz'-
auch
'Byronis1nus'
oder
'mal
du
siede'
(Musset, Confessions d'un enfant
de
siede,
1830)
genannt.'
9 Politisch
erklärt
er
sich aus
dem
Katzenjammer,
den
das
Münden
von
Revolution
bzw.
Befreiungskriegen
in
der
Restauration
ausgelöst
hatte,
allgemeiner
aus
dem
Aufeinandertreffen
von
romantisch-
idealistischen
Erwartungen
und
einer
diesen
Hohn
sprechenden
Wirklichkeitserfahrung.
Byron
ist
überhaupt
die
Leitfigur
dieser
zweiten
Phase
der
europäischen
Rmnantik,
in
der
allenthalben
schmerzliche
Dualismuserfahrungen
an
die Stelle
von
rmnantischen
Synthesen
treten.
(2)
Fonnal
ist
der
kleinste
gemeinsame
Nenner
ein
entschiedener
Antildassizismus,
die Absage
an
formale
Stilisierung
und
geschlossene
Formen,
wie
sie
schon
das
Hugo-
Zitat
ausdrückte.
(3)
Ohne
die
Kunstautonomie
einfach
aufzugeben
erscheint
die
Literatur
der
zweiten
Romantikphase
als
sehr
viel
st~irker
gesellschaftskritisch
und
zeitdiagnostisch.
Damit
reduziert
sich
auch
der
anti-mimetische
Gestus,
der
besonders
die
deutschsprachige
Früh-
und
Hochromantik
bestünint
hatte.
Diese
romantische
Literatur
ist 'realistischer',
ohne
dabei
doch
einfach
die
romantische
Aufwertung
der
Kunst
und
das
rmnantisch-
idealistische
Wertsystein
preiszugeben.
III.
Synthesevorschlag
Was
wären
nun
die
Konsequenzen,
die
sich aus dieser -
sehr
grob
skizzierten
-
komparatistischen
Perspektive
für
die deutschsprachige
Literatur
der
Restaurationszeit
ergeben?
Sie
der
europäischen
Spätrmnantik
zuzuschlagen,"0 ist
zwar
prinzipiell
richtig,
führt
aber
nur
in
Begriffsverwirrungen.
Denn
es
gibt
ja
ün
deutschsprachigen
Ramn
schon
eine
-
ganz
anders
konturierte,
politisch
meist
eher
konservative
-
Spätromantik,
zu
der
man
etwa
die
Spätwerke
von
Brentano,
Friedrich
Schlegel
und
Tieck
sowie
die
schwäbische
Rmnantik
um
Ludwig
Uhland
(1787-1862)
und
Justinus
Kerner
(1786-1862)
rechnen
könnte.
Und
die
hat
mit
der
Restaurationsliteratur
eben
nichts
gemein.
Für
wenig
erfolgversprechend
hielte
ich
es
auch,
die
zweite
europäische
Rmnantik-Phase
insgesamt
zum
'Biedermeier'
mnzuetikettieren,
wie
dies
Virgil
Nemoianu
1984
in
einer
in
der
Gennanistik
viel
zu
wenig
beachteten
Monographie
vorgeschlagen
hat"' -
obwohl
es
natürlich
nicht
ohne
Reiz
wäre,
der
deutschen
Fre1ndwortliste
im
Englischen
nach
'angst',
'kindergarten',
'pumpernickel',
'schadenfreude'
(etc.)
nun
auch
noch
das
'Biedermeier'
hinzuzufügen.
Und
auch
1nit
der
simplen
Erkenntnis,
dass die
Restaurationszeit
eine
Übergangsepoche
zwischen
Romantik
und
Realismus
darstellt
und
deswegen
ebensogut
als
'spätromantisch'
wie
als
'frührealistisch'
bezeichnet
werden
könnte,
wäre
nicht
viel
gewonnen.
19 V gl. Klaus Heitmam1,
'Der
Weltschmerz
in
den europäischen Literaturen',
in
Europäische
Rornantik
II,
hrsg.
v.
Klaus
Heitmann,
Wiesbaden: Athenaion, 1982 (=Neues
Handbuch
der
europäischen
Literaturwissenschrift,
Bd. 15),
S.
57-82;
Sengle, Bd.
1,
S.
1-33.
20
Wie
dies letztlich auch Sengle tut; Sengle, Bd.
3,
S.
1026-36.
21 Virgil
Nemoianu,
The
Tarning
qf
Rornanticisrn:
European
Literature
and
the
Age
of
Biedernwier,
Cambridge,
Mass.: Harvard UP, 1984.
216
MANFRED
ENGEL
Ich
versuche
im
Folgenden,
einen
möglichen
gennanistischen
Ertrag
der
komparat-
istischen Perspektive
wenigstens
grob
zu
skizzieren
(und
gebe
dabei
gleich
zu,
dass
ich
mich
dabei
auf
einer
prekär
hohen
Abstraktionsebene
werde
bewegen
müssen).
Wenn
man
mir
eine
möglichst
knappe
Definition
der
Ronuntik
abverlangen
würde,
so
würde
ich
sie als die erste
dezidiert
Moderne-kritische
Epoche
der
Literaturgeschichte
bestimmen.
Kritik
an
Modernisierung
meint
hier
noch
nicht
Kritik
an
den
Folgelasten
von
Technifizierung,
Industrialisierung,
Verstädterung
etc. -
einfach
weil
es
all dies
damals
im
deutschsprachigen
Raum
noch
nicht
gab. Es
meint
vielmehr
Kritik
an
den
Folgelasten
der
Aufklärung,
die sich
in
der
sozialen
Lebenswelt
allenfalls
in
umfassender
Legalisierung
und
Administrierung
und
ersten
Ansätzen
zu
einer
arbeitsteiligen
Existenz
niedergeschlagen
hatten.
Modernisierungskritik-
wie
sie sich
etwa
in
Schillers Ästhetischen
Briefen
oder
den
Schriften
der
Frühromantiker
zeigt-
ist
ein
Überbau-Phänomen,
eine
Intellektuellenkritik,
die sich
vor
allem
an
neu
entstandenen
Weltanschauungs-
und
Mentalitätsdefiziten
entzündet.
Kritisiert
werden
empirischer
Determinismus,
Material-
ismus,
Zweckrationaliüit,
gefühllose
Sachlichkeit
und
Sinndefizite
gegenüber
den
alten
symbolischen
Weltbildern.
Darauf
antwortet
die
Romantik
nicht
etwa
durch
die
Regression
in
vormoderne
Gewissheiten.
Ihr
Streben
nach
einer
'Poetisierung'
und
'Romantisierung'-
man
könnte
auch
sagen:
Wieder-Verzauberung-
der
Welt
gründet
ja
nicht
auf
der
Reetablierung
von
christlicher
Transzendenz,
sondern
auf
der
konsequent
Ü11111anenten
Verankerung
einer
spirituellen,
transmateriellen
Dimension
in
der
Natur
und
ün
menschlichen
Inneren.
Durch
die
Privilegierung
der
Phantasie
unter
den
111enschlichen
Erkenntnisvermögen
wird
dabei die
aufklärerische
Emanzipation
des
Individuums
nicht
zurückgenommen,
sondern
eher
noch
gesteigert
-freilich die eines
Individuums,
das
sich,
auf
ganz
undogmatische
Weise, 'religiös',
durch
'Glauben'
und
'Liebe',
in
den
Zusam-
menhang
des
Ganzen
eingebunden
weiß.
Der
Weltschmerz
der
Restaurationszeit
ist
vor
diesem
Hintergrund
zunächst
einmal
aus
einer
Krise
des
rmnantischen
Überbaus
zu
erklären:
Geschichtsphilosophisch
gegründete
Zukunftshoffnungen
zerbrechen
an
der
Restauration;
die
Folgelasten
der
Modernisierung
werden
nun
auch
materialiter
erfahrbar;
die
'Geistnatur'
erscheint
zunehmend
als
'Triebnatur'
(Odo
Marquard),
22
die 111enschliche
Lebenswelt
als
Reich
eines
unbeeinflussbaren
'Geschehens'. So
wie
die
beginnende
Romantik
auf
das
Scheitern
der
Aufklärung
geantwortet
hatte,
so
antwortet
die
beginnende
Restaurationszeit
auf
das
Scheitern
des
romantischen
Projektes
einer
'Romantisierung'
der
Wirklichkeit-
und
geht
darin
deutlich
weiter
als die zeitparallele
zweite
Phase
der
europäischen
Romantik.
Auf
diesen
rmnantischen
Katzenjammer
gibt
es
in
der
Zeit
zwei
Antworten:
den
Versuch, die
neuen
Wirklichkeitserfahrungen
durch
verstärkte
poetische
Sinnfügungen
zu
positivieren,
und
den
Versuch, das
romantische
spirituell-idealistische
Weltdeutungssystenl
konsequent
auf
eine
materielle