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Auszug aus:
Unterrichten aus Leidenschaft?
Eine Anleitung zum Umgang mit Lernblockaden,
widerständigem Verhalten und institutionellen Strukturen
Joachim Bröcher
Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2001
S. 231-239
Bleiben Sie offen für die Vielfalt an
menschlichen Lebensstilen
Bleiben wir noch ein wenig beim Thema Sexualität und Erotik. Pädagogen ha-
ben es offenbar nicht leicht, eine diesbezügliche Position zu finden, wie das fol-
gende Beispiel zeigt.
Neulich traf ich meinen Studienfreund Hansgerd. Es war während einer
mehrtägigen Fortbildung, die sich um Burnoutprophylaxe drehte. Wir hatten uns
seit dem Abschluss des Lehrerstudiums nicht mehr gesehen. Abends beim Bier
kamen wir ins Erzählen. Zwar hatte ich eine andere Fächerkombination studiert
als Hansgerd, doch lernten wir uns zu Beginn der achziger Jahre im Rahmen ei-
ner sexualpädagogischen Seminarreihe an der Universität zu Köln kennen, die
sich von beiden Studiengängen aus belegen ließ. Nun saßen wir, fast zwanzig
Jahre später, auf den Barhockern in der Waldvilla Hasenwinkel. Hansgerds di-
ckes strohblondes Haar sah aus, als hätte er es gerade erst in den Scheitel gelegt.
Durch die nach vorne gebeugte Haltung bekam sein Oberkörper etwas Stierna-
ckiges. Kariertes Hemd, darunter Bauch. Hansgerd arbeitete als Lehrer für Erd-
kunde und Biologie an einer Realschule.
Joachim: Was machst du so? Immer noch Käfer-Forschung?
Hansgerd: Du erinnerst dich daran?
Joachim: Na klar doch. Bockkäfer, Rüsselkäfer, Totengräber und wie sie alle
heißen... Wie war noch mal das Thema deiner Examensarbeit an der Uni?
Hansgerd: Heteroptera und Homoptera als Hauptgruppen der Schnabelkerfe und
ihre Abgrenzung zu den Käfern... Lang ist´ s her...
Joachim: Noch mal langsam! Homoptera: Sind das nun schwule Käfer?
Hansgerd: Nein, Schnabelkerfe.
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Joachim: Also homosexuelle Schnabelkerfe?
Hansgerd: Entschuldige mal! Im Tierreich gibt es unter natürlichen Lebensbe-
dingungen keine Homosexualität. Die Menschen sollten einfach die Natur
studieren, dann wüssten sie, was für sie selber gut ist.
Joachim: Was ist denn nun der Unterschied zwischen Käfern und Schnabelker-
fen?
Hansgerd: Die Käfer sind höher entwickelt als Wanzen und Pflanzensauger. Be-
sonders die Homoptera durchlaufen eine unvollkommene Metamorphose.
Ich habe das Thema in meiner zweiten Staatsarbeit weiter bearbeitet. Aller-
dings unter didaktischen Aspekten.
Joachim: Und wieso sind Käfer höher entwickelte Insekten?
Hansgerd: Die Käferlarve durchläuft eine Reihe von Häutungen, an deren Ende
eine Ruhepause steht: das Puppenstadium. In diesem Stadium geschieht die
unglaubliche Verwandlung, bei der die gesamte larvale Zellstruktur aufge-
brochen und zu dem erwachsenen Insekt neu kombiniert wird. Es ist wie bei
einem komplizierten Puzzle. Nach einem bestimmten Zeitraum entschlüpft
der Puppe das fertige Insekt.
Joachim: Die Käfer haben es dir aber angetan.
Hansgerd: Sie sind für mich zu einem regelrechten Lebensmodell geworden. Ich
mache viel Unterricht darüber, auch Exkursionen mit meinen Schülern.
Joachim: Nicht schlecht.
Hansgerd: Weißt du noch, damals im Seminar von Professor Pfahl?
Er nahm einen Schluck Bier.
Joachim: Oh, ja. Der hatte was drauf. Das waren vielleicht Seminare... Ich seh´
dich noch im Wasser toben zwischen all´ den Studentinnen...
Der Kommilitone schaute etwas verlegen zur Seite, dann auf seinen Ehering.
Joachim: Ich höre ihn noch reden, zum Zusammenhang von biographischer Er-
fahrung, Körpererleben und der späteren beruflichen Praxis als Lehrer. Und
immer diese furchtbaren Psychodrama-Übungen.
Hansgerd: Ja, es war manchmal ein ziemliches Geschrei. Ob das wirklich nötig
war? In der Mittagspause dann zur allgemeinen Erholung zum Wasserball
ins Hallenbad des Tagungshauses.
Joachim: Und wie Pfahl das begründete: Aus psychologischen Überlegungen,
die sich aus dem weiteren Verlauf des Seminars ergeben, ist es unbedingt
notwendig, ohne Kleidung an diesem Spiel teilzunehmen. Wer nun gar nicht
will, kann selbstverständlich wegbleiben, allerdings fehlen Ihnen dann wich-
tige Grundlagen für den weiteren Seminarprozess.
Wir lachten und tranken. Die Bar füllte sich allmählich. Heiterkeit machte sich
breit.
Hansgerd: Der Gedanke an das Wasserballspiel hat mich damals ziemlich..., ach
was. Pfahl frönte seinen erotischen Obsessionen. Nichts weiter. Einmal sag-
te er doch, seine Lieblingslektüre sei Mein geheimes Leben von Walter.
Joachim: Das passt. Weißt du noch? Wir hatten echt Spaß dabei, bespritzten uns
gegenseitig mit Wasser. Der Beckenboden war für das Wasserballspiel
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hochgefahren, sodass man beinahe in die Hocke gehen musste, um mit dem
ganzen Körper untertauchen zu können.
Hansgerd: Der Professor hatte offenbar an alles gedacht.
Joachim: Pfahl erschien immer erst dann, wenn schon alle im Wasser waren.
Stets braun gebrannt kam er daher. Selbstsicher, entspannt.
Hansgerd: Vom Beckenrand herunter begrüßte er uns. Er schien sich besonders
Zeit zu lassen und genoß es, sich den scheuen Blicken seiner Studentenge-
meinde zu präsentieren.
Joachim: Er liebte die Unschuld, die noch kindliche Neugier der Studenten, die
Tatsache, dass wir noch alles vor uns hatten.
Hansgerd: Das erregte ihn.
Joachim: Wir spielten auf zwei Plastikkörbe, die an den Kopfenden des Beckens
lagen.
Hansgerd: Wir ruderten von der einen zur anderen Seite und warfen uns den
Ball zu. Mit der Zeit wurde es immer ausgelassener.
Joachim: Weißt du noch? Editha, die Studentin mit dem rötlichen Haar? Wie
Magneten haben sich eure Körper angezogen.
Hansgerd: Komm hör auf! Was erzählst du da?
Joachim: Sie versuchte nach dem Ball in deiner Hand zu greifen, und machte
kleine, wippende Sprünge nach oben. Dann wurdest du von Pfahl zur Seite
ins Wasser gerissen und seltsam ineinander verhakt, tauchtet ihr beide unter.
Hansgerd machte eine wegwerfende Geste.
Joachim: Was ist los?
Hansgerd: Schon gut.
Er lachte etwas gequält.
Joachim: Komm, ich hol´ uns noch ein Bier.
Hansgerd: Am schlimmsten waren diese bioenergetischen Übungen im Wasser.
Weißt du noch? Ein Student, der auf dem Rücken durchs Wasser gezogen
wurde, schrie so laut, dass die Fensterscheiben klirrten.
Joachim: Anders war es mit Editha. Pfahl ergriff ihre Schultern und zog sie sanft
nach hinten. Sie ließ es geschehen. Und du nahmst Edithas Seite. Langsam
glitt ihr pfirsichfarbener Körper über die Wasseroberfläche.
Hansgerd: Editha lag völlig entspannt. Sie wirkte unberührt, unschuldig und statt
zu schreien, legte sich ein sanftes Lächeln auf ihr Gesicht. Der Professor
wirkte wie in Trance. Mit äußerster Sanftheit und Zärtlichkeit hielt er ihre
Schultern, dann zog er sie wieder zu sich heran, indem er erneut rückwärts
im Kreise ging, als sei sie aus äußerst zerbrechlichem Porzellan. Editha
rührte etwas in mir an, ohne dass ich hätte sagen können, was genau es war.
Hansgerds Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich verändert. Seine Augen schau-
ten ins Leere, zurück in die Zeit.
Joachim: Weißt du noch, unsere studentische Projektgruppe, damals in der
Wohngemeinschaft?
Hansgerd: Mit diesem furchtbaren Typ von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft für
sexualwissenschaftliche Studien.
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Joachim: Oh, das war ein echtes Original.
Hansgerd: Ich war eigentlich nicht in Stimmung für so etwas, entschied mich
dann aber doch, auch wegen des Leistungsnachweises in Erziehungswissen-
schaften.
Joachim: Ja, ja. Man musste erst die Wochenenden mit Pfahl absolvieren, dann
kam das theoretische sexualpädagogische Seminar, dann die Projektgruppe
und schließlich das Prüfungskolloquium.
Hansgerd: Hatten sie sich schön ausgedacht. Wissenschaftlich alles nicht halt-
bar. Wäre heute nicht mehr möglich.
Joachim: Wieso nicht?
Hansgerd: Gibt keinen Sinn. Zuviel Experiment. Der Geruch von Patchouli, wi-
derlich.
Joachim: Damals hast du das aber ganz anders gesehen. Weißt du nicht mehr?
Wir saßen auf dem Teppich. In der Mitte Tee, Räucherstäbchen, Ta-
bakpäckchen. An den Wänden Matratzen, Kissen mit selbstgefärbten Über-
zügen in lila, rosa.
Hansgerd: So was findest du heute nur noch im Museum. Und dieser verrückte
Axel mit all´ den Photokopien. Ich habe seine Stimme noch in den Ohren:
Den Artikel über die Zwangsmoral der Kleinfamilie hab’ ich euch für alle
Fälle auch mal kopiert. Hast du auch etwas über die Therapie sexueller Stö-
rungen da? hatte eine Studentin gefragt. Na klar, sagte der Graue mit der
Stirnglatze und warf seine lange Mähne in den Nacken. Ich hab’ euch auch
‘ne Literaturliste zu sexuellen Abweichungen und Perversionen zusammen-
gestellt.
Joachim: Dann die beiden androgyn aussehenden Frauen in langen selbst ge-
strickten Pullovern.
Hansgerd: Ah, Marlu und Sabine, hennarot gefärbtes Haar. Immerfort fielen sie
sich um den Hals. (mit affektierter Stimme:) Wahnsinn! Schön dich hier zu
sehen Bea!
Joachim: Die sind heute mit Sicherheit irgendwo die Frauenbeauftragten. Erin-
nerst du dich an Chris von der Anderen Fakultät?
Hansgerd: Das war vielleicht ein Spiel, was die Frauen da abhielten.
Joachim: Und dieser blonde Student mit Stirnglatze.
Hansgerd: Er hatte einen echt sinnlichen Mund..., wie hieß er doch gleich?
Joachim: Irgendwie hattet ihr beide es aufeinander abgesehen. Hieß er nicht
Manni?
Hansgerd: Spinnst du? Ich weiß nicht, was du meinst.
Joachim: Wir sollten uns einmal ausführlich mit dem Thema Selbstbefriedigung
auseinandersetzen, meinte die hennarote Bea doch eines Abends. Das The-
ma sei ja noch immer völlig tabuisiert. Ja findest du, auch in pädagogischen
Kreisen? hatte der Blonde mit den dicken roten Lippen kritisch eingewandt.
Die Kommilitonin ließ sich jedoch nicht von ihrem Thema abbringen. Bei
den Bürgerlichen ist die Masturbation ja wohl ziemlich tabu, hatte sie ge-
reizt zurückgegeben. Und wir, sind wir denn tatsächlich einen Schritt wei-
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ter? Also ehrlich Manni, würdest du mir denn bei einem Glas Wein etwas
von deinen frisch gemachten Masturbationserfahrungen erzählen? - Na ja,
dem Blonden wurde es jetzt etwas unbehaglich. Das käme vielleicht drauf
an, beendete er seinen Satz vage.
Hansgerd: Du hast den ganzen Kram aber noch gut abgespeichert. Ja, ich erinne-
re mich jetzt auch. Es gab eine ziemlich hitzige Debatte.
Joachim: Pfahl erzählte ja gerne von den Massenmasturbationen in den Hörsälen
der Freien Universität Berlin am Ende der sechziger.
Hansgerd: Das alles war schon ziemlich absurd.
Joachim: Ich sehe das Hauptproblem eher darin, dass wir es nicht gelernt ha-
ben, einander auf unverkrampfte Weise unsere sexuellen Wünsche und Be-
dürfnisse mitzuteilen, so oder so ähnlich ging jedenfalls Manni in die Offen-
sive. Was vor allem mit der sexuellen Sozialisation in der Kleinfamilie zu
tun hat, die ja zwangsläufig zu Kommunikationsproblemen auf diesem Ge-
biet führen muss, so kamen die immer gleichen Interventionen durch den
Typ von der Reich-Gesellschaft.
Hansgerd: Man muss sich das mal vorstellen. Heute gibt es ja kaum noch Klein-
familien. Alles ist in Auflösung begriffen.
Joachim: In der Tat. Doch damals am Ende der siebziger Jahre waren wir dies-
bezüglich doch an einem kritischen Punkt angelangt. So gesehen hatte der
Reich-Typ doch nicht Unrecht. Die Leute hätten einfach keine Lust mehr,
die ihnen übergestülpten Rollen zu akzeptieren. Die zwanghafte Monogamie
habe sich als Modell überlebt. Was wir bräuchten, sei mehr Experimentier-
freude, meinte er. Die Leute müssten raus aus ihren starren Rollenklischees,
ihren überholten, einengenden Verhaltensmustern und Einstellungen, erei-
ferte er sich.
Hansgerd: Ja und dann kam dieser furchtbar abgedrehte mindfucker von der
Wilhelm-Reich-Gesellschaft mit seinen üblen, perversen Aktionen.
Joachim: Genau. Aktionen an öffentlichen Orten, auch in den Institutionen.
Einmal waren sie doch mit langen Mänteln in das Foyer der Kölner Erzie-
hungswissenschaftlichen gegangen. Unter den Mänteln splitternackt. Dann
waren sie auf die herumstehenden Studenten zugegangen und hatten ihre
Mäntel aufgerissen.
Hansgerd: Mein Gott, was waren die alle abgedreht!
Joachim: Ging es dabei nicht um die Enttabuisierung und Entdramatisierung ex-
hibitionistischer Verhaltenweisen, wie Axel sagte? Dahinter ging es natür-
lich um mehr. Das eigentliche Ziel sah er in der Veränderung von Wahr-
nehmungsmustern.
Hansgerd: Alles Quatsch! Welche Wahrnehmungsmuster denn?
Joachim: Zum Beispiel die Orientierung an bestehenden Machtverhältnissen.
Chris´ Lieblingsthema war doch Herrschaft und Unterdrückung in sexuellen
Beziehungen, das heißt in Beziehungen überhaupt. Jahrhundertelang seien
die körperlichen Bedürfnisse von Frauen mit Füßen getreten worden. Das
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war ihr Leitspruch. Die Männer müssten einfach lernen, ihre weibliche Seite
anzunehmen und zu leben, pflegte sie dann zu sagen.
Hansgerd: Wenn es zu dämmern anfing, und der Himmel über dem großen
Dachfenster unserer WG sich allmählich dunkelblau färbte, nahmen wir die
Weingläser aus dem Ikea-Regal. Dann knipsten wir ein schummriges Lämp-
chen an, das auf einer umgestülpten Apfelsinenkiste stand.
Joachim: Hansgerd! (ich schlug ihn freundschaftlich auf die Schulter) Du bist
also immer noch ein Romantiker. Nur Blödsinn kann das also damals nicht
gewesen sein.
Hansgerd: Ach weißt du, ich bin seit mehr als zehn Jahren verheiratet. Ich habe
zwei Kinder. Manchmal wundere ich mich, dass ich nach all´ den Experi-
menten noch die Kurve gekriegt habe. Mensch hör´ zu, wir waren damals al-
le mehr oder weniger auf Abwegen. Sei doch mal ehrlich!
Joachim: Ja, findest du?
Hansgerd: Denk´ nur an Marlu. Die lesbische Liebe sei sicher ein Weg aus dem
Herrschafts- und Abhängigkeitsdilemma, meinte sie doch. Frauen erweiter-
ten so ihre sexuellen Erfahrungen, und die Männer hätten Zeit, sich zu ver-
ändern. Wie sollen da noch Kinder aufwachsen? So ein Irrsinn!
Joachim: Ja, das Thema haben wir oft durchgekaut. Die Schwulen als Vorreiter
in Sachen neuer Männlichkeit. Das war Marlus Leitspruch. Wenn es nach
Rudi ging, waren das eher die Bisexuellen. Allein diese integrierten in sich
das Aktive und das Passive, das Sanfte und das Aggressive, das Gebende
und das Nehmende. Yin und Yang eben.
Hansgerd: Und dann immer wieder Axel, der Prediger der sexuellen Revolution.
Die einfachen Leute sollten sich nach dem Willen des Unterdrücker-Staates
hübsch brav reproduzieren, damit man ihre Kinder weiter ausquetschen
könne, wenn sie selbst ins Gras gebissen hätten. Man gebe der Masse etwas
extra Futter, in Form von geilen Heftchen, Filmen, ein paar Geräte zum
Rumfummeln, so dass sie glaubten, sie hätten etwas ungeheuer Ausschwei-
fendes erlebt. Damit sie ihre tägliche Trübsal besser ertrügen, dürften sich
die Arbeiter ein paar Busen aufs Klo hängen und am Ende der zweiten Früh-
stückspause in die Bildzeitung wichsen. Die Menschen hielten sich so für
frei und doch unterlägen sie den auf Fremdsteuerung beruhenden Mecha-
nismen eines repressiven und ausbeuterischen Systems.
Joachim: Und was sagte Bea in Anbetracht solcher Diskurse? (mit affektierter
Stimme:) Das wird mir jetzt aber zu theoretisch.
Wir lachten aus voller Kehle.
Hansgerd: Und dass wir doch nicht vergessen sollten, dass wir hier mit unserem
ganzen Körper säßen und nicht nur mit dem Hirn und all´ dieses Zeug.
Joachim: Und dass wir jetzt sofort ein paar Weinflaschen aufmachen müssten.
Sie goss Rotwein in die leeren Gläser, die ihr von allen Seiten hingehalten
wurden. Mensch Leute, fuhr sie fort, spürt doch einmal in euren Körper
rein. Was sagt er euch jetzt, in diesem Augenblick? Spürst du irgendein Be-
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dürfnis, ich meine eines, das sich im Hier & Jetzt befriedigen ließe? Ich hät-
te jedenfalls Lust, Marlu den Pulli über die Ohren zu ziehen.
Hansgerd: Dann wandte sie sich an die neben ihr auf einem Meditationskissen
schwebende Marlu. Ich bin eigentlich schon lange scharf auf dich.
Joachim: Und der von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft erzählte von diesem
merkwürdigen Seminar. Sie waren zu zwölft gewesen, hatten splitternackt
einen mit weichen Matten und Kissen ausgelegten Raum betreten. Die ein-
zige Aufgabe bestand darin, mit den anderen Körperkontakt aufzunehmen
und dabei nach Möglichkeit die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu befriedi-
gen.
Hansgerd: Klingt irgendwie nach Poona. Statt dieses ganze nutzlose Theater
mitzumachen, hätte ich besser bei den Jesuiten studiert. Knallhart!
Joachim: Rudi und du, ihr rittet ganz schön auf dem Problem der Bisexualität
herum: Nun sag schon, Bernd, was ist an einem Männerkörper anders, dass
du ihn nicht lieben willst? Ihr habt den armen Kerl vielleicht in die Enge ge-
trieben. Wieso siehst du das heute so rigoros? Trink lieber noch ein Glas...
Hansgerd: Na ja, ... Auch damals wurde ordentlich nachgeschenkt. Ein Joint
machte die Runde. Ich sah mich verschwommen in dem Spiegel, der an der
Wand lehnte. Zwei Studentinnen zogen mir das Unterhemd über den Kopf.
Hennarotes Haar vor mir. Eine kräftige Hand strich mir von hinten über die
Brust... Tief in der Nacht wurde ich durch eine seltsame Empfindung ge-
weckt. Ich lag auf einer der Matratzen zwischen Bea und Manni...
Hansgerd und ich verabredeten uns für die Mittagspause zu einem Waldspazier-
gang. Es war im Frühsommer. Die Sonne schien warm in Wege und Lichtungen
hinein. Hansgerd trug gelblich-graue Mephistoschuhe und einen braunen
Blouson mit einem breiten, bunt gemusterten Streifen, der sich über Oberarme
und Rücken zog. Seine Haltung wirkte gedrungen. Mit Lupe und Spiegelreflex-
kamera bewaffnet, wollte er mir Pflanzen und Getier zeigen.
Hansgerd: Da, schau! Ein Siebenpunkt-Marienkäfer. Coccinella Septempuncta-
ta. Und dort! Ein Aaskäfer! Hier in der Natur kommt man doch erst zur Ru-
he.
Joachim: Wohl war. Ich muss noch an unser Gespräch von gestern Abend den-
ken.
Hansgerd: Inwiefern?
Joachim: Wo gibt es heutzutage noch Institutionen, die sich wohlwollend um
den Körper des Lehrers kümmern? Ich meine nicht nur in sexuell-erotischer
sondern auch in genereller Hinsicht. Warum erlassen die Landesregierun-
gen, die doch sonst jede kleine Trivialität des Lehrerdaseins regeln, von der
Beihilfefähigkeit eines neuen Brillengestells bis hin zum Sonderurlaubsan-
trag anlässlich der eigenen Bestattung, keine Richtlinien zur sexual wellness
im Lehrberuf? Statt die ausgelaugten Pädagogen reihenweise zu Ayurveda-
Massage oder zu Tantra-Yoga-Workshops abzuordnen, lassen die Beihilfe-
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stellen ihre Lehrkräfte auf immer mehr ihrer Krankheitskosten sitzen. Die
Bedürfnisse, Empfindungen, Glückschancen der zukünftigen Pädagogen
wurden damals sozusagen institutionell mitbedacht. Natürlich auch mit
Blick auf das, was so ein Lehrer zukünftig an seine Schüler weitervermittelt.
Vorbei die Zeiten, wo sich ein Universitätsinstitut weihevoll dieser un-
schätzbar wichtigen Aufgabe widmete.
Hansgerd: Gut so. Denn du meinst doch wohl nicht, dass sei damals bewusste
Intention einer universitären Sexualpädagogik gewesen? Ich würde eher sa-
gen, dass einige Professoren und Dozenten ihre dekadenten Leidenschaften
ausgetobt haben. Und wir waren die Versuchskaninchen.
Joachim: Wieso siehst du das so negativ?
Hansgerd: Weil der ganze Mist doch pädagogisch gar nicht zu vermitteln ist.
Sexualität als intensivierte Form der zwischenmenschlichen Kommunikati-
on. Gut und schön, doch wie willst du das heute noch vermitteln?
Wir betraten erneut eine Lichtung.
Joachim: Und das bläulich-grün schimmernde Käferchen hier? Wie heißt das?
Hansgerd beugte sich, die Kamera um den Hals hängend, nach unten. Das auf-
geschraubte Zoom pendelte zwischen seinen Schenkeln.
Hansgerd: Oh, ein seltenes Exemplar. Cicindela Sexguttata.
Joachim: Hübsches Tierchen.
Wir gingen weiter.
Hansgerd: Gut, dass das jetzt alles vorbei ist. Es war doch alles recht überstei-
gert ins Unnatürliche. Ich bin froh, dass ich heute Ordnung in mein Leben
gebracht habe.
Wir setzten uns zu einer Rast auf einen umgestürzten Baumstamm. Neben mir
krabbelte es erneut.
Joachim: Und der schwarze Käfer hier mit dem braunroten Nackenschild? Oder
ist es gar ein Schildnöck, ich meine ein Schnabelkerf?
Hansgerd: Du wirst es wohl nie lernen. Das ist Cantharius Rustica, auch Roth-
schild-Soldat genannt. Meist sitzt er auf frischem Blattgrün. Jetzt im Früh-
sommer sieht man sie oft bei der Paarung.
Wir schauten instinktiv zu dem Zweig über uns.
Joachim: Vielleicht ist er heruntergefallen.
Hansgerd: Die Paarung bei den Rothschilden dauert extrem lange. Manchmal
hocken sie über Stunden aufeinander.
Joachim: Käfer haben eben Zeit. Sie brauchen schließlich keinen Unterricht vor-
zubereiten.
Hansgerd: Und sie sind geschützt vor all´ dem obszönen visuellen Dreck, der
heutzutage aus Fernseh- und Videoapparaten, Telefonen und PCs quillt.
Durch die Entwicklung in den Siebzigern und Achtzigern wurde das alles
doch erst salonfähig und die angeblich so aufgeklärten Erziehungswissen-
schaften haben ihren Segen dazu gegeben.
Joachim: So betrachtet hat es eine Käferfamilie wirklich leichter.
Hansgerd: Was wir heute brauchen, sind positive Modelle, natürliche Vorbilder.
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Joachim: Und wo willst du die hernehmen?
Hansgerd: Wir finden sie in der Tier- und Pflanzenwelt. Der Mensch muss zu
sich selbst zurückfinden als einem Naturwesen, das allerdings eine geistige
Prägung und Kultivierung erfahren hat.
Joachim: Und wie willst du diesen Ansatz praktisch-didaktisch realisieren?
Hansgerd: Jedenfalls nicht durch akademisch initiierte Sexorgien, wie wir sie
damals erlebt haben.
Joachim: Soviel gesellschaftlichen Einfluss hatten die Intellektuellen aufs Ganze
gesehen nun auch wieder nicht. Die Masse folgt doch ihrer eigenen
Triebstruktur. Die gegenwärtige Entwicklung war ohnehin nicht aufzuhal-
ten. Die jahrhundertelang kirchlich zementierte Lustfeindlichkeit schlägt
jetzt ins krasse Gegenteil um. Wer von den Aufklärern hätte je diese Banali-
sierung des Sexuellen gewollt? Es ist wie verhext...
Hansgerd: Ein Ventil ist geöffnet worden... Darin lag der Fehler, vielleicht eine
Art von Schuld eben jener akademischen Vorreiter. Aufwertung von sado-
masochistischen und autoerotischen Praktiken, Liberalisierung des Partner-
wechsels in allen Beziehungen, Normalisierung von Homo- und Bisexuali-
tät, wo sind wir denn hingekommen?
Joachim: Und wie sieht dein Therapievorschlag aus?
Hansgerd: In die Natur gehen, beobachten, still werden. Persönliche Lebensmus-
ter überdenken. Das eigene Leben erneut am Plan der Schöpfung ausrichten.
Die Natur ist uns in allem das eigentliche Vorbild. Spielfreude und biologi-
sche Vielfalt, gut und schön. Aber es gibt auch eindeutige Grenzen, was
geht und was nicht geht. Basta.
Joachim: Ich würde es gerne glauben.
Wir schlenderten langsam weiter, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Vor den Lenden des Realschulkollegen baumelte starr das Zoom. Plötzlich blieb
Hansgerd stehen, zeigte auf ein saftiges Blatt. Darauf zwei dunkle, übereinan-
derhockende Käfer, auf deren Panzer es grünlich-gelb schimmerte.
Hansgerd: Hier! Oedemera Nobilis. Ein Pärchen bei der Fortpflanzung! Ihr
kommt mir wie gerufen, um meine These zu verifizieren! Welche Schönheit,
welche Einheit mit der Natur!
Joachim: In der Tat. Ich bin beeindruckt.
Hansgerd: Die Hinterschenkel der Männchen sind kräftig verdickt, irgendeine
Art von Waldsport werden die wohl machen, sind auch mit zehn Millimeter
ein wenig größer als die schlankbeinigen Weibchen.
Der Studienfreund griff nach seiner Lupe.
Hansgerd: Ich will mir das Schauspiel doch ein wenig aus der Nähe betrachten.
Der Kollege beugte sich über das Vergrößerungsglas. Jäh zuckte er zurück.
Hansgerd (stammelnd): Darf doch nicht wahr sein...
Er verlor für Sekunden das Gleichgewicht. Das strohblonde Haar klebte nass vor
seiner Stirn. Hansgerd stützte sich an einem Baumstamm ab.
Joachim: Sag´ schon, was ist? Geht es dir nicht gut?
Hansgerd (sehr leise): ...es sind zwei ...