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Keine Einbahnstraße. Wie Journalisten mit dem Publikum kommunizieren

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Abstract

In diesem Artikel für 'epd Medien' stelle ich zentrale Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes "Die (Wieder)Entdeckung des Publikums" vor, für das ich - gemeinsam mit Julius Reimer - von 2011 bis 2014 am Hans-Bredow-Institut Hamburg als Junior Researcher tätig war (Leitung: Wiebke Loosen, Jan-Hinrik Schmidt). Weitere Informationen zum Projekt unter: https://www.hans-bredow-institut.de/de/projekte/die-wieder-entdeckung-des-publikums
Keine Einbahnstraße
Wie Journalisten mit dem Publikum kommunizieren / Von Nele Heise
nDEBATTE n7
06.02.2015 · Nr. 6 nepd medien
epd Medienmacher sind auf ihr Publikum angewiesen.
Ohne die Leser, Hörer oder Zuschauer geht es nicht.
Doch lange Zeit orientierten sich Journalisten eher
an Kollegen in der eigenen Redaktion oder an den
Leitmedien als an den Wünschen und Erwartungen ihres
Publikums. Diese Asymmetrie gerät nicht zuletzt durch
neuartige Formen der Publikumsbeteiligung zusehends
ins Wanken.
Zum einen ist das Publikum längst kein „unbekanntes
Wesen“ mehr: In Online-Kommentarbereichen oder auf
sozialen Netzwerken werden die Aktivitäten und Mei-
nungen der Nutzer heute schnell und öffentlich sichtbar.
Journalisten können diese Anschlusskommunikation
des Publikums aber nicht einfach nur beobachten, sie
können auch Teil davon werden, indem sie sich über
zahlreiche Onlinekanäle direkt mit ihrem Publikum
austauschen.
Die Wünsche des Publikums
Zum anderen hat sich die Rolle der Rezipienten ge-
wandelt: In vordigitalen Zeiten war das wechselseitige
Verhältnis durch eine klare Rollenverteilung zwischen
Sender und Empfänger geprägt. Heute werden Beiträge
des Publikums immer häufiger Teil der Berichterstat-
tung. Nutzergenerierte Fotos oder Videos können bei
aktuellen Ereignissen für die Journalisten eine wertvolle
Informationsquelle und wichtige Ergänzung sein. Bis hin
zu Formen, bei denen die Nutzer direkt in die Recherche
und Produktion von Medieninhalten einbezogen werden.
Journalisten und Publikum, so scheint es, sind sich
heute näher als je zuvor. Aber welche Rolle spielt
Publikumsbeteiligung in deutschen Medienhäusern?
Stimmen die Wünsche des Publikums mit den Angeboten
und Vorstellungen der Journalisten überein? Und wie
verändert sich durch die gestiegene Sichtbarkeit und
Möglichkeiten der Beteiligung die Beziehung zwischen
Journalisten und Publikum?
Antworten auf diese Fragen suchte ein Forscherteam
des Hamburger Hans-Bredow-Institutes bei vier nach-
richtlich orientierten Medien und deren Online Ablegern:
der „Tagesschau“, einem wöchentlich ausgestrahlten
ARD-Polittalk, der „Süddeutschen Zeitung“ und der
Wochenzeitung „Der Freitag“. Das Team interessierte
sich unter anderem dafür, welche Beteiligungsformen
angeboten werden, wie sie von den Redaktionen und
dem Publikum konkret genutzt werden, und welche
Erwartungen beide Seiten daran knüpfen.
Grundsätzlich zeigen die Fallstudien, dass es das eine
Publikum nicht (mehr) gibt. Sei es über das klassische
Fernsehen oder die eigenen Webangebote: Journalisten
haben es heute mit einer Vielzahl an (Teil-)Publika zu
tun, die zum Teil sehr verschiedene Erwartungen an die
Medienmacher haben. Diese Fragmentierung verstärkt
sich weiter mit der Zunahme an Beteiligungskanälen.
Zu den eher traditionellen Formen wie Leserpost oder
Zuschauertelefon kommen Online-Kommentarbereiche
und vor allem die sozialen Netzwerke wie Facebook
oder Twitter, auf denen die unterschiedlichsten Nutzer-
gruppen aktiv sind.
Forschungsprojekt
epd Vier Wissenschaftler des Hans-Bredow-
Instituts haben von Herbst 2011 bis Sommer
2014 dazu geforscht, wie Journalisten die so-
zialen Medien nutzen, um mit dem Publikum
zu kommunizieren. Die Forscher Wiebke Loo-
sen, Jan-Hinrik Schmidt, Julius Reimer und
Nele Heise interviewten jeweils Redaktionsmit-
glieder und Nutzer der Angebote, außerdem
befragten sie die Redaktionen und ihr Online-
publikum und analysierten die Medienange-
bote. Ergebnisse der Fallstudien und weitere
Informationen zu dem von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderten For-
schungsprojekt „Die (Wieder)Entdeckung des
Publikums“ finden sich im Netz unter http://
jpub20.hans-bredow-institut.de.
Allerdings werden diese Beteiligungsmöglichkeiten vom
Publikum in sehr unterschiedlichem Maße genutzt. Dies
zeigt sich zunächst einmal am Anteil der „passiven“
Nutzer: Während er bei den zwei Print-Angeboten
vergleichsweise gering ist, hat sich jeweils fast die
Hälfte des Publikums der untersuchten TV-Angebote
noch nie aktiv beteiligt.
Als Hauptgründe für die Nicht-Beteiligung nennen die
Befragten, dass sie sich nicht bei den Online Angeboten
registrieren und keine persönlichen Daten preisgeben
möchten. Oder sie scheuen den (zeitlichen) Aufwand,
der etwa mit dem Schreiben von Leserbriefen oder dem
Kommentieren von Onlineartikeln verbunden ist.
Tatsächlich nutzt das aktive Publikum eher Beteili-
gungsformen, die einen geringeren Aufwand bedeuten,
wie zum Beispiel die Teilnahme an Umfragen oder das
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Bewerten („liken“) und Empfehlen von journalistischen
Beiträgen in sozialen Netzwerken. Insbesondere bei der
„Süddeutschen Zeitung“ und dem „Freitag“ tragen die
Social-Media-Nutzer maßgeblich zur Verbreitung und
zur Erhöhung der Reichweite von Inhalten bei, indem
sie Artikel im eigenen Freundeskreis teilen. Dies tun sie
jedoch vor allem auf Facebook - Dienste wie Twitter
oder Google Plus spielen kaum eine Rolle und sind eher
für ein Nischenpublikum interessant.
Alle weiteren Formen, die mehr Zeit und Einsatz er-
fordern, werden seltener genutzt. Viele Studien zeigen,
dass der Großteil des Publikums wenig Interesse daran
hat, sich einzubringen oder mit Journalisten auszutau-
schen. Ähnliches besagt die vielzitierte 90-9-1-Regel,
nach der die große Mehrheit der Nutzer eben keine
eigenen Inhalte beisteuert, sondern zu 90 Prozent aus
„Mitlesern“ besteht.
Die Meinungen anderer
Allerdings sagt die vermeintliche Passivität vieler für
sich genommen wenig über den Stellenwert der Betei-
ligungsangebote aus. So sind viele Nutzer zwar nicht
aktiv, aber sie verfolgen die Onlinediskussionen mit, um
zum Beispiel die Meinungen anderer Menschen und
unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema kennenzu-
lernen.
Beteiligungsformen können also für die eigene Mei-
nungsbildung von Bedeutung sein, sogar wenn man sich
selbst nicht aktiv einbringt. Dabei werden die „hauseige-
nen“ Kommentarbereiche in der Regel positiver bewertet
als die Diskussionen in sozialen Netzwerken. Und sie
werden auch häufiger genutzt, denn immerhin rund ein
Viertel der befragten Nutzer hat schon einmal auf den
Webseiten der untersuchten Medien mitdiskutiert.
Zur Frage, warum das Publikum überhaupt aktiv wird,
gehen die Einschätzungen aber auseinander. Die Jour-
nalisten vermuten eher, dass sich die Nutzer selbst
darstellen oder Dampf ablassen wollen - eine wenig
schmeichelhafte Wahrnehmung, die wohl auch von
negativen Erfahrungen mit Publikumsfeedback herrührt.
Die Nutzer wiederum beteiligen sich vor allem, um ihre
Meinung zu Themen einzubringen, die ihnen wichtig
sind, oder Perspektiven zu ergänzen, die ihnen in der Be-
richterstattung zu kurz kommen. Und natürlich möchten
sie auch etwas bei den Journalisten erreichen, wenn sie
auf Fehler hinweisen oder Kritik üben. Zugleich möch-
ten viele der aktiven Nutzer im Austausch mit anderen
Denkanstöße erhalten und ihr Wissen erweitern.
Ein weiterer Schwerpunkt der Studie galt der Frage,
welche Auswirkungen die wachsende Publikumsbeteili-
gung auf die Journalisten und ihre Arbeit hat. Zunächst
einmal bedeutet sie für die Medienhäuser einen erhöh-
ten Aufwand und eine Anpassung ihrer redaktionellen
Strukturen. Insbesondere die Betreuung der vielfälti-
gen Feedbackkanäle ist sehr zeit- und personalintensiv.
Denn sowohl die Journalisten als auch die Nutzer haben
gewisse Ansprüche an die Qualität der öffentlich ein-
sehbaren Beiträge des Publikums. So sollen zum Beispiel
die Online Diskussionen auf der eigenen Webseite auch
für diejenigen Nutzer von „Mehrwert“ sein, die nur
mitlesen und nicht selbst kommentieren.
Neue journalistische Rollen
Um diese selbst gesetzten Qualitätsstandards einzuhal-
ten, fließen vor allem in den beiden großen Redaktionen
„Tagesschau“ und „Süddeutsche Zeitung“ erhebliche
Ressourcen in die Beobachtung und Moderation von
Kommentarbereichen oder die Beantwortung von Feed-
back. Dazu kommen Aufgaben wie die Verifizierung und
Prüfung von nutzergeneriertem Material sowie die Aus-
wahl und Aufbereitung von Beiträgen für die Publikation,
zum Beispiel auf Leserbriefseiten. Da diese Aufgaben
längst nicht mehr nebenher bewältigt werden können,
entstehen mit sogenannten Community-Managern oder
Social-Media-Redakteuren gänzlich neue journalisti-
sche Rollen, die ihre beruflichen Profile und Positionen
in den Redaktionen teilweise aber erst noch finden
müssen.
Angesichts dieses erhöhten Aufwands identifizierten
die Forscher eine gewisse Schieflage: Einerseits sorgt
der eher kleine Teil des Publikums, der sich regelmäßig
intensiv beteiligt, für erheblichen Managementbedarf in
den Redaktionen. Andererseits scheint der unmittelbare
„Nutzwert“ der Beteiligungsformen für die Redaktionen
eher gering, denn die Beiträge des Publikums finden
kaum nennenswerten Niederschlag in den journalis-
tischen Produkten. Diese Schieflage wird besonders
deutlich bei der „Tagesschau“: Die Redaktion bietet
ihrem Publikum unter hohem personellen Einsatz viele
Beteiligungsformen an, die jedoch nur von einem kleinen
Teil der Nutzer in Anspruch genommen werden. Mit Aus-
nahme von gelegentlichen Augenzeugen-Videos oder
Fotos spielen die Beiträge des Publikums im eigentlichen
„Kernprodukt“, den täglichen Nachrichtensendungen, so
gut wie keine Rolle.
Etwas ausgewogener ist das Verhältnis zum Beispiel
beim Polittalk der ARD, dessen Redaktion zwar eher
wenige Beteiligungsmöglichkeiten bereitstellt, das Feed-
back des Publikums aber systematisch auswertet und
unter anderem als Recherchepool zur Vor- und Nach-
bereitung der wöchentlichen Sendungen nutzt.
Ob mit den strukturellen Veränderungen, die für die
Redaktionen ja in erster Linie einen höheren Aufwand
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bedeuten, auch ein kultureller Wandel im Journalismus
verbunden ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten.
Zu sehr sind der Stellenwert und der Umgang mit Pu-
blikumsbeteiligung abhängig davon, welche konkreten
Aufgaben die einzelnen Journalisten haben und wie
sie ihre eigene Rolle jeweils interpretieren. Auch die
redaktionellen Leitlinien und die Mutmaßungen der
Medienhäuser darüber, was das Publikum vom eigenen
Angebot erwartet, sind entscheidend.
Sorge um journalistische Unabhängigkeit
Dabei sind sich Nutzer und Journalisten der vier Fallstu-
dien relativ einig darüber, welche Art von Journalismus
man vom jeweiligen Medium erwartet. Für beide Seiten
sind ganz klassische Aufgaben wie die Versorgung mit
vertrauenswürdigen Informationen oder das Vermitteln
komplexer Sachverhalte nach wie vor wichtig. Das
Publikum erwartet hier in erster Linie professionell
gemachte und je nach inhaltlicher Ausrichtung der
Medienangebote sachlich neutrale oder kritisch einord-
nende Berichterstattung. Eine zu starke Orientierung
am Publikum lehnen beide Seiten, auch aus Sorge um
die journalistische Unabhängigkeit, ab.
Die „Tagesschau“ beispielsweise sieht es als öffentlich-
rechtliche Nachrichtensendung zwar als eine wichtige
Aufgabe an, den Nutzern eine Diskussionsplattform und
damit eine Möglichkeit zur öffentlichen Teilhabe zu
bieten. Zugleich scheinen die oft sehr subjektiv gefärbten
Kommentare der Nutzer nicht so recht zum eigenen
Anspruch an objektive Nachrichtenberichterstattung
zu passen. Und ein Teil des Publikums sieht dies ganz
ähnlich, was eine Erklärung für den hohen Anteil
nicht-aktiver Nutzer bei der „Tagesschau“ sein könnte.
Diese unterschiedlichen „Kulturen“ im Umgang mit Pu-
blikum lassen sich aber nicht nur zwischen den Medien,
sondern auch innerhalb der Redaktionen ausmachen. Bei
der „Süddeutschen Zeitung“ hat die Beteiligung, bedingt
durch den intensiven Kontakt mit den Nutzern über
die eigene Webseite und auf sozialen Netzwerken, in
der Online Redaktion einen höheren Stellenwert. Durch
verschiedene Maßnahmen wie die Aufwertung der Leser-
briefseiten in der Printausgabe, interne Seminare oder
die Einrichtung spezieller, auf Publikumskommunikation
ausgerichteter Redakteursstellen, versucht man diese
Unterschiede zwischen den Redaktionen schrittweise
zu überbrücken.
Große Beachtung fand im September 2014 die Ent-
scheidung der „Süddeutschen Zeitung“, ihren Dialog
mit dem Publikum neu zu organisieren. Viele Artikel
sind seither für die Nutzer nur noch auf den Social-
Media-Seiten in Facebook, Twitter oder Google Plus
kommentierbar. Die allgemeine Kommentarfunktion
auf der eigenen Webseite wurde eingestellt, da man
sich fortan auf „bessere“, von der Redaktion kuratierte
Diskussionen zu bestimmten Themen konzentrieren
will. Ein Schritt, der wohl auch vor dem Hintergrund
der Debatten zum Umgang mit Shitstorms, Hasskom-
mentaren oder der zunehmenden Instrumentalisierung
von Online-Diskussionen durch (politisch) motivierte
Kommentatoren zu sehen ist.
In den untersuchten Redaktionen sind es häufig jene
Mitarbeiter, die ohnehin im Kontakt zu den Nutzern
stehen, die den Austausch mit dem Publikum stärker
als Teil ihrer journalistischen Aufgabe sehen und die
Auffassung vertreten, dass der Journalismus insgesamt
dem Publikum mehr Möglichkeiten zur Beteiligung
bieten sollte. Eine Haltung, die sich auch auf der
Publikumsseite widerspiegelt: Gerade die Nutzer, die sich
bereits aktiv einbringen, halten Beteiligungsangebote
für besonders wichtig und erheben den Anspruch, von
den Journalisten gehört zu werden. Zumindest ein Teil
des Publikums scheint sich also an das Mitmachen in
den Medien gewöhnt zu haben. Konflikte entstehen dort,
wo die Nutzer das Gefühl haben, dass die Journalisten
ihre Anliegen nicht wahrnehmen oder es an Transparenz
fehlt.
Der Wunsch des Publikums nach Transparenz ist ein
Aspekt, den die Journalisten in allen vier Fallstudien
klar unterschätzen. Viele möchten zum Beispiel mehr
darüber erfahren, auf welchen Quellen und Fakten
die journalistischen Beiträge und Einschätzungen be-
ruhen. Dabei zeigt sich, dass die Nutzer oft nur wenig
darüber wissen, wie und unter welchen Bedingungen
im Journalismus gearbeitet wird. Außerdem ist vielen
Nutzern nicht klar, nach welchen Kriterien ihre Beiträge
bearbeitet und ob sie von den Journalisten überhaupt
wahrgenommen werden.
Anstrengendes Feedback
Doch nicht nur der als intransparent empfundene Um-
gang mit Publikumsbeteiligung ist aus Sicht der Nutzer
unbefriedigend. Sie erwarten auch mehr Kommunika-
tion seitens der Redaktionen: Die Journalisten sollten
sich stärker in den Diskussionen beteiligen und den
Dialog mit dem Publikum suchen. Dass es den einzelnen
Redakteuren oft schlichtweg an der Zeit fehlt, auf
Fragen oder Kritik einzugehen, ist vielen Nutzern gar
nicht bewusst.
Oft scheuen die Journalisten die direkte Auseinan-
dersetzung mit den Nutzern aber auch, weil sie die
Tonalität des Publikumsfeedbacks als unangemessen
oder anstrengend empfinden. Ein Teil der Journalisten
scheint sich aber mit den neuen kommunikativen Anfor-
derungen, die die Publikumsbeteiligung mit sich bringt,
generell schwer zu tun.
Obwohl die gegenseitige Wahrnehmung von Journalis-
ten und ihrem Publikum in Zeiten von sozialen Medien
verstärkt durch direkte Erfahrungen geprägt ist, sehen
viele Journalisten ihr Publikum also eher nicht als
Dialogpartner. Dies mag auch daran liegen, dass sich
die Bedeutung neuer Beteiligungsformen aus Sicht der
Journalisten fast ausschließlich am Nutzwert für die
eigene Arbeit bemisst. Ihnen geht es vor allem um
die (ökonomisch motivierte) Publikumsbindung und die
Erschließung neuer, junger Zielgruppen, und weniger um
Beteiligung im Sinne der Mitgestaltung von Inhalten.
Häufig geht es dabei auch um Fragen der journalisti-
schen Autorität und um die Qualität der Publikumsbei-
träge: Wie weit darf und soll der Einfluss des Publikums
gehen? Wer behält die Kontrolle über Inhalte? Und wie
viel Beteiligung ist überhaupt mit dem eigenen journa-
listischen Produkt vereinbar? Hier ziehen Journalisten
wie Nutzer, gerade bei den auf seriöse Nachrichten
fokussierten Medienhäusern, klare Grenzen: Kommen-
tieren und Feedback zur journalistischen Arbeit geben,
ja. Sich zu stark ein- oder gar mitmischen soll das
Publikum aber nicht. Eine echte Ausnahme ist hier der
„Freitag“, bei dem die Einbettung von Nutzerartikeln
und der Austausch mit den Nutzern ganz bewusst Teil
des journalistischen Angebotes sind.
Einzigartiges Forum
Nach Übernahme der Geschäftsleitung durch Jakob
Augstein im Mai 2008 erfolgte bei „Der Freitag“ eine
umfassende optische wie inhaltliche Neuausrichtung
der Printausgabe. Im Zuge dessen wurde auch das
Onlineangebot konsequent hin zu einer verstärkten
Einbindung der Nutzer umgestaltet. Dabei spielt vor
allem die sogenannte Community auf „freitag.de“ eine
entscheidende Rolle: Dort können die Nutzer nicht nur
Artikel kommentieren, diskutieren oder sich untereinan-
der vernetzen, sondern auch eigene Beiträge schreiben
(„bloggen“), die direkt und weitgehend unredigiert
veröffentlicht werden.
Die meisten Nutzer schätzen diese inhaltliche Gestal-
tungsfreiheit und nehmen die Community als ein in
deutschen Medien einzigartiges Forum wahr, das gleich-
berechtigt von der Redaktion und den rund 12.000
Community-Mitgliedern gestaltet wird.
Zugleich finden sich Beiträge des Publikums in den jour-
nalistischen Produkten des „Freitag“ wieder: So werden
besonders gelungene Nutzertexte auf der Startseite
von „freitag.de“ empfohlen oder, nach redaktioneller
Überarbeitung, in Themen- und Ressort-Cluster der
Redaktion eingebunden. Unter der Rubrik „Netzschau“
werden zudem Auszüge aus den Beiträgen der Commu-
nity in der Printausgabe veröffentlicht, womit man die
Leser auch auf die Webseite und die dortigen Beteili-
gungsmöglichkeiten aufmerksam machen möchte. Die
Einbindung des Publikums geht so weit, dass einzelne
Community-Mitglieder hin und wieder von der Redak-
tion angefragt werden, um als bezahlte Autoren für die
Printausgabe zu schreiben.
Der Dialog und der Aufbau einer Beziehung zum Pu-
blikum sind für die „Freitag“-Redaktion stärker als bei
anderen Teil ihres journalistischen Selbstverständnisses.
Die Journalisten beteiligen sich an Diskussionen mit
den Community-Mitgliedern, wodurch die Debatten
erfahrungsgemäß aufgewertet werden. Auch werden
die Nutzer um Feedback gebeten, wenn etwa Verände-
rungen an der Webseite anstehen.
Neben der inhaltlichen Ausrichtung des linksliberal
orientierten „Meinungsmediums“ scheint sich vor allem
die Strategie einer weitreichenden Publikumsbeteili-
gung positiv auf die Leserbindung und Identifikation
des Publikums mit dem Angebot auszuwirken: Viele
befragte Nutzer besitzen ein Print-Abonnement, um den
„Freitag“ als Projekt zu unterstützen und die Webseite
querzufinanzieren. Als Medium mit kleiner Auflage ist
„Der Freitag“ allerdings auch überdurchschnittlich davon
abhängig, dass die Nutzer die redaktionellen Inhalte
über soziale Netzwerke teilen und damit die Reichweite
und die Bekanntheit des Angebots steigern.
Letztlich stellt Publikumsbeteiligung für die Medienma-
cher einen kontinuierlichen Balanceakt dar. Einerseits
will man die Wünsche und das Feedback des Publikums
stärker einbeziehen. Andererseits sind der Beteiligung
Grenzen gesetzt: Was den „Nutzwert“ der Publikums-
beiträge und deren Vereinbarkeit mit dem eigenen
journalistischen Produkt anbelangt, aber auch mit Blick
auf die dafür notwendigen Ressourcen. Es scheint daher
kaum verwunderlich, dass einige Medienhäuser ihre
Beteiligungsangebote mittlerweile wieder einschränken.
Ob ein solcher Schritt in Zeiten, in denen die Kluft
zwischen Medien und Publikum sowie das Misstrauen
gegenüber der Berichterstattung größer zu werden
scheint, der richtige ist, bleibt fraglich. Im Gegenteil,
meinte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen
im Interview mit dem „Tagesspiegel“: Offenheit, Trans-
parenz, Erklärungswille und eine dialogische Haltung
der Journalisten seien gefragt, um die verloren ge-
gangene Glaubwürdigkeit zurückzuerobern. Auch der
„Freitag“-Redakteur Jan Jasper Kosok hält eine Abkehr
vom Austausch mit dem Publikum für fatal: „Mehr
Dialog ist notwendig, nicht weniger.“ n
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Im digitalen Zeitalter wandelt sich das Verhältnis von Journalismus und Publikum fortlaufend. Manche journalistischen Websites bieten Kommentarfunktionen, andere ermöglichen es den LeserInnen, selbst Artikel zu schreiben. Die kommunikationswissenschaftliche Theorie stellt diese neue Sichtbarkeit des Publikums vor Probleme: Tradierte theoretische Modelle zum Verhältnis von Journalismus und seinem Publikum vermögen es nicht angemessen, die neuartigen Interaktionsverhältnisse zu beschreiben. Das recht neue heuristische Modell der Publikumsinklusion versucht, Nutzerpartizipation in einen aktuellen analytischen und theoretischen Rahmen einzubetten. Die Modellierung wird in diesem Beitrag auf ihre Tauglichkeit als Erklärmodell hin untersucht und diskutiert.
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