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01 | 2016 www.foerdermagazin.de Sekundarstufe
der „Daily Behavior Report Card“, im
Rahmen von Check-In/Check-Out oder
Check & Connect oder durch Trainings
sozialer Ver haltensweisen. Für die
Gruppe mit hohem Risiko (Tier III)
werden vom schulinternen „Behavior
Support Team“, gegebenenfalls unter
Einbindung externer Experten, indivi-
duelle Interventionen entwickelt. Am
Anfang stehen Verhaltensanalysen,
auf deren Grundlage ein individueller
„Behavior Support Plan“ ent wickelt
und dann Interventionen durchge-
führt werden. Zusätzlich wird auf Tier
III eng mit den Erziehungsberechtig-
ten und interpro fessionellen Netz-
werkpartnern zusammengearbeitet.
Begleitend werden kontinuierlich
Daten erhoben und ausgewertet,
auch alle verschriftlichten Hinweise
auf Problemverhalten, die im schuli-
schen Alltag anfallen. Es wird fort-
während evaluiert, wer auf welcher
Stufe mit welchem Erfolg gefördert
wurde, um dann zu überlegen, ob die
bisherige Förderung beendet, fortge-
setzt oder durch adäquatere Maß-
nahmen ersetzt werden sollte. Für
die wirksame Implementierung von
PBIS an einer Schule müssen 3 bis 5
Jahre veranschlagt werden.
Die „Association for Positive Behavior
Support“ (APBS) bietet eine welt
-
weite Plattform für den Erfahrungs-
austausch und die Weiterent-
,School-wide Positive Behavior Inter-
ventions and Supports‘, abgekürzt
PBIS, bezeichnet ein seit den 1990er
Jahren in den USA entwickeltes, daten-
und evidenzbasiertes schulübergrei-
fendes System der Verhaltenssteue-
rung und des Verhaltenstrainings für
inklusive allgemeine Schulen. Viele
PBIS-Elemente werden auch im För-
derschulbereich angewendet.
PBIS funktioniert, wie die datenbasier-
te Lernförderung, nach dem dreistufi-
gen Response-to-Intervention-Modell
(RTI). Dabei zeigt die systematische
Erhebung und Auswertung von Da-
ten, welche Schülerinnen und Schüler
eine intensivere, individuellere Förde-
rung bekommen sollen.
Allein in den USA wird PBIS mit sei-
nen pädagogischen, didaktischen
und sozialpädagogischen Interventi-
onen, diagnostischen Tools und qua-
litätssichernden Prozessen von ca.
40.000 Schulen angewandt.
Zunächst wird auf der ersten Stufe
(=Tier I) mit allen Schülerinnen und
Schülern einer Schule im präventiven
Sinne gearbeitet, um Verhaltenswei-
sen aufzubauen und zu festigen.
Zugleich geht es um das schulweite
Etablieren von klaren verhaltensbe-
zogenen Regeln und Erwartungen.
Hierzu werden etwa das „Good Be-
havior Game“ oder „Class-wide Peer
Tutoring“ angewandt, ferner syste-
School-wide Positive
Behavior Support
Reponse-to-Intervention bei Förderbedarf im Verhalten?
Joachim Bröcher Au≠älligkeiten im Lern- und Sozialverhalten sind ein Dauerthema an Schulen. Deutschland verfügt jedoch
nicht über ein systematisches, evidenzbasiertes und schulübergreifendes Modell, wie es die Amerikaner entwickelt haben.
matisches verhaltensspezifisches
Lob. Auch didaktische Modifizierun-
gen, etwa das sorgfältige Aufsplitten
von komplexen Lernprozessen in
überschaubare Schritte, die kontinu-
ierliche Möglichkeit der Lernenden,
sich im Rahmen des Unterrichts mit-
zuteilen, Formen des direkten Unter-
richts und das Anbieten von Wahl-
möglichkeiten beim Lernen, sind hier
von hoher Bedeutung, denn das enge
Ineinander von Lern- und Verhaltens-
problemen gilt als empirisch belegt.
Zwei bis drei Mal im Jahr findet ein
Scr
eening aller Schülerinnen und
Schüler mit evidenzbasierten dia-
gnostischen Verfahren, etwa der
„Student Risk Screening Scale“, statt.
So kann festgestellt werden, wer
welchen Förderbedarf im Bereich
der emotionalen und sozialen Ent-
wicklung aufweist. Mithilfe eines
Punktesystems lassen sich bei der
Auswertung drei Gruppen bilden:
1. hinreichend gut entwickeltes Lern-
und Sozialverhalten, in der Regel
80–85 Prozent einer inklusiven
Schule (Tier I). 2. At risk-Gruppe, ca.
10–15 Prozent der Schüler (Tier II)
und 3. Gruppe mit hohem Risiko,
etwa 3–5 Prozent (Tier III).
Während auf Tier I mit allen kontinu-
ierlich präventiv gearbeitet wird, wer-
den die Schülerinnen und Schüler auf
Tier II intensiver gefördert, etwa mit
Die Poster finden Sie im
Internet unter
www.foerdermagazin.de/
foms20160139.
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Sekundarstufe www.foerdermagazin.de
01 | 2016
alitäten auseinanderzusetzen. Dieser
Aspekt aber kommt in der gesamten
RTI- und PBIS-Theoriewelt nicht vor.
Resümee
PBIS bietet deutschen Schulen eine
bisher nicht vorhandene, schulüber-
greifende, evidenzbasierte Systema-
tik für das Au∂auen und Steuern
von Verhalten. Das Modell beinhaltet
ein enges Ineinandergreifen von dia-
gnostischen Erhebungen und Inter-
ventionen. Die Implementierung von
PBIS ist zugleich mit einem hohen
Grad an Funktionalisierung, Standar-
disierung und Mechanisierung ver-
bunden. An dieser Stelle zeigten sich
bei den Münchner PBIS-Trainings
vielfach Diskrepanzen im Hinblick
auf die Bildungsideale und Rollenver-
ständnisse von Teilen der Schulkolle-
gien. Die Frage ist, ob sich in den
nächsten Jahren eine kulturelle Ad-
aptierung von PBIS für Deutschland
entwickeln lässt, die das hierin lie-
gende Potenzial erschließt und die
zugleich mit den deutschen Bil-
dungskonzepten vereinbar ist.
Literatur
Bröcher, J. (2014): Schoolwide Positive Beha-
vior Support (PBIS) in German Schools: Ko-
operatives Forschungsprojekt von Münchner
Schulstiftung Ernst v. Borries und Europa-
Universität Flensburg. Trainingsposter No.
1-9. Zum Download: http://www.foerderma-
gazin.de/foms201601
Bröcher, J. (2015): Implementing School-wide
Positive Behavioral Interventions and Sup-
ports (PBIS) in German Schools. In Higgins, B.
(Ed.), Goal setting and personal develop-
ment (pp.101-151). New York. Online verfüg-
bar: https://novapublishers.com/catalog/
product_info.pfp?products_id=56781
Prof. Dr. Joachim Bröcher •
Institut für Sonderpädagogik
• Universität Flensburg • www.bröcher.de
Contra
Wie alle anderen RTI-Modelle auch
wird PBIS die in unserem Schulsys-
tem vorherrschenden Funktionalisie-
rungstendenzen nur noch weiter ver-
stärken und die Entfremdung auf
Seiten der Lernenden wie der Lehren-
den erhöhen. Das ständige Erheben
von Daten, die standardisierten
Strukturen und Prozesse, die vom ge-
samten Schulkollegium umgesetzt
werden müssen, die Einengung des
professionellen Handelns auf rein
evidenzbasierte Interventionen führt
zu einer qualitativen Verflachung im
Erleben von Lehrkräften und Schü-
lern. An die Stelle einer partizipati-
ven, am Bildungsideal der Freiheit
ausgerichteten, lebendigen, oftmals
situativen und intuitiven Pädagogik
treten apparative System- und Steu-
erungsmechanismen. An die Stelle
von Prozesshaftigkeit und O≠enheit,
auch für das Ungeplante und Über-
raschende, tritt Drill. RTI ist eine Ma-
schine, die auch die Lehrkräfte selbst
instrumentalisiert. Begri≥ichkeiten
wie Tier I, Tier II, Evidence-Based
Practices, Data-Based Decision-Ma-
king haben etwas Konditionierendes,
das Denken Einengendes. Die
Münchner PBIS-bezogenen Lehrer-
trainings lassen erwarten, dass sich
Teile der deutschen Schulkollegien
sehr schwer tun werden mit der
ständigen Verstärkung von positivem
Verhalten durch Lob und Bonuspunk-
te, oder mit den schematischen, rein
funktionsbasierten, behavioristi-
schen Verhaltensanalysen und Inter-
ventionen auf Tier III. In die Tiefe ge-
hendes, mitunter psychoanalytisch
inspiriertes Sinnverstehen ist hier
nicht vorgesehen. Der Förderschwer-
punkt der emotionalen und sozialen
Entwicklung benötigt neben dem
reinen Verhaltenstraining aber auch
Strukturen, die Schülerinnen und
Schülern ermöglichen, sich mit der
Komplexität heutiger pädagogischer,
kultureller und gesellschaftlicher Re-
wicklung von PBIS in Wissenschaft
und Praxis. Die Website www.pbis.org
hält Materialien zum freien Down-
load und ein dichtes Netzwerk von
Ansprechpartnern vor, die den Schu-
len beim Implementieren von PBIS
zur Seite stehen.
In Europa begann vor 8 Jahren als ers-
tes Norwegen PBIS an seinen Schulen
zu verwenden, gefolgt von Dänemark,
Island und den Niederlanden. PBIS
in Reinform findet sich bisher in
Deutschland kaum, dafür breiter
angelegte RTI-Modelle, die auch die
Lernförderung einschließen. Inzwi-
schen wurde mit der Erforschung ein-
zelner PBIS-Interventionen und kolle-
gialer Auseinandersetzungs prozesse
mit PBIS (Bröcher 2015) begonnen.
Pro
Es wird höchste Zeit, dass PBIS syste-
matisch an unseren Universitäten
gelehrt und an inklusiven Schulen
und - in leichter Abwandlung - auch
an Förderschulen implementiert
wird. Mit PBIS und seiner RTI-Struktur
steht endlich ein schulübergreifen-
des, wissenschaftlich geprüftes, wirk-
sames und international anerkann-
tes System der schulischen
Verhaltenssteuerung und Verhal-
tensstabilisierung zur Verfügung.
Lern- und Verhaltensförderung las-
sen sich dabei leicht miteinander
verschränken. Was bei den Heran-
wachsenden noch nicht an er-
wünschten Verhaltensweisen da ist,
wird systematisch vermittelt, aufge-
baut und trainiert. Durch die konse-
quente Verstärkung alles Positiven
gewinnen junge Menschen Selbst-
vertrauen und es entsteht eine kons-
truktivere Lernatmosphäre für alle
am Schulleben Beteiligten. Alle schu-
lischen Entscheidungen beruhen auf
fundierten Datenerhebungen. Da-
durch wird schulisches Handeln ob-
jektiver, transparenter und e≠ektiver.