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School-wide Positive Behavior Support: Reponse-to-Intervention bei Förderbedarf im Verhalten? Fördermagazin Sekundarstufe, 37(1), 39-40

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Abstract

Auffälligkeiten im Lern- und Sozialverhalten sind ein Dauerthema an Schulen. Deutschland verfügt jedoch bisher nicht über ein so systematisches und schulübergreifendes Modell, wie es die Amerikaner mit PBIS entwickelt haben. Während sich PBIS in Nordamerika längst etabliert hat, beginnt in Deutschland gerade die Diskussion, ob und wie eine kulturelle Adaptierung dieses Systems gelingen kann.
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der „Daily Behavior Report Card“, im
Rahmen von Check-In/Check-Out oder
Check & Connect oder durch Trainings
sozialer Ver haltensweisen. Für die
Gruppe mit hohem Risiko (Tier III)
werden vom schulinternen „Behavior
Support Team“, gegebenenfalls unter
Einbindung externer Experten, indivi-
duelle Interventionen entwickelt. Am
Anfang stehen Verhaltensanalysen,
auf deren Grundlage ein individueller
„Behavior Support Plan“ ent wickelt
und dann Interventionen durchge-
führt werden. Zusätzlich wird auf Tier
III eng mit den Erziehungsberechtig-
ten und interpro fessionellen Netz-
werkpartnern zusammengearbeitet.
Begleitend werden kontinuierlich
Daten erhoben und ausgewertet,
auch alle verschriftlichten Hinweise
auf Problemverhalten, die im schuli-
schen Alltag anfallen. Es wird fort-
während evaluiert, wer auf welcher
Stufe mit welchem Erfolg gefördert
wurde, um dann zu überlegen, ob die
bisherige Förderung beendet, fortge-
setzt oder durch adäquatere Maß-
nahmen ersetzt werden sollte. Für
die wirksame Implementierung von
PBIS an einer Schule müssen 3 bis 5
Jahre veranschlagt werden.
Die „Association for Positive Behavior
Support“ (APBS) bietet eine welt
-
weite Plattform für den Erfahrungs-
austausch und die Weiterent-
,School-wide Positive Behavior Inter-
ventions and Supports‘, abgekürzt
PBIS, bezeichnet ein seit den 1990er
Jahren in den USA entwickeltes, daten-
und evidenzbasiertes schulübergrei-
fendes System der Verhaltenssteue-
rung und des Verhaltenstrainings für
inklusive allgemeine Schulen. Viele
PBIS-Elemente werden auch im För-
derschulbereich angewendet.
PBIS funktioniert, wie die datenbasier-
te Lernförderung, nach dem dreistufi-
gen Response-to-Intervention-Modell
(RTI). Dabei zeigt die systematische
Erhebung und Auswertung von Da-
ten, welche Schülerinnen und Schüler
eine intensivere, individuellere Förde-
rung bekommen sollen.
Allein in den USA wird PBIS mit sei-
nen pädagogischen, didaktischen
und sozialpädagogischen Interventi-
onen, diagnostischen Tools und qua-
litätssichernden Prozessen von ca.
40.000 Schulen angewandt.
Zunächst wird auf der ersten Stufe
(=Tier I) mit allen Schülerinnen und
Schülern einer Schule im präventiven
Sinne gearbeitet, um Verhaltenswei-
sen aufzubauen und zu festigen.
Zugleich geht es um das schulweite
Etablieren von klaren verhaltensbe-
zogenen Regeln und Erwartungen.
Hierzu werden etwa das „Good Be-
havior Game“ oder „Class-wide Peer
Tutoring“ angewandt, ferner syste-
School-wide Positive
Behavior Support
Reponse-to-Intervention bei Förderbedarf im Verhalten?
Joachim Bröcher Au≠älligkeiten im Lern- und Sozialverhalten sind ein Dauerthema an Schulen. Deutschland verfügt jedoch
nicht über ein systematisches, evidenzbasiertes und schulübergreifendes Modell, wie es die Amerikaner entwickelt haben.
matisches verhaltensspezifisches
Lob. Auch didaktische Modifizierun-
gen, etwa das sorgfältige Aufsplitten
von komplexen Lernprozessen in
überschaubare Schritte, die kontinu-
ierliche Möglichkeit der Lernenden,
sich im Rahmen des Unterrichts mit-
zuteilen, Formen des direkten Unter-
richts und das Anbieten von Wahl-
möglichkeiten beim Lernen, sind hier
von hoher Bedeutung, denn das enge
Ineinander von Lern- und Verhaltens-
problemen gilt als empirisch belegt.
Zwei bis drei Mal im Jahr findet ein
Scr
eening aller Schülerinnen und
Schüler mit evidenzbasierten dia-
gnostischen Verfahren, etwa der
„Student Risk Screening Scale“, statt.
So kann festgestellt werden, wer
welchen Förderbedarf im Bereich
der emotionalen und sozialen Ent-
wicklung aufweist. Mithilfe eines
Punktesystems lassen sich bei der
Auswertung drei Gruppen bilden:
1. hinreichend gut entwickeltes Lern-
und Sozialverhalten, in der Regel
8085 Prozent einer inklusiven
Schule (Tier I). 2. At risk-Gruppe, ca.
1015 Prozent der Schüler (Tier II)
und 3. Gruppe mit hohem Risiko,
etwa 35 Prozent (Tier III).
Während auf Tier I mit allen kontinu-
ierlich präventiv gearbeitet wird, wer-
den die Schülerinnen und Schüler auf
Tier II intensiver gefördert, etwa mit
Die Poster finden Sie im
Internet unter
www.foerdermagazin.de/
foms20160139.
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alitäten auseinanderzusetzen. Dieser
Aspekt aber kommt in der gesamten
RTI- und PBIS-Theoriewelt nicht vor.
Resümee
PBIS bietet deutschen Schulen eine
bisher nicht vorhandene, schulüber-
greifende, evidenzbasierte Systema-
tik für das Au∂auen und Steuern
von Verhalten. Das Modell beinhaltet
ein enges Ineinandergreifen von dia-
gnostischen Erhebungen und Inter-
ventionen. Die Implementierung von
PBIS ist zugleich mit einem hohen
Grad an Funktionalisierung, Standar-
disierung und Mechanisierung ver-
bunden. An dieser Stelle zeigten sich
bei den Münchner PBIS-Trainings
vielfach Diskrepanzen im Hinblick
auf die Bildungsideale und Rollenver-
ständnisse von Teilen der Schulkolle-
gien. Die Frage ist, ob sich in den
nächsten Jahren eine kulturelle Ad-
aptierung von PBIS für Deutschland
entwickeln lässt, die das hierin lie-
gende Potenzial erschließt und die
zugleich mit den deutschen Bil-
dungskonzepten vereinbar ist.
Literatur
Bröcher, J. (2014): Schoolwide Positive Beha-
vior Support (PBIS) in German Schools: Ko-
operatives Forschungsprojekt von Münchner
Schulstiftung Ernst v. Borries und Europa-
Universität Flensburg. Trainingsposter No.
1-9. Zum Download: http://www.foerderma-
gazin.de/foms201601
Bröcher, J. (2015): Implementing School-wide
Positive Behavioral Interventions and Sup-
ports (PBIS) in German Schools. In Higgins, B.
(Ed.), Goal setting and personal develop-
ment (pp.101-151). New York. Online verfüg-
bar: https://novapublishers.com/catalog/
product_info.pfp?products_id=56781
Prof. Dr. Joachim Bröcher •
Institut für Sonderpädagogik
• Universität Flensburg • www.bröcher.de
Contra
Wie alle anderen RTI-Modelle auch
wird PBIS die in unserem Schulsys-
tem vorherrschenden Funktionalisie-
rungstendenzen nur noch weiter ver-
stärken und die Entfremdung auf
Seiten der Lernenden wie der Lehren-
den erhöhen. Das ständige Erheben
von Daten, die standardisierten
Strukturen und Prozesse, die vom ge-
samten Schulkollegium umgesetzt
werden müssen, die Einengung des
professionellen Handelns auf rein
evidenzbasierte Interventionen führt
zu einer qualitativen Verflachung im
Erleben von Lehrkräften und Schü-
lern. An die Stelle einer partizipati-
ven, am Bildungsideal der Freiheit
ausgerichteten, lebendigen, oftmals
situativen und intuitiven Pädagogik
treten apparative System- und Steu-
erungsmechanismen. An die Stelle
von Prozesshaftigkeit und O≠enheit,
auch für das Ungeplante und Über-
raschende, tritt Drill. RTI ist eine Ma-
schine, die auch die Lehrkräfte selbst
instrumentalisiert. Begri≥ichkeiten
wie Tier I, Tier II, Evidence-Based
Practices, Data-Based Decision-Ma-
king haben etwas Konditionierendes,
das Denken Einengendes. Die
Münchner PBIS-bezogenen Lehrer-
trainings lassen erwarten, dass sich
Teile der deutschen Schulkollegien
sehr schwer tun werden mit der
ständigen Verstärkung von positivem
Verhalten durch Lob und Bonuspunk-
te, oder mit den schematischen, rein
funktionsbasierten, behavioristi-
schen Verhaltensanalysen und Inter-
ventionen auf Tier III. In die Tiefe ge-
hendes, mitunter psychoanalytisch
inspiriertes Sinnverstehen ist hier
nicht vorgesehen. Der Förderschwer-
punkt der emotionalen und sozialen
Entwicklung benötigt neben dem
reinen Verhaltenstraining aber auch
Strukturen, die Schülerinnen und
Schülern ermöglichen, sich mit der
Komplexität heutiger pädagogischer,
kultureller und gesellschaftlicher Re-
wicklung von PBIS in Wissenschaft
und Praxis. Die Website www.pbis.org
hält Materialien zum freien Down-
load und ein dichtes Netzwerk von
Ansprechpartnern vor, die den Schu-
len beim Implementieren von PBIS
zur Seite stehen.
In Europa begann vor 8 Jahren als ers-
tes Norwegen PBIS an seinen Schulen
zu verwenden, gefolgt von Dänemark,
Island und den Niederlanden. PBIS
in Reinform findet sich bisher in
Deutschland kaum, dafür breiter
angelegte RTI-Modelle, die auch die
Lernförderung einschließen. Inzwi-
schen wurde mit der Erforschung ein-
zelner PBIS-Interventionen und kolle-
gialer Auseinandersetzungs prozesse
mit PBIS (Bröcher 2015) begonnen.
Pro
Es wird höchste Zeit, dass PBIS syste-
matisch an unseren Universitäten
gelehrt und an inklusiven Schulen
und - in leichter Abwandlung - auch
an Förderschulen implementiert
wird. Mit PBIS und seiner RTI-Struktur
steht endlich ein schulübergreifen-
des, wissenschaftlich geprüftes, wirk-
sames und international anerkann-
tes System der schulischen
Verhaltenssteuerung und Verhal-
tensstabilisierung zur Verfügung.
Lern- und Verhaltensförderung las-
sen sich dabei leicht miteinander
verschränken. Was bei den Heran-
wachsenden noch nicht an er-
wünschten Verhaltensweisen da ist,
wird systematisch vermittelt, aufge-
baut und trainiert. Durch die konse-
quente Verstärkung alles Positiven
gewinnen junge Menschen Selbst-
vertrauen und es entsteht eine kons-
truktivere Lernatmosphäre für alle
am Schulleben Beteiligten. Alle schu-
lischen Entscheidungen beruhen auf
fundierten Datenerhebungen. Da-
durch wird schulisches Handeln ob-
jektiver, transparenter und e≠ektiver.
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