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Spektrum Nachhaltigkeit
Ökodörfer als Pioniere der Transformation
Das gute Leben kultivieren
politische ökologie 143 *Nachhaltige Entwicklungsziele
136
Von Marcus Andreas
Es gibt keine stichhaltige Definition
eines Ökodorfes oder eines Ecovillage. Man
erkennt sie vielmehr an ihrem Anspruch, wie
er beispielsweise in der klassischen Definiti-
on des Ökodorfforschers Robert Gilman zum
Ausdruck kommt: „a human-scale, full-featu-
red settlement, in which human activities are
harmlessly integrated into the natural world,
in a way that is supportive of healthy human
development, and can be successfully conti-
nued into the indefinite future.” (1) Existie-
rende Ökodörfer können und konnten dieser
Vision nicht gerecht werden. Dennoch ste-
hen die meisten glaubwürdig für die Utopie
eines grundlegenden Wandels ein.
Ökodörfer sind streng genommen keine Dör-
fer: Mit Ausnahme von Damanhur in Italien
oder Findhorn in Schottland erreichen sie
die entsprechenden Bewohnerzahlen selten.
Im deutschen Vorzeige-Ökodorf „Sieben Lin-
den“ leben derzeit etwa 140 Menschen, per-
spektivisch sollen es 250 bis 300 werden.
Insofern sollte man ehrlicherweise von ei-
nem Ökoweiler sprechen. Das Dorf als Motiv
hält sich allerdings hartnäckig, wie auch bei
Transition Towns. Der alte Traum vom guten
Leben auf dem Lande scheint hier durch.
Neben der Größe sind auch Aufbau und Aus-
richtung verschieden. Nach Gilman handelt
es sich bei Ökodörfern „eher um ein Netz-
werk von Menschen und Gruppen, die eine
Idee umsetzen möchten, als um Dörfer.“ (2)
Dies wird umso deutlicher in städtischen
Ökodorf-Projekten wie dem Los Angeles Eco-
village, das dort zwei Straßenzüge in Los An-
geles ausfüllt. In der Ökodorf-Szene ist zu-
meist von „Gemeinschaften“ oder genauer
„intentionalen Gemeinschaften“ die Rede.
Der Terminus bezeichnet den bewussten
Versuch, ein gemeinsames Leben zu führen
– alternativ zu den gegebenen Verhältnis-
sen. (3) Damit setzen Ökodörfer eine lange
Tradition fort.
Die Anfänge
Als direkter Vorläufer gilt die Kommune-Be-
wegung seit den 1960er-Jahren. In Deutsch-
land markierte der gewaltfreie Widerstand
im Hüttendorf der „Freien Republik Wend-
land“ 1980 den Anfang. In den USA und
Dänemark entwickelten sich (aus den dorti-
gen Cohousing-Ansätzen) weitere Initiativen.
Die Forderung nach Ökodörfern tauchte
auch im ersten Wahlprogramm der west-
deutschen Grünen von 1983 wieder auf. Als
selbstversorgende Landkommunen sollten
sie dort gegen Arbeitslosigkeit und Sozialab-
bau wirken und Theorie und Praxis sinnig
vereinen. Dies könne „nur in Gemeinschaf-
ten gelingen, in denen sich ganzheitliche Le-
bensbezüge herstellen lassen“.
1992 erhoben die Staaten in Rio nachhalti-
ge Entwicklung zur gemeinsamen Maxime.
Drei Jahre später wurde das Global Ecovilla-
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Spektrum Nachhaltigkeit
ge Network (GEN) gegründet und 1996 auf
der UN Habitat II vorgestellt – der GEN-
Geschichtsschreibung zufolge mit der größ-
ten und eindrücklichsten NGO-Präsenz vor
Ort. Die auf der Rio-Konferenz verabschiede-
te Agenda 21 sah vor, dass sich die interna-
tionale, „höchste politische Ebene“ nun „der
drängendsten Probleme der heutigen Zeit“
annehmen würde. Doch zugleich war die Be-
teiligung vor Ort entscheidend, die sich in
zahlreichen lokalen Agenden 21 ausdrückte.
Auch Ökodörfer formulierten ihre eigenen,
durchaus selbstbewussten Agenden: „Klima-
wandel, Verstädterung, Wirtschaftskrisen –
im Ökodorf Sieben Linden entwickeln und er-
proben die Bewohner Antworten auf die
drängenden Fragen unserer Zeit.“ (4)
Beispiel Sieben Linden
In Sieben Linden fallen zuerst die ökologisch
orientierten Strukturen und Prozesse auf: von
der reichhaltigen vegetarischen oder vega -
nen Ernährung bis zu den Komposttoiletten;
vom dreistöckigen Lehmstrohballen-Bauhaus
bis zur Erweiterung des gemeinschaftlichen
und zur Beschränkung des individuellen
Wohnraums (auf etwa 16,5 Quadratmeter);
von praktizierter Suffizienz und Effizienz bis
zur Konsistenz, im Sinne einer versuchten
„ganzheitlichen“ Lebensweise. In einer CO2-
Fußabdruckstudie aus dem Jahr 2002 er-
reichten die Ökodörfler(innen) damit Werte,
die knapp unter einem Drittel des Bundes-
durchschnitts liegen.
Viel Aufmerksamkeit liegt auf dem sozialen
Miteinander in Sieben Linden: „Wir sind ein
Dorf, was erstens was Gemeinsames vorhat
und zweitens sehr viel Wert auf die Bezie-
hung und die Kommunikationskultur legt“
(5), heißt es. Biotop und Soziotop sollten
ineinandergreifen. Dabei tauscht man sich
über alle relevanten Themen aus, von Terra
Preta bis zu Liebesbeziehungen. Interessant
ist die – vereinfacht dargestellt – Zweitei-
lung des Entscheidungs- und Kommunikati-
onssystems: Für sachbezogene Entscheidun-
gen sind Räte, Kleingruppen oder die Voll-
versammlung zuständig; sie werden durch
persönlich geprägte Kommunikationsforma-
te ergänzt, die Austausch und nicht zuletzt
Transparenz unter den Individuen und ihren
Beziehungen herbeiführen sollen (mit dem
„Forum“ als prominentestem Format).
Wichtig ist dabei, dass beiden Sphären eine
ähnliche Wertschätzung entgegengebracht
wird (und nicht etwa „sachlich“ vor „persön-
lich“ regiert). Diese Trennung im Kommuni-
kations- und Entscheidungssystem zeigt die
Anerkennung und Würdigung des Privaten
als auch des Politischen auf. Die getrennten,
aber aufeinander bezogenen Sphären bil-
den zusammengenommen einen Erfolgsfak-
tor von Sieben Linden. Nachteilig kann dies,
um einen alten soziologischen Buchtitel zu
bemühen, als „Tyrannei der Intimität“ erlebt
werden. Als positiv gilt, dass sich so der Ein-
fluss versteckter Motive („hidden agendas“)
in Entscheidungsprozessen verringert und
diese effizienter verlaufen. Und welches
(Öko-)Dorf wird schon von seinen Bewoh-
ner(inne)n als „Gewächshaus des Vertrau-
ens“ bezeichnet?
Der ökonomische Zuschnitt bleibt in den so-
zial-ökologischen Modellprojekten oft unter-
belichtet. „Landkommunen“ wie Sieben Lin-
den weisen einen hohen Grad an Autono-
mie auf, sind aber nicht autark. Ökonomisch
(wie auch sozial) setzen viele sozialökologi-
sche Gemeinschaften größtenteils auf ihre
Gäste, die ihre alternativen Bildungs- und
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Erholungsangebote in Anspruch nehmen.
So stützt sich Sieben Linden auf seinen brei-
ten Besucherstrom (mit bis zu 6.000 Über-
nachtungen pro Jahr), dem es auch die In-
halte anvertraut, die das Ökodorf in die Ge-
sellschaft vermittelt sehen möchte.
Es bleibt eine Herausforderung, sich auch
vor Ort in der Region einzubinden und dort
gemeinsam tragfähige ökonomische Forma-
te zu entwickeln. Die größte Stärke von Öko-
dörfern liegt in der Fokussierung auf die
kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit.
Kultivierung meint in diesem Zusammen-
hang einen gestalterischen Prozess, in dem
die Herausforderung, überkommene Normen,
Werte und Praktiken in allen Bereichen zu
revidieren, alltäglich angegangen wird. Ein
enger Zusammenhang besteht zum Motiv
des guten Lebens. Damit entsteht auch eine
politische Dimension, beziehungsweise er-
fordert eine Positionierung.
Der Wissenschaftliche Beirat Globale Um-
weltveränderungen (WBGU) fordert für die
anstehende Große Transformation Experi-
mentierfelder für ein anderes gesellschaft-
liches Zusammenleben auszuloten. „Pioniere
des Wandels“, die weitgehend im Einklang
mit alternativen Werten handeln, würden
„bezeugen, dass eine Transformation zur
Nachhaltigkeit möglich ist und gesellschaft-
liche Spielräume für die Umsetzung der ent-
sprechenden Werte und Positionen in kon-
krete Handlungen existieren.“ (6) Aber was
impliziert die Pionierrolle? In den 1990er-
Jahren positionierten sich Ökodörfer noch
als Modelle nachhaltiger Entwicklung, ge-
wissermaßen als Speerspitzen des Wandels.
Nach dem Millennium bröckelte diese
Selbsteinschätzung. Ist die Gründung von
Ökodörfern an sich bereits kräftezehrend,
wurde sie auch formell und finanziell zuneh-
mend schwieriger. Darüber hinaus stellte
sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Öko-
dörfer sind beeindruckende Orte, aber ge-
lingt es ihnen, über ihre Lokalität hinaus eine
nachhaltige Regional- oder Stadtentwick-
lung zu inspirieren? Die 2007/2008 aufge-
kommenen Transition Towns oder auch die
Neue Gartenbewegung zeigen beispielswei-
se leichter zugängliche Wege für mehr Ge-
meinschaftlichkeit und Ökologie auch in der
Stadt auf. Die Gesellschaft verändert sich
und es bleibt die Frage, welche transforma-
tive Position Ökodörfer einnehmen werden.
Anstoß zur Mobilisierung
Die Ökodorf-Szene konfiguriert sich europa-
weit neu, durch Allianzen wie das Baltic Sea
Ecovillage Network oder ECOLISE (European
Network for Community-Led Initiatives on
Climate Change and Sustainability) als
Gras wurzel-Lobbyorganisation in Brüssel; in
Deutschland trägt das Umweltbundesamt
(UBA) durch Projekte wie „Ökodörfer als
Modelle gelebter Nachhaltigkeit“ zu ihrer
Neupositionierung bei. Mit dem Vorhaben
stellt das UBA laut die Frage, wie sich über
soziale Innovationen, etwa in Form von Öko-
dörfern, transformative Hebeleffekte errei-
chen lassen.
In den aus dem UBA-Projekt hervorgegan-
genen Empfehlungen warnt der Autor Julio
Lambing vor einer zu weit gehenden Instru-
mentalisierung. Dagegen betont er die Wür-
digung zivilen Engagements und der Solida-
rität: „Wer also die Ausstrahlungskraft der
sozialökologischen Gemeinschaften zur Illus-
tration nachhaltiger Lebensstile steigern
will, tut also gut daran, die ehrenamtlichen
Belastungen nicht noch zu erhöhen, son-
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dern das allgegenwärtige gemeinnützige
Engagement zu erleichtern – sei es durch fi-
nanzielle Förderung, durch personelle Hilfe-
stellungen […] oder durch Ressourcen wie
Treffpunkte, Gebäude, Land.“ (7) In den Nie-
derlanden erhielt etwa das Ökodorp Boekel
jüngst Unterstützung und Freiräume in den
Regularien seitens des Infrastruktur- und
Umweltministeriums.
Ökodörfer wie Sieben Linden sollten nicht
als Modelle zur direkten Nachahmung ver-
standen werden, sondern als Anstoß zur Mo-
bilisierung dienen. Ihre Wertegemeinschaf-
ten sind zu exklusiv und ihr lokaler Ansatz
zu stark eingeschränkt für die große Vorbild-
rolle. Aber Experimente wie Sieben Linden
sind dringend vonnöten, denn sie positionie-
ren sich erfolgreich wider die Alternativlosig-
keit. Dabei kultivieren sie Räume für (Ge-
meinschafts-)Erfahrungen, die eine kreative
Sukzession ermöglichen. Wir alle sind aufge-
fordert, den nächsten Schritt zu gehen – sei
es auf dem Land, im Kiez oder an anderen,
unerwarteten Orten.
Anmerkungen
(1) „Ein Ökodorf ist eine voll ausgestattete Sied-
lung nach menschlichem Maß, in der sich die Ak -
tivitäten des Menschen schadlos in die natürliche
Zum Autor
Marcus Andreas, geb. 1980, forschte als Ethnologe
zu Ökodörfern, arbeitete am Rachel Carson Center
for Environment and Society in München und am
Centre for the Humanities in Utrecht. Aktuell ist er
für die Politikberatungsfirma adelphi tätig.
Kontakt
Dr. Marcus Andreas
Schillerpromenade 5
D-12049 Berlin
E-Mail marcus.andreas@gmx.net
Welt einfügen, auf eine Art, die eine gesunde
menschliche Entwicklung unterstützt und auf un-
bestimmte Zeit erfolgreich fortgeführt werden
kann.“ Gilman, Robert: The Eco-village Challenge.
In: Con text 29/1991, S. 10. www.context.org/ICLIB/
IC29/ Gilman1.htm
(2) Robert Gilman zit. in Kunze, Iris (2009): Soziale
Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise.
Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentie-
rende Lernfelder für sozial-ökologische Nachhaltig-
keit. Münster, S. 56.
(3) „Ökodörfer sind aufgrund ihrer Größe und ihres
expliziten Modellcharakters nur die herausgeho-
bensten und anspruchsvollsten Beispiele jener in-
tentionalen Gemeinschaften in westlichen Indus-
triegesellschaften, die man als sozialökologisch
bezeichnen kann.“ Aus: Lambing, Julio (2014):
Ökologische Lebensstil-Avantgarden. Eine kurze
Analyse sozialökologischer Gemeinschaften und ih-
res Innovationspotentials, S. 10. Download unter
www.e5.org/projekte/wirtschaft-und-allmende/
nachhaltige-lebensstile/studie-oekodoerfer
(4) Freundeskreis Ökodorf e.V. 2011: 2. Pressemappe.
(5) Andreas, Marcus (2015): Vom neuen guten Leben.
Ethnographie eines Ökodorfes. Bielefeld, S. 182.
(6) Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltver-
änderungen (2011): Welt im Wandel. Gesellschafts-
vertrag für eine Große Transformation. Berlin, S. 84.
(7) Vgl. Lambing a.a.O., S. 119 f.