Einleitung
Das Hochschulsystem ist im letzten Jahrzehnt mit einer Vielzahl von Reformagenden kon-frontiert, manche sind oberflächlich geblieben, andere haben zu grundlegenden Veränderun-gen der Arbeit von Hochschulen beigetragen. Zugleich haben sich die gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen für Hochschule maßgeblich verändert. Im Ganzen stellt sich damit die vergleichsweise grundlegende Frage nach der dem Bildungsauftrag von Hochschule, der gesellschaftlichen Positionierung und letztlich dem Selbstverständnis von Hochschule.
Die Frage, die dabei in diesem Band diskutiert wird, kann wie folgt skizziert werden: Früher bezog sich das Selbstverständnis von Hochschulen ganz klar und typischerweise auf einen „Normalstudenten“, der nach dem Abitur an die Hochschule kommt, sich dort Vollzeit dem Studium widmet, um danach in das Berufsleben einzutreten. Der Bildungsauftrag von Hoch-schulen bezog sich damit auf einen vergleichsweise kurzen, aber klar definierten Lebensab-schnitt zwischen Abitur und Eintritt in das Berufsleben.
Diese Konstruktion des Bildungsauftrags von Hochschule wird zunehmend infrage gestellt, weil sie nicht mehr der empirischen Realität der Studierenden entspricht und den weiteren demografischen Trend außer Acht lässt. Im Übrigen, so wird auch aufzuzeigen sein, steht dieses Selbstverständnis in einem deutlichen Widerspruch zu der Positionierung von Hoch-schulen in anderen Industrienationen. Diese verstehen sich bereits heute vielerorts als Ein-richtungen, die Bildungsangebote entlang der gesamten Lebensspanne vorhalten. Auf diese Weise sind die Bildungsangebote der Hochschule oftmals viel enger verzahnt mit den gesell-schaftlichen Anforderungen an Kompetenzentwicklung und der Nachfrage nach wissen-schaftlicher Expertise bei der Lösung gesellschaftlicher Anforderungen.
Damit entsteht die Frage, ob und wie eine Verknüpfung aussehen kann zwischen der Wei-terentwicklung des Bildungsauftrags von Hochschulen einerseits und der Diskussion über lebenslanges Lernen. Die Diskussion über lebenslanges Lernen ist insbesondere auf euro-päischer Ebene angeregt worden und so zu einer zentralen bildungspolitischen Kategorie in allen europäischen Ländern avanciert. Lebenslanges Lernen bezieht sich auf den fortlaufen-den, lebensbegleitenden Prozess einer selbständigeren und unabhängigen Lernerfahrung.
In Deutschland wird die Diskussion über lebenslanges Lernen an Hochschulen häufig gleichgesetzt mit der eher randständigen „wissenschaftlichen Weiterbildung“ von Hochschu-len. Hier sind zunächst deutliche bildungspolitische Signale zum Ausbau der „wissenschaftli-chen Weiterbildung“ erkennbar. Diese werden zu einer Ausweitung von entsprechenden An-geboten beitragen und damit auch zu einer Weiterentwicklung des Selbstverständnisses von Hochschule.
Dennoch bleibt die Frage, ob „wissenschaftliche Weiterbildung“ nicht letztlich in der oben beschriebenen Segmentierung und Engführung des Bildungsauftrages verbleibt? Denn die Agenda des „lebenslangen Lernens“ bedeutet für Hochschulen mehr: Sie impliziert die Idee, dass das Bildungsangebot vom ersten Semester an auf die veränderten Voraussetzungen der Studierenden eingeht und sich den flexiblen Bedürfnissen von Erwachsenen nach Ler-nen und Kompetenzentwicklung über die Lebensspanne hinweg öffnet. Diese Sicht unter-scheidet damit nicht mehr zwischen dem „eigentlichen“ Bildungsauftrag, der mit den grund-ständigen Studiengängen verbunden wird, und der Weiterbildung, die „auch“ zusätzlich – für weitere Zielgruppen – durchgeführt wird.
Der vorliegende Sammelband fragt nach den Implikationen einer solchen Verknüpfung: Was sind die empirischen Grundlagen, etwa der veränderten Rahmenbedingungen an Hochschu-len und den Merkmalen der aktuellen Studierendenpopulation? Wie adressieren Hochschu-len heute die Frage des lebenslangen Lernens und der wissenschaftlichen Weiterbildung? Wie kann die Situation an deutschen Hochschulen eingeordnet und kontrastiert werden zur internationalen Diskussion und Positionierung von Hochschulen? Welche Herausforderun-gen bestehen auf dem Weg zu einer Neu-Positionierung des Bildungsauftrags von Hoch-schulen? Welche konkreten Umsetzungsoptionen sind dabei zu sehen?
Den Rahmen und den Impuls für den vorliegenden Band gibt das Verbundprojekt „STU+BE – Studium für Berufstätige: Erfolgsfaktoren für Lifelong Learning an Hochschulen“, das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Förderprogramms „Empirische Bildungsforschung: Hochschulforschung“ unterstützt wurde. Der Verbund be-steht aus Projektpartnern an der Universität Duisburg-Essen, der Technischen Universität Dortmund und der Universität Oldenburg. Die drei Universitäten der Projektpartner wurden u.a. im Hinblick auf ihre Rahmenbedingungen, die Merkmale der Studierenden und der Or-ganisation von Weiterbildung als Einzelfälle exemplarisch analysiert und im Hinblick auf In-novationspotenziale und -ansätze untersucht.
Die Ergebnisse beziehen sich auf einzelne und vergleichende Analysen der Universität Ol-denburg (Kapitel 5.1 Zwischen lebenslangem Lernen und unflexibler Teilzeit) von Marco Zimmer, der TU Dortmund (5.2 Wissenschaftliche Weiterbildung zwischen Kooperation und Eigenständigkeit) von Heike Fischer und der Universität Duisburg-Essen (5.3 Chance durch Vielfalt – Vielfalt der Chancen?) von Karola Wolff-Bendik. Im Rahmen einer Fragebogenun-tersuchung wurde darüber hinaus an den drei Universitäten untersucht, wie heterogen die Studierenden hinsichtlich ihrer Lebens- und Studienwirklichkeit sind. Uwe Wilkesmann und Kollegen zeigen, inwiefern sich diese Vielfalt auch in den Wünschen und Erwartungen an Studienorganisation und Programmgestaltung wiederspiegelt (3.1 Abweichungen vom Bild der Normalstudierenden – Was erwarten Studierende?). Ergänzend wurden von Michael Kerres und Andreas Schmidt Modulhandbücher von ausgewählten Fächergruppen deutsch-landweit analysiert, um Rückschlüsse auf die Struktur der Studienangebote ableiten zu kön-nen (3.2 Zur Anatomie von Bologna Studiengängen).
Die Ergebnisse aus der Analysephase des Projekts wurden in einem Hearing mit Expertin-nen und Experten diskutiert. Die Ergebnisse des Hearings fanden wiederum in die weiteren Projektphasen Eingang, in denen Innovationsvorhaben an den drei beteiligten Universitäten umgesetzt wurden. In diesen Phasen wurden Ansatzpunkte für lebenslanges Lernen an den jeweiligen Hochschulen erprobt und wissenschaftlich begleitet.
Einige der beteiligten Expert/inn/en aus dem Hearing sind mit Beiträgen im vorliegenden Band vertreten: Andrea Schenker-Wicki benennt in ihrem Beitrag Ziele, die mit der Integrati-on Lebenslangen Lernens an Hochschulen zu verbinden sind. Sie stellt in diesem Kontext heraus, welche Flexibilisierungsmöglichkeiten durch die gestufte Studienstruktur nach Bolo-gna bestehen (6.1 Die Universität im 21. Jahrhundert: autonom und flexibel - Die veränder-ten Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts). Tino Bargel geht in seinem Beitrag auf die Sicht der Studierenden ein. Als Grundlage dienen dabei die Befunde aus den Studierenden-surveys (6.2 Regulierung und Flexibilität aus Sicht der Studierenden im Erststudium). Heinke Röbken stellt bisher umgesetzte Modelle zur Flexibilisierung im Studium vor und zeigt damit verbundene Probleme auf (6.3 Flexibilität im Studium: eine kritische Analyse). Herausforde-rungen bei der Öffnung der Hochschule für neue Zielgruppen veranschaulicht Peter Schett-gen am konkreten Beispiel der Universität Augsburg (6.6 Gestaltungswille und Stolpersteine beim „Aufstieg durch Bildung“). Olaf Zawacki-Richter beschreibt die Implikationen für die mediendidaktische Konzeption flexibler Lehrangebote und zeigt die seit der Open Learn Be-wegung erfolgten Entwicklungen auf (6.5 Die Entwicklung internetbasierter Studienangebote und ihr Beitrag zum Lebenslangen Lernen). Einblicke in die Gestaltung der Curricula im US-amerikanischen undergraduate Bereich gibt Michael Filsecker in seinem Beitrag (6.2 The Bachelor Curriculm in the USA Higher Education System: How is it different?). Dabei wird deutlich, dass die US-amerikanischen Hochschulen und Curricula stark diversifiziert sind, den Studierenden aber dennoch ein hohes Maß an Mobilität ermöglichen.
Dass ein Blick über den (deutschen) Tellerrand hilfreich ist, zeigen die internationalen Fall-studien in diesem Band, in denen unterschiedliche, deutlich erkennbare Profilschwerpunkte im lebenslangen Lernen sichtbar sind: die University of British Columbia in Kanada (4.1 Er-folgreiche Verzahnung von grundständigem Studium und lebenslangem Lernen / Vajna & Zilling), der Open University Milton Keynes (4.2 Off Campus und gut betreut / Schmidt), der Universität Helsinki und der Technischen Hochschule (TKK) Helsinki (4.3 Flexibilität ein Le-ben lang / Fischer). Die internationalen Vergleichstudien zeigen u.a., dass klare rechtliche und organisatorische Grundlagen z.B. bezüglich Zugang oder Anrechnung von Leistungen, lebenslanges Lernen ermöglichen und fördern.
In Deutschland ist die Trennung zwischen Wissenschaftlicher Weiterbildung und grundstän-diger Lehre in Teilen gesetzlich zementiert, diese und andere rechtliche Grundlagen fördern die vorherrschenden monolithischen Angebotsstrukturen und hemmen die Gestaltung flexib-ler, an die Lebenswirklichkeit der Studierenden angepasster Angebote, wie Heike Fischer in ihrem einleitenden Kapitel zeigt (2.1, Hochschulpolitische Rahmenbedingungen - Die rechtli-che Gleichgültigkeit).
Gerade die curriculare Neugestaltung im Zuge des Bologna-Prozesses birgt die Chance be-stehende konsekutive Programmstrukturen mit einer Liefelong-Learning Strategie zu ver-knüpfen (2.3 Studienorganisation und Programmgestaltung - Eine Balance zwischen Neuem und Bewährtem/ Hanft). Zu diesem Zweck muss, wie Anke Hanft zeigt, eine Professionalisie-rung des Studienmanagements in der Studienorganisation verankert und institutionalisiert werden (2.2 Strategische Positionierung von Hochschulen – zwischen bürokratischer Pla-nung und Handlungskompetenz). Die flexiblere Programmgestaltung stellt neue Anforderun-gen an die didaktische Konzeption. Die sich im Umgang mit der Heterogenität der Studieren-den u.a. kompensatorisch oder expansiv ausrichten kann (2.4 Didaktische Konzeption und Instruktionsdesign – der Vielfalt gerecht werden/ Kerres u.a.). Michael Kerres diskutiert wei-terhin die (medien-) didaktischen Gestaltungsoptionen (2.5 Inhaltlich, räumlich und zeitlich flexibles Lernen organisieren).
Die hier aufgezeigten Chancen für lebenslanges Lernen an Hochschulen stellen zugleich Fragen an die strukturelle Verankerung, die sich grundlegenden Dilemmata gegenübersieht, wie sie Uwe Wilkesmann beschreibt (2.6 Die Dilemmata des lebenslangen Lernens an Hochschulen).
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