Die Türkentaube Streptopelia decaocto breitete seit den 1930er Jahren mit einer Geschwindigkeit,
die im Tierreich nahezu einmalig ist, ihr Areal vom Balkan nach Europa aus. In dieser Arbeit soll
versucht werden, die Ausgangspopulation zu beschreiben, Arealexpansionen an anderen Stellen
des Verbreitungsgebietes zu aufzuzeigen und den Expansionsvorgang im Hinblick auf das
Dismigrationsverhalten der Türkentaube zu analysieren.
Neben einer umfassenden Literaturauswertung, eigenen Beobachtungen und grundsätzlichen
Überlegungen zur Dismigration und Dispersion mit darausfolgender Modellbildung wurden für die
vorliegende Studie die Wiederfunde beringter Türkentaube ausgewertet: dazu standen 2131 Funde
der europäischen Beringungszentralen zur Verfügung.
1. Die Türkentaube in ihrer Umwelt
1. Die in der Literatur Mutig behauptete enge Bindung der Türkentaube an die muslimische
Bevölkerung kann anhand der in der Literatur wiedergegebenen Fakten nicht nachvollzogen
werden. Tauben werden von allen semitischen Völkern verehrt und die Türkentaube hatte in der
Ausgangspopulation für die Expansion nach Europa eine mindestens ebenso enge Beziehung zur
christlichen Bevölkerung.
2. Entgegen anderslautenden Literaturangaben läßt der Zusammenbruch des Osmanischen
Reiches keine Korrelation mit der Populationsentwicklung der Türkentaube erkennen.
3. Die Etymologie der Türkentaube läßt elne enge und alte Bindung an das griechische Volkstum
erkennen. So ist der älteste Oberlieferte Name der Türkentaube "Die Griechin" und stammt aus dem
18. Jahrhundert aus dem arabischen Sprachgebiet (Antakya). Da selbst im türkisch-arabischen
Siedlungsgebiet die Art mit dem Griechentum in Verbindung gebracht wurde, ist am ehesten an eine
Einbürgerung durch diese Volksgruppe zu denken.
4. Türkentauben wurden immer wieder an verschiedenen Stellen des Balkans und Südwestasiens
als Käfigvögel gehalten, und zwar nachweislich von Griechen, Bulgaren, Türken, Persern und
Arabern. Meist dürfte es sich um gekäfigte Wildvögel gehandelt haben. Nachzuchten in
Gefangenschaft waren sicher nur ausnahmsweise erfolgreich und darauf spezialisierten Züchtern
vorbehalten.
5. Aus dem Istanbul des 16. Jahrhunderts wurde die Sitte der Freilassung von zuvor gekäfigten
Tauben an bestimmten Festtagen im Sinne einer guten Tat beschrieben. Mit ziemlicher Sicherheit
handelte es sich bei den freigelassenen Tauben um Türkentauben. Dies könnte der Weg gewesen
sein, auf dem die Türkentaube eine Wildpopulation aufbauen konnte.
6. Die Türkentaube ist unter den Vögeln ein ausgeprägter r-Stratege. Sie hat neben dem
Haussperling die höchste Zahl von Jahresbruten mitteleuropäischer Vogelarten, ist gelegentlich
schon zur Reproduktion im ersten Kalenderjahr befähigt, hat flexible, an das Brutgeschehen angepasste Mauserzeiten, und hat nur laxe inter- und intraspezifische Konkurrenz. So ist sie zur
raschen Besiedlung neuer Lebensräume befähigt und· hat ein hohes Ausbreitungspotential.
7. Der ursprüngliche Habitat der Türkentaube sind Halbwüsten und Steppen, die sie auch heute
noch im asiatischen Tell ihres Verbreitungsgebietes besiedelt, und zwar westwärts bis zur in die
Türkei reichenden Syrischen Tafel. Die Besiedlung von menschlichen Siedlungen sowohl in Asien
als auch in Europa war mit keiner Änderung des Okoschemas verbunden, sondern entspricht im
wesentlichen nur der kontinuier1ichen VerfOgbarkeit von völlig freien bzw. schOtter bewachsenen
Flächen zur Nahrungssuche. Die Expansion nach Europa war damit nicht von einer Änderung des
Okoschemas begleitet oder hervorgerufen.
2. Das Brulareal bis zu Beginn der Expansion nach Europa
Bis 1935 reichte das geschlossene Verbreitungsgebiet der Türkentaube im Westen nur bis Seistan
und Belutschistan. Es war damit die natürliche Fortsetzung des Verbreitungsgebietes ihrer
afrikanischen Zwillingsart, der Lachtaube Streptopeli roseogrisea. Außerhalb des geschlossenen
Areals der Türkentaube gab es drei isolierte, untereinander nicht 1n Verbindung stehende Teilareale:
eines in Mesopotamien, eines um das Tote Meer und eines, das sich von Westanatolien bis zum
Balkan ersteckte. Dazu bestanden einige isolierte Einzelvorkommen wie in Isfahan, Antakya und auf
Zypern. Dieses disjunkte Verbreitungsmuster kann nur mit Einführung durch den Menschen erklärt
werden (anthropochore Verbreitung).
Bereits aus dem 16. Jahrhundert stammt eine Angabe über ein Taubenvorkommen in
Istanbul, das mit ziemlicher Sicherheit auf die Türkentaube zu beziehen ist. Die ersten zweiteisfreie
Meldungen aus Europa und Südwestasien gelangen Mitte des 18. Jahrhunderts in Antakya und
Aydin sowie offensichtlich in Istanbul. Die Ansiedlung muß also davor erfolgt sein und geschah mit
gewisser Wahrscheinlichkeit nach der Antike. Zu Beginn der ornithologischen Forschung im 19.
Jahrhundert hatte das Areal der Türkentaube auf dem Balkan und in Westanatolien offenbar bereits
die Umrisse wie um 1935, als die Expansion nach-Europa begann.
Im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert bis zu Beginn der Expansion nach Europa war
das Brutareal der Türkentaube in Westanatolien und auf dem Balkan war sehr lückenhaft: das
Vorkommen war meist auf größere Siedlungen beschränkt und an der Peripherie des Areals
bestand eine Reihe von mehr oder weniger isolierten Vorposten. Dazu war die Gesamtpopulation
starken säkularen Populationsschwankungen ausgesetzt; bei geringer Populationsdichte wurden
Mutig kleinere und periphäre Orte mit suboptimalen Bedingungen aufgegeben, jedoch bei einer
erneuten Populationszunahme neu besiedelt. Die Dispersion pendelte also, abhängig von der
Populationsgröße, zwischen geklumpt und relativ regelmäßig.
3. Arealexpansion im Nahen Osten
Die Türkentaube weitete im 20. Jahrhundert ihr Brutareal im Nahen Osten erheblich aus. Im
Verlaufe dieser Expansion kam es zur Verschmelzung der ursprünglich getrennten Teilareale
Mesopotamien, Totes Meer und Westanatolien/Balkan.
1. Vom Toten Meer aus erfolgt seit Mitte der 1970er Jahre eine kontinuierliche Expansion, in deren
Verlauf der Golf von Eilat (Aqaba), der Nord-Sinai, das Nildelta, Kaim und die westliche Wüste besiedelt wurde. Andererseits stieß die Expansionsbewegung aber Jordanien hinaus nach Saudi
Arabien vor und gewann dort Anschluß an das Vorkommen um den Persisch-Arabischen Golf.
2. Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet, das sich von Mesopotamien Ober die saudi-arabisehe
Golfkoste bis Er-Riad erstreckte, expandiert seit den 1950er, verstärkt seit den 1970erJahren.
Erhebliche Flachengewinne wurden in Qatar, Bahrain und in den Vereinigten Arabischen Emiraten
gemacht. Das Vorkommensgebiet ist mitterweile mit dem im Oman verschmolzen.
3. Im Oman, wo schon im letzten Jahrhundert Vorkommen bestanden, ist seit den 1970er Jahren
(oder froher?) eine Bestandszunahme und Arealausdehnung zu beobachten.
4. Obwohl die TOrkentaube in Zypern schon seit dem letzten Jahrhundert als Brutvogel bekannt ist,
blieb ihr Bestand stets gering. Erst seit den 1980er Jahren nimmt er rasch zu und die Art breitet sich
Ober die ganze Insel aus.
5. Die Ostgrenze des Teilareals, das ursprünglich auf dem Balkan und Westanatolien beschrankt
war, schiebt sich seit mindestens den 1950er Jahren aber Anatolien kontinuier1ich weiter nach
Osten vor. In den 1980er Jahren kam es zur Verschmelzung mit dem Vorkommen in
Mesopotamien. Heute ist der Großteil lnneranatoliens besiedelt und insulare Vorkommen bestehen
in Ostanatolien und in der zentralen und östlichen Schwarzmeerregion. Das Brutvorkommen
gewinnt Anschluß an die Vorkommen in der Kaukasus-Region, wo die Türkentaube seit den 1970er
Jahren vom Norden her eingewandert ist.
6. In Syrien siedelt sich die Türkentaube seit Mitte der 1970er Jahre im Euphrat- und Khabur-Tal,
seit Anfang der 1980er Jahre in Wüstenoasen (Palmyra) und seit den 1990er Jahren in den
Mittelmeerstädten an.
Die einzelnen Expansionsvorgänge sind voneinander völlig unabhängige Ereignisse, die
unterschiedliche Ausgangspunkte und unterschiedliche Ausbreitungsrichtungen haben sowie zeitlich
weitgehend unabhängig voneinander erfolgen. Alle drei anthropochor entstandenen Brutareale in
Europa und Südwestasien (Mesopotamien, Israel/Palästina und Westanatolien/Balkan) waren
Ausgang von Expansionsbewegungen.
4. Die Expansion nach Europa
Die Expansion der Türkentaube nach Europa unterschied sich in einigen Punkten erheblich von den
anderen Expansionsvorgängen im Nahen Osten:
1. Die Geschwindigkeit der Expansion war bedeutend höher als bei anderen Expansionsvorgängen.
Die Expansionsgeschwindigkeit nahm zunächst exponentiell zu, bis die Ausbreitungsfront auf
natürliche Barrieren (Nordsee, Atlantik) stieß.
2. Die Expansion ver1ief streng gerichtet in einem Winkel von 3100 (NW). Diese Expansionsrichtung
wurde selbst nach Überquerung des Ärmelkanals in Großbritannien weiter eingehalten.
3. Während die Expansionsfront rasch weiter nach Nordwesten vorgeschoben wurde, dauerte es
noch Jahrzehnte, bis die neu hinzugewonnenen Flächen einschließlich kleinerer Ortschaften und
suboptimaler Habitate vollständig besiedelt wurden. Ein hoher Populationsdruck, der die
Abwanderung eines Teil der Population zur Folge hatte, kann also nicht die Ursache der Expansion
gewesen sein.
5. Dismigrationsverhalten
1. Dismigration wird in Übereinstimmung mit dem 3. öko-ethologischen Dispersions-Grundsatz von
BERNDT & WINKEL als artspezifische, d.h. endogen gesteuerte Eigenschaft angesehen. Wenig
beachtet wurde bisher, das die Dismigration vektoriell in verschiedene Komponenten zerlegbar ist,
nämlich Dismigrationsrichtung, -entfernung, -zeitpunkt und -dauer. In einem Modell wurde der
Einfluß der Dismigration auf die Dispersion einer Vogelart dargestellt Es wurde gezeigt, daß sich
unter dem Einfluß der Dismigration die Brutareale aller Vogelarten in ständiger Ausbreitung befinden
und nur durch Umweltbedingungen und die Affinität der einzelnen Individuen zueinander
zusammengehalten werden. Die Expansionsgeschwindigkeit entspricht genau der mittleren
Dismigrationsentfernung pro Generation. In Randpopulationen geht ein Teil der Individuen durch
Dismigration aber die Arealgrenzen hinaus verloren und muß, um die Populationsgröße konstant
halten zu können, durch Individuen aus dem Populationszentrum ersetzt werden. Die Dismigration
verursacht zwar ein vom Zentrum zur Peripherie abnehmende Populationsdichte, doch wird dieser
Effekt von exogenen Faktoren weitgehend überlagert.
2. Türkentauben dismigrieren im Mai/Juni des 2. Kalenderjahres. Dieses Muster wurde anhand der
Wiederfunde beringter Türkentauben festgestellt und konnte darüberhinaus an Beobachtungen auf
Helgoland sowie in ansonst torkentaubenfreien Gebieten Großbritanniens bestätigt werden. Anhand
von Ringfunden konnte gezeigt werden, daß Vögel anderer Altersklassen keine periodischen
Wanderungen durchführen. Das Dismigrationsmuster bleibt z.B. auf Helgoland von Jahr zu Jahr
konstant In der Dismigrationsphasescheuen Türkentauben auch Flüge aufs offene Meer ohne
Sichtkontakt zu Land nicht.
3. Etwa ein Drittel aller Türkentauben siedelt sich in einer Entfernung von aber 100 km um den
Geburtsort an. Der Median der Ansiedlerentfemung betragt 23,4 km. Im europaischen Binnenland
liegt der Median der Ansiedlerentfernung signifikant höher als an der Küste bzw. in Großbritannien.
Seit 1970 hat sich der Median der Ansiedlerentfemung in Europa verringert: Am deutlichsten
(p<0,025) in Großbritannien, schwach signifikant an der Festlandsküste und im Binnenland.
4. Die Richtung der Dismigration läßt keine klare (signifikante) Vorzugsrichtung erkennen. Allerdings
siedeln sich kaum Türkentauben in Richtungen zwischen Nordost und Süd vom Brutgebiet an;
generell besteht also eine grobe Übereinstimmung zwischen Dismigrationsrichtung und
Expansionsrichtung, wenngleich sich je nach geographischem Standort und Zeitpunkt sehr
unterschiedliche Verteilungsmuster ergeben.
6. Bisherige Erklärungsversuche zur Expansion des Brutareals der
Türkentaube nach Europa
Es wird eine Übersicht gegeben, welche Erklärungsversuche zur Expansion des Brutgebietes der
Türkentaube nach Europa bisher unternommen wurden. Sie lassen sich unter den Begriffen
Mutationshypothese, Ethno-Hypothese, Domestikationshypothese, Pradatoren-Hypothese,
Habitatanderungshypothese, Dismigrationshypothese, Klimaanderungshypothese, StraßenlaternenHypothese,
Psycho-Hypothese und Nonsense-Hypothese zusammenfassen. Alle bisherigen
Erklärungsversuche lassen sich entweder auf Mutation, dichteabhängige Evasion oder auf
zufallsbedingte Erschließung neuer Siedlungsraume zurückführen. Keine dieser Hypothesen kann z.B. erk.laren, warum die Expansion gerichtet verlief. Die historischen Daten legen nahe, daß sich
die Population bei Beginn der Expansion in einem TIef befand, so daß auch eine dichteabhangige
Abwanderung ausgeschlossen werden kann.
7. Ursachen der Expansion des Brutareals nach Europa
Im Lichte der hier zusammengetragenen Fakten und Ergebnisse kann die rasante Expansion des
Brutareals der Tarkentaube nach Europa folgendermaßen erldart werden: Bei einem Populationstief
auf dem Balkan bzw. in Westanatolien kam es zu einer genetischen Drift, d.h. zu einer
zufallsbedingten Verschiebung der Genfrequenzen. Dies hatte zur Folge, daß die Eigenschaft zur
Dismigration nach Nordwest Oberproportional vertreten war und sich bei erneutem
Populationswachstum in der Population etablieren konnte. Die bevorzugte Ansiedlung von
Türkentauben nordwestlich des Ausgangsareals und deren daraus resultierende bevorzugte
Reproduktion untereinander führte zu einer weiteren Erhöhung des Anteils der nach Nordwest
dismigrierenden Türkentauben sowie zu einer Erhöhung der mittleren Ansiedlerentfernung. Folge
war eine rasche Ausdehnung der Brutareals nach Nordwest, die erst zum Stillstand kam, als die
Nordsee- bzw. Atlantikküste erreicht wurde. An der Küste bedeutete die nordwestliche
Dismigrationsrichtung einen Selektionsnachteil, der eine rasche Abnahme der Häufigkeit dieser
Eigenschaft zur Folge hatte.