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Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
4 Aspekte der Wahrnehmung und Rezeption
4.2 Intermediale Korrespondenzen: Bild - Musik - Songtext
Grundlegend in der Betrachtung von Musikvideos ist, dass diese multimodal und
multidimensional1 aufgebaut sind. Dies äußert sich in ihren distinkt
wahrgenommenen Zeichensystemen, Bild, Ton sowie literarischer Text, die sowohl
als eigenständige Komponenten separat als auch im Verbund interdependent
rezipiert und interpretiert werden können. Dabei kann eine entkoppelte Interpretation
der verschiedenen Zeichensysteme unterschiedliche semantische Schlüsse
erzeugen. Bild, Musik und Text haben eine eigenständige Bedeutung, die auch
einzeln eine geschlossene Sinneinheit ergeben. So kann beispielsweise ein
Rezipient durch eine Nebentätigkeit abgelenkt sein und damit in seiner Erfassung
des Inhalts auf die auditive Komponente des Videos beschränkt sein. Eine weitere
Einschränkung könnte sich dann ergeben, wenn der Liedtext nicht in der
Muttersprache des Rezipienten verfasst ist, sodass die Wahrnehmung des
Musikvideos primär auf einer Bewertung von Melodie, Rhythmus und
Instrumentierung beruht.
Die Bemühungen, verschiedene Zeichensysteme untereinander zu vergleichen und
Wertigkeiten zu bilden, sind fast so alt wie die betreffenden Zeichensysteme selbst.
Sie bilden die Grundlage für eine Medienkritik im Sinne der westlichen Kultur, die
ohne diese Entwicklung nicht denkbar gewesen wäre. Zum ersten Mal wurde ein
solcher komparativer wissenschaftlicher Diskurs im Zuge der Schriftentwicklung
deutlich2. Die historisch vorausgegangene Lautsprache wurde dabei über
1 Multimodal bedeutet in diesem Zusammenhang, dass verschiedene konventionalisierte
Zeichensysteme eigenständige Sinneinheiten schaffen, die in dem semantischen Komplex Musikvideo
verortet werden. Der Begriff orientiert sich dabei an dem Verständnis von van Leeuwen und Kress die
dazu feststellen: „[…] meaning is made in many different ways, always, in the many modes and media
which are co-present in a communicational ensemble“ (Kress / van Leeuwen, 2001: 111).
Demgegenüber steht der Begriff multidimensional für potenziell vielschichtige
Interpretationsmöglichkeiten durch die Rezipienten, die das Musikvideo individuell und durchaus
distinkt wahrnehmen und deuten können.
2 Vgl. Nöth, 2000: 357-358
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Jahrhunderte ausgiebig der Schriftsprache gegenübergestellt und verortet. Ähnliches
gilt auf medialer Ebene für die klassischen Massenmedien Buch, Radio, Fernsehen
und die so genannten Neuen Medien. Letztere ermöglichten darüber hinaus durch
die Verknüpfung verschiedener Darstellungsformen, leider häufig terminologisch
unscharf als Multimedialität bezeichnet3, erstmals auch eine Binnendifferenzierung
nach Zeichensystemen in der wissenschaftlichen Diskussion. Als Konsequenz dieser
Entwicklung war es abzusehen, dass auch eine relativ moderne multimodale
Präsentationsform wie das Musikvideo Gegenstand der Betrachtung zu den
Interdependenzen seiner konstituierenden Zeichensysteme werden würde. Die
nachfolgende Arbeit möchte dazu die Grundlagen einer differenzierten Analyse
beitragen und diese auch exemplarisch anwenden.
Folgt man der Argumentation der klassischen Filmwissenschaft ist das Bild die
primäre Informationsquelle des Rezipienten4, als Zeichensystem folglich dominant.
Komponenten der auditiven Perzeptionsreize werden dieser Argumentation folgend
lediglich als eine Ergänzung verstanden. Dahingegen bleibt für Kritiker dieser These
fraglich, ob dieses für Spielfilme entwickelte Konzept auch für Musikvideos zutreffend
ist, da in den meisten Fällen der Song dem Video in der Produktion vorausgeht. In
diesem Sinne wären Musikvideos Videos zur Musik und nicht Musik zum Video. Es
gilt demnach zu klären, wo visuelle und auditive Informationen im Kontext des
Rezipienten auf diesem bipolar entgegengesetztem Kontinuum verortet werden
können. Der vermeintliche diametrale Widerspruch zwischen beiden Aussagen
beruht dabei auf den distinkten Perspektiven, die sie erfassen. Während die
filmwissenschaftliche Argumentation eher rezipientenbezogen ist, wird die zweite
Position durch eine produzentenbezogene Sichtweise charakterisiert. Die
filmwissenschaftliche Position ist stärker den psychologisch-kognitiven Auswirkungen
des filmischen Bildes verpflichtet, wohingegen deren Kritiker den Produktionskontext
als semantisch akzentuierende Komponente favorisieren. So lässt sich die damit
3 Gerade in Bezug auf die Untersuchung intermedialer Bezüge ist das Konzept der Multimedialität
nicht unbedingt zuträglich, da es die Tendenz birgt, Medien-Grenzen zu verwischen.
4 Dies gilt zumindest in Bezug auf den emotionalen Nachvollzug im Sinne mimetischer Erkenntnis
sowie für den Aufbau eines Situationsmodells. Vergleiche dazu Grodal, 1997 sowie Ohler / Nieding
1994.
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verbundene Problematik zwar nicht vollständig auflösen, aber sie wird in ihrer
Struktur zumindest transparenter.
Das bewusste Zusammenspiel der Zeichensystemtriade Bild - Musik - Songtext als
syntaktisches Metasystem erzeugt dementsprechend eine gewichtete Semantik auf
kognitiv-emotionaler Ebene. Diese Betrachtungsweise impliziert geradezu die
Erweiterung der titelgebenden Triade des vorliegenden Kapitels. Denn die
Wahrnehmung eines Musikvideos und die semantische Erfassung dessen Inhalts
stehen in direkter Abhängigkeit zu der perzeptiven, emotionalen und sozialen
Rezeptionssituation des Zuschauers. Aufbauend auf dieser Vorannahme muss der
Rezipient als vierte Dimension der Betrachtung intermedialer Korrespondenzen
eingeführt werden5. Dabei löst man sich, zumindest teilweise, von einer
produzentenzentrierten Denkweise. Inhaltliche Verknüpfungen von Bild, Musik und
Songtext können zwar von einem Künstler, respektive der Vermarktungsgesellschaft
dahinter, antizipiert werden, jedoch obliegt es dem Publikum, eigenständig eine
Bedeutungszuweisung zu treffen. Diese kann in beträchtlichem Maße von der
antizipierten Meinung abweichen. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf
den Song „Born in the U.S.A.“ von Bruce Springsteen verwiesen. Obwohl als
kritische Hinterfragung amerikanischer Werte konzipiert, wurde das Lied auch von so
genannten Patrioten als Hymne oder Lobpreisung verwendet und verstanden6.
Darüber hinaus ist es im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit notwendig, die
Subtexte der betreffenden Zeichensysteme als Manifestation von Subkategorien, wie
Rhythmus, Schnitttechnik etc., zu analysieren, um zu einem tiefergehenden
Verständnis der dependenten und interdependenten Relationen zwischen Musik,
5 Diese Annahme ist lediglich als eine vereinfachte Darstellung zu verstehen, da sich die Relation
Produzent – Rezipient nicht auf der gleichen semiotischen Ebene wie Bild – Musik – Songtext verorten
lässt. Dies liegt in den unterschiedlichen Kategorien begründet, die von den Termini abgebildet
werden. Die Trias der distinkt wahrgenommenen Zeichensysteme kann sowohl produzentenbasiert als
auch rezipientenbasiert interpretiert werden. Genau genommen müssten demnach sechs
Dimensionen untersucht werden, die jeweils untereinander in Beziehung stehen könnten. Um eine
pragmatisch sinnvolle Analyse sicherzustellen, wird hier jedoch eine vereinfachende
grundlagenbezogene Reduktion vorgenommen. Der Rezipient wird so zu einem vierten ‚quasi-
gleichberechtigten’ Faktor im vorliegenden Analysemodell.
6 So plante beispielsweise die Republikanische Partei der Konservativen in den USA 1984 unter
Ronald Reagan den Song als Wahlkampfhymne einzusetzen. Bruce Springsteen verweigerte dazu
jedoch seine Zustimmung.
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Bild, Text und Rezipient zu gelangen. Die Aufgliederung des
Betrachtungsgegenstandes erlaubt eine dezidierte Differenzierung der intermedialen
Phänomene.
Betrachtet man die Möglichkeiten des Zusammenspiels von Bild und Ton, so ist [sic]
wichtig die Koinzidenz einzelner musikalischer Ereignisse, etwa in Form von Harmonie-
und Farbwechsel, rhythmischen Bewegungen, betonten Bildschnitten sowie Parallelen
auf der Ebene der Darstellung und der Technik der Darstellung, struktureller Parallelen,
die sich aus der Gemeinsamkeit im Rhythmus von Bild- und Songbewegungen ergeben,
und Parallelen zwischen Songtextstellen und der interpretierenden Bilder. (Straßner,
2002: 89)
Interdependenzen können sich im Kontext der vorangegangenen Betrachtungen auf
unterschiedlichen Dimensionen oder Ebenen herausbilden. Dabei sind
selbstverständlich verschiedene Modelle denkbar. In der vorliegenden Arbeit wird bei
der Operationalisierung der Termini mit einem vierdimensionalen Kategoriensystem
gearbeitet, da dieses für die Art der Untersuchung am geeignetsten scheint: Die
Autoren differenzieren zwischen strukturell-technischer Ebene, soziokultureller
Ebene, perzeptiv-konventioneller Ebene sowie dem Fokus bezüglich des Künstlers,
seinem Image und den damit verbundenen mentalen Repräsentationen des
Publikums. Diese Ebenen sollen in den folgenden Abschnitten anhand von zwei
Beispielen näher erläutert werden. Davor wird jedoch zunächst der grundlegende
Begriff der Intermedialität erläutert.
4.2.1 Intermediale Bezüge
Da das Musikvideo durch seine Struktur als Kompositum distinkter Zeichensysteme
per se intermediale Bezüge impliziert, stellen diese eine zentrale Komponente der
vorliegenden Arbeit dar. Rajewsky definiert Intermedialität im weitesten Sinn „als
Hyperonym für die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene“
(Rajewsky, 2002: 12). Damit soll folglich ein Überbegriff für medienübergreifende
Ausprägungen von Inhalten etabliert werden, wobei allerdings fraglich bleibt,
inwiefern eine mediale Grenzziehung sinnvoll und kohärent gestaltet werden kann.
Ausgehend von der zentralen These, dass Texte sich auf andere Texte beziehen,
lassen sich in Bezug auf den Intermedialitätsbegriff im sprach- und
medienwissenschaftlichen Diskurs verschiedene Termini konstatieren. Infolgedessen
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muss eine Analyse des Intermedialitätsbegriffs terminologisch bereits beim
Textbegriff ansetzen, der, entsprechend der jeweiligen wissenschaftlichen
Ausrichtung, eng- bzw. weiter gefasst sein kann (vgl. ebd.: 52f). Stellvertretend für
die linguistische Auffassung sei als Beispiel, e pluribus unum, auf Brinker verwiesen:
Der Terminus >>Text<< bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die
in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion
signalisiert. (Brinker, 1997: 17)
Im Gegensatz zu Brinker verwendet Mikos als Filmwissenschaftler erwartungsgemäß
einen erweiterten Textbegriff, der auch filmische Inhalte und Ausdrucksformen
inkludiert (Mikos, 2003: 261). Erst dieser Schritt ermöglicht es, das
Methodeninstrumentarium der Textanalyse auf die Filmanalyse zu erweitern. Eine
analoge Vorgehensweise ist selbstverständlich auch bei anderen Medien7 denkbar
und bereits in wissenschaftlicher Anwendung.
Rajewsky differenziert weiterführend, zum einen in Bezug auf Intertextualität in die
„Theorie der Relationen zwischen Texten“, und zum anderen bezüglich
Intermedialität in die „Theorie der Beziehungen zwischen Medien bzw. Produkten
verschiedener Medien“ (Rajewsky, 2002: 44). Zentral ist demnach die
Unterscheidung zwischen Intertextualität und Intermedialität, die stark davon
abhängig ist, welcher Textbegriff zugrunde gelegt wird. Wenn ein Text per
definitionem primär durch seine Struktur und nicht durch Form geprägt ist, kann in
der Folge bei einem intertextuellen Bezug gleichzeitig ein intermedialer Bezug
vorliegen, der allerdings nicht explizit als solcher erfasst wird, da er in dem
entsprechenden Begriffssystem nicht als terminologische Unterscheidung
vorgesehen ist. Damit verknüpft ist eine divergierende Akzentuierung der
Bedeutungszuweisung des Medienwechsels entsprechend dem jeweiligen
Intermedialitätsbegriff. Dabei kann entweder die Überwindung eines Trägermediums
oder die semantische Transformation von Inhalten fokussiert werden. Anhand dieser
Positionen lässt sich im Ansatz eine fachrichtungsübergreifende Terminusdiskussion
7 Der Medienbegriff wird dabei im Sinne der Kognitionspsychologie nach Ohler und Nieding als ein
externes Repräsentationssystem verstanden, das durch Zeichensysteme binnenorganisiert ist.
Vergleiche dazu Ohler / Nieding, 2004: 317 – 330.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
erkennen, auf deren gesamtes Ausmaß in dieser Arbeit nicht Bezug genommen wird.
Stattdessen wird der Fokus im vorliegenden Text auf die intermedialen
Korrespondenzen gelegt, die sich bei der Betrachtung von Bild, Musik und Songtext
für die Analyse von Musikvideos unter Beachtung des rezeptionellen Kontexts
ergeben. In diesem Zusammenhang wird explizit auf den Intermedialitätsbegriff von
Rajewsky rekurriert (vgl. ebd.: 13).
In jedem Musikvideo befinden sich Ton, Bild und Song in verschiedenen
Ausprägungen8. Demzufolge ist bei der klassischen Analyse von Videoclips vorrangig
die Trias der Zeichensysteme Video, Audio sowie literarischer Text von besonderer
Relevanz. Ein zentrales Element stellt in diesem Zusammenhang das Konzept des
semantischen Rahmens dar. Nach Borstnar, Pabst und Wulff zeigt dieser „die
Diskontinuität zwischen dem Bild und seiner Umgebung (Kontext)“ an (Borstnar/
Pabst/ Wulff, 2002: 86).
Bilder sind potenziell mehrdeutig (polysem). D.h. im Bild können verschiedene
Bedeutungskomplexe angelegt sein, die in den konkreten situativen bzw.
kommunikativen Zusammenhängen unterschiedlich gewichtet abgerufen werden. Ein und
dasselbe Bild wird also in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gelesen und
verstanden. (ebd.: 85)
An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass der Rezipient als vierte Dimension
Eingang in die Betrachtung finden muss, da er die im Bild kodierten semantischen
Einheiten des Produzenten dekodiert. Diese Feststellung bleibt jedoch nicht auf das
Zeichensystem Film beschränkt, sondern kann für Ton und Songtext in ähnlicher
Weise adaptiert werden. Dabei beeinflussen jeweils individuelle und soziale Faktoren
der konkreten Rezeptionssituation die Konstruktion der Bedeutungszuweisung. Sie
bilden den kontextuellen Rahmen für die Rezeption und das Verständnis des
Inhaltes.
Selbstverständlich gehen auch Borstnar, Pabst und Wulff davon aus, dass die
visuelle Repräsentation von Inhalten im Film nicht autonom funktioniert, sondern
8 Das Auftreten dieser drei Zeichensysteme sehen die Autoren der vorliegenden Arbeit als
konstituierend für das Genre „Musikvideo“ an. Dabei wird jedoch keine Aussage über die quantitative
und qualitative Gewichtung dieser semiotisch-strukturellen Komponenten getroffen.
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durch auditive Inhalte konkordant oder komplementär ergänzt wird. Demzufolge ist
der dem Video zugrunde gelegte Song semiotisch gleichberechtigt für den „Aufbau
des audiovisuellen Zeichensystems“ (ebd.: 122) und für dessen künstlerische
Ausgestaltung verantwortlich. Im klassischen Spielfilm wird mit Hilfe von auditiven
Elementen vor allem die emotionale Ebene der Wahrnehmung angesprochen. In der
entsprechenden Fachliteratur werden in diesem Zusammenhang zwei spezifische
Funktionen dieser auditiven Elemente unterschieden: Zum einen wird die
bezeichnende Funktion herausgestellt, die komplementär oder kontrastiv das bildlich
Dargestellte illustriert. Zum anderen wird die affektiv-evokative Funktion betont, die
unabhängig vom visuellen Bedeutungsgehalt auf das Gefühl der Rezipienten abzielt.
Dabei haben sich bestimmte Konventionen entwickelt, die vom Rezipienten zur
Aktivierung spezifischer Affekte erkannt werden.9 Demzufolge kann die bildliche
Aussage aufgrund der im Film vorhandenen Musik und Geräusche verstärkt,
modifiziert oder erweitert werden. Prinzipiell lassen sich diese Effekte auch in
Musikvideos anwenden, wobei jedoch anzumerken bleibt, dass sich
Einschränkungen ergeben, da ein relativ hohes Niveau auditiver Informationen
beständig durch die Präsentation des Songs gegeben ist. Demgegenüber geht
Straßner, in Bezug auf Musikvideos, von einer perspektivisch entgegengesetzten
These aus. Die Bilder werden, seiner Meinung nach, bewusst genutzt, um bestimmte
Emotionen, die mit dem Song verbunden sind, zu verstärken.
Insgesamt ergibt sich meist ein Bilder-Pingpong, das aber wie aus einem Guß wirkt. In
der kurzen Zeit gibt es 150 bis 200 Schnitte mit blitzschnellen Orts-, Perspektiven- oder
Kleiderwechseln. In manchen Songs sind Elemente enthalten, die sich mit visuellen
Assoziationen kombinieren lassen, wo eine bestimmte Stimmung der Musik eine
bestimmte Art der visuellen Umsetzung geradezu verlangt. (Straßner, 2002: 89)
Der scheinbare Widerspruch zwischen beiden Thesen kann durch eine
Einschränkung des Geltungsbereiches aufgelöst werden. Beide Ansätze können
parallel zur entsprechenden Akzentuierung der Inhaltsanalyse eingesetzt werden.
Musik und Geräusche stehen demnach mit dem Bild in einem interdependenten
Verhältnis.
9 Diese Darstellungsweise des Auditiven ist der Literatur zur Rezeption von Filmen entlehnt. Eine
differenzierte Analyse dazu schrieben beispielsweise Borstnar, Pabst und Wulff (2002: 122 – 128).
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Im Gegensatz zu filmischen Texten unterscheiden sich literarische Texte
dahingegen, dass Bilder ausschließlich anhand von Sprache umgesetzt werden und
dabei ein mental-kognitiver Transfer des Inhalts durch den Rezipienten erfolgen
muss. Bezogen auf das Genre der Musikvideos besteht die primäre Aufgabe des
Songtextes darin, eine hohe Anschaulichkeit mit Hilfe von sprachlichen Bildern zu
generieren10. Das künstlerische Sujet wird durch rhetorisch-stilistische Mittel und
inhaltliche Verknüpfungen in einen eigenen intertextuellen Bezug gesetzt, der auch
unabhängig von Musik und Video funktioniert. Dabei nimmt der Rezipient eine
bedeutende Rolle ein, da er erst durch die Einbettung des Textes in sein Wissen
sowie die entsprechenden mentalen Konzepte den Kontext vervollständigt und
letztendlich Sinn erschließt11.
In diesem Zusammenhang lässt sich als Ergebnis der vorangegangenen Argumente
feststellen, dass Videoclips mehr sind als die Gesamtheit ihrer konstituierenden
Teile. Die Zeichensysteme Bild, Ton und Songtext generieren sowohl autonom als
auch interdependent Bedeutungsteile innerhalb eines semantischen Rahmens des
Rezipienten, die in ihrer Gesamtheit das multimodale Repräsentationssystem
Musikvideo ergeben. Die verschiedenen Zeichensysteme können in diesem Prozess
komplementär oder kontrastiv verwendet werden, um eine bestimmte Wirkung zu
erzeugen. Auf diese Weise wird eine Spannung zwischen den betreffenden
Systemen evoziert, die als Text-Bild-Sound-Schere bezeichnet werden kann. Die
unterschiedlichen Ebenen ergänzen sich demnach nicht zwingend in gegenseitiger
Konkordanz zu dem künstlerischen Endprodukt, das den Rezipienten entsprechend
dem kommunikativen Ziel stimuliert.
10 Davon unberührt bleiben selbstverständlich Texte, die aus künstlerischen Gründen auf eine
abstrakte oder verfremdete Darstellungsweise zurückgreifen. Für den Großteil der modernen
Musikstücke dürfte dies jedoch nicht oder nur eingeschränkt zutreffend sein.
11 Vorausgesetzt wird dabei jedoch, dass die Prämissen für das Konzept des aktiven Rezipienten
erfüllt sind. Diese Annahme ist kritisch zu betrachten, da nicht in jedem Fall vorausgesetzt werden
kann, dass sich der Rezipient dezidiert und interessiert dem Inhalt des Musikvideos, respektive
Songtextes, widmet.
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4.2.2 Exemplarische Analyse: EELS – Hey man now you’re really living
Im Jahr 2005 wurde das Video „Hey man now you’re really living“ als erste Single-
Auskopplung des Albums Blinking Lights and other Revelations veröffentlicht.
Regisseur ist der Frontsänger der Band EELS, Mark Oliver Everett, der gleichzeitig
auch als einziger Darsteller agiert. Vor dem eigentlichen Beginn des Videos ist ein
persönlicher Prolog vorangestellt, in dem Everett einen Kontext für das Video
schafft.12 Er schaltet die Steady-Cam an, stellt sich kurz vor und erklärt die Situation.
Danach stellt er explizit eine Referenz zu früheren EELS-Videoclips, insbesondere
„Novocaine for the soul“, her. Dabei läuft noch keine Musik. Erst nach diesen
einleitenden Worten startet Everett seinen CD-Player und der Song „Hey man now
you’re really living“ ertönt in der Album-Fassung.
Der sich daran anschließende Inhalt des Videos lässt sich grob in zwei Arten
unterteilen: Indoor-Aufnahmen, die in Everetts privatem Wohnhaus gedreht worden
sind, und Outdoor-Aufnahmen, die im zugehörigen Garten spielen. Beide Teile sind
direkt miteinander verknüpft, indem Everett, als Darsteller und wahrscheinlich auch
als Kameramann13, das Haus verlässt, in den Garten geht und schließlich wieder
zurückkehrt. Nachfolgend werden anhand dieses Beispiels die Interdependenzen
zwischen Text, Musik und Bild mithilfe unterschiedlicher wissenschaftlicher
Betrachtungsweisen untersucht.
Strukturell-technische Ebene
Interdependenzen können sich auf unterschiedlichen Dimensionen oder Ebenen
herausbilden. So kann beispielsweise auf struktureller Ebene ein Video-Schnitt an
einen gewissen Rhythmus gekoppelt sein oder diesen bewusst brechen oder eine
Bildkomposition mit der Melodie des Titels interagieren. Auch die Wahrnehmung des
Tempos der Musik kann so durch die Art der Kameraführung und der Schnitte
beeinflusst werden.
12 Eine Transkription des Prologs befindet sich im angehangenen Songtext-Transskript.
Weiterführende Erklärungen dazu finden sich in der vorliegenden Arbeit unter dem Punkt Künstler-
Publikum-Image.
13 Die Autoren haben sich in dieser Frage nicht abschließend festgelegt, da eindeutige Beweise bzw.
Widerlegungen im Video nicht nachgewiesen werden konnten.
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Bedingt durch das Konzept des Clips, der fast ohne Budget bewusst auf niedrigem
Niveau gedreht wurde, findet sich nur eine geringe Anzahl an filmischen Stil- und
Gestaltungsmitteln. So werden beispielsweise insgesamt nur fünf Schnitte
verwendet. Dennoch erfolgt der Einsatz zweckgerichtet, um ein bestimmtes
Kommunikationsziel zu erreichen. Dabei zeigen sich strukturelle Kopplungen zu
soziokulturellen und perzeptiven Aspekten bzw. dem Image des Künstlers, die
ebenfalls in der vorliegenden Arbeit behandelt werden. Zusätzlich wird durch den
Einsatz einer extrem persönlichen subjektiven Kameraführung eine große Nähe zum
Künstler und in gewissem Sinne auch Authentizität evoziert. Dazu trägt auch der
Lautstärkepegel der Studioproduktion des Songs bei. Everett nutzt die Album-
Version von „Hey man now you’re really living“ lediglich als Hintergrundmusik zur
spontanen Interpretation des Titels. So sind im auditiven Vordergrund, während des
gesamten Videos, eine Improvisation des Songs und Umgebungsgeräusche sowie
Einwürfe zu hören. Die professionell produzierte Studio-Aufnahme tönt dahingegen
im Hintergrund aus Everetts CD-Player. Dadurch wird Authentizität im Sinne einer
funktionalen Kongruenz zwischen Produzent und Rezipient generiert. Everett
präsentiert seinen Song im offiziellen Video, ähnlich wie ihn auch ein Zuhörer
rezipieren könnte. Damit wird die Schwelle zwischen Künstler und Rezipient
verringert, was auf eine Interdependenz zwischen Image und Videoproduktion
zurückzuführen ist. Der Stil des Videos ist, dieser Argumentation folgend, direkt an
das Image des Künstlers gekoppelt und beide Aspekte beeinflussen sich
wechselseitig. Eine gewisse Publikumsnähe wird dabei in jedem Fall bewusst
gefördert. Jedoch ist die Art und Weise zur Erreichung dieses allgemeinen Ziels
genreabhängig. Das bedeutet, dass eine solche Inszenierung, wie im Video von
Everett, zum Beispiel für Glamrock- oder reine Pop-Künstler durchaus problematisch
sein könnte.
Der intertextuelle Bezug zum Video „Novocaine for the soul“, der bereits kurz in der
Einleitung erwähnt wurde, wird auch in der Gestaltung der Einstellungen implizit
aufgegriffen. In dem Clip zu „Novocaine for the soul“ fliegen Everett und seine Band
leichtfüßig und scheinbar in einem drogeninduzierten Trancezustand durch eine
Stadt. Analog dazu versucht Everett im Video zu „Hey man now you’re really living“,
nach dem entsprechenden Exkurs im Prolog, das Fliegen der Bandmitglieder im
Video des ersten EELS-Songs durch das Herumspringen mit der Steady-Cam
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
nachzustellen14 und so dem aktuellen Clip mehr Dynamik zu verleihen. Die
Ähnlichkeit schafft er in diesem Zusammenhang primär durch die schräg von oben
filmende Kameraperspektive und durch schnelle Bewegungen sowie Sprünge, die
als Ersatz für die ursprünglichen Trickaufnahmen von „Novocaine for the soul“
dienen.
14 Vergleiche die Abbildungen 1 und 2, die entsprechende Bildausschnitte aus „Hey man now you’re
really living“ bzw. „Novocaine for the soul“ wiedergeben.
Abb. 2: Everett zitiert
das Fliegen der Band
Abb. 1: Everett fliegt in
Romaneks Video zu
„Novocaine for the soul“
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Generell ist zu den Einstellungen in „Hey man now you’re really living“ festzuhalten,
dass sie fast vollständig, durchgängig hintereinander gedreht worden sind. Dies kann
als eine strukturelle Metapher auf den sprichwörtlichen Lauf des Lebens gewertet
werden, der Inhalt des Songtextes ist. Es gibt im Leben keine Möglichkeit vor- oder
zurückzuspulen, anzuhalten und die besten Szenen auszuwählen. Everett verzichtet
daher auf mehrere Drehs, er begnügt sich mit dem ersten Versuch. Dabei spielt es
keine Rolle, ob Fehler oder unvorhergesehene Dinge passieren. So stolpert er
beispielsweise vor der zweiten Strophe über einen Stuhl, kommentiert dies kurz,
setzt jedoch seine Improvisation unmittelbar fort.
Soziokulturelle Ebene
Auf kultureller und soziologischer Ebene werden Verhaltensmuster, soziale
Identitäten sowie spezifische Normen und Werte durch beide Zeichensysteme
verarbeitet, so dass auch hier Wechselwirkungen zwischen Bild und Ton bestehen.
Als dritte Dimension ist in diesem Zusammenhang das Image eines Künstlers von
Bedeutung. Selbstverständlich ist diese Dimension eng an die Vorstellungen des
Rezipienten gekoppelt, der das triadische Modell auf einer anderen Ebene erweitert.
Dies äußert sich beispielsweise darin, dass der abgebildete Darsteller sich
physikalisch als visuelle Repräsentation eines individuellen Selbstkonzeptes bzw.
eines unter marketingspezifischen Gesichtspunkten entworfenen Images im Video
wieder findet. Der Künstler stellt ein soziales Konzept dar, das medial vermittelt wird.
Die Interpretation dieses vermittelten Inhalts durch den Rezipienten muss jedoch
nicht mit dem intendierten Kommunikationsziel des Künstlers übereinstimmen. Dieser
gibt dem Rezipienten lediglich bewusst und unbewusst gesetzte Informationen über
das von ihm verkörperte Selbst, die nicht ausschließlich auf offensichtliche Merkmale
wie Körpergröße, Kleidungsstil oder Kulturkreiszugehörigkeit beschränkt sind. So
können auch bestimmte Charaktereigenschaften aus dem Gesehenen bzw.
Gehörtem abgeleitet werden.
Im vorliegenden Beispiel wird auf diese Art und Weise eine zielgerichtete Abkehr von
der Mainstream-Kultur vermittelt. Everett verzichtet bewusst auf eine klassische
Inszenierung durch einen konventionellen Videoclip und bedient gleichzeitig
Künstlerklischees: Zum einen versucht er sich durch eine ungewöhnliche
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Darstellungsweise von der breiten Masse zu unterscheiden. Dabei findet die
Unterscheidung der Unterscheidung willen statt, so dass das Anderssein an sich
Inhalt des Clips ist. An dieser Stelle ergibt sich erneut eine intertextuelle
Schnittmenge mit dem Songtext, da die Individualität als Bestandteil des Lebens
auch dort explizit aufgegriffen wird. Exemplarisch kann dies an der Textzeile „Now
what would you say if I told you that / Everyone thinks you're a crazy old cat / Hey
man now you’re really living“ verdeutlicht werden. Die scheinbar negative Attribution
der Eigenwilligkeit macht das Leben, nach Everett, überhaupt erst lebenswert.
Zum anderen zeigt er sich der Öffentlichkeit als typisch mittelloser Musiker und spielt
mit diesem Image. Denn der scheinbare Makel wird in einigen Künstlerkreisen als
Qualitätskriterium angesehen, da der Künstler ohne die materielle Abhängigkeit von
Plattenfirma, Publikum und Medien scheinbar freier agieren kann. Er muss sich
selbst nicht einem bestimmten Stil unterwerfen, um zu gefallen. Daher ist auch bei
diesem Aspekt der Gestaltung des Videos von einer bewussten Inszenierung
auszugehen. Auf diese Weise will Everett ein spezifisches Publikum ansprechen, das
seine Vorstellungen bezüglich des künstlerischen Schaffens teilt und industriell
vermarktete Musik größtenteils ablehnt. Dennoch muss er sich selbstverständlich
bestimmten Zwängen unterwerfen, da auch er bei einem Plattenlabel unter Vertrag
steht. Er versucht jedoch durch seine Werke und das damit verbundene Image
diesen Einwand zu zerstreuen.15
Zusätzlich betont Everett durch die bewusst lässige Ausführung des Videos seine
Präferenz für die Musik. Er fühlt sich in erster Linie als Musiker und nicht als
Darsteller in Musikvideos. Im Besonderen legt er Wert auf eine authentische
Präsentation von Musik. Dies wird durch den Live-Charakter der akustischen
Umsetzung im Konzept des Videos herausgestellt, da die professionell
nachbearbeitete Studio-Variante des Songs lediglich als Background dient. Die
Produktion eines klassischen Musikvideos ist daher für Everett nur von nachrangiger
Bedeutung. Dies wird vor allem im Prolog verdeutlicht, indem Everett explizit darauf
hinweist, dass er das gesamte Geld zur Produktion des Albums genutzt hat und nun
15 Weitere Ausführungen dazu finden sich unter dem Punkt Künstler-Image-Publikum der vorliegenden
Arbeit.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
keine Mittel zum Videodreh zur Verfügung stehen. Trotzdem wird laut seiner
Aussage zwingend ein Video benötigt, so dass er kurzer Hand selbst einen
einfachen Clip dreht. In diesem Zusammenhang werden demnach erneut die Zwänge
der Musikindustrie aufgegriffen und satirisch verarbeitet. Everett möchte so beim
Rezipienten ein kritisches Bewusstsein für Strukturen und Mechanismen der
Vermarktung von Musik wecken bzw. ansprechen.
Perzeptiv-konventionelle Ebene
Nachfolgend werden audiovisuelle Interdependenzen betrachtet, die bedingt durch
die Wahrnehmung des Menschen entstehen. So sind beispielsweise visuell
wahrnehmbare Handlungen in der Realität auch stets mit bestimmten akustischen
Reizen verbunden und Geräusche implizieren teilweise mentale
Bildrepräsentationen. Das Musikvideo kann diese gelernten Verknüpfungen
zwischen visuellem und auditivem Stimulus aufgreifen oder bewusst damit brechen.
Der vorliegende Clip folgt weitestgehend den perzeptiven Normen des Alltags. Dies
liegt im Konzept zu „Hey man now you’really living“ begründet: Durch den
Improvisationsstil der Darbietung von Frontsänger Mark Oliver Everett, der nur
während dem Refrain durch die Einspielung der professionellen Studioaufnahmen
durchbrochen wird, impliziert der Künstler automatisch eine realistische
Abb. 3: Prolog zum Video
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Geräuschkulisse, die Authentizität generiert.16 Bild und Ton folgen demnach dieser
Improvisation sehr nah, da Everett nicht nur als darstellender Künstler, sondern
wahrscheinlich auch als Kameramann fungiert. Der dabei entstehende Originalton
stammt ebenfalls direkt von der Kamera, so dass die perzeptuelle Ebene als
weitestgehend konform zu den Alltags- und Medienerfahrungen des Rezipienten
klassifiziert werden kann. Die Aufnahme wird nicht durch eine Nachbearbeitung
verfremdet. Teilweise lässt sich in diesem Zusammenhang ein Interaktionseffekt
zwischen der visuellen bzw. der auditiven Komponente explizit zeigen. So stolpert
Everett beispielsweise vor der zweiten Strophe, was aufgrund der Einstellung jedoch
nicht richtig zu sehen ist.17 Es ist lediglich ein dumpfes Geräusch zu vernehmen. Kurz
darauf dreht sich die Kamera zu ihm und er versichert dem Zuschauer „I’m ok, I’m
ok!“, um das Gehörte visuell in Kontext zu setzen.
Vereinzelte Einschränkungen zur konventionskonformen Darstellung ergeben sich
vorrangig aus den bereits erwähnten Überlagerungen durch die Studioaufnahmen
des Songs sowie den technischen Besonderheiten der Videoaufnahme. Die Bilder
der Digitalkamera sind besonders während der Schwenks relativ unscharf und
teilweise schlecht beleuchtet. Wahrscheinlich wurde mit einem automatischen
Aufnahmemodus gearbeitet. Das Resultat ist für das menschliche Auge nicht in
jedem Fall einfach zu verarbeiten und verlangt dem Rezipienten in perzeptiver
Hinsicht einen gewissen Einsatz kognitiver Ressourcen ab. Durch dieses Stilmittel
wurde die produktionstechnische Grundlage für ein Video im Lo-Fi-Look gelegt, das
spezifische Wechselwirkungen zwischen Künstler, dessen Image und dem
Rezipienten impliziert. Dieses Verhältnis wird nachfolgend erläutert.
Künstler-Image-Publikum
Eine Sonderstellung in der semiotischen Analyse des Videos nimmt die Darstellung
des Künstlers ein, der zwischen seinem Musikstück, der medialen Vermittlung und
16 Ausschließlich während des Refrains werden die Original-Aufnahmen vom Album verwendet. Die
Strophen des Songs interpretiert Everett live in eher schlechter Ton-Qualität zur Studioaufnahme, die
im Hintergrund durch seinen CD-Player zu hören ist.
17 Zwar kann der Zuschauer ein Verwackeln des Bildes wahrnehmen, diese Information ist aufgrund
des rasanten Schwenks jedoch als nachrangig einzuordnen. Viel stärker deutet das aufgezeichnete
Geräusch des Kameramikrofons auf den Ablauf der Situation hin.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
der Realität einzuordnen ist. Das Image des Künstlers kann sich dabei als
Einflussfaktor auf die Gestaltung des Videos und die visuelle sowie auditive
Wahrnehmung der Inhalte, seitens der Rezipienten, erweisen. Zentral ist dabei die
Frage, inwiefern bestimmte Images spezifische Erwartungen beim Rezipienten
evozieren und somit unter Umständen prototypische Musik-Bild-Interdependenzen
prägen. Die Fragestellung zielt also auf den Zusammenhang zwischen Image, als
etablierten Einstellungen des Publikums zu Künstlern, und deren Schaffensprozess
und damit auf eine direkte Schnittstelle zwischen Produzent und Rezipient.
Kennzeichnend sind in diesem Kontext eine gewisse Abhängigkeit des Künstlers von
einem rezipienten-projizierten Image sowie der aktiven Gestaltung desselben. Daher
kann von einer eindeutigen interdependenten Beziehung in Bezug auf Image und
künstlerische Gestaltung des Musikvideos ausgegangen werden.
Durch die gezielte Umsetzung eines inszenierten Lo-Fi-Konzeptes verortet sich der
Künstler Everett mit seiner Band, den EELS, in der Indie-Musik-Szene. Auf
professionelles Equipment und Filmteam wurde verzichtet, gedreht wurde mit einer
Steady-Cam aus dem Heimanwenderbereich und das Konzept des Clips erscheint
bewusst oberflächlich-stereotyp gestaltet. Dieser trashige Charakter wird durch den
Prolog nochmals verdeutlicht, der eine bewusste Distanzierung und Referenz zum
ersten EELS-Video „Novocaine for the soul“ darstellt. In dieser Produktion hatte Mark
Romanek Regie geführt und es handelte sich um einen relativ kostspieligen Clip18.
Der intertextuelle Bezug wird zweifelsfrei durch die Bemerkung „there’s not gonna be
any flying around and that sort of thing this time“ hergestellt, da „Novocaine for the
soul“ das einzige Video der Band ist, in dem Bandmitglieder durch die Luft fliegen.
Insgesamt trägt der Prolog von „Hey man now you’re really living“ eine humoristische
Note und es darf bezweifelt werden, dass, wie Frontsänger Everett behauptet,
einfach das Geld für ein professionelles Video gefehlt hat. Denn neben Romanek
hatte unter anderem auch schon Wim Wenders Regie für die EELS geführt. Im Jahr
2001 war er für den Clip zu „Souljacker Part 1“ verantwortlich. Den vergangenen
Hochglanzvideos wird auf diese ironische Art und Weise eine entrückte Antwort
18 Die Einschränkung „relativ“ bezieht sich an dieser Stelle auf die nachfolgenden EELS-Musikvideos
und nicht unbedingt auf Romaneks weiteres Schaffen.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
entgegengestellt und damit auch der Künstler für den Rezipienten spezifisch verortet.
„Hey man now you’re really living“ stellt dabei jedoch keinesfalls den Anfangspunkt
dieser Entwicklung dar: Ein ähnlicher Trash-Ansatz findet sich bereits im EELS-Video
„Flyswatter“, wobei hier jedoch zumindest die Produktion noch professionell
erscheint. Insofern kann das in dieser Analyse untersuchte Video als eine logische
formal-strukturelle Fortsetzung verstanden werden. Es handelt sich jedoch nicht um
einen expliziten Nachfolger. Dagegen sprechen der Inhalt des vorliegenden Clips
und die diachrone Entwicklung des Künstlers.19
Zusätzlich zu den genrespezifischen Inferenzen, die der Produktionsstil dem
Rezipienten erlaubt, wird der Trend des Self-Broadcasting aus dem Online-Bereich
aufgegriffen. Damit wird das Image des Künstlers weiterführend diversifiziert. In Web-
2.0-Communities wie Youtube und Myspace stellen sich Nachwuchskünstler und
verstärkt auch etablierte Stars mit, zumeist einfach produzierten, Songs und Videos
vor, knüpfen Kontakte und lassen ihre Arbeit bewerten. Spätestens seit einzelne
Bands, wie zum Beispiel Gnarls Barkley oder die Arctic Monkeys, den Sprung von
der Online-Plattform zum Plattenvertrag durch massives Interesse der Nutzer
geschafft haben, sind diese vernetzten Gemeinschaften auch für die Plattenindustrie
interessant. Der Video-Stil von „Hey man now you’re really living“ entspricht in seiner
Ausrichtung dieser sozialen Entwicklung und es ist diesbezüglich bezeichnend, dass
der Clip vorrangig im Netz verbreitet worden ist. Das Image des vom Mainstream
weit entfernten Indie-Folk-Rock-Musikers konnte in dieser Form angemessen
transportiert werden. Geschickt wird dabei der potenzielle Impetus zur relativ
spontanen Selbstinszenierung der Community-Mitglieder als Laien der
Videoproduktion verarbeitet. Der Stil der gesamten Produktion wirkt in diesem
Zusammenhang eher wie eine improvisierte Karaokeperformance als eine
einstudierte Choreographie. So werden beispielsweise typische Elemente aus
Musikvideos und Bühnenauftritten aufgegriffen, wie etwa die Einstellungen, die den
Frontsänger Everett an Gitarre bzw. Klavier zeigen. Die Aufnahmen wirken jedoch
stereotypisiert und stark überzeichnet. Everett betont damit den Akt des Darstellens
19 Insgesamt kann kein durchgängiger temporärer Entwicklungsverlauf der Musikvideos von den EELS
angenommen werden, da beispielsweise zwischen „Flyswatter“ (2000) und „Hey man now you’re
really living“ (2005) das eher traditionell produzierte Art- und Performance-Video zum Rocksong
„Saturday Morning“ (2003) sowie das bereits erwähnte „Souljacker Part 1“ (2001) liegen.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
als ‚so tun als ob’, indem er die Instrumente nur sporadisch bedient und unablässig in
die Kamera blickt. Durch den spezifischen intertextuellen Bezug auf Performance-
Grundlagen des Genres wird mithilfe dieser Form des Overactings augenzwinkernd
auf eine künstlerische Metaebene verwiesen.
Zusätzlich zu den bereits geschilderten Besonderheiten im Bezug auf das Verhältnis
von Video, Künstler und Image kommt im Fall von „Hey man now you’re really living“
noch eine bandspezifische Bedeutungskomponente zum Tragen. Diese betrifft
vorrangig die narrative Ebene des Videos mit seinen einfachen und kurzen Inhalten.
Den Verständnishintergrund bildet dazu das Image der EELS. Dieses ist primär
durch die tragischen Inhalte des Albums Electro-Shock Blues von 1998 geprägt.
Darin hatte Mark Oliver Everett den Selbstmord seiner Schwester und den Krebstod
seiner Mutter, mit zum Teil mysteriösen Andeutungen, aber streckenweise auch
relativ explizit,20 verarbeitet. Seither war die Thematik Tod und Trauer ein fester
Bestandteil der medialen Berichterstattung über die Band. Im vorliegenden Video
wird dies aufgegriffen und die Mystifizierung als Band-Mythos vorangetrieben. So
geht Everett zwischen den Strophen von „Hey man now you’re really living“, die im
20 Beispiele für mysteriöse Texte finden sich in “Cancer for the Cure” bzw. “3 Speed”. Explizite
Äußerungen kann man hingegen in „Elizabeth on the bathroom floor“ oder “Dead of winter” hören.
Abb. 4: Everett persifliert klassische Performance-Videos
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Bild durch inszeniertes Instrumentalspiel bzw. Gesang illustriert werden, hinaus in
den Garten und legt zunächst Blumen, später eine Schachtel EELS-Pralinen am
Grab eines unbekannten Haustieres nieder. Beachtenswert ist in diesem
Zusammenhang das Logo auf der Schachtel: Es stammt aus der Electro-Shock-
Blues-Zeit und wird auf den neuen Veröffentlichungen eigentlich nicht mehr
verwendet. Man kann also durchaus von einem intendierten intertextuellen Bezug
ausgehen. Sicherlich wird dabei auf eine Kontrastwirkung beim Rezipienten
abgezielt: Da der Inhalt des Liedes primär eine Hommage an das Leben darstellt, die
zwar auch negative Aspekte umfasst, jedoch insgesamt eine positive Grundnote
trägt, wirkt die Präsentation des Todes im Video zumindest gestelzt. Die fröhliche
Melodie verstärkt diese Wirkung zusätzlich. Auf diese Weise spielt der Künstler mit
dem Image der Band, das durch die vorangegangenen Werke mit dem Thema Tod
verbunden ist. So wird eine bedeutungstragende Ebene geschaffen, die sich aus
semantischen Anleihen aus Songtext, Image, Video sowie Musik zusammensetzt
und sich nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk der EELS in
seiner Gesamtheit erschließt.
Abb. 5: Grabstein des
Haustieres
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Neben einer inhaltlichen Thematisierung des Image des Künstlers findet sich in „Hey
man now you’re really living“ auch eine formelle Komponente, die Interdependenzen
zwischen Künstler, Rezipient und Werk verdeutlicht. Die Konzentration der
öffentlichen Aufmerksamkeit auf den Front-Sänger Everett wird in der Gestaltung der
einzelnen Einstellungen sowie dem Videoclip als Ganzen verarbeitet. Die Band
EELS zeichnet sich seit ihrer Gründung durch wechselnde Bandmitglieder aus, die
einzige Konstante dabei bleibt Everett. Er verwirklicht seine individuellen
künstlerischen Visionen und greift dabei auf eine Vielzahl von Musikern zurück.
Entsprechend wichtig ist er für die Positionierung und Vermarktung der Band. Er hat
dadurch einen gewissen Status als Künstler erreicht und setzt diesen auch in Szene.
So gilt er als Einzelgänger mit einem gewissen Hang zur Exzentrik. Auch dieser Teil
des Images wird im Video zu „Hey man now you’re really living“ aufgegriffen. Dies
wird u. a. dadurch deutlich, dass ausschließlich in seinem privaten Haus bzw. Garten
gefilmt wird und er als einziges Bandmitglied21 in fast allen Einstellungen zu sehen
ist. Zusätzlich weisen der Schriftzug „Mark“ auf seinem Polo-Shirt sowie die
Beschriftung des Mikrofons und der Gitarre mit „E“, seinem Spitznamen, nochmals
auf seine Person hin. Die Bedeutung von Everett für das Werk der EELS wird durch
die omnipräsente Darstellungsweise illustriert und zum Teil auch überspitzt.
21 Streng genommen bildet sein Hund Bobby Jr., der ebenfalls im Video zu sehen ist, dazu eine
Ausnahme. Er hat auf dem zugehörigen Album Blinking Lights and other Revelations von 2005 Vocals
zu dem Song „Last time we spoke“ beigesteuert.
Abb. 6: EELS-Pralinen
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
4.2.3 Exemplarische Analyse: Xavier Naidoo - „Dieser Weg“
2005 erschien als erste Singleauskopplung „Dieser Weg“ aus dem Album Telegramm
für X. Das Konzept des zugehörigen Videos fasst die Produktionsfirma
QFilmproduktion aus Hamburg wie folgt zusammen: „Auf diesem Weg verlässt Xavier
ausgetretene Pfade und durchstreift eine komplett virtuelle Welt“ (QFilmproduktion,
2005). Schon in dieser ersten Note wird der Bezug des Videos zum Songtitel und
Inhalt des Songs deutlich, obgleich sich die Feststellung primär auf die technische
Umsetzung bezieht. Nachfolgend soll gezeigt werden, in welcher semiotischen
Beziehung die Zeichensysteme Musik, Video und Songtext in Abhängigkeit vom
Rezipienten stehen. Dabei werden auch Bezüge zu dem Image des Künstlers in die
Betrachtung eingehen, um Motive für bestimmte Darstellungsweisen
herauszuarbeiten.
Tragendes Element des vorliegenden Musikvideos ist der Begriff des Weges, der
sowohl in seiner wörtlichen als auch in einer metaphorischen Bedeutung gebraucht
wird. Das Charakteristikum des Weges einer Veränderung auf räumlicher Ebene wird
dabei auf eine zeitliche Dimension mit einem Start- und Zielpunkt erweitert. Diese
Form der Metaphorisierung ist keineswegs neu und liegt unter Umständen in der
kognitiven Architektur des Menschen begründet22. Während Xavier Naidoo diesen
Weg im Video beschreitet, der ihn durch eine surreale Umgebung führt, erreicht er
eine Stadt, die einer Kulisse nach dem Vorbild von M. C. Escher gleicht.
22 Vergleiche dazu die Ausführungen von Lakoff (1987) und Johnson (1987) zur Theorie der
kinästhetischen Image Schemata (K.I.S.).
Abb. 7: Geometrisch konstruierte
Stadt
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Bei der künstlerischen Gestaltung des Videos hat sich Regisseur Gerwinat so zwar
eng am Titel des Songs orientiert, aber gleichzeitig der visuellen Komponente des
Musikvideos durch das Stilmittel der filmischen Perspektive einen eigenständigen
Charakter verliehen.
Im Video wandert Xavier einen Weg entlang, der ihn durch eine surreale Wüste und eine
geometrisch einfach gehaltene Stadt führt. Der Clou am Video sind perspektivische und
zeitliche Aha-Effekte, gepaart mit einem sehr warmen Look. So passiert Xavier z. B.
einen Platz, den man gleichzeitig von oben und von unten sehen kann.23 (Xavier Naidoo
– „Dieser Weg“, 2005)
Auffallend beim vorliegenden Beispiel ist, dass Songtext und Video auf das
Wesentliche beschränkt sind. Dadurch soll die zentrale Botschaft stilistisch verstärkt
werden. Gerwinat konzentriert sich also auf wenige stilistische Mittel, um die
inhaltliche Bedeutung durch Reduktion und nicht durch Überzeichnung
hervorzuheben. Diese Reduktion wird unter anderem in der Anzahl der Darsteller,
der Auswahl der Requisiten sowie der Bildkomposition deutlich. Die Bildkomposition
ist in diesem Zusammenhang sogar von doppelter Relevanz: Zum einen sind die
Einstellungen sehr sparsam inszeniert und zum anderen werden teilweise einzelne
Bildelemente einfach mehrfach in eine Einstellung geschnitten. Zur Verdeutlichung
sei dabei auf eine Szene verwiesen in der Xavier einer Allee vertrockneter Bäume
passiert, die gefällt werden. Sowohl Bäume als auch Holzfäller treten als mehrfache
23 Capture MM Berlin übernahm im Auftrag von Q-Film Hamburg die Postproduktion des Videos zu
Xavier Naidoos Single „Dieser Weg“.
Abb. 8: Perspektivische Verzerrung
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Kopien ihrer selbst in Erscheinung. Die Reduktion vollzieht sich also nicht nur in einer
sparsamen Verwendung von Bildelementen, sondern auch in deren Kopie, da die
inhaltliche Dimension des Bildes damit eingeschränkt und künstlerisch verfremdet
wird.
Naidoo möchte mit seinem Songtext dazu animieren, umzudenken, eigene Ideen zu
verwirklichen und alte Verhaltensmuster aufzugeben. Gleichzeitig rekurriert er jedoch
auf die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Vorgehen verknüpft sind. Er vermittelt
so einen inhaltlichen Mix aus implizit optimistischer Aufbruchstimmung und
Durchhalteparole. Insgesamt sind seine Texte meist religiös-philosophisch geprägt
und vermitteln auf diese Weise konstruktive Botschaften zu Vertrauen, Liebe und
Menschlichkeit. An dieser Stelle tritt bereits die Verbindung zu dem Image des
Künstlers hervor, denn diese Deutungsdimension erschließt sich vorrangig aus der
Biographie Naidoos sowie deren Integration in dessen Vermarktung. Der Wegbegriff
ist in diesem Zusammenhang insofern christlich-religiös geprägt, als er der Kirche,
zumindest in der Vergangenheit, bis zu der Zeit der Reformation, als eines der
zentralen Argumente für ein Leben voller Entbehrungen diente. Demnach sollte das
Leben nach dem Tod für das Leben im Diesseits entschädigen. Eine solche
anachronistische Interpretation kann Naidoo selbstverständlich nicht unterstellt
werden, sie erklärt lediglich den Ursprung seines Sujets. Denn auch heute noch
stützen christliche Religionen ihren Glauben zum Teil auf überirdische Unterstützung
in schwierigen Zeiten, sodass eine Überdauerung der herausfordernden Situation im
Sinne des Ertragens für das Individuum in der Folge erleichtert wird.
Abb. 9: Stilistisches Mittel der Vervielfältigung
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Strukturell-technische Ebene
Die Kopplung von Bild und Musik wird in vielen Beispielen des Videos zu „Dieser
Weg“ deutlich. Dabei lässt sich jedoch nicht immer explizit bestimmen, welches
Zeichensystem dominant ist. Beispielsweise ist in einer Szene ein Mädchen
dargestellt, das mit dem Kinderspiel „Himmel und Hölle“ beschäftigt ist. Genau zum
Einsatz der Gitarre im Song beginnt das Mädchen im Takt zu springen. In diesem
Fall kann man, einen aktiven Rezipienten vorausgesetzt, durchaus von einem Primat
der Musik ausgehen. Derartige lose Kopplungen von visuell repräsentierten
Handlungssequenzen an den Rhythmus des Liedes treten durchgängig im gesamten
Video auf24. Die Zuordnung eines spezifischen stilistischen Mittels, wie z. B. einem
auffälligen Melodieverlauf auf auditiver bzw. des Video-Schnitts auf visueller Ebene,
erfolgt jedoch nicht durchgängig monokausal, so dass die Führungsrolle eines der
beiden Zeichensysteme nicht klar erkannt werden kann. Vielmehr scheint sich ein
Wechselspiel zwischen visueller und auditiver Dominanz abzuzeichnen, das unter
Umständen eine erhöhte Aktivierung des Rezipienten durch strukturelle Variation als
Mittel zur Vermeidung von Langeweile fördert.
Auch mit Hilfe der Tricktechnik, die sich im vorliegenden Beispiel vorrangig aus Zoom
und Morphing zusammensetzt, wird ein intertextueller Bezug, in diesem Fall
24 In einer anderen Szene sind Maler damit beschäftigt, Wände zu streichen. Sie bewegen sich auf
jeweils einer Zählzeit des Taktes, jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dementsprechend setzen
einige Maler auf die Zählzeit eins ein, andere auf zwei, drei oder vier. Durch diese verteilten Einsätze
wird eine Dominanz des auditiven Stimulus verhindert.
Abb. 10: Himmel und Hölle
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
zwischen Video und Songtext, geschaffen. So zoomt die Kamera in einer Szene
durch ein Fenster in eine Wohnung, in der sich eine Frau und ein Mann begegnen.
Im Hintergrund ist ein Bild der beiden zu sehen, das schwarz-weiß eingefärbt ist. Im
Verlauf der Szene zoomt die Kamera näher an das Bild, dieses wird schließlich
farbig, und die dargestellten Figuren beginnen, sich zu bewegen. Nachdem das Bild
auf Vollbildgröße herangezoomt worden ist, stellt diese Einstellung die neue
Ausgangssituation dar. Denn im Hintergrund befindet sich erneut ein Foto des
Paares. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrfach. In dieser Reihung von
Einstellungen werden verschiedene soziale Situationen um die zwei Menschen
abgebildet. Der Songtext, der über der beschriebenen Szene liegt, stellt die Bridge
des Liedes dar. Darin stellt Naidoo kurz Charaktere25 vor, die einem Menschen im
Laufe seines Lebens begegnen können. In diesem Zusammenhang werden sowohl
positive als auch negative Charakter-Attribuierungen verarbeitet. Gleichermaßen
werden auch in den Einstellungen der Filmaufnahmen positiv und negativ konnotierte
Phasen der Beziehungsgestaltung eines Paares dargestellt. Der gesungene Text
wird demnach, zumindest in seinen semantisch antithetischen Grundzügen, auch im
visuellen Bereich aufgegriffen und konkordant umgesetzt. Darüber hinaus wird in
dieser Szene der zeitliche Verlauf des Lebens über ein primär räumliches
Gestaltungsmittel, den Zoom, symbolisiert. Dies kann erneut als metaphorische
Anspielung auf den Begriff des Weges verstanden werden. Die zwischen den
dargestellten Phasen vergangene Zeit wird durch den per Zoom zurückgelegten Weg
symbolisiert.
25 Die Charaktere werden im Songtext durch den Begriff „Manche“ generalisiert repräsentiert.
Abb. 11: Bild zoomt / morpht von Szene zu Szene
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Soziokulturelle Ebene
Der Weg als grundlegendes Sujet für Song und Video impliziert eine gewisse
Zielgerichtetheit des Interpreten und seiner Intention zur Schaffung des Werkes.
Grundlegend für diese Interpretation ist der Gedanke, dass Start und Ziel durch eine
bestimmte Distanz voneinander getrennt sind, die überwunden werden muss. Damit
kann Naidoo an einen klassischen Inhalt sozial-orientierter Kommunikation
appellieren. Der Rezipient soll auch in schwierigen Zeiten nicht aufgeben, sondern
sich seiner Chancen im Leben bewusst werden. Der Künstler kann sich so in einer
Rolle präsentieren, in der er anderen Mut zuspricht und sie unterstützt. Dabei
rekurriert er im Songtext auf eigene Erlebnisse, die jedoch allgemein gehalten und
biographisch nicht belegt sind, und gibt aus dieser scheinbar erfahrenen Position
Ratschläge. So wird eine implizite Hierarchie zwischen Produzent bzw. Künstler und
Rezipient etabliert und verstärkt26. Naidoo inszeniert sich als wissender Unterstützer
und die Rezipienten werden in eine Rolle demütiger Zuhörer gedrängt. Der Aspekt
der sozial-emotionalen Unterstützung des Rezipienten in Form eines Appells stellt
somit das explizite kommunikative Ziel in Naidoos Werk dar.
Darüber hinaus spielt die traditionelle bzw. konservative Vorstellung des
Familienbegriffs eine hervorgehobene Rolle im vorliegenden Video. Im mittleren Teil
des Clips sind in den Einstellungen, neben Naidoo, vorrangig Vater, Mutter und Kind
zu sehen. Dieses spezielle, prototypische Bild von Familie wird visuell repräsentiert,
in Kontext zu dem Song gebracht und damit explizit als Teil des Weges dargestellt.
Durch diese Darstellung wird der Familie auf der visuellen Ebene des Videos auch
eine tragende Bedeutung bei der Überwindung von herausfordernden Situationen
beigemessen. In diesem Zusammenhang lässt sich erneut eine Parallele zu Naidoos
christlich geprägter Biographie erkennen. Denn der konservativ in Szene gesetzte
Familienbegriff wird in Deutschland vorrangig, aber nicht ausschließlich, durch
christlich geprägte Gesellschaftsteile vertreten. Es kann aber auch dahingehend
argumentiert werden, dass Regisseur Gerwinat diese klassische Form der
Inszenierung von Familie gewählt hat, um dem Rezipienten das Erkennen des
26 Eine Hierarchie zwischen Produzent und Rezipient muss per se entstehen, da Popmusik nicht als
interaktives, sondern als unidirektionales System konzipiert ist. Musiker wollen Botschaften oder
zumindest semantische Einheiten an ein Publikum vermitteln und erst diese Annahme lässt eine
inhaltliche Analyse, wie die vorliegende Arbeit, sinnvoll erscheinen.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Konzeptes als Solches zu erleichtern. Da sich seine gesamte Komposition durch eine
gewisse Reduktion und Einfachheit auszeichnet, erscheint es nahe liegend, dass
auch der Begriff Familie auf diese Art und Weise in dem Video verarbeitet wird. Folgt
man dieser Deutung steht Gerwinats prototypische Familie nicht nur für sich selbst,
sondern auch für alle alternativen Familienformen.
Des Weiteren lassen sich als semantischer Rahmen religiös-philosophische
Anspielungen und Doppeldeutigkeiten im Clip erkennen. Dies ist ein
Erkennungszeichen für Xavier Naidoo, der seine Musik explizit an christliche Werte
knüpft.27 So rekurriert beispielsweise das Kinderspiel des Mädchens auf Himmel und
Hölle des christlichen Glaubens als dem Leben nachgeordnete Schicksalsinstanzen.
Zudem kann auch die Farbigkeit des Clips, die vorrangig in Erdtönen gehalten ist, als
eine Reminiszenz an biblische Geschichten gewertet werden, da das Setting in einer
wüstenartigen Umgebung liegt.
Perzeptiv-konventionelle Ebene
Der Songtext als Ganzes zielt primär auf einen inneren Gedankenvorgang. Der
Rezipient soll sich sein Leben als Weg bewusst machen und sich darauf einstellen.
Dieser Prozess wird im Bild durch ein spezifisches Abstraktionsniveau in Szene
gesetzt. Realistisches Stimulusmaterial wird mit surrealen Elementen collagiert
angeordnet, um die inneren mentalen Zustände, die auch durch das Unbewusste
und Irrationale geprägt sind, zu repräsentieren. So kann auch erklärt werden,
weshalb nicht alle Teile des Videos einer stringenten Handlungslogik, wie im
klassischen Spielfilm, folgen.28 Dies lässt sich beispielsweise anhand der
Wiederholung und Variation bestimmter Handlungs- sowie Umgebungssequenzen
und deren Akteure nachweisen. Diese filmische Vervielfältigung steht entgegen der
alltäglichen Wahrnehmung des Menschen, da sich exakte Kopien von Vorgängen
27 Dieser Aspekt wird ausführlich unter dem Punkt Künstler-Image-Publikum bearbeitet.
28 So taucht Naidoo im letzten Drittel des Videos in einer Einstellung auf, in die er auf natürlichem Weg
unmöglich gelangt sein kann. Dabei handelt es sich um das Ende der Fensterszene, die auch schon
unter dem Punkt Strukturell-technische Ebene betrachtet worden ist. Er verlässt an dieser Stelle
seinen geraden Weg und auch die Kameraeinstellungen illustrieren dies. Kurze Zeit später jedoch
kehrt er auf seinen ursprünglichen Pfad zurück. Der Rezipient fühlt sich dadurch jedoch nicht in seiner
Wahrnehmung des Videos gestört, sondern nimmt es, wie einen irrationalen Schnitt im Traum, hin.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
bzw. Objekten in der Natur nur äußert selten finden lassen. Die Welt im Clip
erscheint surreal oder traumhaft. Zwischen den einzelnen Handlungssträngen29 sind
Übergänge eingearbeitet, die jeweils Elemente des alten und neuen
Handlungsstranges enthalten. Diese werden nicht in jedem Fall in einer einzelnen
Einstellung vereint, sondern müssen zum Teil durch den Rezipienten und dessen
Wissen um filmische Konventionen erschlossen werden. Auf diese Art und Weise
wird die Linearität des Sujets Weg strukturell im Film fortgeführt. Insgesamt weist der
Clip mehr Ähnlichkeiten mit einem wirren Traum als mit dem ausbalancierten
Continuity-System des Hollywood-Kinos auf.
Des Weiteren lässt sich auf perzeptiver Ebene ein Primat der Musik feststellen. Die
im Video dargestellten Vorgänge erzeugen nicht die für die Alltagswelt typischen und
vom Rezipienten erwarteten Geräusche, sondern sie werden von der Musik
überlagert. Diese Vorgehensweise stellt jedoch nicht unbedingt ein Verstoß gegen
eine Norm dar, da dieser Effekt in vielen Musikvideos genutzt wird und damit als
medienspezifische Konvention für das Verständnis von Musikclips gewertet werden
kann. Man kann sogar davon ausgehen, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn in
einem Clip bewusst Hintergrundgeräusche in den Vordergrund gerückt werden, soll
dies beim Rezipienten eine erhöhte Aufmerksamkeit bewirken. Auf diese Weise
entsteht ein Paradoxon: Wirklichkeitsnahe auditive Elemente werden als
Konventionsbruch wahrgenommen und stehen dem mediensozialisierten Normalen
entgegen. Eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Geräuschen in Musikvideos
kann als ein Abweichen von der Norm klassifiziert und dementsprechend für
aufmerksamkeitswirksame Effekte genutzt werden.
Künstler-Image-Publikum
Als Sänger der deutschen Pop-Szene versucht Naidoo möglichst neutral und
politisch-korrekt aufzutreten. Im Gegensatz zu Musikrichtungen verschiedener
Subkulturen, wie Gangsta-Rap oder Skate-Punk, ist ein rebellisches oder extremes
29 Im vorliegenden Clip ist es, streng genommen, schwierig von Handlungssträngen zu sprechen, da
dazu Zeit, Handlungen und kausale Verknüpfungen fehlen. Die primär dargestellte Handlung ist das
Gehen eines Weges und auch diese scheint zumindest in der Logik der Bilder kein endgültiges
narratives Ziel zu haben. Es sind also hier keine klassischen Handlungsstränge der Filmanalyse
vorzufinden, sondern eher lose Bildepisoden, die strukturell untereinander verknüpft sind.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Image für Künstler der Popkultur nicht förderlich, sondern eher schädlich. Pop-Songs
sollen eine breite Masse ansprechen und müssen sich dabei auf relativ allgemeine
Themen wie Liebe oder das Leben stützen, ohne diese tiefgründig zu verarbeiten.
Denn eine klare Stellungnahme zu spezifischen Aspekten des aktuellen
Zeitgeschehens im Werk des Künstlers könnte die Rezipienten verärgern. Dies ist in
einer Musikrichtung, die sich, nicht wie alle anderen Musikrichtungen durch
musikalische Attribute bestimmen lässt, sondern allein durch Beliebtheit
gekennzeichnet ist, ein signifikantes Risiko. Daher unterstützt die Musikindustrie
solche Vorhaben nur, wenn ersichtlich ist, dass der Großteil der Zielgruppe die
Meinung des Künstlers ebenfalls vertritt30. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Pop-
Künstler keine eigenen Werte vertreten. Sie sind dabei lediglich an ihre Zielgruppe
gebunden, d. h. ein Künstler mit christlich geprägter Zielgruppe wie Naidoo vertritt in
seinen Songs vorrangig christliche Werte.
Deutlich wird dies bereits an der Oberfläche seiner Texte und nicht zuletzt in seinen
Albentiteln wie Zwischenspiel / Alles für den Herrn. Darüber hinaus verwendet er als
Teil seiner künstlerischen Corporate Identity das religiöse Symbol des Davidsterns.
Dabei handelt es sich um eine metaphorische Darstellung der Beziehung zwischen
Mensch und Gott. Das nach unten weisende Dreieck soll in diesem Zusammenhang
verdeutlichen, dass der Mensch sein Leben von Gott erhalten hat, und das nach
oben weisende Dreieck steht für die Rückkehr zu Gott. Der Davidstern wird bei
Xavier Naidoo anstelle des X in seinem Vornamen eingesetzt, der selbst eine
religiöse Bedeutung trägt. Es handelt sich dabei jedoch nicht, wie vielleicht vermutet
werden könnte, um einen Künstlernamen.31
Im Videoclip wird das von Naidoo forcierte relativ brave, bürgerliche Image durch die
Auswahl der Nebendarsteller zusätzlich verstärkt. Wie schon im Video zu "Wo willst
du hin" übernahmen Esther Schweins und Steffen Wink tragende Rollen. Beide sind
30 Als Beispiel sei das Projekt Band Aid aus dem Jahr 1984 angeführt. Hierbei bestand sowohl für die
Künstler als auch für die Plattenfirmen kein Risiko, als sie gegen die Hungersnot in Äthiopien Stellung
bezogen. Es handelte sich dabei um ein gesellschaftliches Thema, bei dem es keine öffentlich
geführte Diskussion über Pro und Kontra gab.
31 In diesem Zusammenhang bleibt anzumerken, dass der zweite Vorname Kurt zur offiziellen
Vermarktung der Musik nicht genutzt wird.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
aus Fernsehproduktionen bekannt und schaffen beim Rezipienten einen gewissen
Wiedererkennungswert. Im Musikvideo sind die beiden Schauspieler durch den
maßvollen Einsatz der Maske sowie alltäglicher Kleidung unauffällig in Szene
gesetzt. Dadurch wird ebenfalls die Identifizierung weiter Teile der Gesellschaft mit
den Darstellern begünstigt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Bekanntheitsgrad
der beiden Akteuere in der Produktion bewusst nicht vollständig ausgereizt wird. Sie
bleiben in der Gesamtwirkung des Videos nachrangig und dem Rezipienten eher als
Nebenhandlungsstrang in Erinnerung. Regisseur Gerwinat setzt mit dem Einsatz der
beiden also nicht auf einen Gaststar-Effekt, sondern bettet ihr elaboriertes
Schauspiel sorgsam in die Gesamtkomposition ein. Auch Xavier Naidoo verzichtet in
„Dieser Weg“ auf eine klassische Starinszenierung. Im Vordergrund der Darstellung
steht der Weg, den Naidoo lediglich beschreitet. Dabei vermittelt er zwischen
Rezipient und den verschiedenen Nebenhandlungssträngen. Seine eigene Person
bleibt jedoch während des gesamten Videos eher im Hintergrund, obwohl er ständig
präsent ist. So kann sich Xavier Naidoo als nachdenklich und spirituell inszenieren,
so dass implizit dennoch ein Imagetransfer von Video zu Star bzw. umgekehrt
stattfindet.
4.2.4 Fazit und Ausblick
Die Ausgangsthese zu Beginn unserer Untersuchungen lautete, dass im Musikvideo
stets ein Zeichensystem dominant ist. Entweder auditive Elemente folgen dem
visuellen Geschehen oder die filmische Umsetzung ist streng an die Musikvorlage
gekoppelt. Falls sich keine Anzeichen von struktureller Kopplung zeigen lassen,
sollte dennoch von einem bewussten Konventionsbruch ausgegangen werden, der
dann die Asynchronität als künstlerisch-stilistisches Mittel einsetzt. Eine Analyse
eines Musik-Videoclips sollte also in Bezug auf die Interdependenzen zwischen Bild
und Musik drei Zustände kennen: Ton-dominant, Bild-dominant und Asynchronität.
Wenn zu diesem Modell noch der Songtext integriert wird, dann sollte das Ergebnis
eindeutig werden.
Während der Arbeit an den Analysen stellte sich jedoch zunehmend die Erkenntnis
ein, dass diese These nicht ohne weiteres haltbar ist. Zwar lässt sich in fast jedem
Fall eine Interdependenz zwischen auditivem und visuellem Material erkennen,
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
jedoch konnten im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine hinreichenden Kriterien zur
monokausal einwandfreien Bestimmung der Dominanz eines Zeichensystems
abgeleitet werden. Analytisch einfach auszuwertende Aspekte, wie Melodieführung
auf auditiver bzw. Videoschnitt auf visueller Ebene, liefern in den meisten Fällen
keine zwingenden Ergebnisse. So bleibt die Bestimmung der Dominanz eines
Zeichensystems vorerst der Intuition des Rezipienten überlassen. Zukünftige
Forschungsprojekte müssen daher die perzeptiven Grundlagen und
medienspezifischen Konventionen noch genauer berücksichtigen, um zuverlässige
Kriterien entwickeln zu können. Doch selbst mit verbessertem Instrumentarium wird
eine zweifelsfreie Bestimmung nicht in jedem Falle möglich sein. Dies muss kein
Makel der betreffenden Wissenschaften darstellen, da das Musikvideo aus der
Synergie der Symbiose von Song und Bildmaterial ein neues Gesamtkunstwerk
erschafft. Sinnvoller erscheint dahingegen der Schritt zur Teilung der Analyse in eine
Produzenten- und Rezipientensicht. So können weitere Bedeutungsvarianten im
Wechselspiel der medialen Repräsentationen erschlossen werden.
Das Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist ein vereinfachtes 4x4-Faktoren-Modell, das
die Trennung zwischen Produzenten- und Rezipientensemantik noch nicht
vollständig konsequent umsetzt, dafür jedoch durch seine problemlose
Anwendbarkeit besticht. Neben den Analyseebenen Bild – Musik – Songtext wird der
Rezipient als vierte Dimension gleichwertig hinzugefügt, obwohl er inhaltlich eine
andere Kategorie abbildet. Auf diese Art und Weise kann auf das Konzept des
Rezipienten im Einzelfall zurückgegriffen werden, ohne dass alle Analyseschritte
zwingend nach Produzent und Rezipient unterteilt werden müssen. Im Sinne einer
pragmatischen Analyse ist dieses Vorgehen zu bevorzugen, da ansonsten der
Gesamtzusammenhang eines Werkes im analytischen Detail verloren gehen kann. In
den exemplarischen Analysen der vorliegenden Arbeit hat sich diese
Vorgehensweise bereits bewährt. Dabei werden die vier Dimensionen unter
Zuhilfenahme einer Analyseschablone untersucht, die sich selbst wiederum aus vier
Subkategorien zusammensetzt: Die Dimensionen Musik, Bild, Songtext und
Rezipient werden auf strukturell-technischer, soziokultureller, perzeptiv-
konventioneller und der Ebene Künstler-Image-Publikum nach Interdependenzen
durchsucht und bewertet. Erst durch diesen ganzheitlichen Ansatz wird das Potenzial
von intermedialen Interdependenzen annähernd in seinem gesamten Umfang
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
expliziert und einer tiefgreifenden Analyse zugänglich. Dieser Beitrag kann
zukünftige Analysen von Musikvideos dazu befähigen, die strukturellen
Verbindungen zwischen den Zeichensystemen eines Clips systematischer
herauszuarbeiten und so semiotische Einheiten genauer zu verorten.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Quellenverzeichnis
Literatur
Brinker Klaus. Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in die Grundbegriffe und
Methoden. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1997.
Borstnar, Nils/ Pabst, Eckhard/ Wulff, Hans Jürgen. Einführung in die Film- und
Fernsehwissenschaft. Konstanz: UVK, 2002.
Grodal, Torben. Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and
Cognition. Oxford: Clarendon Press, 1997.
Johnson, Mark. The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and
Reason. Chicago: University Press, 1987.
Kress, Gunther/ Leeuwen, Theo van. Issues for the multimodal agenda. In: Kress,
Gunther / Leeuwen, Theo van (Hrsg.): Multimodal Discourse. New York und
London: Arnold, 2001.
Lakoff, George. Woman, Fire and Dangerous Things. What Categories Reveal About
the Mind. Chicago: University Press, 1987.
Mikos, Lothar. Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK, 2003.
Nöth, Winfried. Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte
Ausgabe. Stuttgart: Metzler, 2000.
Ohler, Peter / Nieding, Gerhild. Kognitive Ansätze in der Filmpsychologie. Ein Modell
der Filmverarbeitung und Kritik an experimentellen Studien zur kindlichen
Filmverarbeitung. In: Möller-Naß, Karl-Dietmar / Schneider, Hasko / Wulff,
Hans J. (Hrsg.): 1. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium.
Münster: MAkS-Publikationen, 1994.
Ohler, Peter / Nieding Gerhild. Die Entwicklung des Verstehens und der Verwendung
von externen Repräsentationen in der Kindheit am Beispiel von Stand- und
Laufbildern. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.): Bildwissenschaft zwischen
Reflexion und Anwendung. Köln: Von Halem Verlag, 2004.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Rajewsky, Irina O. Intermedialität. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag, 2002.
Straßner, Erich. Text-Bild-Kommunikation – Bild-Text-Kommunikation. Grundlagen
der Medienkommunikation (Bd. 13). Tübingen: Niemeyer, 2002.
Web
QFilmproduktion; History, 2005, Xavier Naidoo, Dieser Weg:
<http://www.qfilm.de/D/index.php?page=art&artid=454&sid=d4a73800369f236
d67ad2f046ec44e3c>, 16.09.2006
Capture-MM Berlin; Projekte, Postproduktion, Musik Videos, Xavier Naidoo:
<http://www.capture-mm.de/de/xavier_naidoo.htm>, 16.09.2006
Songs
EELS. “3 Speed”. Electro-Shock Blues. Geffen (Universal), 1998.
EELS. “Cancer for the Cure”. Electro-Shock Blues. Geffen (Universal), 1998.
EELS. “Dead of winter”. Electro-Shock Blues. Geffen (Universal), 1998.
EELS. “Elizabeth on the bathroom floor”. Electro-Shock Blues. Geffen (Universal),
1998.
EELS. “Hey man now you’re really living“. Blinking Lights and other Revelations.
Interscope (Universal), 2005.
EELS. „Last time we spoke”. Blinking Lights and other Revelations. Interscope
(Universal), 2005.
Naidoo, Xavier. „Dieser Weg“. Telegramm für X. Naidoo Rec (SPV), 2005.
Springsteen, Bruce. „Born in the U.S.A.“. Born in the U.S.A.. Columbia Records,
1984.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Videos
EELS. „Novocaine for the soul“. Beautiful freak. Dir. Mark Romanek. Geffen
(Universal), 1996.
EELS. „Flyswatter“. Daisies of the Galaxy. Dir. unbekannt. Sammel-Lab (Universal),
2000.
EELS. „Souljacker Part 1“. Souljacker. Dir. Wim Wenders. Geffen (Universal), 2001.
EELS. „Saturday Morning“. Shootenanny!. Dir. Steve Hanft. Dreamworks (Universal),
2003.
EELS. “Hey man now you’re really living“. Blinking Lights and other Revelations. Dir.
Mark Oliver Everett. Interscope (Universal), 2005
.
Naidoo, Xavier. „Wo willst du hin?“. Dir. Marcus Sternberg. Zwischenspiel / Alles für
den Herrn. Naidoo Rec (SPV), 2002.
Naidoo, Xavier. „Dieser Weg“. Telegramm für X. Dir. Markus Gerwinat. Naidoo Rec
(SPV), 2005.
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Everett fliegt in Romaneks Video zu „Novocaine for the soul“
Abb. 2: Everett zitiert das Fliegen der Band
Abb. 3: Prolog zum Video
Abb. 4: Everett persifliert klassische Performance-Videos
Abb. 5: Grabstein des Haustieres
Abb. 6: EELS-Pralinen
Abb. 7: Geometrisch konstruierte Stadt
Abb. 8: Perspektivische Verzerrung
Abb. 9: Stilistisches Mittel der Vervielfältigung
Abb. 10: Himmel und Hölle
Abb. 11: Bild zoomt / morpht von Szene zu Szene
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Anhang
Transkript Songtext – Analysebeispiel 1
EELS: Hey man (Now you’re really living)
Album: Blinking Lights and other Revelations, 2005
Regisseur des Videos: Mark Oliver Everett
Is this thing on? I’m not really sure how to work this. Hi, I’m E from the EELS. I had a really
great video idea. You would have loved it, but I spent all the money doing our new album and
there isn’t anything left to make a video. But we need a video. So I guess there’s not gonna
be any flying around and that sort of thing this time. OK, so this is our new video, it’s our new
song, it’s called “Hey man (Now you’re really living)”. Hope you like it.
Do you know what it's like to fall on the floor
Cry your guts out till you got no more
Hey man, now you're really living
Have you ever made love to a beautiful girl
Made you feel like it's not such a bad world
Hey man, now you're really living
Now you're really giving everything
And you're really getting all you gave
Now you're really living what this life is all about
Well I just saw the sun rise over the hill
Never used to give me much of a thrill
But hey man, now I'm really living
Do you know what it's like to care too much
‘bout someone that you're never gonna get to touch
Hey man, now you're really living
Have you ever sat down on the fresh cut grass
And thought about the moment and when it will pass
Hey man, now you're really living
Now you're really giving everything
Now you're really getting what you gave
Now you're really living what this life is all about
Now what would you say if I told you that
Everyone thinks you're a crazy old cat
Hey man, now you're really living
Do you know what it's like to fall on the floor
Cry your guts out till you got no more
Hey man, now you're really living
Have you ever made love to a beautiful girl
Made you feel like it's not such a bad world
Hey man, now you're really living
People, sing
Do you know what it's like to fall on the floor
Cry your guts out 'til you got no more
Hey man now you're really living
Well I just saw a sunrise over the hill
Never used to give me much of a thrill
But hey man, now I'm really living
Intermediale Korrespondenzen: Bild – Musik – Songtext (Madlen Wuttke & Robert Piehler)
Transkript Songtext – Analysebeispiel 2
Xavier Naidoo: Dieser Weg
Album: Telegramm für X, 2005
Regisseur des Videos: Markus Gerwinat
Also ging ich diese Straße lang
und die Straße führte zu mir
Das Lied, das du am letzten Abend sangst
Spielte nun in mir
Noch ein paar Schritte
Und dann war ich da
mit dem Schlüssel zu dieser Tür
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
Es war nur ein kleiner Augenblick
Einen Moment war ich nicht da
Danach ging ich einen kleinen Schritt
Und dann wurde es mir klar
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
Manche treten dich
Manche lieben dich
Manche geben sich für dich auf
Manche segnen dich
Setz dein Segel nicht,
Wenn der Wind das Meer aufbraust
Manche treten dich
Manche lieben dich
Manche geben sich für dich auf
Manche segnen dich
Setz dein Segel nicht,
Wenn der Wind das Meer aufbraust
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieses Leben bietet so viel mehr
Dieser Weg
Dieser Weg ist steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein,
doch dieses Leben bietet so viel mehr
Dieser Weg
Dieser Weg