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Abstract

XXX Streicher, B. (2014). Vom Heldenepos zu einer neuen Risikokultur. Bergundsteigen, 14 (4), 28-33 https://www.bergundsteigen.com/ausgaben/ XXXX Bernhard Streicher ist bergundsteigen-Leserinnen kein unbekannter Autor. Bei seinem Vortrag im Rahmen des DAV-Expertensymposiums „Risikokultur im Bergport“ im Oktober 2014 in München sprach er über das Risiko im Bergsport. Und bezog zu einer seit längerem in der bergundsteigen-Redaktion köchelnden Diskussion ob des Untertitels unserer Zeitschrift - eben, für „Risikomanagement im Bergsport“ - eine klare Position. Mehr nicht nur dazu im folgenden Beitrag basierend auf seinem Vortrag. Der Beitrag argumentiert, dass sich im Bergsport über die letzen Jahrzehnte zunehmend die Vorstellung einer Sicherheitskultur etabliert hatte. Eine Sicherheitskultur ist aber im Bergsport unangemessen. Daher sollte wieder eine neue Risikokultur entwickelt werden. Die Bedingungen für eine solche Risikokultur werden skizziert.
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Vom Heldenepos zur
Risikokultur
Bernhard Streicher ist bergundsteigen-Leserinnen kein unbekannter Autor. Bei seinem Vortrag
im Rahmen des DAV-Expertensymposiums „Risikokultur im Bergport“ im Oktober 2014
in München sprach er über das Risiko im Bergsport. Und bezog zu einer seit längerem in
der bergundsteigen-Redaktion köchelnden Diskussion ob des Untertitels unserer Zeitschrift -
eben, für „Risikomanagement im Bergsport“ - eine klare Position. Mehr nicht nur
dazu im folgenden Beitrag basierend auf seinem Vortrag.
Bernhard Streicher ist Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie an der UMIT in Hall i.T. mit einem For-
schungsschwerpunkt zu Risiko und Gründer des Risikolabors an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Das Heldenepos als klassische Risikokultur
des Bergsteigens
Das klassische Bild vom Bergsteigen ist geprägt von ständigen
Gefahren, dem Kampf am Berg, dem Ringen um den Gipfel, von
Sieg und Niederlage, Erfolg, Ruhm und Verzweiflung. Dies jeden-
falls sind zentrale Themen der klassischen alpinen Literatur.
Insbesondere mit den Büchern von Reinhold Messner und Rein-
hard Karl wurden ab Mitte der 70er-Jahre die Geschichten von
der Eroberung der Berge um Geschichten der eigenen, inneren Er-
lebnisse der Bergsteiger selbst, mit ihren Zweifeln, Phantasien
und ihrer Euphorie erweitert. Die zugrundeliegende Erzählung
blieb aber die gleiche: das Heldenepos. Die Odyssee, die Aben-
teuer des Odysseus auf seiner 10-jährigen Rückreise nach der Er-
oberung Trojas, ist das klassische Heldenepos in unserem
Kulturkreis. Das Heldenepos besteht im Wesentlichen aus folgen-
den Elementen: Der potentielle Held (oder Heldin) verlässt die
Gemeinschaft (oder zumindest den Alltag); stellt sich ungewöhn-
lichen Herausforderungen (oder zumindest etwas Ungewöhnli-
cherem als der alltäglichen Routine), die den Helden zweifeln
und anfänglich scheitern lassen (oder zumindest gibt es die theo-
retische Möglichkeit des Scheiterns). Schließlich meistert der
Held die Herausforderung (auch wenn es manchmal andere sind,
als die, denen er/sie sich stellen wollte) und kehrt nun als anderer
(weil Held) in die Gemeinschaft zurück.
Ungezählte Epen, Mythen, Märchen und Sagen basieren auf die-
sem Erzählmuster, das uns allen bestens vertraut ist. Die mensch-
liche Wahrnehmung und das menschliche Denken orientieren
sich sehr stark an vorhandenen und erlernten Strukturen und
Mustern. Das Erzählmuster des Heldenepos bestimmt meiner
Meinung nach maßgeblich, welche Form von Geschichten wir als
bewundernswert erachten und welche Form von Erzählungen wir
deshalb bevorzugt auch über unsere eigenen Erlebnisse verwen-
den. Wie wirksam das Muster des Heldenepos ist, lässt sich auf
jeder Alpenvereinshütte erlauschen. Gefühlte 99 % aller Erzäh-
lungen über vergangene Bergerlebnisse folgen diesem Muster.
Das Heldenepos als Erzählmuster des Bergsteigens hat einen
Nachteil und einen Vorteil: Der Nachteil besteht in der Reduzie-
rung auf einen Teilaspekt der Wirklichkeit des Bergsteigens. Das,
was Bergsteiger (Freerider, Slacker, Boulderer usw.) erleben, ist
aber immer mehr, komplexer und vielschichtiger. Das Heldenepos
gibt nicht alle Facetten und Erlebnismöglichkeiten des Bergstei-
gens wieder. Der Vorteil besteht darin, dass die Gefahr des Schei-
terns zentraler Bestandteil der Erzählung ist. Eine wichtige
Botschaft des bergsteigerischen Heldenepos ist: Wer ins Gebirge
geht, setzt sich einer Gefährdung aus. Ohne die Möglichkeit,
selbst in seinen Abenteuern zu Schaden zu kommen, gibt es keine
Heldengeschichte. Damit wird jedem, auch den bergsteigerischen
Laien, klar, dass Bergsteigen schlicht und einfach gefährlich ist.
Zum offensichtlichen Risiko des Bergsteigens, das in der klassi-
schen alpinen Literatur klar und deutlich vermittelt wird, kamen
vfrüher noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Der Zugang zum
Bergsteigen war deutlich aufwendiger als heute. Erstens war das
notwendige Material unzuverlässig, schwierig zu beschaffen und
relativ teuer. Zweitens waren das Erlernen und die Kenntnis alpi-
ner Techniken und Fähigkeiten kein offen verfügbares Wissen,
sondern Geheim- oder Spezialistenwissen. Während man früher
zum Erwerb dieses Wissens möglichst erfahrene Alpinisten benö-
tigte, die bereit waren einen einzuweihen, kamen später alpine
Lehrpläne und Ausbildungskurse hinzu, die aber noch stark von
einer großen Ernsthaftigkeit alpinistischer Tätigkeit geprägt
waren.
Auch die frühen Publikationen des Sicherheitskreises des Deut-
schen Alpenvereins und die Bücher zum Risiko in Fels und Eis des
langjährigen Leiters der Sicherheitsforschung, Pit Schubert, kön-
nen verstanden werden als ein Anschauungsmaterial zum Thema
„So stirbt es sich im Gebirge“ (und wer dies nicht möchte, möge
bitte die dargestellten Unfallursachen vermeiden oder nicht ins
Gebirge gehen).
Die Risikokultur des Bergsteigens war sicher über lange Zeit ge-
prägt vom Heldenepos und der hohen Eingangsschwelle, alpinis-
tische Tätigkeiten überhaupt ausüben zu können. Mit Risikokultur
ist die soziale Übereinkunft gemeint, welche Risiken von wem auf
welche Art und Weise eingegangen werden (vgl. Gottschalk-Ma-
zouz, 2007).
Beispielsweise ist es gesellschaftlich vollkommen akzeptiert am
Straßenverkehr teilzunehmen, obwohl die statistische Wahr-
scheinlichkeit, sich dabei innerhalb eines Jahrs zu verletzen, mit
ca. 1 von 250 Verkehrsteilnehmern (vom Baby bis zum Greis) re-
lativ hoch ist (die Todesrate im Straßenverkehr in Deutschland
liegt bei ca. 1: 20.000; Statistisches Bundesamt). Allerdings bein-
haltet die Risikokultur Straßenverkehr, dass das Risiko, im Stra-
ßenverkehr zu verunfallen, dann akzeptiert wird, wenn sich alle
Verkehrsteilnehmer an die geltenden Regeln halten. Die soziale
Akzeptanz von Regelverstößen hängt stark von der Art der Regel-
verletzung ab (Telefonieren ohne Freisprecheinrichtung wird bei-
spielsweise eher toleriert, Rasen im Vollrausch durch eine belebte
Innenstadt dagegen weniger). Die gleiche Wahrscheinlichkeit sich
zu verletzen, wäre in anderen Bereichen vollkommen inakzepta-
bel (zB bei der Reinheit und Sicherheit von Lebensmitteln, der Si-
cherheit elektronischer Geräte oder der Arbeitssicherheit).
Diese Beispiele lassen sich analog auf das Bergsteigen übertra-
gen. Das Heldenepos hat eine gesellschaftlich anerkannte Risiko-
kultur des Bergsteigens geprägt, in der das Eingehen von hohen
Verletzungsrisiken Teil der Tätigkeit war. Bergsteigern war es
quasi erlaubt, sich beim Bergsteigen hohen Verletzungsrisiken
auszusetzen. Eine Risikokultur drückt sich neben der Art und
Weise, wie eine Tätigkeit ausgeübt wird, insbesondere auch in
den entsprechenden (Fach-)Publikationen, dem verwendeten Ma-
terial, den Normen und Richtlinien aus. Im Alpinismus waren dies
beispielsweise die klassische Alpinliteratur, schlechtes und unzu-
verlässiges Material (aus heutiger Sicht) und keine oder nur ver-
einzelt genormte Ausrüstung.
Stephan Mitter auf der Mandlspitze / Karwendel. Foto: upGRUND.com
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Von der klassischen Risikokultur
zum Risikomanagement
Heute sind eine Vielzahl an leicht und kostenlos zugänglichen In-
formationsquellen verfügbar. Gutes Beispiel sind die bestehenden
Möglichkeiten als Anfänger auf die Schnelle zu erfahren, wie das
Sichern in der Kletterhalle funktioniert: Hierzu gibt es Videoclips,
Piktogramm-Broschüren oder 2-Minuten-Schnelleinweisungen
durch andere Kletterer in der Halle oder das Thekenpersonal (na-
türlich gibt es auch Hallen, in denen gewissenhaft darauf geach-
tet wird, dass genau dies nicht passiert). Jeder Mensch kann sich
heute über alpine Fertigkeiten und Kenntnisse informieren, alpine
Tätigkeiten sind omnipräsent (man beobachte nur, wie oft mit al-
pinistischen Tätigkeiten für nicht-bergsteigerische Produkte ge-
worben wird) und das notwendige Material ist leicht verfügbar
(z.T. durch Verleiher direkt am Fels, am Klettersteig oder am Be-
ginn einer Schitour).
An den physikalischen Bedingungen indes hat sich aber nichts
geändert. Noch immer gilt: wer den flachen Boden verlässt, kann
hinunterfallen. Auf die Anzahl an Alpinisten bezogen gibt es zwar
sicher weniger Unfälle durch Materialversagen, aber die alpinen
Gefahren sind grundsätzlich die gleichen geblieben. Der Ansatz,
der Gefahr mutig oder mit Todesverachtung zu begegnen, passt
nicht mehr für die große Personenzahl, die als ambitionierte
Amateure oder Freizeitsportler Bergsport in all seinen Variationen
ausüben.
Zum einem hat sich im Durchschnitt zweifelsohne der Antrieb
der Bergsportler zum Bergsport gewandelt: Nicht (allein) das Be-
steigen schwieriger Anstiege und die damit verbundene Gefähr-
dung stehen für die breite Masse im Zentrum, sondern positive
Erlebniswerte: Die eigene Freude an der Tätigkeit, das Naturer-
lebnis, gemeinsam verbrachte Zeit und anderes.
Zum anderen ist Bergsteigen in der Breite heute deutlich siche-
rer, die Gefährdung ist weniger allgegenwärtig und daher ist es
nicht im gleichen Maße wie vor 60 Jahren notwendig, sich der
Gefahr permanent bewusst zu sein.
Es gibt Tourenportale im Internet mit Informationen zu den aktu-
ellen Verhältnissen, meist verlässliche Wetterprognosen, gewar-
tete und beschilderte Wege, elektronische Hilfen aller Art,
zuverlässiges Material und Sicherungsmittel und vieles mehr. Zu-
sätzlich hat man gelernt, die Gesetzmäßigkeiten vieler Gefahren
zu verstehen. Dadurch ist einerseits das Material zuverlässiger
geworden (zB weniger Seilrisse, Karabinerbrüche), andererseits
lassen sich durch die Messung vieler Einzelereignisse Prognosen
über die Eintrittswahrscheinlichkeiten unter bestimmten Bedin-
gungen berechnen. Ein Beispiel hierfür sind die Ansätze der pro-
babilistischen Lawinenkunde: Auf Basis vieler Messungen der
Schneedeckenstabilität unter verschiedenen Bedingungen wie
Exposition, Hangsteilheit, Schneedeckenaufbau, Neuschnee-
menge, Strahlungseintrag oder Windeinfluss lassen sich statisti-
sche Wahrscheinlichkeiten berechnen und Modelle entwickeln,
unter welcher dieser Bedingungen Lawinenauslösungen wahr-
scheinlich sind. Daraus wiederum können Verhaltensempfehlun-
gen abgeleitet werden (zB Stop-or-Go, Snowcard).
Wichtig zu verstehen ist, dass es sich um Wahrscheinlichkeiten
inklusive Irrtumswahrscheinlichkeiten handelt (D.h. beispiels-
weise in 90 von 100 Fällen, die der Situation ähnlich sind, wurde
keine Lawine ausgelöst. Die Wahrscheinlichkeit einer Auslösung
läge dann bei 10 % oder p = 0,10. Diese Wahrscheinlichkeit un-
terliegt zusätzlich einem gewissen Irrtum, zB +/- 5 %. Die Irr-
v
Whiteout unter dem Großvenediger beim ÖAV-Update
„Skihochtour“ 2014. Foto: upGRUND.com
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tumswahrscheinlichkeit entsteht dadurch, dass die Bedingungen
nie gleich sind, sondern nur ähnlich und auch die Messverfahren
Fehler enthalten. Je unähnlicher die Bedingungen, je ungenauer
die Messmethoden und je größer das Vorhersagegebiet oder der
Vorhersagezeitraum, desto größer die Irrtumswahrscheinlichkeit).
Die systematische Verwendung statistikbasierter Aussagen zur
Prognose und Prävention von Risiken wird als Risikomanagement
bezeichnet. Im Gegensatz zum intuitiven Entscheiden (zB auf-
grund langjähriger Tourenerfahrung und Wissen) oder einer ein-
zelnen, aufwendigen Messung und Analyse einer konkreten
Situation (zB genaues Schneeprofil eines Hangbereiches) ver-
sucht das Risikomanagement mit rationalen Mitteln (zB kontinu-
ierlichen Messungen, statistische Auswertungen) Risiken zu
identifizieren (zB Lawinenabgang), zu bestimmen (zB unter wel-
chen Bedingungen wird eine Lawine ausgelöst) und zu bewerten
(zB ist das Risiko akzeptabel?).
Daraus lassen sich beispielsweise Verhaltensempfehlungen für
den Einzelnen ableiten (zB bei Stufe 3 LLB nicht steiler als 35
Grad). Der große Vorteil des Risikomanagements besteht darin,
dass der einzelne Bergsteiger dadurch einfache Daumenregeln
erhält, die ihn/sie in die Lage versetzen, schnell gute Entschei-
dungen in komplexen Situationen zu treffen. Grundlage für die
Entscheidung ist dabei nicht die eigene (möglicherweise stark
verzerrte) Einschätzung der Situation, sondern im Idealfall eine
große Datenbasis.
Es ist durchaus eine logische Konsequenz aus der Entwicklung
des Bergsports von einer exotischen Tätigkeit weniger wagemuti-
ger Spezialisten hin zum Volks- und Breitensport, dass zur Redu-
zierung von Unfällen Risiken und ihre Ursachen systematisch
erfasst werden und dass Handlungsempfehlungen, Lehrmeinun-
gen, Normen usw. entwickelt werden. Die vom Heldenepos domi-
nierte klassische Risikokultur des Bergsteigens hat sich in den
letzten Jahrzehnten gewandelt zu einer Risikokultur, die stark
geprägt ist von der Vorstellung, dass sich Risiken am Berg irgend-
wie managen ließen. Voraussetzung für ein erfolgreiches und zu-
verlässiges Risikomanagement ist, dass die Eintrittswahrschein-
lichkeiten der Ereignisse, das Schadensausmaß und die Risikoak-
zeptanz bekannt sind.
Sinn und Unsinn von Risikomanagement
beim Bergsteigen
Wie schwierig bis unmöglich es beim Bergsteigen ist, insbeson-
dere für den einzelnen Bergsteiger, sinnvoll Risikomanagement
im klassischen Sinne zu betreiben, sei am folgenden Beispiel dar-
gestellt: Um zum Einstieg einer Klettertour zu kommen, muss der
Wandfuß gequert werden. Im zu querenden Teil der Wand befin-
det sich bereits eine Seilschaft. Für ein rationales Risikomanage-
ment muss der Kletterer, der gerne zum Einstieg seiner Tour
möchte, wissen
1.wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Seilschaft über
ihm Steinschlag auslöst und er von einem Stein getroffen wird
(Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos).
2.wie groß das Schadensausmaß des Risikos ist (zB sein neuer
Helm wird zerstört).
3.welches Risiko man üblicherweise bereit ist, beim Alpinklettern
einzugehen.
s
Angenommen die Eintrittswahrscheinlichkeit ist 1:1.000 (d.h. der
Kletterer muss unter gleichen Bedingungen 1.000 mal den
Wandfuß queren, um einmal getroffen zu werden) und der neue
Helm kostet ¤100,-, dann liegt der Erwartungswert für das Risiko
(d.h. für den Schaden, mit dem unser Kletterer rechnen muss) bei
¤ 100,- geteilt durch 1.000, das sind 10 Cent. Angenommen, das
allgemein akzeptierte Risiko beim Alpinklettern läge bei
¤ 10.000,- pro 1.000 Aktivitäten (d.h. 1.000 gekletterte Alpin-
touren sollen durchschnittlich nicht mehr als ¤ 10.000,- Schaden
durch zB zurückgelassenes Material, Rettung oder Heilbehand-
lung verursachen). Dann liegt das akzeptierte Risiko pro Tour bei
¤ 10,-. Unser Kletterer kann mit seinem 10-Cent-Risiko also be-
denkenlos den Wandfuß queren und sich während der folgenden
Kletterei und dem Abstieg noch für ¤ 9,90 weitere Risiken leisten
(sobald er dann im Tal für die Heimfahrt ins Auto steigt, muss er
natürlich neu kalkulieren, weil das akzeptierte Risiko im Straßen-
verkehr ein anderes ist).
Wer, bitte, ist in der Lage, Eintrittswahrscheinlichkeiten aller
Risiken, die korrekten Schadensausmaße und das akzeptierte Ri-
siko einer x-beliebigen Bergtour korrekt zu benennen? Niemand.
Um es klar zu schreiben: ich bin nicht gegen Risikomanagement.
Es ist ausgesprochen hilfreich, um aus größeren Datenmengen
(zB auch dem langjährigen Erfahrungswissen von Profis) Hand-
lungsempfehlungen zu entwickeln. Diese Empfehlungen sollte der
einzelne Bergsteiger in seiner Entscheidungsfindung natürlich
möglichst berücksichtigen. Aber Risikomanagement als Entschei-
dungsmodell für individuelle Entscheidungen in spezifischen, zum
Teil sehr unterschiedlichen Situationen vor Ort, als Mittel der
Wahl zu etablieren, ist überfordernd und irreführend.
Erstens, weil wir die notwendigen statistischen Größen nicht
kennen und nicht kennen können.
Zweitens, stellen sich Gefahren im Gebirge meist, im Sinne der
Definition der Begriffe, nicht als Risiken, sondern als Unsicherhei-
ten dar. Bei einem Risiko sind die Eintrittswahrscheinlichkeit und
das Schadensausmaß bekannt. Bei einer Unsicherheit ist eine
oder beide Größen unbekannt. Der Kletterer im Beispiel ist daher
strenggenommen mit einer unsicheren Situation konfrontiert,
weil er nur grobe Abschätzungen vornehmen kann (zB über Fels-
qualität, Verhalten der Seilschaft, Verweildauer in der Gefahren-
zone), allgemeine Verhaltensregeln berücksichtigen kann (zB
lieber mit als ohne Helm queren) und seine Einschätzung mit sei-
ner momentanen, subjektiven Risikobereitschaft vergleichen
muss. Risikomanagement ist als Grundlage zur Entscheidungsfin-
dung in unsicheren Situationen aber nur bedingt geeignet. Je
größer die Unbestimmtheit der Unsicherheiten und je größer die
Anzahl der Unsicherheiten, die gleichzeitig berücksichtigt werden
müssen, desto weniger aussagekräftig und desto unbrauchbarer
das Ergebnis. Im ungünstigsten Fall, der statistisch aber wegen
der größeren Irrtumswahrscheinlichkeiten schnell erreicht ist,
lautet das Ergebnis des rationalen Risikomanagements: „Dass das
Ereignis sicher eintrifft, kann man nicht sagen, und ausschließen
lässt es sich auch nicht, aber dazwischen ist alles möglich.“ Sol-
che Aussagen sind für die individuelle Entscheidungsfindung vor
Ort unbrauchbar.
Drittens, weil Menschen Entscheidungen nicht nach statisti-
schen Maßstäben treffen, was aber eine Voraussetzung für er-
folgreiches Risikomanagement ist. Menschen scheitern meist an
relativ einfachen statistischen Aufgaben (für einen Selbsttest
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siehe www.riskliteracy.org); Menschen verwenden statistische
Begriffe, ohne sie zu verstehen (Was bedeutet 30 % Regenwahr-
scheinlichkeit? Für eine Antwort siehe www.harding-center.com);
Menschen kennen die Wahrscheinlichkeiten von Alltagsrisiken
nicht (Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres
an Grippe zu sterben?); und Menschen denken häufig, dass Risi-
ken linear zunehmen (Der Risikounterschied von LLB 1 zu 2 ist
nicht das gleiche wie von 2 zu 3). Vielmehr unterliegen Men-
schen einer weiteren Vielzahl an Verzerrungsmechanismen, die
sie daran hindern, rational Informationen wahrzunehmen, zu ver-
arbeiten und Entscheidungen zu treffen (für eine Auswahl siehe
Streicher, 2004, 2011).
Viertens, weil der Begriff Risikomanagement suggeriert, dass es
beim Bergsteigen ständig etwas zu managen gäbe und Bergstei-
ger ihre Unternehmungen rational planen, organisieren, sich
selbst und andere entsprechend führen und die Ergebnisse ihres
Handelns kontinuierlich auf ihre Effizienz und ihren Erfolg hin
kontrollieren (das ist Management). Interessanterweise ist vor
lauter managen der erste Teil des Begriffes Risikomanagement
verloren gegangen. Welches Risiko sollen und wollen wir denn
eigentlich managen? Was verstehen wir überhaupt unter Risiko?
Was ist für wen in welcher Situation ein allgemein akzeptiertes
Risiko? Warum wird Risiko im Kontext mit Risikomanagement
häufig als Übel dargestellt, das – wenn es schon nicht vernichtet
werden kann – minimiert werden muss? Was ist mit den positi-
ven Aspekten von Risiko (zB der Freude an der Tätigkeit, der Mo-
tivation für Ziele und Herausforderungen, dem Erwerb von
Kompetenz, dem Meistern von schwierigen Situationen, der
Überzeugung der eigenen Handlungsfähigkeit, der Bewältigung
von Stress, usw. – wie zahlreiche empirische Studien zeigen, sind
dies alles wichtige Faktoren für Lebenszufriedenheit, psychische
Gesundheit und beruflichen Erfolg)?
Vom Risikomanagement zur Sicherheitskultur
Fünftens, ist der Begriff Risikomanagement überfordernd und ir-
reführend, weil Ziel eines erfolgreichen Risikomanagements die
Maximierung von Sicherheit ist. Sicherheit kann zwar auch bein-
halten, dass beispielsweise frühzeitig finanzielle Rückstellungen
für zu erwartende Schäden getätigt werden. Im Zusammenhang
mit Bergsteigen und einem negativ besetzten Risikobegriff wird
Sicherheit aber schnell verstanden als das Beherrschen der Ge-
fahren und der erfolgreiche Ausschluss jedes Verletzungsrisikos.
In dieser Logik führt gutes Risikomanagement weg von einer Ri-
sikokultur des Bergsteigens hin zu einer Sicherheitskultur: Gefah-
ren können jederzeit erfolgreich gemeistert werden und wer
dennoch zu Schaden kommt, dessen Risikomanagement war
nicht gut genug. Trotz aller Fortschritte kommt es aber beim
Bergsteigen immer noch (und wird es auch weiterhin kommen)
zu Materialversagen (zB Klettersteigsets), Funktionsversagen (zB
Sicherungsgeräte) und menschlichem Versagen. Zusätzlich sind
Situationen im Gebirge manchmal sehr komplex, ungewiss und
interpretationsfähig. Dies sind alles Faktoren, die kausale Aussa-
gen erschweren bis unmöglich machen. Unsicherheit und Risiko
sind Wesensmerkmale des Systems Bergsport, Sicherheit dagegen
nicht. Es wird beim Bergsteigen nie eine 100%ige Vorhersage, nie
ein Null-Risiko und damit keine 100%ige Sicherheit geben.
Wie oben ausgeführt drückt sich eine Kultur insbesondere auch
v
in den führenden Veröffentlichungen aus. Im Bergsport sind dies
neben Flyern und Broschüren insbesondere die bekannten und
auflagenstarken Alpinzeitschriften und die noch auflagenstärke-
ren Mitgliederzeitschriften der Alpenvereine.
Bei Durchsicht dieser Publikationen fällt Folgendes auf: ein Groß-
teil der Beiträge ist so gestaltet, dass darin eine Sicherheitskultur
und nicht eine Risikokultur des Bergsports ausdrückt wird. Es
wird die Botschaft vermittelt, dass Bergsport sicher ist und Berg-
steigen als Funsport oder Event sicher ohne große Kenntnisse
durchgeführt werden kann und sich, übertrieben beschrieben, in
seinen Eigenschaften nicht wesentlich von Minigolf unterschei-
det (dass diese Aussage so übertrieben nicht ist, lässt sich in
jedem alpinen Touristenort an den Werbemaßnahmen der örtli-
chen Outdoor-Veranstalter beobachten).
Für die Vermittlung einer Sicherheitskultur in alpinen Publikatio-
nen sprechen meines Erachtens:
1. Eine Diskrepanz zwischen Bildern oder dargestellten Tätigkei-
ten und den schriftlichen Inhalten (zB als Bild eine Gruppe Free-
rider zu Beginn eines Steilhangs, vermutlich erster
Schönwettertag nach erheblichen Mengen Neuschnee unter
Windeinfluss, offensichtlich kalte Temperaturen – also eine Si-
tuation mit erhöhtem Lawinenrisiko; dazu ein Text, der zur ge-
mütlichen Hüttengaudi und genussvollem Schifahren in der
Adventszeit einlädt).
2. Eine unrealistische Vermittlung von Risiken (zB dass Hallen-
klettern als Freizeitsport ungefährlich sei).
3. Der leichte Zugang zu perfekt aufbereiteten Informationen
ohne entsprechende Warnhinweise (zB Internetservices, die nach
Eingabe der Postleitzahl des Suchgebietes auch sehr anspruchs-
volle und gefährliche Freerideabfahrten angeben).
4. Die Verknüpfung unterschiedlicher, unabhängiger Risiken (zB
Übergewicht & Bergsteigen), wobei die Gefährlichkeit des nicht-
alpinen Risikos betont wird, die Gefährlichkeit des Bergsteigens
aber negiert wird und vermittelt wird, dass durch Bergsteigen das
andere Risiko vermindert werden kann (zB dürfte aber das Herz-
infarktrisiko für untrainierte Übergewichtige, die eine lange
Wanderung unternehmen, höher sein, als das Risiko, im gleichen
Zeitraum an den Folgen des Übergewichts ohne Bewegung zu
sterben).
5. Die Verzahnung von kommerziellen Interessen und gemeinnüt-
ziger Vereinstätigkeit. Firmen, die in allen Publikationen allge-
genwärtig sind, haben ein berechtigtes Interesse, ihre Produkte
mit den positiven Aspekten des Bergsteigens zu verbinden. Das
heißt für Firmeninteressen und auch für die kommerziellen Inter-
essen der Alpenvereine ist eine Sicherheitskultur vorteilhafter als
eine Risikokultur. Profialpinisten wird schnell eine erhöhte Risi-
kobereitschaft wegen ihrer (angeblichen) Abhängigkeit von
Sponsoren unterstellt. Diese Vernetzung und wechselseitige Ab-
hängigkeit gibt es aber längst auch im Breitenbergsport. Der Un-
terschied besteht nur darin, dass im Breitenbergsport nicht die
spektakuläre Begehung (mit ihren offensichtlichen Gefahren) im
Vordergrund steht, sondern die positiven, angenehmen Aspekte
des Bergsteigens (unter Ausblendung der ebenso vorhandenen
Gefahren).
Ein weiteres Problem einer Sicherheitskultur sehe ich in mögli-
chen juristischen Folgen: Wenn Bergsportverbände suggerieren,
dass bergsteigerische Tätigkeiten sicher betrieben werden kön-
nen, dann sind für Unfälle immer auch die Beteiligten verant-
wortlich und nicht ein akzeptiertes Restrisiko, das Element
Gebirge oder einfach Pech.
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Plädoyer für eine neue Risikokultur
Insgesamt plädiere ich dafür,
1. sich von einer Sicherheitskultur als maßgebliche Kultur des
Bergsteigens zu verabschieden;
2. Risikomanagement dort einzusetzen, wo es sinnvoll ist, aber
nicht als alleinige Maßgabe für individuelle Entscheidungen am
Berg; und
3. eine neue Risikokultur zu entwickeln.
Welche Anforderungen müsste eine neue Risikokultur erfüllen?
1. Sie soll die gesamte Bandbreite an unterschiedlichen Tätigkei-
ten und Personen des Alpinismus widerspiegeln.
2. Sie soll aktiv und selbstbestimmt durch Bergsportler und ihre
Verbände gestaltet, definiert und vertreten werden – und nicht
reaktiv und fremdbestimmt beispielsweise als Reaktion auf Ge-
richtsurteile. Wenn eine Risikokultur alle Spielarten repräsentie-
ren will, dann kann kein exaktes Maß für das akzeptierte Risiko
bestimmt werden. Denn für den gelegentlichen Hallenkletterer
sollten sinnvollerweise eine niedrigere Risikobereitschaft und -
akzeptanz bestehen als für den erfahrenen Alpinisten oder Expe-
ditionsbergsteiger. Für Kletterhallen wird ein anderer Umgang
mit Gefahren erwartet als für Erstbegehungen an hohen Bergen.
Entscheidend für die Risikoakzeptanz kann daher nicht die Höhe
des Risikos oder das Ausmaß der Gefahr sein, die jemand eingeht.
Maßstab kann aber die Art und Weise sein, wie jemand dies tut.
Bergsportler sollten ihren Sport selbstbestimmt, eigenverant-
wortlich, bewusst und informiert ausüben und ebenso ihre Ent-
scheidungen treffen.
Wer sich bewusst für ein bestimmtes Risiko entscheidet, handelt
nicht fahrlässig oder verantwortungslos (so lange er nicht andere
dadurch gefährdet). Ein so gewähltes Risiko sollte das allgemein
akzeptierte Risiko im Bergsport sein. Dies bedeutet zum einen die
Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung im
Bergsport, zum anderen müssen Personen, die - aus welchen
Gründen auch immer - nicht selbstbestimmt, eigenverantwort-
lich, bewusst und informiert Bergsport ausüben können (zB An-
fänger), über die Risiken und die Gefahren angemessen und
verständlich informiert werden.
Eine solche Risikokultur sollte die oben beschriebene Sicherheits-
kultur ersetzen. Eine mögliche Konsequenz könnte dann auch
sein, dass man sich in den Alpenvereinen über Mitglieder-
schwund freut und nicht über weiteren Zuwachs.
Literatur
Gottschalk-Mazouz, N. (2007). Risikokulturen. In J. Köngeter
(Hg.), Sicherheit und Risiko wasserbaulicher Anlagen. 37. IWASA
Internationales Wasserbau-Symposium Aachen (S. 1-22). Aa-
chen: Shaker.
Streicher, B. (2004). Entscheidungsfindung: Warum wir uns selbst
zum Risiko werden. Bergundsteigen, (3), 16-22.
Streicher, B. (2011). Urteilungsverzerrungen und andere psycho-
logische Faktoren bei der Risikobeurteilung beim Bergsteigen.
Alpinmedizinischer Rundbrief, 45, 6-13.
p
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