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Wege der Ressourcendiagnostik in der Sozialen Arbeit.
Ein ressourcentheoretisch fundierter Überblick
Peter Buttner, Alban Knecht
1 Zum Begriff "Ressource"
Der Begriff "Ressource" ist vieldeutig und seine Geschichte deutet darauf
hin, dass das schon seit langem so ist: Das aus dem Lateinischen abgeleite-
te
Wort bezeichnete ursprünglich die Wiederherstellung eines Zustandes,
das Wiederaufrichten, das Sich Erheben. Im Französischen stand das Wort
für hilfreiche Mittel und Möglichkeiten, für dienliche psychische und phy-
sische Fähigkeiten oder schlicht für Hilfe (Robert 1986), was bereits viel-
fältige Sozialarbeiterische Assoziationen zulässt. Im Deutsch des
19.
Jahr-
hunderts bezeichnete ,,Ressource" dann bürgerliche Unterhaltungs- und
Erholungsvereine (Pfeiffer 1989; siehe z.B. Graf 1868). Ab Mitte der
1970er wurde der Begriff mit der Bedeutung Hilfs- und Rohstoffe belegt
und hielt in der Folge Einzug in die unterschiedlichsten Disziplinen.
Während der ,,Ressourcen-Ansatz" in der Ökonomie heute für die Idee
steht, die Ressource Geld als Indikator für die damit verbundenen Hand-
lungsmöglichkeiten zu verstehen (vgl. Andreß et
al.
1999), wird der Res-
sourcenbegriff in der Psychologie für eine Fülle von Konzepten wie Moti-
vation, Selbstbewusstsein, Kohärenzgefühl, Selbstwirksamkeit und
Kompetenzerwartung verwendet (SchemmeVSchaller 2003). Häufig wird
dann davon ausgegangen, dass Ressourcen grundsätzlich vorhanden sind
und nur noch aktiviert werden müssen. In der Sozialen Arbeit wird der
Begriff gewöhnlich dafür verwendet, die Gleichwertigkeit materieller und
immaterieller Hilfsmittel zu betonen (Bünder 2002).
100
Peter
Buttner,
Alban
Knecht
2 Eine multidisziplinäre Ressourcentheorie
Eine Konkretisierung des Begriffs Ressource kann mit Bezug auf Amartya
Sen erfolgen. Der Volkswirt und Philosoph Sen hat im Rahmen von Län-
dervergleichen festgestellt, dass die Durchschnitte der Pro-Kopf-
Einkommen und der Lebenserwartung zwischen den Ländern nicht stark
korrelieren. Das ist zunächst erstaunlich, denn innerhalb von Staaten ist
der Zusammenhang zwischen Einkommen, Gesundheitsstatus und auch
der Lebenserwartung der Bevölkerung nicht nur außerordentlich stark
(siehe
z.
B.
Wilkinson 2001; Lampert/Ziese 2005), sondern er gilt auch als
eines der
am
besten abgesicherten Ergebnisse der Gesundheitswissenschaf-
ten. Die populäre Zusammenfassung dieser Erkenntnis lautet: Arme ster-
ben früher (z.B. Mielck 2000). Sen lenkt nun die Aufmerksamkeit darauf,
dass es auch reiche Länder gibt, deren Bevölkerung eine kurze Lebenser-
wartung hat und arme Länder, deren Bevölkerung eine relativ lange Le-
benserwartung hae (HDR 2003:60f). Diese Unterschiede erklärte er einer-
seits dadurch, dass Staaten die Verteilung der Ressourcen Bildung,
Gesundheit und Einkommen auf unterschiedliche Art und Weise organisie-
ren, und andererseits dadurch, dass sich Individuen stark darin unterschei-
den, wie sie die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen und in-
einander transformieren können. Die Nutzung und Transformation von
Ressourcen belegt Sen mit dem Begriff functioning. Für das Wohlergehen
der Menschen ist also nicht nur
von
Bedeutung,
ob
Ressourcen prinzipiell
vorhanden und zugänglich sind, sondern auch, wie sie von den einzelnen
Menschen verwendet werden und wie es den Menschen gelingt, die vorlie-
genden Ressourcen
zu
transformieren, d.h. für ihre Ziele
zu
nutzen.
Der Kapitalbegriff des Soziologen Pierre Bourdieu ähnelt dem auf diese
Weise eingeführten Ressourcenbegriff: Bourdieu verwendet die weiten
Begriffe ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital
um aufzuzeigen, dass die persönliche Anhäufung von Ressourcen nicht al-
leine über monetäre Mittel funktioniert, sondern auch über die Bereiche
Kultur (Bildung) und über persönliche Netzwerke. Eine höhere gesell-
schaftliche Stellung eines Menschen spiegelt sich häufig in einer besseren
Ausstattung mit allen Kapitalarten wider. Bourdieu erklärt diese enge Ver-
knüpfung wiederum durch die Transforrnierbarkeit bzw. Konvertierbarkeit
der verschiedenen Kapitalarten.
1 Menschen in Albanien und Saudi Arabien haben eine ähnliche Lebenserwartung (ca. 73 J.), obwohl
das durchschnittliche Einkommen in Saudi Arabien mehr als das Doppelte beträgt. Menschen in Kuba
und den USA haben beide eine Lebenserwartung von ca. 77 Jahren (HDR 2003:237f).
Wege
der
Ressourcendiagnostik
in
der
Sozialen
Arbeit.
101
Während Einkommen und Bildung in beiden Ansätzen berücksichtigt wer-
den, vernachlässigt Sen die Bedeutung des sozialen Kapitals und Bourdieu
die Relevanz der Gesundheit. Tatsächlich lässt sich aber mit Hilfe der So-
zialepidemiologie zeigen, dass die Gesundheit in ähnlicher Weise Trans-
formationen unterliegt wie andere Ressourcen: So führt ein Mehr an Bil-
dung und an Einkommen statistisch gesehen
zu
einer besseren Gesundheit
und
zu
einem längeren Leben. Ähnlich positive Korrelationen bestehen
zwischen Einkommen, Bildung und sozialen Netzwerken. Darüber hinaus
zeigt Bourdieu auf, wie sich soziale Klassen durch die Unterschiede in der
Ressourcenausstattung und dem damit einhergehenden klassenspezifischen
Geschmack und Habitus konstituieren (Bourdieu 1982). Die Menschen in-
ternalisieren ihren sozialen Stand und erkennen ihn als ihre Subjektivität
an; gleichzeitig klassifizieren sie permanent ihre eigene Position
in
der Ge-
sellschaft wie auch die der Menschen um sich herum (Bourdieu
1982:7270. Eine "soziale" Diagnose muss allein schon aus dieser Überle-
gung heraus die Subjektivität berücksichtigen.
Dass aber auch sogenannte objektive Kriterien bei der Evaluation von Res-
sourcenausstattungen in Betracht gezogen werden sollten, lässt sich aus
folgenden Beobachtungen von Sen ableiten. Ländervergleiche zeigen näm-
lich auch, dass Menschen, die objektiv unter sehr schlechten Lebensbedin-
gungen leiden, unter Umständen angeben, dass sie
in
hohem Maße zufrie-
den seien (Sen 2002). Grund für solche "unangemessenen", der objektiven
Situation widersprechenden Angaben können Verdrängungsmechanismen
oder kulturelle Überzeugungen sein (Zapf 1984:25). Daher sollten für die
Bewertung von Lebenssituationen objektive Kriterien herangezogen wer-
den. Sen schlägt vor, den Zustand, der sich aus der Ressourcenausstattung
und den Transformationen ergibt, durch den Gesundheitszustand und -bei
statistischen Erhebungen -durch die Lebenserwartung
zu
beschreiben.
Auch wenn einzelne Individuen die ihnen zur Verfugung stehenden Res-
sourcen nicht oder nicht nur in einem gesundheitsfördernden Sinne einset-
zen, bleiben Gesundheit (individuell) und Lebenserwartung (statistisch) für
Sen dennoch gute Output-Maße für solche Bewertungen (Sen 2000).
Es gibt also gute theoretische und empirische Gründe, die vier Ressourcen
Einkommen/Vermögen, Bildung/kulturelles Kapital, soziales Kapital und
Gesundheit als wesentliche Elemente einer Ressourcentheorie
zu
etablie-
ren und zugleich die Aufmerksamkeit darauf
zu
lenken, dass diese Res-
sourcen ineinander transforrnierbar sind.
102 Peter Buttner,
Alban
Knecht
3 Die Ressourcenperspektive
in
der
sozialen Diagnose
Was kann nun eine Betrachtung von Ressourcen, wie wir sie im Abschnitt
2 angedeutet haben, zur sozialen Diagnostik beisteuern? Wir meinen, dass
einige Argumente dafür sprechen, Ressourcen als wesentliches Element in
die soziale Diagnostik einzubetten:
Zum einen kann die Etfassung der oben genannten Kern-Ressourcen hel-
fen, Defizite so zu beschreiben, dass Situationen des Mangels klarer in Er-
scheinung treten und damit entsprechende Lösungsstrategien deutlicher
werden -vor allem, wenn es um längetfristige Zusammenhänge geht, wie
bei Fragen der Bildung und Ausbildung oder der sozialen Netzwerke. Der
Blick auf die zur Vetfügung stehenden Ressourcen kann zugleich auch
Entwicklungsmöglichkeiten klarer
zu
Tage bringen.
Zum anderen kann die Idee der Transformationen und deren Bezug
zu
ei-
nem sozialepidemiologisch fundierten bio-psycho-sozialen Modell eine
Hintergrundtheorie für die soziale Diagnose darstellen: Die Ressourcen der
verschiedenen Bereiche sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie
verstärken sich im Positiven wie im Negativen. Probleme, die sich von ei-
nem Bereich in einen anderen verlagern, können so besser analysiert wer-
den. Beispiele dafür wären die psychischen und gesundheitlichen Folgen,
die mit Überschuldungs- und Armutssituationen einhergehen oder Arbeits-
platzprobleme, die sich aus gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben.
Die Unterscheidung zwischen zur Vetfügung stehenden Ressourcen einer-
seits und deren Verwendung anderseits kann den Blick
auf
individuelle
Problemsituationen und das Bewältigungsverhalten lenken. Es lassen sich
Fragen nach der Struktur eines Problems stellen, wie zum Beispiel: Liegt
das Problem eher in der Knappheit von bestimmten Ressourcen oder eher
in deren "disfunktionaler" Verwendung?
Schließlich kann die subjektiv-objektive Doppelperspektive -also die ex-
plizite Berücksichtigung objektiver, sozialepidemiologisch als wirksam
erwiesener Gegebenheiten im Verbund mit den subjektiv als Ressourcen
erlebten Sachverhalten -zu einem vollständigeren Bild führen als ein nur
individualisierender Blick. Dieser bleibt allerdings als Perspektive der ein-
zelnen Betroffenen für jede soziale Diagnostik unentbehrlich, denn nur
solch eine Perspektive hat direkten Anschluss an die Lebenswelt der Be-
troffenen. Sie bleibt auch prinzipiell offen für das Entdecken weiterer Res-
Wege
der
Ressourcendiagnostik
in
der
Sozialen
Arbeit.
103
sourcen, die der Einzelne zur Vetfolgung seiner Ziele benötigt und einset-
zen will.
Bourdieus kulturalistische Sichtweise erklärt die soziale Verortung des In-
dividuums durch seine Ressourcen- bzw. Kapitalausstattung und damit
auch die Selbstdefinition des Individuums. Mit den ,,hippen Turnschuhen"
definiert sich der/die Jugendliche nicht nur selbst ("für sich"), sondern po-
sitioniert sich auch innerhalb eines sozialen Milieus oder einer sozialen
Gruppe (siehe auch Budde et al. 2004: 15f). Solche Positionierungen spie-
len für das individuelle und soziale Erleben eine große Rolle, und deswe-
gen sollten sie in einer sozialen Diagnostik prinzipiell nicht ausgeschlossen
sein. Weil aber sowohl Betroffene/r als auch Diagnostikerln beim Diag-
nostizieren "Opfer" ihrer eigenen sozialen Situation und Sozialisation sind,
ist die Hereinnahme solcher Merkmale komplex. Beispielsweise erschließt
sich die Wichtigkeit von Marken-Turnschuhen dem/r Mittelschichts-
Sozialarbeiterin eben nicht selbstverständlich.
Des Weiteren kann die individuelle Ressourcenlage durch eine ressourcen-
theoretische Betrachtung in ein Verhältnis zu sozialstaatliehen Aktivitäten
gebracht werden. Der Sozialstaat teilt nicht nur finanzielle Hilfen in Form
von Arbeitslosengeldern, Notstandshilfe oder Sozialhilfe zu, sondern orga-
nisiert die Zuteilung aller Ressourcen -gemäß der Spezifika des Wohl-
fahrtsregimes (Esping-Andersen 1990): Beispiele dafür sind die Ausgestal-
tung des Bildungswesens, die Organisation der Krankenversicherung, das
Angebot an Einrichtungen des Gesundheitswesens, aber auch die Steuer-
und Familienpolitik2 (vgl. Knecht/Buttner 2008). Die Analyse einer Res-
sourcensituation verweist daher auch auf die Ausgestaltung des Sozialstaa-
tes.
4 Wege
der
Ressourcendiagnostik in
der
Praxis
Im Fortgang wollen wir vor dem Hintergrund unserer Überlegungen zu ei-
ner ressourcenorientierten sozialen Diagnostik drei ressourcendiagnosti-
2 Wahrscheinlich beeinflusst
er
sogar durch Entscheidungen im Bildungswesen (eingliedrig oder drei-
gliedrig, ZUlassen und Fördern von Privatschulen) und städtische Segregation die Bildung von indivi-
duellem SozialkapitaL
104 Peter Buttner,
A1ban
Knecht
sehe Verfahren3 untersuchen. Dabei sollen drei Kriterien betrachtet wer-
den:
• Welches Verständnis von Ressourcen liegt dem Ansatz
zu
Grun-
de?
• Inwieweit werden der subjektive und der objektive Blick auf Res-
sourcen miteinbezogen?
• Inwieweit werden Gegebenheiten der Umwelt in der Ressourcen-
diagnostik berücksichtigt?
4.1
Die RessourcenJage von Meier I Preuße I Sunnus
Ein Beispiel für den Versuch, Haushaltssituationen mit Hilfe von Ressour-
cen
zu
erfassen, stellt die Untersuchung Steckbriefe von Armut (2003) ei-
ner Gruppe von Giessener Haushaltswissenschaftlerinnen dar. Diagnosti-
ziert wurde dabei allerdings nicht in Hinblick auf eine unmittelbare
Intervention, sondern für eine vom deutschen Bundesfamilienministerium
in Auftrag gegebene Studie, die die Möglichkeit der "Armutsprävention
und Milderung defizitärer Lebenslagen durch Stärkung von Haushaltsfüh-
rungskompetenzen" (Meier/Preuße/Sunnus 2003:
13)
eruieren wollte. Die-
se "Haushaltsdiagnose" besteht aus einer -von uns "Ressourcenrad" ge-
nannten Gitternetzdarstellung verschiedener Ressourcen (siehe
Abbildung 1
),
die durch ein Genogramm sowie der Darstellung der Ein-
nahmen und Ausgaben der Familie ("Haushaltsüberschlag") ergänzt wur-
den.
3 Die Auswahl der Verfahren erfolgte nicht nach strikten Kriterien. Sie stellt eine subjektive Auswahl
exemplarischer Verfahren dar, die explizit
auf
Ressourcen Bezug nehmen. Der Ressourcenansatz von
Geiser (2007), der eine Fortentwicklung des Ansatzes von Staub-Bemasconi darstellt, wird in einem
anderen Beitrag dieses Buches (Geiser I
Sagebiel/
Vlecken) behandelt. Die Schatzsuche fur Kinder
(Ungerer-Röhrich et al. 2007), die einer ,,ressourcenorientierten" Gesundheitsförderung im Kindergar-
ten dient, erschien uns zu speziell. Das PIE ist nicht ressourcenorientiert, bildet allerdings
im
Faktor
II
Probleme
der
Umwelt ab. Die ICF liefert mit der Beschreibung körperlicher Funktionen als functio-
nings eine weitreichende Interpretation des Begriffes, der auch bei Sen zentrale Bedeutung hat. Sie
geht kaum
auf
Ressourcen ein, bildet allerdings Umweltfaktoren ab.
Wege
der
Ressourcendiagnostik in der Sozialen Arbeit. 105
Äquivalenzeinkommen
Alltagskompetenzen Anteil Erwerbseinkommen
Sonstiges Netzwerk Mietbelastung
Familiales Netzwerk Wohnungsgröße
Institutionelles Netzwerk Zeitliche Situation
Psychosoziale Situation
Gesundheit
Abbildung
1:
"Ressourcenrad" (Quelle: Meier/Preuße/Sunnus 2003, modifiziert)
Der Ressourcenbegriff wurde bei diesem Verfahren empirisch hergeleitet,
die Erfassung der Ressourcen geschieht auf "objektive" Weise. Die Ver-
wendung von Ressourcen wird nur beim Geld systematisch beschrieben
und durch "Haushaltsführungskompetenzen" abgebildet. Andere Trans-
formationen wurden nicht systematisch betrachtet; jedoch berichten die
von Armut betroffenen Familien auffällig oft von gesundheitlichen Prob-
Jemen. Untersucht wurde, inwieweit die Netzwerke nutzbar gemacht wer-
den könnten. Auf die sozialpolitischen Rahmenbedingungen wurde aller-
dings nur ad hoc durch einen "fachlichen Kommentar" hingewiesen.
4.2 Das Ressourceninterview von Schiepek
Das Ressourceninterview wurde von Schiepek als Mittel der Ressourcendiagnostik
konzipiert, das gleichzeitig der Reflexion der Ressourcensituation durch die Be-
troffenen und der Evaluation der Ressourcenentwicklung während eines psycho-
therapeutischen Klinikaufenthaltes dienen soll (Schiepek/Cremers 2003:153).
106 Peter Buttner, Alban Knecht
Ressource 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 R
'l(pn
taf(je
•j/
p z t)
~
rcuntfschajten
•v'
PZ
1
5port für'Erfio[ung •v'P z 2
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...
·v'
PZ
5
.\cf6stulcrtgcjühl ·v' p z 3
'R.{tcK_zugsm.1'11'olinung
'vT
4
Abbildung
2:
,,Einschätzungsbogen
des
Ressourceninterviews" (Quelle: Schie-
pek/Cremers
2003:
156,
modifiziert.)
Da
Ressourcen hier alleine im Hinblick
auf
ihre Bedeutung für die Ziele
der Betroffenen erhoben werden sollen, wurde von Schiepek ein subjekti-
ves Verfahren gewählt: Im Rahmen eines teilstrukturierten
Interview~
wird
die momentane Lebenssituation reflektiert. Dabei benennt der oder dte Be-
troffene seine/ihre wichtigsten Ressourcen und bewertet
auf
einer Skala
zwischen 1 und 10, in welchem Maße sie vorhanden sind (V), wie groß de-
ren Potential ist (P) und
in
welchem Ausmaß sie in Zukunft vorhanden
sein sollen (Z). Anschließend erstellt der- oder diejenige ein Ranking der
genannten Ressourcen.
Bei einer der Studien, die
in
einer Klinik für Psychosomatik und Psycho-
therapeutische Medizin durchgeführt wurde, ergaben sich bei einer Nach-
befragung am Ende des
Aufenthaltes-
nach durchschnittlich zwei Mona-
ten-
Verbesserungen der Ressourcensituation der Patientinnen: Es wurden
durchschnittlich mehr Ressourcen genannt, die vorhandenen Ressourcen
wurden höher eingeschätzt (6,5 anstelle von 5,6), das eingeschätzte Res-
sourcenpotential stieg (8,2 anstelle von 7,7) wie auch die Zielsetzungen
(8,2 anstelle von 7,8). Einige Ressourcen, wie Entspannung, soziale Kon-
takte/Freunde und Kreativität erhöhten sich signifikant (Schiepek/Cremers
2003:170).
Schiepek I Cremers stellen mit dem Ressourceninterview eine subjektive
Methode vor, bei der die Befragten selbst bestimmen, was Ressource flir
sie bedeutet. Bei der Evaluation des Klinikaufenthaltes ergab sich aller-
dings das praktische Problem, dass die erhobenen
A~gaben
nicht
int~rpe~
sonell verglichen werden können. Daher mussten dte Ressourcen fur dte
Studie klassifiziert werden (Schiepek/Cremers 2003: 164 ). Die Bedeutung
Wege
der Ressourcendiagnostik
in
der Sozialen Arbeit. 107
der Umwelt wird
im
Ressourceninterview nicht explizit thematisiert, was
beispielsweise zur Folge haben könnte, dass sich aus der beschützenden
Situation des Klinikaufenthaltes Verzerrungen ergeben.
4.3 Das
~eschlossene
V
erfahren
der
Ressourcendiagnostik von
Hernger
Das von Herriger (2006) vorgestellte V erfahren dient im Bereich Betreutes
Wohnen als Entscheidungsgrundlage für die Kostenübernahme im indivi-
duellen Hilfeplanverfahren
(lliP)
und als pädagogischer Leitfaden für die
Entwicklungs- und Unterstützungshilfen der Einrichtung. Für seine Erstel-
lung wird am Ende des Probewohnens zwischen dern/r Bewohnerln und
dem/der BezugsbetreueTin ein diagnostisches Gespräch geführt (Herriger
2006).
In einer Umsetzung des Verfahrens durch den Leistungsträger Land-
schaftsverband Rheinland (2003) wird in einem ersten Teil die angestrebte
Wohn- und Lebensform sowie die derzeitige Situation aus der Sicht
des/der Antragsstellerln aufgenommen und durch "Informationen aus fach-
licher Perspektive" ergänzt. In einem zweiten Teil werden die ,,Fähigkei-
ten und Ressourcen" wie auch die "Störungen und Beeinträchtigungen"
erhoben. Die Einteilung
der
verschiedenen Bereiche orientiert sich dann
doch nicht an dem Begriff der Ressource, sondern
an
dem ebenfalls un-
scharfen Begriff der Kompetenz (vgl. Weinert 2001). Folgende Kompe-
tenzbereiche werden unterschieden: Alltägliche Lebensführung, Individuel-
le
Basisversorgung, Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben,
Gestaltung sozialer Beziehungen, Kognitive Kompetenzen und Orientie-
rung, Psychische Kompetenz sowie Kommunikation, Gesundheitsförde-
rung und -erhaltung. Zusätzlich werden die Lebensziele, Hindernisse,
Zielvereinbarungen sowie gewünschte und erforderliche Hilfen erhoben.
Herriger (2006) betont, dass der/die Betroffene in dem Verfahren "in au-
thentischer Selbstäußerung [die] ganz subjektive Sicht personaler Fähig-
keiten und Beeinträchtigungen zu Protokoll geben" kann.
Er
warnt aller-
dings vor der Gefahr der Beeinflussung durch den/die erhebendein
Betreuerln.
Uns erscheint der bei diesem Verfahren verwendete Ressourcenbegriff un-
einheitlich zu sein. Aus unserer Sicht scheint Teilhabe eher eine Interakti-
on zu sein, Basisversorgung eher das Ergebnis einer Ressourcenverwen-
108
Peter Buttner, Alban Knecht
dung und Gesundheitsförderung und -erhaltung eher die Pflege
einer
Res-
source als selbst eine Ressource zu sein.
Die
Erhebung
der
Ziele stellt bei
diesem Verfahren eine zusätzliche Möglichkeit
der
Berücksichtigung
der
Subjektivität des/der Betroffenen dar;
der
Bezug
zur
Umwelt kann
nur
durch die Berücksichtigung
der
Störungen und Beeinträchtigungen erfol-
gen.
4.4
Fazit
Die
drei angeführten Verfahren unterscheiden sich stark bezüglich des Kri-
teriums "objektiv-subjektiv". Während die Erhebung
der
Ressourcenlage
von Meier I Preuße I Sunnus
auf
rein objektive Weise geschieht, stellt das
Ressourceninterview von Schiepek ein rein subjektives Verfahren dar.
Das
geschlossene Verfahren von Herriger stellt dagegen ein Mischverfahren
dar:
Die
Sicht
der
betroffenen Person und des/der Expertln werden gegen-
übergestellt
und
die Wünsche
der
betroffenen Person ergänzend erhoben.
Diesen Unterschieden entsprechend unterscheiden sich auch die Ressour-
cenbegriffe
der
drei Verfahren.
Die
Berücksichtigung
der
Umwelt
erfolgt
ebenfalls in
sehr
unterschiedlichem Ausmaß.
Beim
Verfahren
zur
Erhe-
bung
der
Ressourcenlage werden in erster Linie die aktivierbaren Netz-
werke betrachtet,
im
Ressourceninterview spielt die
Umwelt
hingegen
nur
eine geringe Rolle. Einen umfassenderen Umwelteinfluss lässt
nur
das ge-
schlossene Verfahren zu,
da
darin die Wohn-, Arbeits- und Freizeitsituati-
on
betrachtet und
auf
Störungen
und
Beeinträchtigungen hin untersucht
werden.
5 Potentiale einer Ressourcendiagnostik
Der
ressourcentheoretische Zugang
im
Allgemeinen und die empirische
Untersuchung von Transformationen im Besonderen erfordern eine inter-
disziplinäre Zusammenarbeit in
der
Forschung -mit den Gesundheitswis-
senschaften,
der
Soziologie und
der
Psychologie. Liegt einmal
mehr
Wis-
sen vor über den Zusammenhang zwischen
der
Ressourcenausstattung,
unterstützenden
und
belastenden Umweltfaktoren einerseits und den sich
ergebenden Folgen anderseits, dann könnte eine ressourcentheoretische
Diagnose auch zu einer besseren Prognose zukünftiger Zustände und einer
1111111
____
_
111
I
Wege der Ressourcendiagnostik
in
der Sozialen Arbeit.
109
besseren Planung von Interventionen führen.
Die
subjektiv-objektive
Wechselperspektive bleibt auch bei einer Ressourcendiagnostik immer nö-
tig. Je nach Aufgabenstellung und Arbeitsgebiet wird sie unterschiedlich
ausfallen.
Sind
objektive Verfahren beispielsweise gesetzlich gefordert,
dann kann die zusätzliche Erhebung von Wünschen und Zielen des Betrof-
fenen eine pragmatische Minimallösung sein.
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Klaus Pasch
Zusammenfassung
Ausgehend von einem modernen Verständnis von Hermeneutik als Kunst
der Verständigung, was stets zugleich Ideologiekritik bedeutet, wird die
These ausgearbeitet, dass Hermeneutik gut
zu
einer Methodologie von So-
zialer Arbeit "passt", die sich zugleich der Kunst der Verständigung und
der Ideologiekritik im Sinne (selbst-)kritischer Aufklärung verpflichtet
fühlt.
1 Was verstehen wir unter "Hermeneutik"?
Hans-Georg Gadamer (1972:361) beantwortet in seinem Standardwerk zur
Hermeneutik "Wahrheit und Methode", das 1960 zum ersten Mal erschien
diese Frage folgendermaßen: "Hermeneutik ist die Kunst der
Verständi~
gung". Hermeneutik als Disziplin der philosophischen Erkenntnistheorie
befasst sich mit der Frage, wie Gesprochenes (Rede) und Geschriebenes
(Texte)
zu
verstehen sind, was Rede und Texte überhaupt sind und was
Verstehen bedeutet. Gesprochene und geschriebene Texte sind nach Auf-
fassung der Hermeneutik andere Forschungsgegenstände als zum Beispiel
tote Körper oder das Wetter oder sonst ein Gegenstand der Naturwissen-
schaften. Das leuchtet all jenen ein, die nicht von der Einheit der Wissen-
schaft ausgehen, sondern von einem Wissenschaftskonzept, das sich
an
der
Logik ihrer Gegenstände orientiert.