Die Untersuchung der Haftfähigkeit: Eine retrospektive Untersuchung anhand der Unterlagen des Justizvollzugskrankenhauses NRW
Abstract
Einleitung: In der vorliegenden Arbeit wurden erstmals in großem Umfang retrospektiv Daten zur Haftfähigkeitsbewertung innerhalb und außerhalb des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen erhoben.
§ 455 der Strafprozessordnung ist zu entnehmen, unter welchen Umständen Haftunfähigkeit vorliegt. Die medizinische Versorgung des Gefangenen ist in den § 56 ff. des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) geregelt. Der Gesundheitsfürsorge zugrunde gelegt ist das Äquivalenzprinzip (§ 3 Abs. 1 StVollzG). Es besagt, dass die medizinische Versorgung und Krankenpflege in Haft qualitativ der gesellschaftsüblichen Versorgung in Freiheit entsprechen muss. Die Entscheidung, ob Haftfähigkeit vorliegt trifft in letzter Instanz die Staatsanwaltschaft, nicht der begutachtende Arzt.
Material und Methode: Im Justizvollzugskrankenhaus (JVK) NRW erfolgen regelmäßig auf staatsanwaltschaftliche Anfrage hin stationäre Begutachtungen zur Prüfung der Haftfähigkeit von Verurteilten, die geltend machen, dass sie aus gesundheitlichen Gründen ihre Haftstrafe nicht antreten könnten. Es wurden 375 Fälle staatsanwaltschaftlicher Anfragen an die Leitung des JVKs zur Prüfung der Haftfähigkeit untersucht. Es sollte festgestellt werden, nach welchen Kriterien die Beurteilungen erfolgen und zu welchen Ergebnissen die verschiedenen Gutachter - „extern“ vor Haftantritt häufig Ärzte der Gesundheitsämter, „intern“ Ärzte des JVKs - kommen. Soziodemographische und juristisch-vollzugliche Daten wurden ebenfalls erhoben. Vergleichsdaten aus dem normalen Belegungskollektiv der Haftanstalten in Nordrhein-Westfalen lagen zu soziodemographischen und juristisch-vollzuglichen Gegebenheiten vor. Medizinische Vergleichsdaten lagen nur zu psychiatrischen Erkrankungen vor.
Es erfolgte die Einteilung in zwei Untersuchungskollektive: Die Gruppe der extern Begutachteten und die Gruppe der im JVK unter „vollzuglichen“ Bedingungen Begutachteten, zusätzlich eine geschlechtsspezifische Unterteilung.
Ergebnisse und Diskussion: 1. Externe Gutachter stellten deutlich seltener als die Ärzte des JVKs (volle) Haftfähigkeit fest. Dies ist am wahrscheinlichsten auf mangelnde Kenntnis der medizinisch-vollzuglichen Gegebenheiten und der gesetzlichen Standards zur Beurteilung der Haftfähigkeit zurückzuführen. Die stationäre Begutachtung im JVK erfolgt anhand der engen gesetzlichen Kriterien. Im JVK angetretene Patienten beiderlei Geschlechts sind zu 95% haftfähig. Ablehnungen des JVKs zur stationären Begutachtung erfolgten häufig aufgrund fehlender vollzugsinterner psychiatrischer Begutachtungs- und Betreuungsmöglichkeiten. Fast 20% der Frauen wurden wegen fehlender Pflegeeinheiten, wie sie für Männer in Haft bestehen, abgelehnt.
2. Erkrankungen der internistischen und psychiatrischen Fachbereiche waren führend. Schwerpunkterkrankungen waren koronare Herzkrankheit, (arterieller) Hypertonus und Diabetes mellitus, im psychiatrischen Bereich Abhängigkeitserkrankungen und Depression, bei den Frauen zusätzlich Angst- und Panikstörungen. Bezogen auf alle Erkrankungen zeigten sich unterschiedliche Gewichtungen in der Bewertung für die Haftfähigkeit. In den externen Gutachten wurde die Haft häufig als krankheitsverschlechternder Stress gewertet, das JVK orientierte sich an den medizinisch-vollzuglichen Versorgungs- und Sicherheitsaspekten.
3. Das Untersuchungskollektiv hatte einen deutlich höheren Altersdurchschnitt, war häufiger verheiratet, hatte einen geringeren Ausländeranteil und eine andere Deliktverteilung als das Vergleichskollektiv. Diese Ergebnisse mögen als sekundäre Faktoren in die Motivation zur Prüfung der eigenen Haftfähigkeit mit eingeflossen sein.
4. Eine Definition der Haftfähigkeit, die bereits eine „Negativdefinition“ im § 455 StPO hat, ist im Sinne einer „Positivliste“ nicht möglich. Die Haftfähigkeit ist abhängig von den vollzuglichen Gegebenheiten, der Schwere der Erkrankung und des Einflusses der Haftsituation auf den Verlauf der Erkrankung sowie von der Länge der geplanten Haftdauer. Die Haftfähigkeit differiert somit von Anstalt zu Anstalt. Krankheiten, die „per se“ haftunfähig machen, gibt es kaum; wenige psychiatrische und neurologische Erkrankungen, die zu mangelnder Einsichtsfähigkeit in den Zweck der Haft führen fallen darunter. Es gibt keine „somatischen“ Erkrankungen, die als alleiniger Faktor für Haftunfähigkeit sprechen.
5. Als Konsequenz für die Praxis empfiehlt sich, externen Gutachtern ausreichende Informationen über die medizinischen Möglichkeiten im Strafvollzug zur Verfügung zu stellen, ebenso eine dem juristischen Laien verständliche Erläuterung der entsprechenden Gesetzestexte. Erfolgt keine Anpassung der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten für Frauen an die der Männer, werden weiterhin zahlreiche Frauen haftunfähig sein.