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2013
Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur
Förderung der Beziehungen zwischen
Deutschland und Bulgarien e.V.
BULGARIEN-JAHRBUCH
Verlag Otto Sagner
Bulgarien-Jahrbuch 2013
Bulgarien-Jahrbuch
2013
Herausgegeben von
Helmut Schaller, Sigrun Comati und Raiko Krauß
Verlag Otto Sagner
München–Berlin–Leipzig–Washington, D.C. 2015
Das Bulgarien-Jahrbuch wird im Auftrag der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur
Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. herausgegeben.
Begründet von
Wolfgang Gesemann, Helmut Schaller, Gabriele Schubert und Rumjana Zlatanova
Fortgeführt von
Wolfgang Gesemann, Rumjana Ivanova-Kiefer und Rumjana Zlatanova
Gefördert aus Mitteln der Dr. Röhling-Stiftung
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Online steht dieses Buch in Kürze als Volltextversion über den Katalog der
Bayerischen Staatsbibliothek München (www.bsb-muenchen.de) zur Verfügung.
Anschrift der Redaktion:
Dr. Raiko Krauß
Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters
der Eberhard Karls Universität
Schloß Hohentübingen
Burgsteige 11
D-72070 Tübingen
eMail: raiko.krauss@uni-tuebingen.de
Technische Redaktion:
Manuel Birker
eMail: manuel_birker@gmx.net
Manuskripte und Rezensionsexemplare sind bei der Redaktion einzureichen.
Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen.
© 2015 bei Verlag Otto Sagner, München (http://verlag.kubon-sagner.de)
«Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Satz: robert jones, marburg
Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg
Printed in Germany
ISSN: 1869-3415
ISBN: 978-3-86688-540-0
ISBN (eBook): 978-3-86688-541-7
Sehr geehrte Leserinnen und Leser des Bulgarien-Jahrbuchs 2013,
liebe Freunde Bulgariens!
Seit Jahren schon zeichnet sich die Reihe „Bulgarien-Jahrbuch“ durch eine große
thematische Bandbreite und fundierte Beiträge angesehener deutscher und bul-
garischer Wissenschaftler aus, die den an Bulgarien interessierten Lesern immer
wieder neue Einblicke in seinen Alltag, seine Geschichte und Kultur, Wirtschaft
und Politik gewähren. Dabei bezieht die Themenvielfalt ihren Reiz vor allem auch
aus der Berücksichtigung scheinbar „abseitiger“ Fragestellungen, die neugieriges
Interesse wecken – selbst dann noch, wenn man sich für einen Bulgarien-Experten
halten mag.
Vor Ihnen liegt ein Buch, das wie seine Vorgängerausgaben eine bunte Vielfalt
interessanter Themen diverser Wissenschaftsgebiete im Bulgarien-Kontext be-
leuchtet. Es richtet sein Augenmerk in diesem Jahr vor allem auf Naturwissen-
schaften und Technik, Archäologie, kultur- und sozialwissenschaftliche Frage-
stellungen, Literatur-, Sprach- und andere Geisteswissenschaften. Die Rubriken
„Aktuelles“ und „Personalia“ lassen uns Leser darüber hinaus an der jahres-
aktuellen Arbeit der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft teilhaben.
Wenn wir im Erscheinungsjahr dieses Jahrbuches auf „25 Jahre Mauerfall“
zurückblicken, sollten wir uns in Erinnerung rufen, was einst war und was seit
1989 in unseren Ländern geschehen ist. Die vielfältigen Veränderungen, vor
allem in gesellschaftspolitischer Hinsicht, haben auch zu einer Vertiefung der
Kenntnis der Menschen übereinander und ihre europäischen Herkunftsländer
beigetragen, die sich zuvor aus ideologischen Gründen fremd waren oder sich
zumindest zeitweise entfremdet hatten. Seit der Maueröffnung ist allerdings
eine stärkere Zugewandtheit und Aufgeschlossenheit vieler Menschen ost- und
südosteuropäischer Länder gegenüber dem Westen, insbesondere Deutschland,
zu verzeichnen, als es umgekehrt leider nach wie vor der Fall ist.
Die Reihe „Bulgarien-Jahrbuch“ der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur
Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. bemüht
sich seit Jahren sehr engagiert, dieses Ungleichgewicht in der gegenseitigen
Wahrnehmung aufzuheben und Leser aus deutschsprachigen Ländern für Bul-
garien und seine Vielfalt zu interessieren und zu gewinnen. Insofern ist diesem
Jahrbuch eine große Leserschaft und Verbreitung und Ihnen, liebe Leserin und
lieber Leser, viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre dieses Bandes
zu wünschen.
Jörg Schenk
Wissenschaftsreferent der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sofia
Sofia, den 31.10.2014
Inhalt
Grußwort von Jörg Schenk,
Wissenschaftsreferent der Deutschen Botschaft in Sofia 5
Beiträge
Helmut W. Schaller
Bulgarische Literatur in Deutschland: Von den Anfängen
am Ende des 19. und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts 11
Helmut W. Schaller
Die „B©lgarsko knižovno družestvo/Bulgarische Literarische Gesellschaft“
im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1869-1878 49
Beiträge des Symposiums „Wissenschaft und Technik“ in Berlin 2012
Hans-Dieter Döpmann
Technischer Fortschritt und Religion 66
Dietmar Linke
Ivan Nikolov Stranski (1897-1979),
der bulgarisch-deutsche „Großmeister des Kristallwachstums“,
und sein Wirken im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik 80
Helmut W. Schaller
Aus Gustav Weigands „Bulgarischer Bibliothek“:
Geographie, Eisenbahn und Bergbau in Bulgarien 105
Horst Röhling
Von Außenzentren zu Eigenzentren und inländischen Interessen der
Abonnenten mathematisch-naturwissenschaftlicher Bücher in Bulgarien
1833-1875 119
Beiträge des Symposiums „Bulgarien im europäischen Haus“ in Darmstadt 2012
Sigrun Comati
Zum Symposium der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung
der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V.
„Bulgarien im europäischen Haus“ am 15.11.2012 in Darmstadt 131
Ingo-Endrick Lankau
Fürst Alexander I. von Bulgarien – ein Darmstädter 135
Denitza Kisseler
Die bulgarischen Künstler und München.
Kunstbeziehungen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 140
Dilyana Panayotova-Grün
Merkmale der bulgarischen Migration am Beispiel von Bayern 156
Corinna Leschber
Lateinische und italienische Etymologien im Bulgarischen 175
Ruselina Nicolova
Der bulgarische Admirativ und seine Wiedergabe im Deutschen 184
Sigrun Comati
Vergleichende Betrachtungen zur bulgarischen und deutschen Sprache
im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets 199
Deniza Popova
„Die bulgarischen Musiken“ im Spannungsfeld zwischen Verständnis
und Selbstverständnis 210
Archäologische Beiträge
Jonas Abele
Oberflächenbegehungen und Geländemodellierung des prähistorischen
Fundplatzes Džuljunica-Sm©rdeš bei Veliko T©rnovo 233
Marion Etzel
Die symbolischen Gräber mit Tongesichtern Nr. 2, 3 und 15
des kupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna 249
Raiko Krauß
Archäologische Forschungen in Bulgarien 2013 267
Personalia und Aktuelles
Dietmar Endler
Norbert Randow zum Gedächtnis 279
Sigrun Comati
In memoriam Dr. Kiril Kostov 281
Sigrun Comati
Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress vom 23. -26. Mai 2013 in Sofia 285
Beiträge
11
Helmut W. Schaller
Bulgarische Literatur in Deutschland. Von den Anfängen
am Ende des 19. und bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts
Norbert Randow (1929–2013) zum Gedächtnis
Wie wenig im Vergleich zu anderen Literaturen aus dem bulgarischen
Schrifttum ins Deutsche übersetzt wurde, gibt Kiril Christov in der von
Franz Spina und Gerhard Gesemann, den beiden Slavisten an der Deutschen
UniversitätPragbegründetenundherausgegebenen „Slavischen Rundschau“
im Jahre 1929 wieder:
„Aus keiner slavischen Sprache ist so wenig ins Deutsche übersetzt worden
wie aus dem Bulgarischen. Ein paar kleine Erzählungen und Gedichte, die in
unwichtigen Zeitschriften und hauptsächlich während des Krieges gedruckt
wurden, tragen den Charakter der Zufälligkeit und dilettantischer Hand.
Solche Übersetzungen verschwinden dann gewöhnlich mit dem Veralten der
Zeitschriften, in denen sie erschienen sind. Die paar Bücher bulgarischer
Schriftsteller, die von deutschen Verlegern herausgegeben wurden mit dem Be-
streben, das Publikum für Bulgarien und die bulgarische Literatur zu interes-
sieren, sind bare Ausnahmen, die nur beweisen, dass eine bulgarische Litera-
tur in deutscher Sprache streng genommen nicht existiert.“ (Christov 1929, 36)
Ganz so negativ ist das Bild der bulgarischen Literatur in Deutschland bis
zum Jahre 1930 aber dennoch nicht, denkt man an die noch zu behandeln-
den Übersetzungen von Georg Rosen, Gustav Weigand, Georg Adam und
Otto Müller-Neudorf, zu denen dann Gerhard Gesemann – nicht zuletzt
auch durch Kiril Christov angeregt – als weiterer Übersetzer bulgarischer
Literatur kommt.
In der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland führenden, von der
Deutschen Verlagsanstalt herausgegebenen Zeitschrift Aus fremden Zungen
wurde im Jahre 1901 auf das immer mehr zunehmende Interesse an aus-
ländischer Literatur hingewiesen, wenn es dort zum Schluss des elften Jahr-
ganges hieß:
„…Je mehr die moderne Kulturentwicklung das im deutschen Volke von jeher
besonders rege Interesse am fremden Geistesleben steigert, desto mehr sind
wir darauf bedacht, dieses Interesse, dem zu dienen unsere Zeitschrift berufen
ist, durch eine gediegene Auswahl aus den dichterischen Schöpfungen des Aus-
landes zu befriedigen. Dass wir uns dabei nicht auf die deutschen Literatur-
12
freunden auch anderweitig leicht zugänglichen Literaturen beschränken,
sondern auch die zum Teil sehr beachtenswerten literarischen Bestrebungen
kleinerer, räumlich entfernterer oder ihrer Kultur nach jüngerer Völker nicht
unberücksichtigt lassen, bedarf keiner Rechtfertigung.“ (o. A. 1901, o. S.)
In einem seinerzeit programmatischen Vortrag zum Thema „Der Slawen-
freund Georg Adam und sein Verhältnis zur bulgarischen Literatur“, den
Norbert Randow am 16. November 1960 anlässlich der 150-Jahrfeier der
Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hatte, hatte dieser darauf hinge-
wiesen, dass die Frage nach den Rezeptoren einer fremden Literatur, nach
den Übersetzern, Rezensenten und Verlegern, die sich eines einzelnen
Dichters oder einer ganzen Literatur angenommen hatten, trotz einer Reihe
von Einzelstudien immer noch nicht genügend bearbeitet sei. Dabei würde
gerade ihre Beantwortung erst ein richtiges Licht auf die konkrete Verwirk-
lichung literarischer Wechselbeziehungen werfen, die ja als solche nicht an
und für sich existieren, sondern das Ergebnis einer mühsamen Arbeit einzel-
ner Persönlichkeiten darstellen. Ohne eine gründliche Kenntnis der Biogra-
phie der literarischen Mittlerpersönlichkeiten, so Norbert Randow weiter,
sei auch eine tiefergehende Beurteilung der Rezeption, bzw. der Wirkung
einer fremden Literatur, in diesem Falle der bulgarischen Literatur auf
Deutschland, kaum möglich (Randow 1960, 81).1 Das Interesse für bulgari-
sche Literatur, für Bulgarien überhaupt, scheint in Deutschland aber doch,
wie sich zeigen wird, von der jeweils aktuellen politischen Situation abhän-
gig zu sein.
Die Übertragungen bulgarischer Literatur ins Deutsche lassen sich näm-
lich vor allem auf drei zeitliche Bereiche beziehen:
a So das Interesse an Bulgarien nach dessen Selbstständigkeit im Jahre 1878,
dann durch die militärische Verbindung des Deutschen Reiches mit Bul-
garien in der Zeit des Ersten Weltkrieges bedingt2, ein Interesse, das sich
1 Zu Georg Adams Biographie vgl. vor allem Zeil 1993a, 24–25. Georg Adam war
aufgrund einer 1902 im Druck in Sachsenberg bei Schwerin erschienenen Disser-
tation Zum periodischen Irresein von der medizinischen Fakultät der Universität
Rostock promoviert worden. In seinem kurzen, dort veröffentlichten Lebenslauf
heißt es: „Georg Adam, geboren am 8. Februar 1874 zu Berlin, besuchte, nach auf
dem Leibniz-Gymnasium zu Berlin erhaltener Vorbildung, von Ostern 1893 bis
Ostern 1899 die Universität Berlin, seit Ostern 1899 die Universität Rostock, bestand
an letzterer am 27. März 1901 die ärztliche Staatsprüfung und am 30. März 1901 das
Examen Rigorosum.“
2 Vgl. hierzu den deutschen Bulgarienkenner Karl Kassner, Meteorologen der Univer-
sität Berlin, mit seinem Vorwort zur 2. Auflage seines Buches Bulgarien. Land und
Volk, erschienen 1918 in Leipzig: „Die starke erste Auflage von 1916 ist jetzt schon
vor Beendigung des Weltkrieges und damit vor Festlegung der neuen Grenzen
13
b im Zweiten Weltkrieg weiter fortsetzte, als Bulgarien, wiederum zusam-
men mit Deutschland, eine militärische Allianz bildete, in deren Rahmen,
trotz nationalsozialistischer Ideologie und den damit direkt zusammen-
hängenden Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, auch die Kulturbezie-
hungen eine neue Blütezeit erlebten.
c Die dritte Epoche war durch die besonderen Beziehungen zwischen der
DDR und der Volksrepublik Bulgarien bedingt, während der sich eine
große Zahl von Übersetzungen bulgarischer Literatur in das Deutsche
feststellen lassen, eine Epoche, die durch die Ereignisse des Winters 1989/
1990 ein rasches und auch unwiederbringliches Ende gefunden hat. In
dieser Zeit wurden bulgarische Autoren mit der riesigen Zahl von nahezu
280 Titeln übersetzt, deren Verlagsbestände jedoch nach 1990 größtenteils
vernichtet wurden, eine aus heutiger Sicht unverzeihliche Tatsache. Erst
mit der Leipziger Buchmesse, für die Bulgarien zum literarischen Schwer-
punkt erklärt worden war, ist die Aufmerksamkeit deutscher Leser zu-
mindest für kurze Zeit erneut auf Bulgarien gelenkt worden ohne dass
sich jedoch ein tiefergehendes und dauerndes Interesse für die
zeitgenössische bulgarische Literatur entwickelt hätte.
Demnach sind Übersetzungen aus einer fremden Literatur, zumindest aus
quantitativer Sicht, eindeutig von der historischen Aktualität von Ereig-
nissen und einzelnen Ländern abhängig. In Deutschland hat offensichtlich
erst sehr spät die Übersetzung bulgarischer Literatur eingesetzt, während
dies in England bereits einige Jahre früher der Falle war (vgl. Schaller 2000,
71–96; Schaller 1999, 201–215; Schaller 2013b).3
Bulgariens vergriffen. Zu dem schnellen Absatz hat mitgewirkt, dass das preußische
Unterrichtsministerium allen höheren Lehranstalten ein Exemplar sandte, um so
Lehrer und Schüler mit dem neuen Bundesgenossen bekannt zu machen, und dass
ferner Seine Exzellenz Generalfeldmarschall Mackensen mein Buch nach Prüfung
durch seinen Generalstab allen seinen Armeen empfahl.“ Vgl. hierzu Schaller 2013a.
3 Vgl. hierzu auch die bereits vor längerer Zeit von Vivian Pinto herausgegebene
Sammlung: Bulgarian Prose and Verse. A Selection with an Introductory Essay by
Vivian Pinto, University of London.The Athlone Press. 1957. In den USA erschien im
Jahre 2006 als Band 19 der von Donald L. Dyer herausgegebenen Reihe Balkanistika,
einer Sammlung bulgarischer Literatur unter dem Titel An Anthology of Bulgarian
Literature“ edited by Ivan Mladenov and Henry R. Cooper jr., veröffentlicht für „The
South East European Studies Association“. Im Vorwort (S. 6) schreibt H. Cooper:
„Bulgarian literature is poorely represented in English translations, both in terms of
Bulgarian prose, poetry and drama that has been translated, and also, sad to say, in
the quality of some of the translations that do exist. And even the good translations
that have been done are often hard to find, because they are out of print, or they
appeared in obscure venues, or they were published on inferior paper that has long
since scrumbled.”
14
Die literarische Übersetzung hat im deutschen Sprachraum eine sehr
lange Tradition. Bereits in der Mitte des 8. Jahrhunderts kam es zu deut-
schen Übersetzungen von lateinisch abgefassten kirchlichen Texten, die mit
Luthers Bibelübersetzung einen Höhepunkt erreichten. Mit dem 17. Jahr-
hundert erfolgte die Übertragung von nichtreligiösen Texten französischer
und spanischer Originale. Eine weitere Zunahme von Übersetzungen aus
anderen Sprachen in das Deutsche brachte die Epoche des Klassizismus
und der Romantik. So wurde in den Jahren 1781 und 1785 Homers Odyssee
und die Ilias durch Johann Heinrich Voß übersetzt, es folgten sehr bald die
Übersetzungen von Shakespeares Macbeth und Voltaires Mahomet. Sämt-
liche Dramen Shakespeares wurden durch August Wilhelm Schlegel, Doro-
thea Tieck und Graf Wolf Baudissin ins Deutsche übertragen. Bei solchen
Übersetzungen geht es verständlicherweise nicht nur um die Vermittlung
des Sinnes, des „Gemeinten“ des Textes, sondern auch um die angemes-
sene Übersetzung von stilistischen Besonderheiten, die Deutlichmachung
von Sachverhalten, die im Deutschen, wie auch in anderen Sprachen, ent-
weder keine oder auch eine andere Rolle spielen. Alle diese Fragen, die zu
einer umfangeichen Fachliteratur geführt haben (vgl. Nida 1964; Störig
1969; Hartmann/Vernay 1970; Koller 1979; Stein 1980; Wilss 1981; Stolze
1982), sollen jedoch im Folgenden unberücksichtigt bleiben, es soll hier vor
allem der historische Hintergrund der Übersetzungen aus dem Bulgarischen
ins Deutsche beleuchtet werden.
Was nun die Übersetzung deutscher Literatur in Bulgarien in der Zeit
von 1878 bis 1944 anlangt, so waren die Werke der Brüder Grimm bereits
179 mal veröffentlicht worden, die Werke von Johann Wolfgang von
Goethe und Friedrich Schiller waren 69 bzw. 48 mal publiziert worden, ge-
folgt von Heinrich Heine mit 18, Bernhard Kellermann mit 15 und Gott-
hold Lessing mit 16 Übersetzungen. Die Auflagenhöhe war bei den Brü-
dern Grimm am höchsten, gefolgt von Schiller und Goethe mit weit mehr
als 100 000 Exemplaren, während andere deutsche Schriftsteller mit ihren
Auflagenhöhen unter 100 000 lagen.
Der Beginn der Übersetzung deutscher Literatur in Bulgarien lag vor
dem Beginn der Übersetzung bulgarischer Literatur in Deutschland. Zu nen-
nen sind wohl an erster Stelle die Übersetzungen Pen²o Slavejkovs (1866–
1912 in Italien verstorben, 1921 nach Bulgarien überführt) in der bulgari-
schen Zeitschrift Mis©l in den Jahren 1892 bis 1907. Im Jahre 1911 erschien
ein Sammelband Slavejkovs unter dem Titel Nemski poeti/Deutsche Schrift-
steller. 1880 folgte eine Übersetzung von Wilhelm Tell aus dem Serbischen
in das Bulgarische durch Z. Talimova, Friedrich Schillers Egmont wurde
1887 von El. Dimitrova, Die Leiden des jungen Werther 1889 von Atanas
Dragnev übersetzt, Emilia Galotti von G. E. Lessing wurde 1890 von Kr©stju
15
Kr©stev (1866–1919) übertragen. Der 1. Teil von Goethes Faust wurde 1906
von Aleksand©r Balabanov (1879–1955) übersetzt, doch erst der 100. Todes-
tag Goethes im Jahre 1932 brachte eine Reihe neuer Übersetzungen ins
Bulgarische. Wilhelm Tell wurde 1910 erneut von Kiril Christov (1875–1944)
übertragen, der 1929 eine weitere Übersetzung durch Nikolaj Liliev (1885–
1960) folgte, 1914 wurde Nathan der Weise übertragen. Besonderes Gewicht
hatte neuerer Zeit die Übersetzungstätigkeit von Geo Milev (1895–1925),
auf den 57 Übersetzungen deutscher Werke zurückgehen, u.a. von Richard
Demel, Nikolaus Lenau und Johannes Becher. Viele dieser Übersetzungen
finden sich in der 1923 veröffentlichten Anthologie Kr©štenie s org©n i duch.
Erich Maria Remarques weltbekannter Roman Im Westen nichts Neues wurde
1929 von Dimit©r Chadžiliev (1896–1960) ins Bulgarische übersetzt. Einer
der bekanntesten deutschen Schriftsteller in Bulgarien wurde jedoch Stefan
Zweig, von dem insgesamt 27 Werke von unterschiedlichen Übersetzern
ins Bulgarische übertragen wurden. In der großen Zahl von Übersetzungen
aus anderen Sprachen in das Bulgarische steht am Anfang die antike Lite-
ratur, gefolgt von der russischen bzw. dann auch sowjetischen Literatur,
dann Übersetzungen verschiedener slavischer Literaturen, der französischen
Literatur, der dann die deutsche Literatur folgte, vor der englischsprachi-
gen, italienischen und spanischen Literatur stehend.
Einer der allerersten, die bulgarische Dichtung in Deutschland bekannt
machten, war der aus Detmold stammende Historiker und Volkskundler
Georg Rosen (1820–1891) gewesen, seit 1844 Übersetzer bei der Preußi-
schen Gesandtschaft in Konstantinopel. 1852 bis 1875 war Rosen im diplo-
matischen Dienst in Jerusalem und Istanbul tätig. Er studierte seit 1839 in
Berlin und Leipzig orientalische Sprachen und hielt sich zu sprachwissen-
schaftlichen und ethnographischen Studien im Kaukasus auf (vgl. Zeil
1993b, 326–327; Zeil 1994, 401–405; Röhling 1975; Keipert 1983). In einer
1878 beim Verlag Brockhaus in Leipzig veröffentlichten Studie unter dem
Titel Die Balkan-Haiduken bringt Georg Rosen einen Beitrag zur inneren Ge-
schichte des Slaventums, wo er zunächst darauf hinweist, dass die Er-
eignisse der vorangegangenen Jahre in einem bisher nicht da gewesenen
Ausmaße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Balkanhalbinsel
gerichtet hätten. Sowohl geographische, ethnographische wie auch histo-
rische Fragen schienen nunmehr zur unumgänglichen Beschäftigung aller
Gebildeten geworden zu sein. Vor allem seien es aber die Bulgaren, die bis-
her am seltensten genannte slavische Nation, die die Aufmerksamkeit der
Weltöffentlichkeit auf sich gezogen habe. Rosen bezieht sich bei seinen Aus-
führungen neben den bekannten Schriften des ungarischen Ethnographen
Felix Kanitz (1829–1904; cf. Kanitz 1862; Kanitz 1864; Kanitz 1868; Kanitz
1870; Kanitz 1875-1879; Kanitz 1892; Kanitz 1904-1909; Kanitz 1904-1914),
16
der mehrfach die slavischen Länder der Balkanhalbinsel bereiste, und des
russischen Slavisten Aleksandr Hilferding (1831–1872)4 auch auf eine bisher
unbekannt gebliebene englische Veröffentlichung von Stanislav Graham
Bower Saint Clair und Charles A. Brophy, die sich zwei Jahre auf bul-
garischem Boden aufgehalten haben und sich ausführlich mit den dortigen
Bedingungen, dem Charakter, den Gebräuchen und Sprachen der christ-
lichen und islamischen Bevölkerung mit Blick auf die Orientfrage befassten
(Bower Saint Clair/Brophy 1869).
Zu nennen sind hier auch die Veröffentlichungen von Adolf Strausz, vor
allem seine von ihm übersetzten, mit Einleitung und Anmerkungen ver-
sehenen Bulgarischen Volksdichtungen (Strausz 1895) und seine Darstellung
Die Bulgaren mit dem Untertitel „Ethnographische Studien“, erschienen
1898.5 In der Sammlung bulgarischer Volksdichtungen bringt Strausz Über-
setzungen von Weihnachts-Liedern, Epen, Heldenliedern, Hochzeits- und
Verlobungsliedern, Heiligenliedern, Liedern der mohammedanischen Bul-
garen sowie Gelegenheitslieder.
In seinen einleitenden Bemerkungen zu dem Buch Die Balkan-Haiduken
zeichnet Georg Rosen zunächst ein nicht sehr günstiges Bild von den Bul-
garen. Nach den allgemeinen Ausführungen über das „Bulgarenthum“ auf
der Balkanhalbinsel werden nach Darlegung des Problems der bulgarischen
Haidukenpoesie im ersten Teil eine Reihe von Gedichten im Versmaß des
Originals in deutscher Übersetzung wiedergegeben, gefolgt von der ins
Deutsche übersetzten Lebensgeschichte des Haidukenführers Panajot Chi-
tov, von diesem selbst beschrieben, nebst Nachrichten über damalige und
frühere Wojwoden von Georg Rosen aus dem Bulgarischen ins Deutsche
übersetzt.
Im Vorwort der 1879 im Verlag Brockhaus veröffentlichten Bulgarischen
Volksdichtungen, von Georg Rosen gesammelt und ins Deutsche übertragen,
führt der Verfasser zur Bedeutung der Volksdichtung u. a. aus:
„Unstreitig aber zählen die Volksdichtungen zu denjenigen geistigen Erzeug-
nissen, welche am innigsten in das Gemüthsleben und die Gedankenrichtung
einer Nation einführen, und darf ich demnach nur hoffen, dass der Strauß
bulgarischer Lieder und Gesänge, den ich hier biete, als eine willkommene
Gabe werde betrachtet werden.
4 Hilferding veröffentlichte seine Istorija serbov i bolgar in St. Peterburg 1868.
Deutsche Übersetzung: Geschichte der Serben und Bulgaren 1.–2. Aus dem Rus-
sischen von J. E. Schmaler (Bautzen 1856–1864); Ungarische Übersetzung: A szerbek
és bolgárok története. Irta Hilferding. A. Ford. Kiss Simon (Nagy-Becskerek 1890).
5 Bei Th. Grieben´s Verlag (L. Fernau).
17
Der vornehmlichste Werth, den diese von mir in die deutsche Literatur
eingeführten Fremdlinge beanspruchen, ist also der ethnographische, erst in
zweiter Linie erwähne ich noch einen andern. Die hohe Bedeutung des echten
Volksliedes für die Kunstdichtung, die Bedeutung, welche große Meister wie
Goethe, wie Chamisso, wie Heine wohl zu würdigen wussten, solche am
wenigsten in einer geist- und formgewandten Epigonenzeit wie die unsere
unterschätzt werden; dasselbe lässt uns Blicke in das einfache Urmaterial
thun, aus welchem das Menschengeschlecht im Verlaufe der Jahrtausende all
seine Poesie aufgebaut hat und welches, wenn auch durch die Zuthaten von
Individualität und Schule mehr oder weniger den Blicken entzogen, immer
die nothwendige Grundlage jeder dichterischen Schöpfung bleiben muss.“
(Rosen 1879, VI)
Mit Bezug auf Bulgarien heißt es bei Georg Rosen weiter:
„Die Schrift, welche ich hiermit dem Publikum übergebe, ist insofern ein Kind
der Jetztzeit, als ich an ihre Veröffentlichung schwerlich gedacht haben
würde, wenn nicht die Ereignisse der letzten Jahre aller Welt eine Beschäfti-
gung mit den früher so wenig beachteten Völkern der Balkanhalbinsel auf-
genöthigt hätten. Das „Halbasien“, welches ein vielgelesener österreichischer
Schriftsteller von Galizien ab ostwärts gefunden, ist uns durch den greuel-
vollsten Krieg unseres Jahrhunderts und durch die Bemühungen Europas um
Neugründung gesitteter Zustände mit seinen entlegensten transdanubischen
Gebieten näher gerückt: es ist der Mühe werth geworden, zu erfahren, um
was für Menschen jene Ströme rothen Blutes und schwarzer Tinte geflossen
sind und noch fließen sollen.“ (Rosen 1879, V)
Die Veröffentlichung der zahlreichen bulgarischen Volkslieder in deutscher
Sprache erfolgte in vier Abschnitten, nämlich beginnend mit Volksliedern,
die Nachklänge vorchristlichen Volksglaubens enthalten, gefolgt von kirch-
lichen Dichtungen, Bildern und Erinnerungen aus der Balkanhalbinsel und
schließlich poetische Erzählungen, Fabeln und Idylle.“ (Rosen 1879, V)
Georg A d a m, der bereits erwähnte Übersetzer und Kenner bulgari-
scher Literatur, bot 1899 eine Einführung in das bulgarische Schrifttum.
U.a. heißt es bei ihm:
„Wie bekannt, besteht die nationale Selbständigkeit, diese unerlässliche Be-
dingung für eine freie Entfaltung des Geisteslebens eines Volkes, in Bulgarien
erst seit wenigen Jahrzehnten, und selbst heute ist sie noch nicht einmal
absolut. Eine litterarische Bewegung (die uralte Volkspoesie kommt ja hier
nicht in Betracht), ging ihr um einige Zeit voraus. Die Pioniere der Litteratur
in dem geknechteten Lande mussten zunächst ihre volle Kraft auf die Ten-
denz, die Erweckung des nationalen Selbstbewusstseins im Volke verwenden.
18
Die glänzendsten Namen jener sozusagen vorgeschichtlichen Epoche sind G.
St. Rakowski und Boteff. Ersterer, der bis zum Jahre 1893 lebte, musste sich erst
selbst aus dem Altslavischen und der bulgarischen Volksprache eine eigene
Schriftsprache schaffen, von der allerdings das heutige Bulgarische schon
beträchtlich abweicht; doch da ihm die Tendenz das einzige Ziel, so kämpfte
er fast ebenso häufig mit dem Schwerte wie mit der Feder. Der Fortsetzer
seines Werkes Christo Boteff, der im Jahre 1876 im Alter von 29 Jahren als
Führer einer Insurgentenschar im Kampfe gegen die Türken fiel und nicht
mehr als zwanzig Gedichte und einige Zeitungsartikel hinterlassen hat, ist
heute noch das leuchtende Vorbild der idealistisch und freiheitlich gesinnten
Jugend. Aber diese Nationalhelden gehören bereits der Geschichte an, ob-
gleich viele, die ihnen in ihrem kampfesmüden Leben und Streben zur Seite
gestanden, noch unter der jetzigen Generation weilen und in der Gegenwart
eine Rolle spielen. Zu diesen Männern gehört Iwan Wasoff, der noch immer als
der gelesenste und bedeutendste Dichter Bulgariens gilt, sein Hauptroman
„Unter dem Joch“, der jene Zeit des Kampfes gegen die Türkenherrschaft zu
Beginn der siebziger Jahre in treffenden Einzelbildern schildert, ist bereits ins
Englische und einige andere westeuropäische Sprachen übersetzt, und einige
seiner kleineren Skizzen aus neuerer Zeit sind, wenn auch in nicht gerade sehr
glücklicher Auswahl, in deutscher Uebertragung von Popoff erschienen.“
(Adam 1899, 681–682)
Nach diesen einführenden Bemerkungen zum bulgarischen Schrifttum Ende
des 19. Jahrhunderts geht Georg Adam noch auf zwei damals bereits be-
kannte Vertreter der bulgarischen Literatur ein, nämlich Aleko Konstan-
tinov (1863–1897) und Pen²o Slavejkov (1866–1912).
Bereits 1896 wurde Ivan Vazov (1850–1921) mit seinen Skizzen aus dem
bulgarischen Residenzleben durch eine von L. I. Popov veröffentlichte Über-
setzung bekannt gemacht (Popov 1896). Vorangestellt wurde ein Vorwort
des Übersetzers. 1908 folgte die Übersetzung von Ivan Vazovs Die Bulgarin
und andere Novellen von Maria Jonas SzataÚska.6 Vor dem Beginn des Ersten
Weltkrieges war auch Ivan Vazovs historisches Schauspiel in fünf Aufzü-
gen Borislav aus der Zeit Ivan Asens II (Vazov 1910). bei der Belletristischen
Verlagsanstalt „Die Sonne“ erschienen, aus dem Bulgarischen ins Deutsche
übertragen von Z. Zobel. Das Werk wurde 1910 in Sofia gedruckt, nach-
dem es 1909 dort erstmals aufgeführt worden war. Im 1957 erschienenen
„Schauspielführer“ beschreibt Joseph Gregor Ivan Vazovs Borislav wie folgt:
6 Erschienen 1908 als Nr. 5059 in Reclams Universalbibliothek, eine 2. Auflage der
Übersetzung folgte 1913 und eine dritte Auflage 1917/18, was auf ein steigendes
Interesse im deutschsprachigen Raum an Bulgarien hinweist.
19
„Obgleich Vazov bemüht war, möglichst plastisch die Ereignisse aus der Ge-
schichte des Großbulgarischen Reiches in den dargestellten Episoden zum
Ausdruck zu bringen, ist das Stück doch im Aufbau der Intrige und der
Charakterisierung der handelnden Personen als pseudohistorisch zu bezeich-
nen. Der bedeutende Erfolg, den es in Bulgarien erringen konnte, ist wohl da-
rauf zurückzuführen, dass Vazov durch volkstümliche Schwarz-Weiß-Malerei
und starke patriotisch-chauvinistische Pathetik die Gefühle und Stimmungen
seines Zuschauerpublikums geschickt zu lenken verstand.“ (Gregor 1957, 132-
133)
Einen anderen Widerhall erfuhren jedoch Ivan Vazovs Erzählungen und
Novellen, im Jahre 1917 von Ivan H. Nikoloff in Sofia und Leipzig veröffent-
licht. Diese Sammlung war in der von Michail Tichov und Alexander Do-
ritsch (vgl. Schaller 1993) neu herausgegebenen Reihe „Bibliothek bulgari-
scher Schriftsteller und Dichter“ in Sofia und Berlin veröffentlicht worden,
von der allerdings nur dieser eine Band erschienen war. Im Jahre 1919
wurde diese Sammlung von Vazovs Erzählungen und Novellen von Hein-
rich Brömse durchaus positiv beurteilt:
„Es lohnt sich in doppelter Weise, diese Erzählungen zu lesen. Man lernt
einen Dichter von geistigem Gehalt und feiner künstlerischer Stimmung ken-
nen und wird zugleich in ausgeprägt bulgarisches Volkstum eingeführt. Die
Landschaft und die Menschen, vor allem die der unteren Schichten, werden
eindrucksvoll gezeichnet, die Freiheitskämpfe der Bulgaren mit kraftvoller
Eigenart dichterisch gestaltet. Wasow, heute fast siebzigjährig, hat selbst an
diesen Kämpfen teilgenommen, auch später noch eine bedeutende Rolle im
öffentlichen Leben seines Landes gespielt und gilt, von seinem Volke hoch-
geehrt, als Altmeister der bulgarischen Sprache und Literatur.“ (Brömse 1919,
299)
Der Erste Weltkrieg und die politische und militärische Verbindung des
Deutschen Reiches mit Bulgarien hatte den Übersetzer Ott o Mülle r-N eu-
dorf7 offensichtlich veranlasst mit einer Auswahl bulgarischer Gedichte
und Erzählungen unter dem Titel Blumen aus dem Balkan an die deutsche
Öffentlichkeit zu treten. Otto Müller-Neudorf wurde am 11. Februar 1884
in Berlin geboren, während des Balkankrieges 1912/1913 war er als Bericht-
erstatter für deutsche Zeitungen, u. a. für die „Frankfurter Allgemeine
7 Zu Otto Müller-Neudorf vgl. Haralampieff 1982, wo es abschließend heißt: „In Wort
und Schrift hat Otto Müller-Neudorf jahrzehntelang für Bulgarien, das Land, das er
so sehr liebte, Bahnbrechendes geleistet. Seine Frau, Dorothea Kiefer, befasste sich
ebenfalls mit der bulgarischen Kultur und übersetzte bulgarische Prosa ins
Deutsche.“
20
Zeitung“ tätig. Otto Müller-Neudorf erlernte das Bulgarische, befasste sich
mit der bulgarischen Literatur und unterhielt zahlreiche persönliche Kon-
takte mit Vertretern Bulgariens. Für das Jahr 1856 finden sich zuletzt Hin-
weise auf ihn im Kölner Raum.8 Otto Müller-Neudorf bulgarisierte sogar
seinen Namen als „Stoil M. Novoselski (Neudorf)“ und gab 1948 unter die-
sem Namen in München noch eine Gedichtsammlung mit dem Titel Bul-
garische Heimat – 24 Lieder heraus, die jedoch nur als Privatdruck bekannt
wurde (Novoselski 1948).
In seinem, im Sommer 1917 in Sofia verfassten Geleitwort schreibt Otto
Müller-Neudorf:
„Blumen aus dem Balkan“, eine Auswahl bulgarischer Gedichte und Erzäh-
lungen. – Diese Auswahl will keine Anthologie sein. Sie beansprucht nicht,
das Schönste und beste in sich zu enthalten, was das Land des Balkans, der
junge Staat Bulgarien, in seinem prächtigen Dichtergarten aufweist. Bei einem
kurzen Rundgange wurde Einiges vom Schönen gepflückt, einige duftende
Blumen. Sie wurden nicht zu einem farbenschönen Strauße gewunden, son-
dern zufällig nebeneinander gereiht und sollen dem deutschen Leser nur
sagen: wir sind aus einem prächtigen Garten, den ein noch junges Land mit
liebender Hand geschaffen hat und verständnisvoll weiter pflegt.“ (Müller-
Neudorf 1917, 5)
Eingeleitet wurde der Band mit einer Übersicht über die neuere bulgarische
Literatur, verfasst von Michail Tichoff, Direktor der Bulgarischen National-
bibliothek in Sofia, der dort eine Wertung bulgarischer Schriftsteller vor-
nimmt, wenn er von drei großen Talenten spricht, nämlich Pen²o Slavejkov
(1866–1912), Kiril Christov (1875–1944) und P. K. Javorov (1878–1914). Alle
drei haben den Wert des Volksliedes für die Kunstdichtung erkannt, aus
den Volksliedern schöpften sie nämlich Motive für Gedichte. An erster
Stelle der von Otto Müller-Neudorf gebotenen bulgarischen Schriftsteller
steht Christo Botev mit seinem Gedicht „Chadži Dimit©r“, gefolgt von Ivan
Vazov mit den Gedichten „Jung war ich“, „Liebe ist not“ und „Allons,
enfants, de la patrie“, dem sich noch die Erzählung „Kehrt er zurück“ von
Ivan Vazov anschließt. Es folgt Nikola Michajlovski (1818–1892) mit dem
Gedicht in Prosa „Der Sinn des Leidens“ und Pen²o Slavejkov (1866–1912)
mit seinem epischen Gedicht „Die Legende des Balkans“. Es schließen sich
die Erzählungen „Letzter Dienst“ und „Zwischen Himmel und Erde“ von
Anton Strašimirov (1872–1937) an. Besonderes Gewicht hatte Otto Müller-
Neudorf auf die bulgarischen Autoren Kiril Christov und P. K. Javorov
gelegt. Von Christov übersetzte er die Gedichte „Deutschland“, „Gottes-
8 Sein Todesjahr war nach den Angaben von K. Haralampieff nicht zu ermitteln.
21
strafe“, „Komm“, „Frauen und Wein – Wein und Frauen“, „An der Wiege
meines Sohnes“, „Anbrechen des Feiertages“ und die Erzählung „Totka“.
Von Javorov bringt Otto Müller-Neudorf die Gedichte „Flüchtlinge“, „Ar-
menier“, „Am Herdfeuer“, „Nimmerfrage“, „Du ängstigst, Mutter, grund-
los Dich“, „Wunsch“, „Vermächtnis“, „Auf dem Acker“, „Dich liebe ich“,
„In Weiß gekleidet“ und „Zwei Seelen“. Im weiteren Verlauf der gebo-
tenen Übersetzungen finden sich Märchen von Petko Todoroff (1879–1916),
die Erzählungen „Schnitter“ und “Gevattergäste“ von Elin Pelin, das Ge-
dicht „Hymne an die Arbeit“ von Stilijan +ilingirov (1881-1962) und zum
Abschluss die Erzählungen „Auferstehung“ und „Der General“ von Dobri
Nemirov (1882–1945). In einem Anhang finden sich noch zwei Abhand-
lungen, nämlich über das Nationaltheater in Sofia und die Nationalbiblio-
thek in Sofia.
Mit dem Ersten Weltkrieg und der militärischen Allianz Deutschlands
und Bulgariens seit dem Jahre 1915 war auch die bulgarische Literatur für
ein breiteres Publikum in Deutschland von Interesse.
So erschien von dem damals bekannten Schriftsteller und Publizisten
Roda Roda der Sammelband Das Rosenland. Bulgarische Gestalter und
Gestalten, erschienen 1918 bei der Verlagsbuchhandlung Gebrüder Enoch
in Hamburg und Leipzig. Bei Roda Roda handelte es sich um ein Pseudo-
nym von Alexander Sándor Rosenfeld, geboren am 13. April 1872 in Drno-
vice/Dirnowitz u Vyškova in Tschechien, verstorben am 20. August 1945 in
New York.9 Nach Vorwort und Einleitung wurde eine ganze Reihe von
damals lebenden bulgarischen Schriftstellern vorgestellt, so von Petko
Slavejkov (1827–1895), Ljuben Karavelov (1837–1879), Christo Botev (1847–
1876), Ivan Vazov (geboren 1850), Stojan Michajlovski (geboren 1856),
Ekaterina Karavelova (geboren 1861), Aleko Konstantinov (1863–1897),
Pen²o Slavejkov (1866–1912), Mara Bel²eca (geboren 1868), Canko Cer-
kovski (geboren 1869), Anton Strašimirov (geboren 1872), Kyril Christov
(geboren 1875), Andrej Proti² (geboren 1875), Peju Javorov (1877–1915),
Alexand©r Balabanov (geboren 1877), Alexand©r Vojnov (geboren 1878),
Elin-Pelin (geboren 1878), Petko Todorov (1879–1916), Trifon Kunev (ge-
9 Roda Roda war aufgrund der Vielzahl und Vielfalt seiner Veröffentlichungen wohl
einer der schillerndsten Schriftsteller seiner Zeit. Er war 1892 bis 1902 österreichi-
scher Offizier, verfasste während der bosnischen Annexionskrise 1909 Berichte für
Zeitungen aus Belgrad. Während der Balkankriege hielt sich Roda Roda in Konstan-
tinopel, Athen und Belgrad auf. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitglied des
Pressezentrums des Österreichischen Oberkommandos an mehreren Fronten. Roda
veröffentlichte zahlreiche Anekdoten, Schwänke und Komödien, auf ihn geht auch
ein autobiographischer Roman mit dem Titel „Roda Rodas Roman“ aus dem Jahre
1925 zurück. Seine ausgewählten Werke erschienen 1932/1933 in zwei Bänden.
22
boren 1880), Stilijan +ilingirov (geboren 1881), Teodor Trajanov (geboren
1882), Jordan Jovkov (geboren 1884), Dora Gabe-Peneva (ohne Daten),
Ljudmil Stojanov (geboren 1887), Dim²o Debeljanov (1887–1916) und Vla-
dimir Peev (geboren 1890). Im Vorwort schreibt der Übersetzer und Heraus-
geber des Bandes, dass die bulgarischen Dichtungen von ihm meist getreu,
manchmal auch frei wiedergegeben wurden, die Prosastücke hatte er ab
und zu gekürzt wiedergegeben. Roda Roda äußert sich in seinem Vorwort
auch zur Frage des Übersetzens:
„Man wendet gegen das Übersetzen fremden Schrifttums allerhand ein, vor
allem: Die Übersetzung könne das Original nie und nimmer im feinsten
wiedergeben, die mache also die Lektüre des Originals nicht entbehrlich. Der
Einwurf mag dem Übersetzen aus Weltsprachen gegenüber gelten, wo die
Urschrift dem sprachlich geschulten Leser erreichbar ist; die Kunst der klei-
nen Völker wird nicht ohne den Übersetzer auskommen.
Fragt sich: ob die kleinen Literaturen nicht besser unbekannt blieben? Gar oft
sind Übersetzungen Indiskretionen, die Nachdichtung nichtmilitärischer Lan-
desverrat.
Daas ist des Pudels Kern. Ist das Original einer Übersetzung wert gewesen?
Hat die Kenntnis der fremden Literatur uns künstlerisch bereichert? Künst-
lerisch bereichert – darauf liegt der Nachdruck; die Wissenschaft von Völkern
und Dichtern mag sich füglich um die Originale bemühen.
Nun ich meine, mit dieser Sammlung bulgarischer Erzeugnisse einen Fenster-
laden aufgestoßen zu haben, und Deutschland werde von dem Ausblick ins
Rosenland so freudig überrascht sein, wie ich es war, als ich ihn zum ersten
Mal genoss. Ob die Bulgaren politisch mit uns oder gegen uns stehen, muss
natürlich bei Beurteilung ihrer Dichtkunst außer Betracht bleiben.
Die Auswahl möchte dem Leser eine Vorstellung geben vom gegenwärtigen
Stand des bulgarischen Schrifttums. Alexander Balabanoff und Andrej Pro-
titsch standen mir mit wertvollen Ratschlägen bei…
Ich sagte vorhin: ich hatte mich nicht immer streng an den ursprünglichen
Wortlaut der Prosastücke geklammert. Wo ich davon abwich, tat ich´s niemals
in der überheblichen Ansicht und Absicht, die Werke zu verschönern; niemals
aus einem Leichtsinn, dem des Dichters Wort ein Quentchen wiegt. Ein ge-
wisses Maß von Freiheit muss man dem urteilsfähigen Übersetzer aus tau-
send Gründen zugestehen – und andre als Urteilsfähige sollen die Hände weg
von derlei Arbeit halten. Zu kleinen Änderungen zwingt schon die Ver-
schiedenheit von Begriffsschatz und Denkweise des Deutschen hüben, des
Balkanmenschen drüben. Ich bin stolz darauf, ohne den Ballast sachverständi-
ger Anmerkungen ausgekommen zu sein….“ (Roda Roda 1918, 11–12)
23
Im Rahmen der Einleitung zu seinem Band der Übersetzungen damals zeit-
genössischer bulgarischer Schriftsteller gibt Roda Roda auch einen kurzen
Überblick über die Entwicklung des bulgarischen Schrifttums:
„Die Bulgaren hatten schon im neunten Jahrhundert ein Schrifttum. Kirchen-
bücher. Ihr Alphabet war´s, das sich mit dem Christentum zu Serben, Ukra-
inern und Russen verbreitete. Doch Bulgarien geriet 1018 unter die Herrschaft
von Byzanz. Befreite sich 1186 daraus – nur, um in der zweiten Hälfte des
vierzehnten Jahrhunderts der ebenso harten türkischen Hoheit zu verfallen.
Keine Glocke läutete mehr. Beim eintönigen Hämmern des Symantrons, stöh-
nend, endlich stumm, immer tiefer, langsam, langsam beugte sich der bulga-
rische Nacken unter das fremde Joch – bis die Rajah, die Herde allmählich
ihre Geschichte vergaß, ihr Volksbewusstsein, vegetierte und vertierte.
Nichts ist so bezeichnend für die zermalmende Kraft des türkischen Drucks
wie dieser völlige, restlose Verlust des bulgarischen Nationalbewusstseins, ja,
des bulgarischen Namens: Rumili, die Romäer hießen sie alle, alle, die christ-
lichen Völker der Balkanhalbinsel.
Erst 1762 verfasste der Mönch Paissij auf dem Athos eine „Slavobulgarische
Geschichte“, die sich handschriftlich verbreitete; eine Geschichte, durchfloch-
ten mit Irrtum und Legende – in einer Sprache voll altslavischer, kirchen-
slavischer Wörter, Wendungen und Schnörkel. Doch der Eifer, der vater-
ländische Zorn des Mönchs kochten selbst in diesem hohlen Ton und er-
wärmten, entzündeten zuletzt die kalte Menge: die Bulgaren erinnerten sich
ihrer glänzenden Vergangenheit, ihres Volkstums wieder. Das Volk war er-
weckt und horchte, was ihm die Dichter zu sagen hätten.
Nun brauchten die Dichter noch eine Sprache, zum Volk zu reden: Petko
Slawejkoff gab sie ihnen.“ ( Roda Roda 1918, 14–125)
In das Jahr 1918 fällt auch die erste deutsche Übersetzung von Ivan Vazovs
Roman Unter dem Joch in einem ersten Teil mit dem Untertitel „Ein Roman
aus der Zeit der bulgarischen Befreiungskämpfe“, aus dem Bulgarischen ins
Deutsche übersetzt von Athanas Dimitroff, herausgegeben von Fritz von
Philipp, seinerzeit bulgarischer Konsul, beim Verlag Dr. Iwan Parlapanoff
in Leipzig.10 Die Übersetzung war in der neuen Reihe „Bibliothek der
10 Zum Verlag Ivan Parlapanoff ist anzuführen, dass der Besitzer des Unternehmens im
Jahre 1902 an der Universität Leipzig aufgrund der Abhandlung „Das Utilitäts-
prinzip in der Pädagogik vom Auftreten der Reformpädagogen bis Pestalozzi“
promoviert wurde. In der beim Verlag Georg Fock in Leipzig veröffentlichten Ab-
handlung findet sich der folgende Lebenslauf:
„Ich, Ivan Parlapanoff, orthodox, wurde am 14. September 1874 a. St. in Gradetz,
Südbulgarien, geboren und besuchte die mittlere Volksschule meines Heimatsortes.
Nach einer kurzen Unterbrechung genoss ich meine weitere Ausbildung in der
24
bulgarischen Literatur“ erscheinen. Das Vorwort zu dieser Jahre nach der
englischen Übersetzung des Romans deutschen Übersetzung hatte der Ber-
liner Meteorologe Carl Kassner, verfasst, in dieser Zeit einer der führenden
Kenner Bulgariens in Deutschland, der bei dieser Gelegenheit auch seiner
Verwunderung Ausdruck gibt, dass dieses Werk erst im Jahre 1918 der
deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wird:
„Der vorliegende Roman ist eines der bemerkenswerten Werke der neuen
bulgarischen Literatur. Es ist nicht nur dichterisch, sondern auch geschichtlich
von hohem Werte. Mit seltener künstlerischer Eigenart ist darin das bul-
garische nationale Leben am Vorabend der Befreiung Bulgariens geschildert.
Der Roman ist bereits in alle europäischen Hauptsprachen übersetzt worden,
nur nicht ins Deutsche. Einen Grund dafür kann man wohl schwer angeben –
vielleicht das Fehlen eines geeigneten Übersetzers und mangelnde Kenntnis
der Bedeutung dieses Werkes bei den Verlegern. Zwar liegt die Zeit, in der
die Handlung spielt, nur um vier Jahrzehnte zurück, aber Bulgarien und die
damaligen Zustände in diesem Lande waren doch bis vor kurzem noch recht
unbekannt. Auf die höchsten, so dramatisch in diesem Roman geschilderten,
Anstrengungen der Bulgaren, sich von der politischen Knechtschaft zu be-
freien, folgen die großen Ereignisse des russisch-türkischen Krieges und des
Berliner Kongresses (1877–1878) so schnell, dass die Erinnerung an die bul-
garische Befreiungsbewegung in unserer rasch lebenden Zeit bald verwischt
wurde. Deshalb musste man wohl auch früher annehmen, dass eine Schil-
derung der bulgarischen Aufstände keinen buchhändlerischen Erfolg haben
würde.
Jetzt aber, nun Bulgarien unser Bundesgenosse geworden ist, kann jeder
Versuch, uns in irgendeiner Richtung mit ihm näher bekannt zu machen, nur
lebhaft begrüßt werden. Ein solcher Versuch ist die deutsche Herausgabe
Lehrerbildungsanstalt zu Kazanlik, wo ich im Jahre 1895 die Reifeprüfung ablegte.
Nach zweijähriger Thätigkeit als Lehrer bestand ich das Staatsexamen für Volks-
schullehrer. Im Oktober 1897 bezog ich die Universität Leipzig. Vorlesungen hörte
ich während meines Universitätsstudiums bei folgenden Herren Professoren und
Dozenten: Strümpell, Richter, Ratzel, Heinze, Volkelt, Wundt, Wiener, Fricker,
Schiller und Brandenburg. Allen diesen Herren Professoren und Dozenten spreche
ich hiermit meinen verbindlichsten Dank aus für die Förderung meiner Studien,
insbesondere Herrn Professor Johannes Volkelt, dessen pädagogische Vorlesungen
mir die Anregung für vorliegende Arbeit gaben und unter dessen gütiger Leitung
ich diese Arbeit ausgeführt habe. Leipzig, Juli 1901.“
Ivan Parlapanov veröffentlichte 1917 den „Almanach carstvo B©lgarija. S©stavil s
oficialno s©dejstvie Ivan Parlapanov“, das bulgarische Staatsadressbuch, ferner den
„Jubiläums-Almanach Königreich Bulgarien. Mit amtlicher Unterstützung heraus-
gegeben von Ivan Parlapanoff“ (Leipzig und Sofia 1928). Mit zahlreichen wissen-
schaftlichen Fachbeiträgen zu Bulgarien.
25
dieses Buches – eines Hauptwerkes des großen lebenden bulgarischen
Dichters Iwan Wasoff.
Die Übersetzung ist dem leider im Sommer 1916 gestorbenen jungen Dr. A.
Dimitroff, dem Lektor für deutsche Sprache an der Universität Sofia, zu ver-
danken. Nach meiner Kenntnis der Bulgaren hat er die einfache Sprechweise
der Leute ausgezeichnet getroffen, während die meisterhaften landschaft-
lichen Schilderungen des Dichters jeden entzücken müssen, der selbst Bul-
garien und zumal die beschriebenen Gegenden bereist hat.
So ist zu hoffen, dass dieser ausgezeichnete bulgarische Roman und seine
schöne deutsche Übersetzung es ermöglichen werden, dem deutschen Leser
einen tiefen Einblick in Land und Leute unseres tapferen Bundesgenossen zu
gewähren. Weitere Bände dieser Sammlung von andersartigen Dichtern wer-
den diesen Einblick noch verbreitern und vielseitiger gestalten.“ (Wasoff 1918,
III-IV)
Eine deutsche Übersetzung von Novellen Ivan Vazovs, nämlich „Die
Bulgarin“, „Velko im Kriege“, „Kommt er zurück?“ „Der Dickkopf“, „Paul
Fertig“, „Naum“, „In den Perignen“, “Djado Joco schaut“… war im Jahre
1908 in Leipzig erschienen. Die Übersetzerin Marya Jonas von SzataÚska
schreibt dazu in ihrem Vorwort im Jahre 1908 in Krakau:
„Es gibt wohl keine Form der Poesie, die er (d.h. Ivan Vazov) nicht mit Geist
und Glück versucht hätte, und man weiß nicht, was schöner ist: seine gefühl-
volle Lyrik oder seine heldenhaften Gesänge und Dramen…, denn Wasow ist
auch dramatischer Dichter – sein berühmtestes Schauspiel heißt „Die Ver-
schwörer“. Seine Prosa zeichnet sich durch die wundervollste Stimmung aus,
die Beschreibungen sind ebenso einzigartig wie farbenreich – hervorragend
sind seine Legenden.“ (von SzataÚska 1917).11
Zu Ehren des bulgarischen Dichters Vazov wurde an der Universität Leip-
zig auch eine Gedächtnisfeier veranstaltet, bei der Gustav Weigand im Jahre
1921 die Lebensschicksale Vazovs in „fesselnder Rede“ schilderte.12 Auch
der 20.Todestag Ivan Vazovs fand im Jahre 1941 seine Würdigung durch
Heinrich Stammler, wo dieser darauf hinweist, wie widersprüchlich immer
wieder das Urteil über ihn ausgefallen ist:
11 In ihrem Vorwort (S. 8) weist die Übersetzerin auch darauf hin, dass „Bulgarien in
Ivan Vazov seinen größten Schriftsteller sieht, der auch alle Eigenschaften besitzt,
sich dauernd in dieser Würde zu erhalten.“ In diesem Zusammenhang wurde auch
darauf hingewiesen, dass im Jahre 1895 Sofia feierlichst das fünfundzwanzigjährige
Jubiläum der dichterisch-schriftstellerischen Tätigkeit Vazovs begangen hatte.
12 Literarisches Echo 1921/22, 576: Nachrichten. Das genaue Datum der Veranstaltung
in Leipzig ließ sich nicht mehr feststellen.
26
„Künstler und Kritiker und ihre Schulen haben Wasov wegen künstlerischer
Mängel angegriffen und herbe Worte für ihn gefunden, seine Freunde und
Anhänger haben ihn dann mit nicht weniger scharfen Worten verteidigt. Aber
uns will scheinen, dass Wasov sowohl über Angriff wie über Verteidigung
erhaben ist, weil seine Bedeutung, seine Größe, wenn man will, gar nicht auf
dem Felde künstlerischer Vollkommenheit lag, die ihm nur selten beschieden
war. Er war der große Lehrer seines Volkes, sein Erzieher, der keinen
Augenblick müde wurde, ihm immer aufs neue seine großen Aufgaben zu
weisen, es auf die Notwendigkeit harter Arbeit zur Erreichung auch innerer
Ausbildung aufmerksam zu machen, es anzuspornen und zu beflügeln. Er hat
sich dazu einer machtvoll bewegten, aber immer einfachen, zugänglichen und
niemals gesuchten Sprache bedient, die zumal noch als Literatursprache nicht
die Ausformung erfahren hatte, die sie heute besitzt. Er hat auch nicht ver-
schmäht, fremde Vorbilder anzuerkennen, wenn er damit nur seinen erhabe-
nen im Tiefsten nicht ästhetischen, sondern ethischen und – im weitesten
Sinne –politischen Zweck erreichte: Sein Volk als Dichter zu verklären, ihm im
Worte eine überhöhte Bedeutung zu verleihen, damit alle, die es vernähmen,
innerlich an diesem verklärten Bilde emporwüchsen! Diese Aufgabe muss
aber eine immerwährende sein. Sie dauert über des Dichters Tod hinaus bis
auf den heutigen Tag und sichert ihm ein Fortleben im Herzen seiner Nation
bis zu den fernsten Generationen!“ (Stammler 1942, 384–385)
Einen grundlegenden Beitrag zur Popularisierung der bulgarischen Litera-
tur in Deutschland hatte der Leipziger Romanist, Balkanphilologe und Bul-
garist Gusta v Weiga n d (1860–1930) mit seiner „Bulgarischen Biblio-
thek“ geleistet, in der u. a. Skizzen und Idyllen von Petko Todorov im Jahre
1919 erschienen waren. Die „Bulgarische Bibliothek“ war im Jahre 1916
begründet worden und wurde von dem Leipziger Verleger Dr. Ivan Parla-
panoff herausgegeben. Im ersten Band schreibt der Herausgeber Gustav
Weigand u. a.:
„Mit der Bulgarischen Bibliothek, deren erste Nummer mit dem vorliegenden
Band in die Öffentlichkeit tritt, beabsichtigen wir, dem deutschen Publikum
eine Reihe von Hilfsmitteln zu bieten, die über alle Gebiete des öffentlichen
Lebens, über Geschichte, Ethnographie, Volkskunde, kurz über alles spezi-
fisch Bulgarische, das einen weiteren Interessentenkreis vermuten lässt, ge-
diegene Auskunft geben und die bulgarischen Quellen, die ja für Deutsche
der Sprache wegen schwer zugänglich sind, ersetzen sollen. Es lieg uns fern,
eine Unterhaltungsbibliothek, hervorgegangen aus dem augenblicklich größe-
ren Interesse beider Völker zueinander ins Leben zu rufen, sondern wir
erstreben eine wissenschaftliche Leistung von dauerndem Wert, berechnet für
den gebildeten Laien und den Gelehrten.“ (Ischirkoff 1916, V.)
27
Mit der „Bulgarischen Bibliothek“ sollte demnach in Deutschland ein grund-
legendes Verständnis für Bulgarien, sein Volk, seine Geschichte, sein Wirt-
schafts- und öffentliches Leben, überhaupt alles Wissenswerte aus verschie-
denen Gebieten ermöglicht werden. Für mehr als 30 Bände hatte Gustav
Weigand bereits bulgarische Fachleute als Verfasser in Aussicht genommen,
es musste jedoch aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse
nach dem Ersten Weltkrieg sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien
bei der Veröffentlichung von neun Bänden bleiben, wobei es sich durch-
weg um Übersetzungen bulgarischer Originalausgaben handelte. Von be-
sonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die zuletzt erschienenen
beiden Bände 8 und 9 der „Bulgarischen Bibliothek“, nämlich Petko Todo-
rovs Skizzen und Idyllen13 sowie Pen²o Slavejkovs Bulgarische Volkslieder,
beide Bände erschienen im Jahre 1919 in Leipzig. Die von Gustav Weigand
für die Veröffentlichung in dieser Reihe geplanten Abhandlungen der bul-
garischen Literaturwissenschaftler Božan Angelov: „Ivan Vazov, der bul-
garische Volksdichter“ und Aleksand©r Balabanov: „Die neue bulgarische
Lyrik“ sowie die von Gustav Weigand als Autor selbst geplante Veröffent-
lichung „Bulgarische Volksliteratur“ konnten nicht mehr verwirklicht wer-
den.
Am 15. Juli 1919 schreibt Gustav Weigand im Vorwort zu den von
Pen²o Slavejkov gesammelten und von Georg Adam ins Deutsche über-
tragenen „Bulgarischen Volkslieder“:
„Nachdem wir durch die Aufnahme von Petko Todoroffs „Skizzen und Idyl-
len“ (Band 8 der Bulgarischen Bibliothek) unser ursprüngliches Programm,
das das literarische Gebiet ausschließen sollte, umgestoßen hatten, bringen
wir nunmehr aus dem reichen Schatze der bulgarischen Volksliteratur eine
Auswahl der von Pentscho Slawejkoff zusammengestellten Sammlung. Als
Meister der Übersetzung hat auch diesmal Georg Adam uns wertvolle
Dienste geleistet, so dass auch im deutschen Gewande das bulgarische Volks-
lied die volle Wirkung auf den Leser, der noch Sinn für einfache, natürliche,
oftmals naive, aber tiefempfundene Lyrik hat, auszuüben vermag. So hoffen
wir durch den vorliegenden Band dem deutschen Volke Einblick in das
bulgarische Seelenleben zu geben und dadurch neue Freunde zu den alten zu
gewinnen.“ (Adam 1919, 3)
Slavejkov, der Sammler der in diesem Band veröffentlichten bulgarischen
Volkslieder, schreibt dazu:
13 Dichtungen Petko Todorovs, nämlich „Der Pferdedieb“, „Der Bärenführer“ und
„Schäfer“ waren in deutscher Übersetzung bereits vor dem Ersten Weltkrieg von
Georg Adam veröffentlicht worden: Adam 1901a, Adam 1901b, Adam 1901c.
28
„Das bulgarische Volk hat bis vor einem Jahrhundert keine eigene Literatur
gehabt, die auf dem Weltjahrmarkte der Eitelkeiten ihre Stimme zu seinen
Gunsten hätte erheben können. Unser ganzes Schrifttum jenseits des Mark-
steins des gestrigen Jahrhunderts, das fremder Eifer in ein altes, mittleres und
neues geschieden hat, trägt nur aus Gnade und Barmherzigkeit den Namen
Bulgarische Literatur. Außer dem Alphabet ist nichts Bulgarisches daran.
Psalter, Gebetbücher, Damaskinen – Damaskinen, Gebetbücher, Psalter, in
unabsehbarer Reihe, gleich einer Schar Kraniche, vom Südwinde getrieben,
von Byzanz her, flattern sie gen Norden, dem Balkan zu, der sich herzlich
wenig kümmert, was für ein Lied sie ihm singen.“ (Adam 1919, 9)
Unter dem Titel Unwahrscheinliche Geschichten von einem zeitgenössischen
Bulgaren war Baj Ganju von Aleko Konstantinov (1863–1897) in Auszügen
bereits 1905 und 1906 von Georg Adam veröffentlicht worden (Adam 1905;
Adam 1906), gefolgt von einer Übersetzung Vetter Ganju bei Jiretschek von
Roda Roda (Roda Roda 1918, 120–128.) 1908 hatte Gustav Weigand eine
Gesamtausgabe von Aleko Konstantinovs Baj Ganju übersetzt und erläutert
in im Verlag Ambrosius Barth, Leipzig, herausgegeben, der im Jahre 1928 ein
zweiter, durchgesehener Abdruck folgte, wo er in der Einleitung ausführte:
„Ein Bulgare fragte mich, warum ich gerade den Baj Ganju ausgewählt habe,
um ihn den Deutschen bekannt zu machen, sie hätten doch viel schönere und
wertvollere Werke in ihrer Literatur. Das gebe ich ohne Weiteres zu, aber es
gibt in der ganzen bulgarischen Literatur nicht ein zweites Werk, das auch
entfernt nur einen so beispiellosen Erfolg und erzieherischen Einfluss auf die
Bulgaren gehabt hat, wie Baj Ganju. So populär ist die Gestalt des Baj Ganju
geworden, dass der Name selbst zur Bildung von Adjektiv und Substantiv mit
eigenartiger Bedeutung geführt hat (ʴʲˇʶʲˑ˪˓ʵ˖ˊˆ, ʴʲˇ-ʶʲˑ˪˓ʵ˧ˆˑʲ). Ein
zweiter Grund ist der, dass in dem Werke die Umgangssprache der Gebil-
deten mit vielen echt volkstümlichen Wendungen zur Darstellung kommt,
während in den meisten anderen literarischen Werken eine mehr oder weni-
ger künstliche Literatur-Sprache, die besonders den russischen Einfluss und
selbst den deutschen deutlich erkennen lässt, herrscht. Allerdings fehlt es
auch nicht im Baj Ganju an Russismen und Germanismen; auch manche
Nachlässigkeiten im Stil und Gedankenausdruck sind auf Rechnung der be-
quemeren Umgangssprache zu setzen.“ (Weigand 1928, III.)
Im Jahre 1973 erschien in Leipzig eine Neuausgabe von Aleko Konstan-
tinovs Baj Ganju mit dem Untertitel Der Rosenölhändler. Zugrunde gelegt
wurde hier wieder die Übersetzung von Georg Adam in einer Bearbeitung
von Hartmut Herboth und Norbert Randow, der zugleich auch als Heraus-
geber fungierte (Konstantinov 1974). Erst in jüngster Zeit war auch in den
29
USA eine englische Übersetzung von Konstantinovs Baj Ganju erschienen,
herausgegeben von Victor Friedmann (Friedman 2010).
Unter dem Titel Bulgarien wurden 1936 Erzähler der Gegenwart ver-
öffentlicht (Dragnewa 1936, 171). Eine Sammlung unter dem Titel Neue
bulgarische Erzähler wurde im selben Jahr vom Verlag Albert Langen/Georg
Müller/München herausgegeben. Die Übersetzungen aus dem Bulgari-
schen wurden von Živka Dragneva durchgeführt, wobei es sich um Erzäh-
lungen von Jordan Jovkov, Fani Popova-Mutafova, Angel Karalij²ev, Elin-
Pelin, Dimit©r Šišmanov, Kiril Christov, Vladimir Poljanov und Svetoslav
Minkov handelte. In dem von dem Prager Slavisten und Balkanologen Ger-
hard Gesemann (1888–1948) verfassten Nachwort heißt es u. a.:
„Neue bulgarische Erzähler haben wir ausgesucht, nicht damit sie dem
deutschen Leser die Entwicklung der bulgarischen Literatur oder etwa die
schönsten Novellen darbieten, sondern, wie es dem Sinn dieser Buchreihe
entspricht, damit sie uns ganz einfach von ihrer Heimat, von ihrem Volke und
Lande, von seinen Schicksalen erzählen. Das und nichts anderes hat die Aus-
wahl bestimmt. Solch eine Geschichte soll den Duft unbekannter Ferne zu uns
herüber wehen, soll den sonst so schweigsamen Balkan auf eine Weise zu uns
reden machen. Das ist keine bloße Exotik, noch weniger Völkerkunde – aus
der Periode der Folkloristik ist auch die bulgarische Dichtung schon heraus –
wir verlangen, dass sich der Geist des Bodens in seinen Dichtern offenbare.
Den Hauch dieses Geistes wollen wir spüren.
Am liebsten geht er ins Volkslied ein. Das weiß auch der Erzähler. Darum
nimmt er gerne ein Volksliedmotiv, eine Räuberballade, bei deren Klängen
jeder Balkaner einen ganz tragischen Roman erlebt, und malt die Schicksale
des Rebellen und des Bürgers, des Fremdherrn und des Geknechteten, des
Volkshelden und des Volksverräters in ergreifenden Bildern nach, oder er
rankt um die epischen Worte einer alten Chronik das Gemälde einer Bauern-
hochzeit zur Pestzeit. Auch die Geschichte vom Mädchen, das ein Räuber-
hauptmann wurde, ist in den Liedern des ganzen Balkans verbreitet, ebenso
klingt in der schrecklichen und doch versöhnlichen Geschichte vom Gebet des
Hajduken eine alte düstere Geschichte aus der Balkanepik an: Gewiss der
Hajduk ist kein gewöhnlicher Straßenräuber, aber Rebellentum wird schick-
salsmäßig oft genug zum „bösen Gewerbe“, wie die Lieder sagen, und ehe er
sich´s versieht, ist er in Blut und Sünde verstrickt, die ihm Gott nicht vergibt…
….Es ist also kein Zufall, dass die deutschen Berater dieser Ausgabe aus einer
großen Zahl von vorgelegten Erzählungen den ländlichen vor den städtischen
den künstlerischen Vorzug geben mussten und dass von den hier vertretenen
Dichtern die meisten dem Lande und der ländlichen Kleinstadt entstammen.“
(Dragnewa 1936, 171–173)
30
Jordan Jovkovs „Der Schnitter“, eine Erzählung aus der Dobrudscha, wurde
von Gerhard Gesemann selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche über-
tragen und 1941 veröffentlicht. Sicher war diese Übersetzung nicht gerade
zufällig entstanden, sondern im Zusammenhang mit dem damaligen An-
schluss der Süd-Dobrudscha an Bulgarien zu sehen. Mehr und mehr war
aber auch der Wunsch Gesemanns zu erkennen, eine möglichst breit an-
gelegte Zusammenarbeit mit Bulgarien zu verwirklichen.14 Gerade in den
Jahren des Zweiten Weltkrieges hat Gesemann durch aktive Übersetzungs-
und Herausgebertätigkeit einen ganz wesentlichen Beitrag zur Vertiefung
der deutsch-bulgarischen Kulturbeziehungen geleistet.
In schwierigster Zeit, nämlich im Jahre 1944 noch gelang es Gerhard
Gesemann in Berlin eine Sammlung von deutschen Übersetzungen unter
dem Titel Zweiundsiebzig Liedern des bulgarischen Volkes zu veröffentlichen,
Lieder, die von ihm selbst aus dem Bulgarischen ins Deutsche nicht nur
übertragen, sondern auch nachgedichtet wurden. Hierbei handelte es sich
um mustergültige Nachdichtungen, zum Teil auch unter Beachtung des sil-
benzählenden Versmaßes. Zur Kunde vom Wesen eines Volkes, in diesem
Falle der Bulgaren, sah Gerhard Gesemann im Volkslied einen wichtigen,
aber nur einen Weg von mehreren. In neuerer Zeit ist wohl kaum eine
bessere und vor allem einfühlsamere Nachdichtung bulgarischer Lieder
vorgelegt worden, wie sie von ihm durchgeführt wurde (Gesemann 1996).
Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch eine Abhandlung Gese-
manns über Pen²o Slavejkov, ein Gedächtnisvortrag anlässlich der Feier
der 25. Wiederkehr des Todestages eines der bedeutendsten Vertreter der
neueren bulgarischen Literatur, abgehalten am 21. Mai 1937 vor der
„Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft“ in Berlin und veröffentlicht in deren
Jahrbuch (Gesemann 1983, 114–132). Hier stellte Gesemann das Epos
K©rvava pesen/Das blutige Lied in den Mittelpunkt seiner Ausführungen.
Gesemann sah in Pen²o Slavejkov einen Schriftsteller, der zunächst da-
durch besondere Beachtung verdiente, dass er sich in Leipzig deutscher
Wissenschaft und Kunst zugewandt hatte und seine Kenntnisse und Erfah-
rungen dann dem geistigen Austausch, der Vermittlung zwischen Bulga-
ren und Deutschen zukommen lässt. Gerhard Gesemann nennt in diesem
Zusammenhang die balkanische Landschaft, das bulgarische Volkstum,
das nationale Leiden und die Befreiung Bulgariens, aber auch die Uni-
14 „Gesemann hinterließ eine umfangreiche persönliche, bis jetzt nicht untersuchte
Korrespondenz mit K. Christov und anderen bulgarischen Wissenschaftlern und
Schriftstellern, die Pläne gemeinsamer Arbeiten, den Wunsch zu engeren und
fruchtbareren Beziehungen mit Bulgarien, die deutsch-bulgarische Zusammenarbeit
enthält“ (Fey 1984, 63).
31
versität Leipzig als die „biographischen Grundelemente“ Pen²o Slavejkovs,
die für sein Lebenswerk entscheidend wurden. Die bulgarische Literatur
ist für Gesemann zunächst volkserzieherisches Schrifttum zur Erweckung
und Festigung des bulgarischen Nationalbewusstseins, in diese Epoche ge-
hören nach seiner Auffassung u. a. Karavelov, aber auch Petko Slavejkov,
der Vater Pen²o Slavejkovs, während der Lyriker und Revolutionär Christo
Botev und der Erzähler Ivan Vazov bereits die nachfolgende Schriftsteller-
generation repräsentieren.
Wie aus der Korrespondenz Gerhard Gesemanns mit der Südosteuropa-
Gesellschaft in Wien hervorgeht, plante er unter dem Arbeitstitel „Bulga-
rische Charakterologie“ eine Studie über den Volkscharakter der Bulgaren.
In einem Brief nach Wien vom 7. August 1944 schreibt er:
„… Es existiert kein Buch in deutscher Sprache, das den bulgarischen
Volkscharakter in einer Weise darstellt, dass die Darlegungen des Buches zur
Grundlage sowohl der theoretischen Erkenntnis vom Wesen des bulgarischen
Volkes wie zur praktischen Handhabe im politischen und wirtschaftlichen
Verkehr dienen können. Die Wissenschaft der völkerpsychologischen Charak-
terologie und Soziologie steckt bei den Bulgaren selbst noch in den Anfängen.
Ich habe die Absicht, meine mannigfachen Vorarbeiten über diesen Gegen-
stand zu einem umfangreichen Buche über die Soziologie und Charaktero-
logie des bulgarischen Volkes auszubauen. Das Buch wird ein Gegenstück zu
meinem soeben erschienenen Buche „Heroische Lebensform“ bilden, das den
patriarchalischen Westbalkan behandelt, über Sinn und Haltung dieses
Buches der „Heroischen Lebensform“ nämlich mag eine beigefügte Kritik ge-
nügende Auskunft geben.
Zur Ausarbeitung des geplanten Buches ist es nötig, alle eigenen Versuche der
Bulgaren zu überprüfen, die diese in der Richtung auf eine Selbsterkenntnis
ihres eigenen Weges pflegen nicht aus objektiven Gründen, sondern gerade
aus subjektiven Gründen, d.h. als Dokumente (nicht als Ergebnisse) von
hohem Wert zu sein. Um zu wissen, wie ein Mensch ist, ist es gut, zu wissen,
wie er sich selbst gesehen wissen will. Nun gibt es eine ganze Reihe solcher
bulgarischer Versuche, zumeist nicht von Wissenschaftlern geschrieben, son-
dern von Dichtern, Schriftstellern und Männern des öffentlichen Dienstes und
gerade darum als Dokumente wichtig, zumeist auch interessant geschrieben.
Ich habe die Absicht, diese Versuche zu einer bulgarischen Volkscharaktero-
logie von Bulgaren selbst in ihren besten und anziehendsten Stücken in Über-
setzung herauszugeben und mit der notwendigen Einleitung zu versehen, in
der ich diese Versuche in einer Gesamtschau des bulgarischen Charakters
einbaue, die in ihrer Vorläufigkeit einstweilen meine große Soziologie und
Charakterologie des bulgarischen Volkes ersetzt, zugleich aber wird die
32
Sammlung bulgarischer Selbstcharakteristiken ein notwendiges Quellenbuch
zu meinem späteren Werke bilden und dieses – das spätere Buch – wird erst
im Zusammenhange mit dem Quellenbuche seinen vollen Wert besitzen.
Soweit über das Wissenschaftliche des Buches.
Das geplante Buch, nennen wir es „Bulgaren über Bulgaren“, überschreitet
den Rahmen einer mehr oder weniger privaten Publikation schon dadurch,
dass es wichtige Männer des künstlerischen, wissenschaftlichen und öffent-
lichen bulgarischen Lebens in deutscher Übersetzung vor die deutsche und
europäische Öffentlichkeit stellt, – dass es somit Deutschland ist, dass ihnen
den Zugang zu Europa öffnet, – dass ferner hier über ein Volk und sein letztes
volkliches Wesen behandelt wird, das mit dem deutschen Volk eng zusam-
menarbeitet, – dass es von großer innerdeutscher Wichtigkeit ist, einiges
Grundlegende über den bulgarischen Volkscharakter zu erfahren. Auf die
Notwendigkeit solcher Aufklärung über fremde Völker brauche ich wohl in
den heutigen Zeiten nicht noch besonders hinzuweisen…“15
Zu nennen ist noch Der Lockvogel, die Nachdichtung einer bulgarischen
Novelle aus dem Nachlass des 1948 in Bad Tölz verstorbenen Slavisten der
Deutschen Universität Prag, herausgegeben von seinem Sohn Wolfgang
Gesemann (Gesemann 1986, 33–49).16 Abgesehen von den bereits erwähnten
Übersetzungen aus dem Bulgarischen ins Deutsche sind noch die folgen-
den drei Abhandlungen Gerhard Gesemanns zu nennen, in denen er sich
mit bulgaristischen Themen befasst hat:
„Der bulgarische Roman 1930 vor dem Forum der Philosophie“ (Gesemann
1931, 558–566; Gesemann 1983, 133–143); „Ein bulgarischer Epensänger im
Tonfilm“ (Gesemann 1933, 143–155; Gesemann 1981, 431–446)17; „Über das
15 BARCH R 63/113 – Südosteuropa-Gesellschaft in Wien e.V./fol.115–116. G. Gese-
mann an die Südosteuropa-Gesellschaft/Dr. Oberacher. Vgl. hierzu Fey 1984, 55–64;
Mühlmann 1954, 237–243.
16 Vgl. hierzu Wolfgang Gesemann in den Anmerkungen: „Die Novelle Der Lockvogel,
die hier erstmals postum im Druck erscheint, ist eine der von meinem Vater Gerhard
Gesemann (1888/1948) als Novellensammlung gedachten, von ihm so genannten
„Geschichten aus dem Hinterhalt“. Diejenigen von ihnen balkanischen Inhalts,
nämlich Das Lied vom großen Ban, Die Hochzeit, Der Räuber Kariman, Die Nachti-
gall und Der brennende Dornbusch habe ich zusammen mit der Novelle Prager
Inhalts Herr Fuchs glaubt nicht an Träume postum unter dem Titel Germanoslavica.
’Geschichten aus dem Hinterhalt’ als Band 7 der Reihe Symbolae Slavicae …
herausgebracht. Neben Die Nachtigall tritt mit dem Lockvogel eine zweite und letzte
Novelle bulgarischen Inhalts“ (Gesemann 1986, 48).
17 Zum ersten Male in der Geschichte der Forschung war es möglich geworden einen
bulgarischen Volkssänger ausführlich und unter Benutzung der damals modernsten
Aufnahme- und Wiedergabetechnik untersuchen zu können. Nach Auffassung
Gesemanns war es nunmehr höchste Zeit, das Volksepos von ganz anderen Gesichts-
33
bulgarische Volkslied“. Nachwort zu „Zweiundsiebzig Lieder des bulgari-
schen Volkes“ (Gesemann 1944, 111–141).
In das Jahr 1944 fällt auch noch die Veröffentlichung der Bulgarischen No-
vellen, übersetzt und herausgegeben von Meli M. Schischmanow als Band
18 in der Reihe „Die hundert kleinen Bücher“ im Karl Bischoff Verlag.
Geboten werden dort von Angel Karalji²ev „Die Adler“, „Ein Mädchen
flieht…“ und „Unser Pescho“, von Svetoslav Minkov die Novelle „Der
Vampir“, von Dimit©r Šišmanov „St. Georgs-Zauber“, von Elin-Pelin „Selt-
same Beichte“, von der Herausgeberin Meli M.Schischmanow die Novellen
„Zu Widin, 1375…“ und „Zwei an einem Sommertag“. Den Abschluss des
Bändchens bildet eine Darstellung von Herta Hofmann-Söllner zum Thema
„Die Dichtung der Bulgaren“, wo sie u.a. ausführt:
„Als sich im Jahre 1878 Bulgarien vom Türkenjoch befreite und zur Nation
wurde, waren die Freiheitssänger die ersten Dichter des unabhängigen
Landes. Der kulturelle Einfluss von Byzanz wurde langsam, unmerklich, aber
bis ins letzte abgelegt und es entstanden aus dem unverbrauchten Volk die
bäuerlichen Erzählungen, die Balladen und Lieder, auf denen sich das
dichterische Schaffen der späten Nachkriegszeit aufbaut.
Mit dieser Einigung der Nation war das Land der westlichen Zivilisation des
19. Jahrhunderts aufgeschlossen. Die Technik und der raschere Betrieb ver-
langten Aufmerksamkeit und wollten auch vom Künstler erfasst und gestaltet
sein. Es war, als käme der Dichter den Strömungen Mittel- und Westeuropas
erst dadurch nahe, dass er über sie schrieb. Es war ein Tasten. Da kam der
Krieg.
Er wurde nicht nur wirtschaftlich verloren. Die Stadt als Verbraucherzentrum
bildete ein geistiges Problem. Die innere und äußere Zerrissenheit nahm zu.
Die Literatur des Auslandes stellte sich nicht als Heilmittel heraus, als das sie
gepriesen wurde. Wie in allen am Kriege arm gewordenen Ländern entstand
auch in Bulgarien die „soziale Dichtung“, guten Willens, aber ohne Erfolg und
Nutzen.
Da besinnt sich der Dichter auf die Erde, von der er kam und die ihn trägt.
Und weil er Bulgare ist und sich nie so weit vom Boden entfernte wie der
Großstädter anderer Gebiete, erspart er sich viele Irrtümer und Übertreibun-
gen. Sein Bauer ist nicht Philosoph mit sorgenvoller Stirn, er ist Pflüger und
Erntender, Handwerker, Hirte und Patriarch. Er ist humorvoll und gütig,
großmütig und verschlagen, ein Mensch mit Fäusten und gläubiger Seele.
punkten zu betrachten, als dies bisher der Fall war, nämlich von der Vortragsart, von
der rezitativen Seite her.
34
Die Schriftsteller bekannten sich zur Selbstverantwortlichkeit und zur Ver-
antwortung für die, die sie mit ihrem Wort führten. Aus der Lyrik der Vor-
kriegszeit, aus der veredelten, beherrschten Sprache, die in sich selbst den
Endzweck und die vollkommene Schönheit sah, wurde gegen Ende der zwan-
ziger Jahre schwere, inhaltsreiche Epik. Vor dem Krieg war Aufstand gegen
den Zwang, Revolution der Form, Übernationalität Religion gewesen, jetzt
gibt es ein sich fügen ins Notwendige und im Begrenzten finden sich un-
geahnte Werte. Es ist eine Heimkehr.
Scharf getrennt ist „Stadt“- und „Dorf“-Dichtung. Es gibt kaum einen Über-
gang und auch das Suchen nach Gemeinschaftszielen ist für den Darsteller
des bäuerlichen Lebens aufs Land beschränkt und hält sich beim Schriftsteller,
der über die Stadt und ihre Nöte schreibt, eng in ihren Grenzen. Nur dort
wird eine Ausnahme von dieser Zweispurigkeit gemacht, wo sich ein Dichter
die Aufgabe stellt, die Entwicklung der letzten hundert Jahre als Grundlage
der Gegenwart zu erklären. Hier muss er naturgemäß auf die Dorfgemein-
schaft als die Zelle des gesellschaftlichen Lebens stoßen.
Und noch eines ist beiden Dichtungsarten gemeinsam. Die straffe Dialog-
führung, eine Eigentümlichkeit des Bulgarischen. Da die deutsche Sprache
eine ähnlich konzentrierte Satzbildung zeigt, eignet sie sich wie wenige an-
dere zur Übersetzung.
Unter den Schriftstellern, die als charakteristisch für die neue bulgarische
Dichtung zu gelten haben, sind fünf ausgewählt, die in Wollen und Wirkung
dem deutschen Leser nahekommen.“ (Schischmanow 1944, 93–95)
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich für die Rezeption bulgari-
scher Literatur in Deutschland eine völlig veränderte Situation ergeben.
Dem sozialistisch ausgerichteten Bulgarien standen seit 1949 zwei deutsche
Staaten mit völlig gegensätzlicher ideologischer Orientierung gegenüber,
die Bundesrepublik Deutschland, in der sich über viele Jahre hin so gut wie
keine Möglichkeiten eines Austausches ergaben und die Deutsche Demo-
kratische Republik, wo sich im Rahmen der ideologischen Ausrichtung je-
doch weitreichende Möglichkeiten für eine Übersetzungstätigkeit ergaben,
die mit dem Namen von Egon Hartmann, Hartmut Herboth, vor allem aber
mit Norbert Randow in Verbindung zu bringen sind, die sowohl in DDR-
Verlagen aber auch in Verlagen Bulgariens deutsche Übersetzungen bulga-
rischer Autoren veröffentlichten. Demgegenüber kam die Übersetzung bul-
garischer Autoren im westlichen Teil Deutschlands fast ganz zum Erliegen.
Im Verlag und Druck Dr. Herp erschien in München ohne Jahresangabe
unter dem Titel Bulgarische Gesänge eine Anthologie bulgarischer Dichtung,
übertragen von Sawa Ungerer-Manolova. Gewidmet war die Sammlung
allen, denen Dichtung völkerverbindende Kraft bedeutet. Die Auswahl der
35
bulgarischen Schriftsteller war ganz nach dem persönlichen Ermessen der
Herausgeberin erfolgt. Beginnend mit Ivan Vazovs Gedichten „An Bul-
garien“, „Am Soldatenfriedhof bei Slivnica“, „Die Kirchenklapper“, „Das
Unauslöschliche“ und Christo Botevs „An meine Mutter“, „Vasil Levski
am Galgen“ und „An meine erste Liebe“, Stojan Michajlovskis Gedichten
„Die Sonne und der Staub“, „Gerade aus!“, „Vergebung“ und „Der Adler
und die Schnecke“, Pen²o Slavejkovs Gedichten „Unzertrennlich“, „So-
lange Jugend“ und „Regentropfen“ wurde Teodor Trajanovs Gedichten
besonders großer Raum mit „Zueignung“, „Dem Dichter“, „Dem Ruhe-
losen“, „An die Schönheit“, „Der Ritter der Blauen Blume“ und noch eini-
gen anderen großer Raum in dieser Sammlung gewährt, gefolgt von wei-
teren Übersetzungen von Gedichten von Dim²o Debeljanov, nämlich „Das
reissende Böse“, „Weisst du noch..“, „Brief“, „Im Mondschein“ und „Ab-
schied“, von Nikolaj Liliev seine Gedichte „An meine Heimat“, „Trauere
nicht!“, „Das Vaterhaus“ und „Heimweh“, von Peju Javorov die Gedichte
„Die Verbannten“, „Der Schelm Pavleta und seine junge Frau“ sowie „An
meine Mutter“ und von Christo Ognjanov (vgl. Petrov-Slodnjak 1991), der
1967 in der Reihe „Kultur der Nationen“ eine Darstellung Bulgariens und
eine Geschichte der bulgarischen Literatur in deutscher Sprache veröffent-
lichte (vgl. Kronsteiner 1999), die beiden Gedichte „Bistra“ und „Ferne
Zeiten“. Dass die Dichtung Trajanovs hier besonders berücksichtigt wurde,
begründet die Übersetzerin und Herausgeberin damit, dass bei ihm eine
besondere Tiefe und Universalität der Empfindung zu finden sei, die den
westlichen Leser besonders ansprechen dürften (Ungerer-Manolova o. J., 4).
Im Jahre 1971 veröffentlichte Kyrill Haralampieff (1919–2003), Lektor
der bulgarischen Sprache an der Universität München, zusammen mit Jo-
hanna Wolf in der Sammlung Diederichs eine Sammlung mit dem Titel
Bulgarische Volkslieder. Im selben Jahr legte Vaclav Frolec in Sofia unter dem
gleichen Titel Bulgarische Volksmärchen eine Sammlung in deutscher Sprache
in Sofia der Öffentlichkeit vor. Bulgarische Erzählungen, ausgewählt von
Pen²o Dan²ev, wurden 1960 im Fremdsprachenverlag in Sofia veröffent-
licht. Von bulgarischer Seite wurden also auch Übersetzungen in deutscher
Sprache gefördert.
Zu den wenigen in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten
Übersetzungssammlungen aus dem Bulgarischen gehört Sonnenquadrate auf
winterlichem Strand, eine Auswahl junger bulgarischer Erzähler, heraus-
gegeben von G. H. Herzog und Ljuben Dilov beim Limes Verlag im Jahre
1969. In deutscher Übersetzung von G. H. Herzog, Helga Thomas und
Bistra Winkler werden hier geboten „Erster Sommer“ von Dimit©r Paunov
(geb. 1942), „Wolfsart“ von Dimit©r V©lev (geb. 1940), „Letzter Kreis über
dem Ozean“ von Georgi Veli²kov (geb. 1938), „Sonnenquadrate auf winter-
36
lichem Strand“ von Koljo Nikolov (geb. 1941), „Regentage“ von G. K. Kiri-
lov (geb. 1938), „Die Witwe“ von Raško Sugarev (geb. 1941) und „Oberstes
Gebot um nicht zu ertrinken ist, den Kopf über Wasser halten“ von Vladi-
mir Zarev (geb. 1946). Es handelte sich hier durchgehend um Autoren, die
in den Jahren des Zweiten Weltkrieges geboren wurde. Zur Situation der
bulgarischen Schriftsteller wird im Vorwort darauf hingewiesen, dass die
Erzählung in der bulgarischen Literatur einen besonderen Platz einnimmt.
Sie entwickelte sich unter dem Einfluss vor allem russischer Schriftsteller
wie Gogol, +echov und Turgenev, aber auch Maupassant. Die Prosa wird
als eine Waffe im Kampf für eine gerechte Gesellschaftsordnung gesehen,
sie ist nicht gegen das System gerichtet, will es aber funktionsfähiger
machen. Erwähnt wird auch die Tatsache, dass im 1913 gegründeten Bul-
garischen Schriftstellerverband mit seinen etwa 300 Mitgliedern nur etwa
dreißig Mitglieder unter 30 Jahren alt waren.
Im Jahre 1978 erschien unter dem Titel Bulgarische Erzähler. Südwind in
der Sammlung „Kürbiskern“ beim Damnitz Verlag eine weitere Sammlung
von Übersetzungen bulgarischer Autoren, wobei sich hier bekannte Na-
men wie Jordan Radi²kov, Nikolaj Chaitov oder Ivajlo Petrov neben eini-
gen weniger bekannten Autoren finden. „Bulgarien – das ist mehr als ein
Ferienland“, heißt es auf dem Umschlagtext.
Im Spätherbst 1978 erschien unter dem Titel Südwinde eine Sammlung
neuerer bulgarischer Lyrik, übertragen von Inge Ognjanoff und ausge-
wählt und eingeleitet von Christo Ognjanoff beim Glock und Lutz Verlag
in Heroldsberg. Geboten werden dort zahlreiche Gedichte von Elisaveta
Bagrjana, Dimit©r Panteleev, Atanas Dal²ev, Nikola Furnadžiev, Asen Raz-
cvetnikov, Slav²o Krasinski, Christo Ognjanoff, Christo Bojadžieff, Veselin
Chan²ev, Konstantin Pavlov und Blaga Dimitrova. Der Sammelband ging
zurück auf einen Rezitationsabend, veranstaltet von der Bulgarischen Ge-
sellschaft „Dr. Peter Beron“ e.V. am 23. November 1977, eine der ganz
seltenen Gelegenheiten, bei denen die bulgarische Literatur im Westen
Deutschlands vorgestellt wurde.
In einer Ausgabe von 1966 mit dem Titel Bulgaren der alten Zeit wurden
vom Buchverlag „Der Morgen“ in Berlin/Ost Erzählungen in deutscher
Übersetzung von Egon Hartmann, Hartmut Herboth und Karl Gutschmidt
herausgegeben. Wie aus dem Umschlagtext hervorgeht, wird in das „halb-
orientalische“ Leben eingeführt, das von familiärer Romantik, Gemütlich-
keit und grenzenloser Gastfreundschaft, aber auch von ernsten Streitigkei-
ten und Intrigen, von Kämpfen mit tragischen Folgen geprägt ist. Übersetzt
wurden hier fünf führende Vertreter der klassischen bulgarischen Litera-
tur, nämlich Ljuben Karavelov mit seinem Kurzroman Bulgaren der alten
Zeit, nach dem der Sammelband benannt wurde, Ivan Vazov mit seiner
37
Novelle Kleinstädter, während Zachari Stojanov und Konstantin Veli²kov in
dramatischen Bildern den Kampf der Balkanvölker um ihre Befreiung von
der türkischen Herrschaft beschreiben. Svetoslav Milarov kritisiert mit sei-
ner Erzählung „Der Minister, die Falschmünzer und die Höllenmaschine“
die Korruptheit des Osmanischen Reiches. Im Nachwort von Hartmut
Herboth heißt es zu dieser Sammlung:
„Ein anschauliches Bild vom Leben im alten Bulgarien, von seinen Menschen,
ihren Sitten und Gebräuchen, ihren Problemen und Leidenschaften sowie
ihrem Ringen um die nationale Befreiung vom fast 500 Jahre währenden
türkischen Joch vermittelt vorliegender Band, der mit seinen ausgewählten
Erzählungen mitten hineinführt in eine erregte und an Ereignissen reiche
Epoche – in die Zeit der sogenannten bulgarischen Widergeburt, die etwa um
die Mitte des 18. Jahrhunderts begann. Es wäre jedoch nicht exakt, hier von
den Anfängen des bulgarischen Schrifttums zu sprechen, denn ein solches gab
es schon Jahrhunderte vorher.“ (Hartmann et al. 1966, 439)
In den in der DDR veröffentlichten „Bibliographischen Kalenderblättern“
findet sich das 18. Sonderblatt zum Thema „Bulgarien in der Literatur“, in
dem der bulgarische Schriftsteller Cvetan Stojanov mit folgendem Aus-
spruch zitiert wird, der die ideologische Kongruenz der Literatur in der
DDR und im sozialistischen Bulgarien deutlich machen sollte:
„Fast alle bulgarischen Schriftsteller bekannten sich zur Methode des sozia-
listischen Realismus. Drei Faktoren in der Hauptsache haben diese Ent-
wicklung günstig beeinflusst, der volkstümliche und realistische Charakter
der Literatur der Vergangenheit, das starke Vertrauen der Schriftsteller zur
illegalen kommunistischen Partei während der Zeit des Kampfes gegen den
Faschismus und die fördernden Impulse durch die Sowjetliteratur. Die sozia-
listische bulgarische Literatur wurde schnell zu einem Hebel beim Aufbau
eines neuen, besseren Lebens.“ (o. A. 1964, 51)
Nicht nur die Karl-Marx-Universität Leipzig und die Humboldt-Uni-
versität zu Berlin verfügten über besondere vertragliche Möglichkeiten des
wissenschaftlichen und kulturellen Austausches mit der Volksrepublik
Bulgarien, sondern auch die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin stand in
Verbindung mit der Bulgarischen Nationalbibliothek „Kyrill und Method“.
Beide Bibliotheken hatten 1965 einen Freundschaftsvertrag geschlossen,
auf dessen Grundlage es möglich war, Schriftentausch und Leihverkehr zu
organisieren sowie Ausstellungen und bibliothekarischen Erfahrungsaus-
tausch zu realisieren und auch eine aktive bibliographische Zusammenar-
beit zu realisieren. Wie aus bibliographischen Mitteilungen der Deutschen
Staatsbibliothek in Berlin, die auf Anregung der Kommission für literatur-
38
wissenschaftliche Bibliographie beim Nationalkomitee der Slavisten der
DDR anlässlich des X. Internationalen Slavistenkongresses in Sofia im Jahre
1988 veröffentlicht wurden, hervorgeht, wurden in der Tat ganz bestimmte
bulgarische Autoren mit Übersetzungen in der DDR bedacht, so Christo
Botev, Nikolaj Chajtov (geb. 1919), Marin Chala²ev (geb. 1933), Vasil Co-
nev (geb. 1925), +udomir (= Dimit©r +orbadžijski 1890–1967), aber auch
Elin Pelin, Jordan Jovkov, Georgi Karaslavov, Svetoslav Minkov (1902–
1969), Jordan Radi²kov (geb. 1929), Bogomil Rajnov, Emilijan Stanev (1907–
1979), Pavel Vežinov (geb. 1914) und selbstverständlich auch Ivan Vazov
(1850–1921) (Kuhnke 1988).18 Die Übersetzungen bulgarischer Literatur in
der DDR erstreckten sich auf alle Gebiete des literarischen Schaffens bul-
garischer Autoren, so zunächst auf Ausgaben von Erzählungen, dann auch
auf Lyrik und Humoristisches:
Bulgarien erzählt. Ein Einblick in die bulgarische Literatur. Ausgewählt und
zusammengestellt von Ljubomir Ognjanov und Horst Görsch. Berlin: Verlag
Volk und Wissen 1959.
Die Verfemten. Bulgarische Erzählungen. Übertragen, herausgegeben und mit
einem Nachwort von Egon Hartmann. Leipzig: Reclam 1959.
Bulgarische Erzähler. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
Norbert Randow. Berlin: Neues Leben 1961. Hierzu schreibt Norbert Randow
im Nachwort:
„Die sechsunddreißig Erzählungen dieses Bandes, jede von ihnen ein abge-
rundetes kleines Kunstwerk, geben einen geschlossenen Überblick über die
neuere bulgarische erzählende Literatur, über ihre vielseitige Thematik und
ihren progressiven humanistischen Gehalt. Unter den Schriftstellern, die in
dieser Auswahl vertreten sind, finden sich auch solche, die großes vor allem
auf dem Gebiete der Poesie geleistet haben wie Slawejkow, Jaworow, Chris-
tow und Smirnenski“. (Randow 1961, 534)
Hier finden sich Übersetzungen nicht nur Norbert Randows, sondern auch
Hartmut Herboths, Egon Hartmanns, Karl Gutschmidts, Kiril und Martha
Kostovs. Mehrere der in diesem Sammelband vertretenen Übersetzungen
18 Von JUS AUTOR wurde für die Jahre von 1958 bis 1964 eine Übersicht über Über-
setzungen aus dem Bulgarischen in Fremdsprachen unter dem folgenden Titel ver-
öffentlicht: „Littérature bulgare en langues étrangères“. Dort finden sich Verzeich-
nisse der bulgarischen Autoren, der Anthologien, der bulgarischen Volkslieder und
Volkserzählungen sowie eine Aufstellung der Übersetzungen nach Sprachen. Dabei
stehen Übersetzungen ins Russische an erster Stelle, gefolgt von deutschen Über-
setzungen, dann erst folgen Übersetzungen in andere europäische Sprachen, so ins
Englische, Tschechische, Polnische, Ukrainische, Slowakische, in das Französische
und Ungarische.
39
gehen auch noch auf Georg Adam zurück. Vertreten sind hier die bulgari-
schen Autoren Ljuben Karavelov, Ivan Vazov, Todor Vlajkov, Aleko Kon-
stantinov und u. a. auch Elin Pelin mit deutschen Übersetzungen.
Baba Tonka und die Kuppler: Erzählungen, mit einem Nachwort und biogra-
phisch-literarischen Bemerkungen von Hartmut Herboth. Berlin: Verlag Der
Morgen 1964.
Der Mandelzweig: Moderne bulgarische Prosa, herausgegeben von Hartmut Her-
both. Berlin-Weimar: Aufbau Verlag.1969.
Erkundungen, 18 bulgarische Erzähler, herausgegeben und mit einem Nachwort
versehen von Barbara Antkowiak. Berlin: Volk und Welt 1974.
Stunden der Bewährung. Erzählungen aus Bulgarien. Berlin: Volk und Welt 1977.
Kontaktversuche: Eine Anthologie bulgarischer phantastischer Erzählungen,
herausgegeben und mit Nachbemerkungen von Erik Simon. Berlin: Verlag
Das Neue Berlin 1978.
Elegie: Junge bulgarische Prosa, Deutsch von Herbert Herboth, ausgewählt von
Barbara Antkowiak. Berlin-Weimar: Aufbau Verlag 1986.
Nicht nur bulgarische Prosa, sondern auch Lyrik aus Bulgarien wurde in
der DDR mehrfach veröffentlicht:
Blaue Feuer: Moderne bulgarische Lyrik, herausgegeben von Paul Wien. Berlin:
Volk und Welt 1966.
Bulgarische Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts: Die Auswahl besorgte der bul-
garische Schriftstellerverband in Zusammenarbeit mit Wolfgang Köppe. Aus
dem Bulgarischen von Hans Georg Albig u. a. Berlin: Volk und Welt 1984.
Bulgarische Dramen wurden von Wolfgang Köppe herausgegeben und
mit einem Nachwort von ihm versehen, erschienen 1974 in Henschelverlag,
Berlin.
Bulgarische Märchen wurden herausgegeben von Elena Ognjanova 1992
in Leipzig (Insel-Verlag).
Mehrere Ausgaben bulgarischer Übersetzungen bringen auch Humo-
ristisches aus Bulgarien in Übersetzung:
Onkel Dentchos Ideal: Heitere Geschichten aus Bulgarien, herausgegeben von
Hartmut Herboth 1965 in Berlin: Eulenspiegel Verlag.
Mach dich nicht zum Gürtel fremder Hosen: Ein bulgarischer Spruchbeutel mit 481
bulgarischen Sprichwörtern, herausgegeben, mit einem Nachwort versehen und
übersetzt von Norbert Randow 1978 in Berlin: Eulenspiegel Verlag.
Landschaft mit Hund: Bulgarische humoristische Erzählungen, ausgewählt von
Hartmut Herboth und Jordan Popov, übersetzt von Hartmut Herboth, ver-
öffentlicht 1985 in Berlin: Eulenspiegel Verlag.
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Aus dem Bulgarischen wurden auch Hörspiele übersetzt, die im DDR-
Rundfunk übertragen wurden. Im Zeitraum von 1969 bis 1987 wurden von
der Abteilung „Internationale Funkdramatik“ des Rundfunks der DDR etwa
50 Hörspiele geboten. Wie aus der Darstellung von Ingrid Kuhnke weiter
hervorgeht, zeigt die Chronologie der Erstauflagen von Übersetzungen aus
dem Bulgarischen ins Deutsche, dass die Übersetzungstätigkeit in der DDR
erst mit dem Jahre 1952 aufgenommen wurde und zwar mit Erzählungen
von Elin Pelin und Gedichten von Nikola Vapcarov. Bis zum Jahre 1956
wurden jährlich etwa zwei Übersetzungen veröffentlicht, bis 1971 waren es
dann jährlich etwa 5 bis 6 Titel und von 1972 bis 1981 jährlich fast 10 Titel.
In den Jahren 1982 bis 1987 waren es wiederum nur 5 bis 6 Titel, die aus
dem Bulgarischen ins Deutsche übertragen wurden. Das von Ingrid Kuhnke
zusammengestellte Übersetzungsregister verzeichnet 103 Übersetzernamen,
von denen nach Georg Adam Egon Hartmann, Hartmut Herboth, Wolf-
gang Köppe und Nobert Randow (auch unter dem Pseudonym T. N.
Braron) mit den meisten Übersetzungen herausragen. Zu nennen sind als
Übersetzer bulgarischer Literatur in der DDR aber auch Hans-Georg Albig,
Barbara Beyer, Mechthild Schäfer (geb. Ender), Barbara Antkowiak (geb.
Sparnig). Für die Jahre 1952 bis 1956 ist ein zögerlicher Beginn der Über-
setzungstätigkeit festzustellen, die ab 1957 dann aber deutlich zunahm, ab
1972 war eine weitere Zunahme der Übersetzungen aus dem Bulgarischen
in der DDR zu verzeichnen, ab dem Jahre 1982 nahm die Übersetzungs-
tätigkeit wieder ab. Gründe für diese Schwankungen lassen sich nur ver-
muten. Insgesamt sind es aber 278 bulgarische Autoren, die in der DDR ins
Deutsche übertragen wurden, zu denen die bekannten bulgarischen
Schriftsteller wie Christo Botev, +udomir, Atanas Dal²ev, Stojan Daskalov,
Dimit©r Dimov, Jordan Jovkov, Angel Karalij²ev, Georgi Karaslavov, Kon-
stantin Petkanov, Emilijan Stanev, Dimit©r Talev, Nikola Vapcarov und
selbstverständlich auch Ivan Vazov gehören.
Deutsche Übersetzungen bulgarischer Autoren wurden in einzelnen Fäl-
len auch in Bulgarien veröffentlicht, so Bulgarische Erzählungen, ausgewählt
von Pen²o S. Dan²ev, 1960 im Fremdsprachenverlag in Sofia veröffentlicht,
oder unter dem Titel Bulgarische Belletristen der Gegenwart, literarische Skiz-
zen, übersetzt von Hartmut Herboth und 1970 in Sofia veröffentlicht. 1989
erschienen im Verlag Svjat (Sofia) unter dem Titel Bulgarische Tiergeschich-
ten eine Sammlung von Erzählungen, herausgegeben von Simeon Janev,
übersetzt von W. Gruhn, K. Papasova, R. Bogdanova, E. Petrova, W. Hanft
und Egon Hartmann.
1957 veröffentlichte Norbert Randow Ivan Vazovs Roman Unter dem
Joch, gefolgt von weiteren Auflagen in den Jahren 1964 und 1969 in Sofia
und 1967 in Berlin, ferner Svetoslav Minkovs Die Dame mit den Röntgen-
41
augen erschien 1959 in Berlin, Aleko Konstantinovs Baj Ganju, der Rosenöl-
händler wurde auf der Grundlage der Übersetzung von Georg Adam zu-
sammen mit Hartmut Herboth im Jahre 1974 in deutscher Übersetzung in
Leipzig veröffentlicht. 1978 folgten unter dem Titel Die brennenden Garben
ausgewählte Erzählungen von Ivan Vazov, ebenfalls von Norbert Randow
ins Deutsche übertragen.
Norbert Randow ist mit seinen Übersetzungen nicht nur auf die zeit-
genössische bulgarische Literatur eingegangen, sondern er hat in diesem
Band auch einen Ausschnitt aus dem Leben und Leiden des sündigen Sofronij
gebracht, womit er auch die ältere bulgarische Literatur einem breiteren
Leserkreis in Deutschland zugänglich gemacht hat. Dies gilt auch für seine
Übersetzung der Pannonischen Legenden, die 1972, 1973 und 1977 in Berlin
und Wien erschienen sind, vor allem aber auch für die Slawobulgarische
Geschichte des Paisij Chilendarski aus dem Jahre 1794, die die Epoche der
bulgarischen Wiedergeburt einleitete und die Randow in deutscher Über-
setzung 1984 in Leipzig veröffentlichte.
Eine umfangreiche Sammlung von bulgarischen Erzählungen des 20.
Jahrhunderts veröffentlichte Norbert Randow im Jahre 1996 in Frankfurt
am Main und Leipzig, gefolgt von einer Anthologie neuer bulgarischer
Lyrik unter dem Titel Eurydike singt, veröffentlicht 1999 in Köln, womit die
Bulgarische Literatur in deutscher Übersetzung auch nach der Wende von
1989/90 weiterhin angemessen vertreten war.
Norbert Randow hat am 25. März 2001 den Leipziger Buchpreis zur
Europäischen Verständigung parallel zum Italiener Claudio Megris er-
halten. Die Ehrung erfolgte unter dem Motto „Verständigung ist eine stets
bedrohte Brücke“. In der vom damaligen sächsischen Staatsminister für
Wissenschaft und Kultur, Hans Joachim Meyer, Wolfgang Tiefensee, Ober-
bürgermeister der Stadt Leipzig und Roland Ulmer, dem Vorsteher des
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, unterzeichneten Urkunde hieß
es:
Norbert Randow erhält den Anerkennungspreis für seine langjährige und
vielseitige Tätigkeit als Herausgeber und Übersetzer aus dem Bulgarischen,
Russischen, Weißrussischen und Altkirchenslavischen, die ihn als hervor-
ragenden Kenner und kompetenten Vermittler dieser Kulturen ausweist. Vor
allem mit der Anthologie „Eurydike singt. Neue bulgarische Lyrik“ hat er sich
als einfühlsamer Übersetzer bulgarischer Lyrik erwiesen, deren Verständnis
zu erleichtern und zu fördern sein hervorragendes Anliegen ist.“ (Leipziger
Buchpreis zur Europäischen Verständigung. O. O. O. J., 39)
42
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G. Adam, Das bulgarische Schrifttum. Literarisches Echo 1, 1898–1899, 681–682.
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garischen übersetzt von Georg Adam. Aus fremden Zungen 11, 1901, 1000–1003.
Adam 1901c
G. Adam, Skizzen von Petko Todoroff. 3. Schäfer. Aus dem Bulgarischen über-
setzt von Georg Adam. Aus fremden Zungen 11, 1901, 1084–1091.
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Sprachen, Literaturen und Volkskulturen slawischer Völker bis 1945 (Köln 1994).
49
Helmut W. Schaller
Die „B©lgarsko knižovno družestvo/Bulgarische Literarische
Gesellschaft“ im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens 1869-18781
Drei Jahre werden rückblickend für die neuere bulgarische Geschichte im-
mer wieder als entscheidend genannt: 1989 als das Jahr der Wende in Bul-
garien, 1944 als das Jahr der kommunistischen Machtübernahme und dem
Ende der Monarchie, wenn diese auch erst 1946 aufgrund eines Volksent-
scheides abgeschafft wurde, und schließlich 1878 als das Jahr, in dem die
osmanische Herrschaft für Bulgarien zu Ende ging. Geht man weiter zu-
rück, um den zeitlichen Rahmen für die folgenden Ausführungen abzugren-
zen, so ist sicherlich Paisijs Slavenobolgarskaja istorija/Slawisch-bulgarische
Geschichte des Jahres 1762 zu nennen, die den Ausgangspunkt für die
folgende Epoche der Wiedergeburt, des „nacionalno V©zraždane“ bedeu-
tete, die letztlich auch zur Selbstständigkeit Bulgariens führte.
Ein weiteres wichtiges Datum in der neueren Geschichte Bulgariens
dürfte aber auch das Jahr 1869 gewesen sein, das Jahr, in dem die „Bul-
garische Literarische Gesellschaft“, Vorläuferin der späteren Bulgarischen
Akademie der Wissenschaften, aufgrund der damaligen politischen Verhält-
nisse nicht in Bulgarien, sondern in Rumänien begründet wurde. Die bei-
den Fürstentümer Moldau und Walachei kamen im 16. Jahrhundert unter
osmanische Herrschaft, 1859 wurden sie unter türkischer Oberhoheit ver-
einigt, regiert von Fürst Cusa. Nach dessen Sturz im Jahre 1866 übernahm
Karl von Hohenzollern die Herrschaft, der 1881 bis 1914 dann als Karl I.
Rumänien regierte. In Rumänien waren demnach die Bedingungen für eine
bulgarische wissenschaftliche Institution nach dem Vorbild anderer euro-
päischer Akademien wesentlich günstiger als in Bulgarien, das 1393 unter
osmanische Herrschaft kam und erst 1878 mit dem Frieden von San Stefano
in der Folge des Russisch-Türkischen Krieges ein selbstständiges Fürsten-
tum unter Alexander von Battenberg wurde.
Entsprechend diesen Bedingungen hatte sich sowohl in Rumänien, als
auch in Russland eine starke bulgarische intellektuelle Emigration zusam-
mengefunden, die die Gründung wissenschaftlicher Einrichtungen außer-
1 Erweiterte Fassung eines Vortrages am 8. November 2013 an der Humboldt-Univer-
sität zu Berlin im Rahmen des Symposiums der „Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft
zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien“: Betrach-
tungen zu Kulturtraditionen und Wissenschaft in den bulgarischen Gebieten vor 1878.
50
halb Bulgariens verfolgte. Vorbild waren die anderen, freien Völker Euro-
pas, die bereits seit längerer Zeit ihre Akademien und wissenschaftlichen
Gesellschaften hatten. Die Bildung einer Akademie auf bulgarischem Bo-
den scheiterte grundsätzlich an den Ordnungen des Osmanischen Reiches.
Bulgarische Patrioten wie Konstantin Petkovi² und Nešo Stojanovi² plan-
ten trotzdem im Jahre 1852 die Herausgabe einer „B©lgarska Matica“ in
Konstantinopel, einige Jahre später begründete Dragan Cankov eine „Ob-
ština na b©lgarskata knižnina“, eine „Gesellschaft für bulgarisches Schrift-
tum“, die Lehrbücher und andere Literatur verbreiten sollte. An dem Unter-
nehmen waren führende bulgarische Intellektuelle wie Dimit©r Mutev
(1818-1864)2 und der Sprachwissenschaftler Najden Gerov (1823-1900), vor
allem durch die Erstellung des bulgarischen Wörterbuches in den Jahren
nach 1895 (Gerov 1895) bekannt geworden, beteiligt. Das Vorhaben kam je-
doch nicht voran, da es vor allem an materieller Unterstützung fehlte, eben-
so fehlten wissenschaftliche Fachkräfte und obendrein wurde das Unter-
nehmen von der osmanischen Zensur behindert.
In der Zeit des „V©zraždane“, der bulgarischen „nationalen Wieder-
geburt“, entstand eine breite, in drei Richtungen verlaufende nationale
Befreiungsbewegung:
der Kampf um eine weltliche Bildung und Kultur,
der Kampf um die Selbstständigkeit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche und
schließlich der politische Kampf um soziale und nationale Selbstständigkeit.
In diesem Kampf um die Schaffung eines modernen, der Zeit entsprechen-
den Bildungssystems, spielten mehrere Persönlichkeiten eine herausragende
Rolle, nämlich Petar Beron (um 1800-1871 Craiova), Neofit Bozveli (eigent-
lich Neofit Chilendarski, um 1785-1848, auf dem Athos verstorben), Neofit
Rilski (um 1793-1881), Najden Gerov (1823-1900), Vasil Aprilov (1789-
1847), die Brüder Dimit©r und Konstantin Miladinov (1810-1862 und 1830-
1862) und schließlich Marin Drinov (1838-1906) mit der 1869 im rumäni-
schen Br©ila gegründeten „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“. Diese
und eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten erneuerten das bulgarische
Bildungswesen und schufen die ersten Schulen und Gymnasien. Der Kampf
um die geistige Erneuerung Bulgariens entwickelte sich zu einer Volksbewe-
gung für die Beseitigung der Abhängigkeit nicht nur vom Osmanischen
Reich, sondern auch vom griechischen Patriarchat in Konstantinopel, die
1870 schließlich zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Bulgarischen
Orthodoxen Kirche führte.
2 Mutev studierte in Rumänien, Odessa, Bonn und Berlin, er war einer der ersten
Aufzeichner bulgarischer Volksdichtung.
51
Wie stark sich während der Epoche der Wiedergeburt auch die gram-
matische Beschreibung des Bulgarischen entwickelt hatte, zeigen die Werke
von Neofit Rilski (1793-1881) (vgl. Rilski 1984), von Andreas Pásztory
(Pásztory 1856)3, Christaki Pavlovi² (1804-1848) (vgl. Pavlovi² 1836),
Joakim Gruev (1828-1912) (vgl. Gruev 1858) und Ivan Mom²ilov (1819-
1869) (vgl. Mom²ilov 1868). Mehr oder weniger in Vergessenheit geraten
ist der „Klju² b©lgarskago jazyka/Schlüssel der bulgarischen Sprache“ von
Georgi Sava Rakovski (1821-1867 in Bukarest), den dieser 1865 in Bukarest
niedergeschrieben hatte, nachdem er ihn 1858 in Odessa begonnen hatte.
Im Jahre 1880 wurde das Werk von seinem Neffen Kiro Stojanov ver-
öffentlicht (Stojanov/Rakovski 1880). Bereits im Jahre 1857 hatte er in Novi
Sad seine „Ponjatija o bulgarskomu jazyku“ publiziert.
Große Bedeutung für die Wiedergeburt Bulgariens hatte auch eine revo-
lutionär ausgerichtete Bewegung der Demokraten Georgi Rakovski (1821-
1867 Bukarest), Vasil Levski, eigentlich Kun²ev (1837-1873, hingerichtet in
Sofia), Ljuben Karavelov (um 1834-1879) und Christo Botev (1848-1876,
gefallen), die mit dem von 1869 bis 1875 aktiven „Bulgarischen Zentralen
Revolutionskomitee“ zum Aufstand von 1876 führten, der trotz seiner Nie-
derlage die endgültige Befreiung Bulgariens im Jahre 1878 entscheidend
förderte und nunmehr auch die Aufmerksamkeit anderer europäischer
Länder, vor allem Englands, auf Bulgarien richtete (vgl. Schaller 2000, 71-
96).
Nach Paisij war es vor allem Pet©r Beron (1800-1871), der mit dem Ziel
von Schulreformen 1824 die erste bulgarische Fibel in der gesprochenen
Sprache vorlegte, die für die weitere Entwicklung des bulgarischen Schul-
wesens eine zentrale Rolle einnahm (Stojkov 1949). Beron vertrat die Ein-
führung weltlicher Schulen und das Recht der Frauen auf Bildung. Typisch
für die bulgarische Bildungsschicht der Wiedergeburtszeit war die Tat-
sache, dass sie ihre Bildung außerhalb Bulgariens suchen musste. So stu-
dierte Beron zunächst an der Universität Heidelberg Philosophie, später
promovierte er auf dem Gebiet der Medizin in München, während Vasil
Aprilov, 1789 im bulgarischen Gabrovo geboren, Schulen in Moskau und
Braóov/Rumänien besuchte, dann in Wien Medizin studierte und nach dem
Jahre 1811 als Kaufmann in Odessa tätig wurde. In den 30er Jahren des 19.
Jahrhunderts trat er mit seinen Schriften als Wegbereiter des neuen bul-
garischen Bildungswesens hervor und gründete 1835 gemeinsam mit N.
Palauzov (1818-1872 in Petersburg) in seiner Heimatstadt Gabrovo die
erste weltliche bulgarische Schule. Bei Aprilov findet sich auch die Idee
3 Neu herausgegeben München, Berlin, Washington D.C. 2013 von K. Kostov u. K.
Steinke m. e. Nachwort von S. Comati.
52
einer bulgarischen Universität, bei Petko Kr©stevi² (1828-1895) erste Über-
legungen zu den möglichen Aufgaben einer künftigen bulgarischen Aka-
demie, wie sie dann von Marin Drinov mit seiner 1869 gegründeten „Bul-
garischen Literarischen Gesellschaft“ zielbewusst weiterverfolgt wurden.
In Konstantinopel versuchte Bozveli 1840 eine „Bulgarische Gesellschaft“
zu begründen, dort sollte im Jahre 1852 auch eine „B©lgarska Matica“
entstehen, Vorbild waren die „+eská Matica“, 1830 in Prag begründet, so-
wie die „Matica Srpska“, 1826 in Budapest begründet.
Zur Zeit der Gründung des ersten bulgarischen Gymnasiums in Ga-
brovo im Jahre 1835 gab es 208 bulgarische Schulen, 1870 waren es bereits
1214 und im Jahre 1877 gab es 1504 Schulen in Bulgarien. Nach den
Angaben von Constantin Jire²ek aus dem Jahre 1876 gab es zehn Jahre
nach der Gründung der Gabrover Schule im Jahre 1845 53 bulgarische
Volksschulen, und zwar in Donau-Bulgarien 31, in Thrakien 18 und im
nordöstlichen Makedonien 4 (Jire²ek 1876, 543).
1862 und 1868 kamen historische Ereignisse, die die bulgarische Emi-
gration vor allem in Rumänien aktivierten, so der griechische Aufstand auf
der Insel Kreta im Jahre 1867, die Aktivitäten Vasil Levskis (1837-1873) und
nicht zuletzt brachten auch die Ereignisse in Österreich-Ungarn Bewegung
in die bulgarische Gesellschaft und wiederum war es der Wunsch nach ei-
ner organisatorischen Zusammenführung der bulgarischen Intelligenz, der
am 1. Oktober 1869 zur Bildung des „B©lgarsko knižovno družestvo“ in
Br©ila führte. Aufgrund der Initiative dreier führender Bulgaren entstand
dann 1869 im rumänischen Br©ila die erste bulgarische gelehrte Gesell-
schaft (vgl. Härtel/Schönfeld 1998, 99), die in den Jahren 1870 bis 1876 eine
Zeitschrift zur Geschichte, Sprachwissenschaft und Literaturkritik heraus-
gab (vgl. Mijatev/Dimov 1958; Arnaudov 1966; Christov 1966; Božkov 1969;
Istorija 1971, 5-46). Diese Gesellschaft wurde bekanntlich zur Keimzelle der
heutigen Bulgarischen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Sofia. Ihre
Gründer waren Marin Drinov, Vasil Drumev und Vasil Stojanov, der als
„Geschäftsführer“ der Gesellschaft und als Herausgeber des „Periodi²esko
spisanie“ besondere Aufgaben übernommen hatte. Die Gründer der Ge-
sellschaft standen über Vasil Stojanov auch unter tschechischem Einfluss,
da dieser an der Universität Prag studiert hatte. Die neue Gesellschaft
entstand damit auch nach dem Vorbild damals existierender tschechischer
Gesellschaften mit vergleichbaren Zielsetzungen. Vasil Stojanov und Marin
Drinov planten die Gründung gemeinsam in Prag, Hauptziel der künftigen
Gesellschaft war die Erforschung und Darstellung der bulgarischen Ge-
schichte und Literatur.
Ein Jahr vor der Gründung der Gesellschaft waren in Wien und Konstan-
tinopel Werke einer eigenständigen bulgarischen Wissenschaft erschienen,
53
darunter von Marin Drinov ein Überblick über die Herkunft des bulgari-
schen Volkes und den Beginn der bulgarischen Geschichte sowie ein histo-
rischer Überblick der bulgarischen Geschichte von den ersten Anfängen bis
in die damalige Gegenwart.4 Um alle für die neue Gesellschaft in Frage
kommenden Persönlichkeiten nicht nur in der Emigration, sondern in Bul-
garien selbst, erfassen zu können, musste die Gesellschaft sowohl von der
rumänischen Regierung, als auch von der „Hohen Pforte“ anerkannt wer-
den. Während des Russisch-Türkischen Krieges musste die „Bulgarische
Literarische Gesellschaft“ verständlicherweise ihre Arbeit ruhen lassen.
Nach ihrer Verlegung nach Sofia zeigte sich ab 1882 eine breite Be-
teiligung führender Bulgaren, so von den Schriftstellern Pen²o Slavejkov
(1866-1912) und Ivan Vazov (1850-1921) sowie dem Sprachwissenschaftler
Aleksand©r Teodorov-Balan (1859-1959). Auf der Jahresversammlung der
Gesellschaft am 8. August 1884 wurde beschlossen, die Bulgarische Litera-
rische Gesellschaft zu einer wissenschaftlichen Einrichtung europäischen
Typs, d. h. zu einer wissenschaftlichen Akademie zu entwickeln. In den
Jahren 1884 bis 1898 fanden jedoch keine Versammlungen der Gesellschaft
statt, nachdem Marin Drinov nach Charkiw zurückgekehrt war. Am 10.
November 1898 wurde Drinov zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ge-
wählt und damit offensichtlich ein neuer Anfang für weitere Aktivitäten
gemacht.
Die führende Persönlichkeit der bulgarischen literarischen Gesellschaft
war ohne Zweifel Marin Stefanovi² Drinov, am 20. Oktober 1838 im süd-
bulgarischen Panagjurište geboren, gestorben am 28. Februar 1906 im da-
mals russischen Charkiw. Drinov hatte zuerst in Bulgarien, dann an der
Kiewer Geistlichen Akademie und anschließend in Moskau studiert, wo er
an seiner Magister- und Doktordissertation zum Thema „Južnite slavjani i
Vizantija prez X vek/Die Südslawen und Byzanz im 10. Jahrhundert“
arbeitete, mit der er 1865 seine Studien abschloss. 1867 hielt sich Drinov in
Prag auf, wo er zusammen mit Vasil Stojanov die Gründung der Bul-
garischen Literarischen Gesellschaft plante, die dann am 12. Oktober 1869
in Br©ila verwirklicht wurde. Die ersten Jahre an der Universität Charkiw
verbrachte Drinov von 1870 bis 1877, wo er mit längeren Unterbrechungen
bis zu seinem Tod im Jahre 1906 als Professor an der Historisch-philo-
logischen Fakultät lehrte, nachdem er auf Empfehlung des Sprachwissen-
4 Die gesammelten Abhandlungen Marin Drinovs wurden im Jahre 1909 unter der
Redaktion von V. N. Zlatarski von der Bulgarischen gelehrten Gesellschaft in drei
Bänden herausgegeben: I. Trudove po b©lgarska i slavjanska istorija. II. Trudove po I.
B©lgarska c©rkovna istorija; II. Ezikoznanie, literaturna istorija, etnografija i narodni
umotvorenija; III. I. Publicisti²ni statii; II. Služebni zapiski, naredbi, i razporedbi; III.
Kritiki, o²erki i obzivi; IV. Pomenici.
54
schaftlers A. A. Potebnja für diesen Lehrstuhl bestimmt worden war. Dri-
nov erhielt aufgrund seiner Schrift über die Besiedlung der Balkanhalbinsel
durch die Slaven, die 1873 in russischer Sprache erschienen war, auch eine
Professur für Slavische Philologie an der Universität Charkiw. Im Novem-
ber 1876 hielt er in Charkiw einen öffentlichen Vortrag zum Thema „B©l-
garija v nave²erieto na pogroma/Bulgarien am Vorabend der Verfolgung“.
1877 verließ Drinov Charkiw und begab sich nach Bulgarien.
Drinov war 1878-1879 Kultusminister im selbstständig gewordenen
Bulgarien. Er schuf das erste bulgarische Einheitsalphabet und gilt zugleich
auch als „Vater der bulgarischen Geschichtswissenschaft“. Drinov war in
den Jahren 1869 bis 1882 erster Präsident der Gesellschaft, in den Jahren
1884 bis 1894 nahm er erneut dieses Amt wahr. Drinov erwarb sich große
Verdienste um die Gründung des bulgarischen Staates, er war u.a. für die
kurze Zeit von 1878 bis 1879 erster Minister für Volksbildung und war an
der Ausarbeitung der ersten bulgarischen Verfassung im Jahre 1879 sowie
bei der Bearbeitung vieler Gesetze und Verordnungen im Bereich des Bil-
dungswesens beteiligt (Burmov 1960). Als Historiker arbeitete er haupt-
sächlich auf dem Gebiete des bulgarischen Mittelalters, vor allem mit Blick
auf den Ursprung des bulgarischen Volkes und die Anfänge der bul-
garischen Geschichte. Ein weiterer Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen
Forschungen war die Geschichte der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, zu
der er 1869 in Wien eine grundlegende Darstellung in bulgarischer Sprache
veröffentlichte (Drinov 1869). Drinov war der erste bulgarische Historiker,
der alle wissenschaftlichen Grade erreichte. Gleichzeitig war er auch der
erste bulgarische Gelehrte, der von allen zu seiner Zeit bestehenden slavi-
schen Akademien zum Mitglied gewählt wurde, er war erster Vorsitzender
der ersten bulgarischen wissenschaftlichen Gesellschaft und erster Kultus-
minister des neuen Bulgarien (Sborni²e 1900).
Vasil Drumev war Politiker, Geistlicher und Schriftsteller, geboren um
1840 in Šumen, gestorben 1901 in Sofia. Er studierte in den Jahren 1865 bis
1869 in Kiew Theologie und wurde 1869 einer der Mitbegründer der Bul-
garischen Gelehrten Gesellschaft. 1874 wurde Drumev Bischof, 1879 und
1880 wurde er Minister im Fürstentum Bulgarien, 1884 bis 1901 war Dru-
mev Metropolit von T©rnovo. Mit seiner romantisch-sentimentalen Erzäh-
lung Die unglückselige Familie aus dem Jahre 1860 und dem Schauspiel
Ivanko, der Mörder von Asen I. aus dem Jahre 1872 legte Drumev den Grund-
stein zur neubulgarischen Epik und Dramatik.
Vasil Dimitrov Stojanov, geboren 1839 im bulgarischen Žeravna, Bezirk
Sliven, gestorben 1910 in Sofia, ging 1858 nach Prag, wo er seine Aus-
bildung am Akademischen Gymnasium fortsetzte und dann an der Karls-
Universität Prag studierte. Zusammen mit Marin Drinov plante er 1867 die
55
Gründung der Bulgarischen Gelehrten Gesellschaft, er war sozusagen der
erste „Geschäftsführer“ der Gesellschaft, zugleich auch erster Redakteur
des „Periodi²esko spisanie“. Stojanov gründete auch die Bibliothek der Ge-
sellschaft, 1872 beendete er jedoch seine Tätigkeit für diese und war von
1873 bis 1879 als Lehrer am Gymnasium von Bolgrad tätig.
Die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ war eine wissenschaftlich
und literarisch ausgerichtete Vereinigung bulgarischer Wissenschaftler,
Schriftsteller, Publizisten und sonstiger gesellschaftlich aktiver Persönlich-
keiten. Sie wurde im Rahmen einer ersten Zusammenkunft in der Zeit vom
26. bis 30. September in Br©ila/Rumänien von Vertretern der bulgarischen
Gemeinden in Br©ila, Galaô, Bukarest, Bolgrad, Kišinev, Wien und Odessa
gegründet. Br©ila wurde als erster Sitz der Gesellschaft deshalb gewählt,
weil es etwa in der Mitte zwischen Bukarest und Odessa lag und außerdem
dort eine starke bulgarische Gemeinde beheimatet war. Die erste General-
versammlung der Gesellschaft nahm im Herbst 1869 den „Ustav na B©lgar-
skoto knižovno družestvo/Satzung der Bulgarischen Literarischen Gesell-
schaft“ an und wählte als erste „wirkliche Mitglieder“ und Leiter der zu
leistenden wissenschaftlichen Arbeit Marin Drinov als Vorsitzenden, Vasil
Drumev als Mitglied und Vasil Stojanov als Geschäftsführer. Ausführendes
Organ der Gesellschaft wurde die jährlich zusammentretende Versamm-
lung der Mitglieder. Die Initiatoren der Gesellschaft wurden in ihren Be-
strebungen unterstützt von führenden Vertretern des öffentlichen Lebens
in Bulgarien. Zu nennen sind hier vor allem Vasil Levski (1837-1873),
Ljuben Karavelov (1834-1879) und Christo Botev (1848-1876). Die Gesell-
schaft setzte sich zum Ziel, die Verbreitung der Aufklärung des bulga-
rischen Volkes zu fördern. Die konkrete Arbeit der Gesellschaft zielte auch
auf eine Bearbeitung und Vervollkommnung der bulgarischen Sprache ab,
ferner aber auch auf eine Darstellung der bulgarischen Geschichte. Ein
weiteres Ziel der Gesellschaft war eine allgemeine Volksbildung, die Er-
ziehung der Jugend – beiderlei Geschlechts! – im Geiste des bulgarischen
Volkes, angestrebt wurde auch eine Verbesserung der äußeren Bedingun-
gen des Schulwesens in Bulgarien. Somit erstreckten sich die Zielsetzungen
der Gesellschaft auf die gesamte Wissenschaft und auch auf die Kunst.
Eine grundlegende Rolle für Bulgarien vor und nach 1878 hatte der
tschechische Historiker Constantin Josef Jire²ek (1854-1918) übernommen,
der 1884 bis 1893 als Professor für Geschichte mit Schwerpunkt auf der
slavischen Welt an der Universität Prag lehrte. Seine erste wissen-
schaftliche Arbeit war nämlich ein Verzeichnis der neueren bulgarischen
Literatur für die Zeit von 1806 bis 1870, für die „Bulgarische Literarische
Gesellschaft“ 1872 in Wien veröffentlicht, unterstützt von vielen Bulgaren,
vor allem auch von Marin Drinov (Jire²ek 1872).
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1876 veröffentlichte Jire²ek eine Geschichte der Bulgaren in tschechi-
scher Sprache, im selben Jahr erschien eine deutsche Fassung dieser Dar-
stellung (Jire²ek 1876)5, 1878 folgte eine russische und selbstverständlich
mehrere bulgarische Ausgaben, jedoch erst nach 1878, nämlich 1886 (Ire²ek
1886), 1888 und 1929 (Ire²ek 1929; Hierzu Verbesserungen und Ergänzungen
Ire²ek 1939). Hierbei handelte es sich um die erste wissenschaftliche Ge-
samtdarstellung der Geschichte Bulgariens überhaupt. In den Jahren 1879
bis 1884 lebte Jire²ek in Bulgarien, war 1879 bis 1881 erster Sekretär im Bil-
dungsministerium und 1881/82 bulgarischer Bildungsminister, 1884 war
Jire²ek Direktor der Bulgarischen Nationalbibliothek in Sofia. Im Jahre 1888
erschienen seine Berichte über Reisen in Bulgarien (Jire²ek 1888), 1899 in
bulgarischer Übersetzung sowie 1891 seine Abhandlung über das Fürsten-
tum Bulgarien (Jire²ek1891), 1899 in bulgarischer Übersetzung veröffent-
licht (Ire²ek 1899). Zu Beginn der 30er Jahre erschien Jire²eks bulgarisches
Tagebuch in bulgarischer Übersetzung aufgrund einer tschechisch ge-
schriebenen handschriftlichen Vorlage (Ire²ek 1930-1932). Bis in die jüngste
Zeit hinein wurde das Andenken an Jire²ek und seine damals epoche-
machenden Schriften in Bulgarien stets wachgehalten.6
In seiner oben bereits erwähnten Bibliographie zum neubulgarischen
Schrifttum, die als Beilage zum „Periodi²esko spisanie na B©lgarskoto kni-
žovno družestvo“ im Jahre 1873 erschienen war, hatte Jire²ek ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass der Beginn des neubulgarischen Schrifttums erst
mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts anzusetzen sei. Bis zum 15. Jahr-
hundert war nach Jire²ek in Bulgarien ausschließlich das Altbulgarische
gebräuchlich und für die Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert seien nach
seiner Aussage nur wenige Handschriften überliefert worden, wo sich ein
starkes Schwanken zwischen „Altem“ und „Neuem“ beobachten ließe,
d. h. ein Schwanken im Gebrauch von Kirchen- und Volkssprache. Jire²ek
hat eine Aufzählung von insgesamt 537 Titeln von Büchern, Zeitschriften
und Broschüren zusammengestellt, der er noch eine kleine Ergänzung von
5 1889 erschien auch eine ungarische Übersetzung dieses Werkes unter dem Titel: A
bolgárok törtenete. Nagybecskbek.
6 Jire²ek hat eine ganze Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt, die über den
Themenbereich Bulgarien hinausgehen, sich mit anderen Ländern der Balkanhalb-
insel befassen so u. a: Die Heerstraße von Belgrad nach Konstantinopel und die
Balkanpässe. Eine historisch-geographische Studie (Prag 1877); Das christliche
Element in der topographischen Nomenklatur der Balkanländer (Wien 1897); Die
Bedeutung von Ragusa in der Handelsgeschichte des Mittelalters. Vortrag gehalten
in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 31. Mai
1899 in Wien; Albanien in der Vergangenheit (Wien 1914); La civilisation serbe au
moyen-age (Paris 1920); Geschichte der Serben. 1-2 (Gotha 1911–1918).
57
19 Titeln hinzufügte. Dort schließt sich an eine Ordnung nach Sachgebie-
ten, nämlich Sprachwissenschaft, Poetik und Prosa, Geschichte und Geo-
graphie, Mathematik, Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie sowie
periodisch erschienene Zeitschriften, Pädagogik und theologische Literatur.
Im Anschluss an diese Bibliographie findet sich die bulgarische Über-
setzung von Nikolaj Gogols Taras Bulba von Nešo Bon²ev, die mit weiteren
Folgen ihre Fortsetzung fand.7
Die „Bulgarische Literarische Gesellschaft“ sollte, wie bereits 1869 in
Br©ila festgelegt worden war, zu einer Bulgarischen Akademie der Wissen-
schaften weiter entwickelt werden und zwar als die höchste wissenschaft-
liche Institution Bulgariens, aus der in Br©ila gegründeten Gesellschaft
hervorgehend, wie sie 1878 nach Sofia verlegt wurde und 1911 dann den
Status einer wissenschaftlichen Akademie nach europäischen Maßstäben
mit drei Klassen erhielt, nämlich einer „Historisch-philosophischen Klasse“,
einer „Philologisch-gesellschaftswissenschaftlichen“ und einer „Naturwis-
senschaftlich-mathematischen Klasse“. Die Voraussetzungen hierfür waren
im ersten Heft des „Periodi²esko spisanie na B©lgarskoto knižovno dru-
žestvo“, das 116 Druckseiten umfasste, 1870 bereits klar ausgedrückt wor-
den, wenn dort als die Hauptanliegen der Gesellschaft mit der Bearbeitung
und Vervollkommnung
A. der bulgarischen Sprache und der Volksdichtung des bulgarischen Volkes,
B. der Bulgarischen Geschichte
formuliert wurden.
Der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ wurden in diesem Zu-
sammenhang die folgenden Aufgaben zugewiesen:
1. Erziehung der Jugend beiderlei Geschlechts im Geiste des bulgarischen
Volkes;
2. Verbesserung und Fortschritt der bulgarischen Schulen, mit männlichen
und weiblichen Schülern, entsprechend dem Geist der Zeit und den Be-
dürfnissen des bulgarischen Volkes;
3. Verbesserung und Bearbeitung von Schrifttum, das sich als Lehrmittel für
bulgarische Schulen eignet. Gedacht war hier auch an Übersetzungen aus
anderen Sprachen in das Bulgarische, Schrifttum, das für alle Schichten
des Volkes geeignet erschien, ganz besonders aber für das weibliche Ge-
schlecht;
7 Nešo Bon²ev (1839-1878) war einer der ersten bulgarischen Literaturkritiker, er
studierte in Kiew und Moskau, wo er auch als Lehrer tätig war. Seit 1871 war er auch
Mitglied der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft.
58
4. Schrifttum zu den Pflichten des Menschen gegenüber sich selbst und
gegenüber den Nächsten, gegenüber der Gesellschaft, dem Volk, Vater-
land und gegenüber dem Staat;
5. Schrifttum zur Bildung der bulgarischen Geistlichen sowie allgemeines
Schrifttum über deren Verdienste, die auf Ehre, Ruhm und Größe der
Bulgarischen Orthodoxen Kirche ausgerichtet sind;
6. Schrifttum zum Studium bulgarischer Volksbräuche und überhaupt auch
aller den Bulgaren benachbarten Völker;
7. Schrifttum zum Studium des bulgarischen Vaterlandes;
8. Schrifttum zu berühmten Persönlichkeiten, insbesondere solchen, die
durch hohe Bildung und umfassende Kenntnisse herausragten. Persön-
lichkeiten, die dauerhafte Verdienste um das bulgarische Volk und das
Vaterland, überhaupt für die Menschheit haben;
9. Schrifttum über Leben und Werke aufgeklärter Völker;
10. Schrifttum über alle Wissenschaften, Künste und Technik.
Darüber hinaus wollte die Gesellschaft versuchen, nach Möglichkeit auch
Kenntnisse zu verbreiten, die einem wesentlichen Zuwachs für den materi-
ellen Reichtum und den technischen Fortschritt des bulgarischen Volkes
förderlich waren. Allen diesen Zielen sollten die Veröffentlichungen der
Gesellschaft, sowohl das „Periodi²esko spisanie“ als auch der „Sbornik“
dienlich sein.
Das „Periodi²esko spisanie“, das monatlich erscheinen sollte, wurde
vom Inhalt her in drei Abteilungen gegliedert, nämlich eine literarische,
eine wissenschaftliche und eine kritische. Die literarische Abteilung sollte
belletristische Werke in Versen und in Prosa bringen, ferner sowohl bul-
garische Originaltexte als auch Übersetzungen von Literatur in anderen
Sprachen. Die wissenschaftliche Abteilung sollte Beiträge aus verschie-
denen Zweigen der Wissenschaft veröffentlichen. Die kritische Abteilung
sollte bibliographische Nachrichten publizieren, ebenso auch Rezensionen
und kritische Analysen aller möglichen Neuerscheinungen der bulgarischen
Literatur, dazu aber auch über ausländische Veröffentlichungen berichten
soweit diese Bulgarien berührten.
Sobald es die finanziellen Mittel möglich machten, sollte auch ein „Sbor-
nik“ erscheinen, der sich mit neu aufgefundenen Denkmälern der bul-
garischen Geschichte und mit Materialien zum Studium der bulgarischen
Sprache auseinandersetzen sollte. Erklärtes Ziel der Gesellschaft war es,
ihre Schriften bei allen Schichten des bulgarischen Volkes zu verbreiten.
Dementsprechend war der erste Artikel des „Spisanie“ von 1870 dem
Studium und der Bearbeitung der damaligen Sprache der Bulgaren sowie
ihrer Nationalliteratur gewidmet worden, ohne dass ein Verfasser genannt
59
wurde. Es folgte in diesem ersten Heft ein Beitrag zur Abfassung von
Biographien ohne Angabe eines Verfassers, neue schriftliche Denkmäler zur
Geschichte der Bulgaren und ihrer Nachbarn von Marin Drinov, ein Ge-
dicht von Rajko Žinzifov (1839-1877)8 und bulgarische Volkslieder, mitge-
teilt von R. Žinzifov und M. Vasilov. Bereits im ersten Heft des „Spisanie“
findet sich ein literaturkritisches Werk und als Beilage eine Übersetzung
der Räuber von Friedrich Schiller durch Nešo Bon²ev, die in weiteren
Folgen in den nächsten Heften des „Spisanie“ fortgesetzt wurde.
„ʍː ˢʲ˕˙ʵʲ – ˙ː ˕˓ʴ˙ʵʲ (Um caruva – um robuva)“ – „Der Geist
herrscht – der Geist leistet aber auch Sklavenarbeit“, dieses bulgarische
Sprichwort findet sich auf jedem Titelblatt der einzelnen Ausgaben des
„Periodi²esko spisanie“ der Bulgarischen Literarischen Gesellschaft.
Das Hauptaugenmerk Marin Drinovs lag auf dem „Periodi²esko
spisanie“, von dem in den Jahren 1869 bis 1876 zwölf Hefte erschienen, die
alle dem ersten Jahrgang zugeordnet worden waren. Von dem geplanten
„Sbornik“ konnte dagegen kein einziger Band erschienen. Es waren
verschiedene Gründe, die den Druck der von der Gesellschaft geplanten
Veröffentlichungen behinderten, u. a. die Situation der Druckereien und
sicher auch finanzielle Umstände.
Im 1871 veröffentlichten vierten Heft des „Periodi²esko spisanie“ findet
sich eine von Marin Drinov verfasste Abhandlung zu Otec Paisij, seiner
Zeit, den historischen Bedingungen und seinen Schülern, gefolgt von einer
bereits im dritten Heft begonnenen Abhandlung von Nešo Bon²ev zum
bulgarischen Schulwesen. Ebenfalls als eine Fortsetzung von Heft III findet
sich R. Korolevs Abhandlung zum Bogomilentum. In jedem Heft der
„Spisanija“ wurden Sammlungen von bulgarischen Volksliedern veröffent-
licht, so nach der Sammlung von Cani Gin²ev9 im Dialekt von T©rnovo,
gefolgt von Rätseln, Sprichwörtern und Volkserzählungen, ebenfalls von
Gin²ev zusammengestellt. Es schließt sich hier an eine Abhandlung über
die Gesellschaft der Freunde der bulgarischen Gelehrsamkeit in Kióinev
sowie ein Nekrolog auf Pet©r Beron, der 1871 im rumänischen Craiova
verstorben war.
Im 1873 veröffentlichten siebten und achten Heft des „Spisanie“ findet
sich eine weitere Abhandlung von Nešo Bon²ev, und zwar über die klassi-
schen europäischen Schriftsteller in bulgarischer Sprache und den Nutzen
8 Rajko Žinzifov (1839-1877), korrespondierendes Mitglied der Bulgarischen Litera-
rischen Gesellschaft, seit 1856 Lehrer in Prilep, wo er die Brüder Miladinov unter-
richtete.
9 Cani Gin²ev (1835-1894) ordentliches Mitglied der Bulgarischen Literarischen
Gesellschaft seit 1875, hatte 1860 bis 1862 naturwissenschaftliche Studien in Kiew
betrieben, war Mitarbeiter am „Spisanie“.
60
für den bulgarischen Leser beim Studium ihrer Werke. Anlass zu dieser
Abhandlung war die Erzählung Taras Bulba von Nikolaj Gogol, dessen
Leben und literarisches Werk vom Autor ebenfalls behandelt werden. In
diesem Heft des „Spisanie“ finden sich auch drei Urkunden, die der
byzantinische Kaiser Basileus II. dem damaligen bulgarischen Erzbischof
Joann von Ochrid um das Jahr 1020 übergeben hatte. Die Frage der bul-
garisch-orthodoxen und serbisch-orthodoxen Kirchen vor dem Konzil von
Lyon im Jahre 1274 wurde von Marin Drinov behandelt.
Dass das „Spisanie“ mit seinen Rezensionen sich keineswegs nur auf
bulgarische Neuerscheinungen beschränkte, zeigen die Hefte VII, VIII
sowie XI und XII, erschienen 1873 und 1876 in Br©ila. Dort wird die
Abhandlung Die geologischen Verhältnisse des östlichen Theiles der europäischen
Türkei. Nebst einer geologischen Karte in Farbendruck. Mit 20 Holzschnitten,
verfasst von Ferdinand von Hochstetter veröffentlicht.10 Ebenso sei die
Reise in Süd-Serbien und Nord-Bulgarien (mit 5 Tafeln und Karte), ver-
öffentlicht 1868 in Wien von Felix Kanitz11 genannt, ferner die Vergleichende
Grammatik der slavischen Sprachen, Band II: Stammbildungslehre und die 1874
in Wien erschienene Altslovenische Formenlehre in Paradigmen mit Texten und
glagolitischen Quellen des Wiener Slavisten Franz Miklosich.12 Rezensiert
wurde ferner das 1875 in Berlin von Vatroslav Jagi°13 begründete und
herausgegebene „Archiv für Slavische Philologie“. Besprochen wurde auch
Konstantin Jire²eks Geschichte der Bulgaren, erschienen 1876 in Prag, wo es
auf S. 543 heißt:
10 Ferdinand von Hochstetter (1829-1884, geadelt 1860), Mitglied der Novara-
Expedition, Forschungsreisen nach Neuseeland, 1860 Professor der Mineralogie und
Geologie am Polytechnischen Institut in Wien, 1876 Intendant des Naturhistorischen
Hofmuseums und Direktor des Hofmineralien-Kabinetts. Veröffentlichungen u. a.:
Neu-Seeland. 1863; Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde. Geo-
logischer Teil. Of mineralien-Kabinetts.
11 Felix Kanitz (1829-1904), Archäologe und Ethnograph, bereiste in den Jahren 1858 bis
1889 die slavischen Balkanländer. Veröffentlichungen u. a.: Die römischen Funde in
Serbien. 1861; Serbiens byzantinische Monumente. 1862; Serbien, Historisch-ethno-
graphische Reisestudien. 1868. Donau-Bulgarien und der Balkan. 2. Aufl. in drei
Bänden 1882.
12 Franz Miklosich (1813-1891, 1869 geadelt), 1850 bis 1886 Professor an der Universität
Wien. Sein Hauptwerk ist die vierbändige Vergleichende Grammatik der slavischen
Sprachen. 1852-1875, Neudruck 1926, Etymologisches Wörterbuch der slavischen
Sprachen. 1886; Lexicon linguae slovenicae veteris dialecti. 1850, umgearbeitet als
„Lexicon palaeoslovenico-graeco-latinum (Wien 1862-1865). Neudruck 1922.
13 Vatroslav Jagi°, kroatischer Slawist, der in Berlin, Odessa, Petersburg und Wien
lehrte.
61
„So war die Wiederbelebung des bulgarischen Volkes binnen einem Men-
schenalter mit einer Raschheit vollzogen, die Bewunderung verdiene. Noch
am Anfang unseres Jahrhunderts konnte man zweifeln, ob die Bulgaren im
Stande seien, sich je wieder aufzuraffen; vierzig Jahre später fehlte es nirgends
an patriotischen Kaufleuten, Lehrern und Geistlichen, bulgarische Schulen
entstanden in allen Städten, und bulgarische Bücher wurden in Tausenden
von Exemplaren selbst unter dem Landvolke gelesen. Nicht mit Waffengewalt
und Blutvergießen, sondern durch Bücher und Schulen war diese tiefgrei-
fende Revolution in aller Stille bewirkt worden. Die nationalen Bestrebungen
gewannen eine so große Macht, dass es nicht mehr möglich war, dieselben
einzudämmen“. (Jire²ek1876, 543)
Nach der Befreiung Bulgariens war es selbstverständlich, dass die Bulga-
rische Literarische Gesellschaft ihren Sitz nach Sofia verlegte. Am 4. März
1878 war ein entsprechender Vorschlag von Nikolaj Cenov gemacht wor-
den, Besitz und Tätigkeit der Gesellschaft auf das Gebiet des nunmehr be-
freiten Bulgariens zu verlegen, wenngleich dieses auch weiterhin noch
einige Jahre unter der Souveränität des Osmanischen Reiches stand. Im
Ergebnis einer in der Zeit vom 25. bis 28. Oktober 1878 in Br©ila abgehal-
tenen Generalversammlung wurde beschlossen, den Sitz der Gesellschaft
in die neue Hauptstadt Bulgariens zu verlegen.14 Im Jahre 1907 wurde der
lange gehegte Plan der Umwandlung der „Bulgarischen Literarischen Ge-
sellschaft“ in eine Akademie nach europäischen Maßstäben aktuell.
Auf der Jahresversammlung des Jahres 1907 wurde dieser Plan geprüft
und auf der nächsten Jahresversammlung im Jahre 1908 darüber berichtet.
Gebildet wurde u. a. eine Kommission, die Anfragen an verschiedene Aka-
demien der Wissenschaften machte. Im Laufe der Jahre war auch der Kreis
der korrespondierenden Mitglieder der Gesellschaft bedeutend erweitert,
u. a. durch die Wahl des Balkanologen und Bulgaristen Gustav Weigand in
Leipzig, der mit seinen Arbeiten zu den Sprachen und zur Ethnographie
der Balkanvölker weit über Deutschland hinaus bekannt geworden war.
Dies gilt auch für den tschechischen Slawisten Lubor Niederle, Archäologe
und Ethnograph mit grundlegenden Forschungen zur Herkunft der Slaven
und speziell auch zur makedonischen Frage. Auch im beginnenden 20. Jahr-
hundert erzielte die Gesellschaft wesentliche Erfolge in den Bereichen der
Geistes- und Naturwissenschaften, wenngleich auch die Arbeitsbedingun-
gen aufgrund zu geringer finanzieller Zuwendungen seitens der bulgari-
schen Gesellschaft und der bulgarischen Regierung sehr beschränkt waren.
14 Dokumenti za istorijata na B©lgarsko knižovno družestvo. Band II: 1878-1911. Sofija
1966, 15.
62
Die Verbindung zu den damals international bedeutendsten Slavisten,
Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Historikern und Ethnographen wie
Vatroslav Jagi°, Konstantin Jire²ek, Aleksandr Sobolevskij und Jiìi Polívka,
Michail Speranskij sowie dem französischen Byzantinisten Louis Ptis wurde
weiter ausgebaut. Auf die Bitte des rumänischen Historikers Nicolae Iorga
wurde auch ein regelmäßiger Schriftentausch mit Rumänien eingeleitet.
Die Redaktion des „Srpski književni glasnik“ brachte, beginnend mit dem
Jahr 1905, regelmäßig Berichte über die Tätigkeit der „Bulgarischen Ge-
lehrten Gesellschaft“. Auch das von dem amerikanischen Großindustriel-
len Andrew Carnegie 1902 begründete „Carnegie Institute of Washington“
nahm Verbindung mit der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ auf.
Die Statuten der neuen Akademie wurden nach dem Muster der Gelehrten
Gesellschaften in Petersburg, Berlin, Wien, Paris, Brüssel, Budapest, Kra-
kau und London gestaltet. Am 6./18. März 1911 wurde in Sofia die letzte
feierliche Sitzung der „Bulgarischen Literarischen Gesellschaft“ durchge-
führt, während der zugleich auch die Überleitung in die neue „Bulgarische
Akademie der Wissenschaften“ erfolgte.
Im Jahre 1911 kam es demnach nach der vollständigen staatlichen Sou-
veränität Bulgariens als Königreich zur Gründung einer wissenschaftlichen
Akademie, die gleichberechtigt neben anderen europäischen Akademien
bis zum heutigen Tag ihre Bedeutung bewahrt hat.15 Die Akademie wurde
in drei Klassen aufgeteilt, eine historisch-philosophische, eine philosophisch-
gesellschaftliche und eine naturwissenschaftlich-mathematische Klasse.
Nach 1944 wurde die Struktur der Akademie mehrfach verändert. Sie
leitete und koordinierte die Grundlagenforschung in den Bereichen von
Gesellschafts- und Naturwissenschaften, wobei auch neue Hauptorganisa-
tionsformen mit wissenschaftlichen Instituten, neuen Zentren und selbst-
ständigen Sektionen geschaffen wurden. Zur Bulgarischen Akademie der
Wissenschaften gehörten seitdem die Zentren für Mathematik und Mecha-
nik, Physik, Chemie, Geowissenschaften, Biologie, Philosophie, Soziologie,
Staats- und Rechtswissenschaften, Sprache und Literatur sowie ein Zen-
trum für Bulgaristik. Entwickelt wurde eine umfassende Zusammenarbeit
auf internationaler Ebene nicht nur mit sozialistischen Ländern, an erster
Stelle der UdSSR, sondern auch mit den USA, Großbritannien, Frankreich,
der BRD, Italien und Österreich.
15 Vgl. hierzu den deutschen Bulgarienkenner Karl Kassner (1864-1945): „Den Mittel-
punkt des bulgarischen Bildungswesens bildet die Akademie der Wissenschaften,
die sich aus der 1869 in Braila (Rumänien) von Bulgaren gegründeten „Bulgarischen
Literarischen Gesellschaft“ allmählich entwickelt hat. Ihre Zeitschrift „Periodische
Zeitschrift“ genießt ein hohes Ansehen im In- und Auslande“ (Kassner 1918, 93).
63
Im Jahre 2004 wurde in Sofia das 135jährige Jubiläum der Bulgarischen
Akademie der Wissenschaften begangen. Anlässlich dieses Datums wurde
auch die handschriftlich von Vasil Drumev niedergeschriebene Satzung
der „B©lgarsko knižovno družestvo“, unterzeichnet von den am 29. Sep-
tember 1869 in Br©ila anwesenden Mitgliedern, als Faksimile veröffentlicht
(vgl. Nau²en archiv 2005). Die dreibändige Darstellung der Geschichte der
Bulgarischen Akademie der Wissenschaften wurde von ihrem damaligen
Präsidenten Ivan Juchnovski mit dem folgenden Motto eingeleitet, welches
zugleich auch in die weitere Zukunft der Akademie weist:
„ʃʲ˙ˊʲ˘ʲ ʺ ˖ˏ˨ˑˢʺ ˄ʲ ˄˕ˮ˧ˆ˘ʺ. ɸ˖˘˓˕ˆˮ˘ʲ ˑʲ ˣ˓ʵʺˣʺ˖˘ʵ˓ ˔˕ʺ˄ ˔˓˖ˏʺʹˑˆ˘ʺ
ʶ˓ʹˆˑˆ ˔˓ˊʲ˄ʵʲ, ˣʺ ˓ˑʺ˄ˆ ʹ˨˕ʾʲʵˆ, ˊ˓ˆ˘˓ ˖˨˄ʹʲʹ˓ˠʲ ˙˖ˏ˓ʵˆˮ ˄ʲ ˕ʲ˄ʵˆ-
˘ˆʺ˘˓ ˑʲ ˑʲ˙ˊʲ˘ʲ ˆ ˄ʲˏ˓ʾˆˠʲ ˑʲ ˑʺˮ ˖ʲ ˑʲ˔˕ʺʹˑʲˏˆ ˑʲˇ-ːˑ˓ʶ˓ ʵ ːʲ˘ʺ˕ˆ-
ʲˏˑ˓, ʹ˙ˠ˓ʵˑ˓ ˆ ˖˓ˢˆʲˏˑ˓ ˓˘ˑ˓˦ʺˑˆʺ“ (Nau²en archiv 2005).
„Die Wissenschaft ist die Sonne für die Sehenden. Die Geschichte der Mensch-
heit hat in den letzten Jahren gezeigt, dass die Staaten, die die Bedingungen
für die Entwicklung der Wissenschaft geschaffen hatten und darauf den
Fortschritt im höchsten Maße in materieller, geistiger und sozialer Beziehung
gebaut haben.“
Literatur
Arnaudov 1966
M. Arnaudov: Bălgarskoto knižovno družestvo v Braila. 1869-1876 (Sofia 1966).
Božkov 1969
St. Božkov: Bălgarska akademija na naukite. Kratăk oþerk. 1869-1969 (Sofia 1969).
Burmov 1960
V. A. K. Burmov (Hrsg.), Issledvanija v ²est na Marin S. Drinov (Sofia 1960).
Christov 1966
Chr. Christov (Hrsg.), Dokumenti za istorijata na Bălgarskoto knižovno družestvo 1878-
1911 (Sofia 1966).
Drinov 1869
M. Drinov, Istori²eski pregled na b©lgarskata c©rkva ot samoto i na²alo do dnes
(Wien 1869).
Gerov 1895
N. Gerov, Re²nik na bl©garskij jazik 1.-6. (Plovdiv 1895-1908) Neuausgabe 1975.
Gruey 1858
J. Gruev, Osnova na b©lgarska grammatika (B»lgrad 1858).
64
Härtel/Schönfeld 1998
H.-J. Härtel/R. Schönfeld, Bulgarien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Regens-
burg 1998).
Ireþek 1886
K. Ireþek, Istorija na Bălgarite. Săþinenie na Konst. Jos. Ireþka. Prevod ot red.-izd. N. D.
Rajnov i Z. Bojadžiev (Tărnovo 1886).
Ireþek 1899
K. Ireþek, Knjažestvo Bălgarija. Negovata povărchnina, priroda, naselenie, duchovna kul-
tura, upravlenie i novejša istorija. ýast 1: Bălgarskata dăržava. S 20 kartini i 1 karta. Pre-
vela ot nemski Ek. Karavelova. ýast 2: Pătuvanija po Bălgarija. S 23 kartini i 1 karta.
Prevel ot þeški St. Argirov (Plovdiv 1899).
Ireþek 1929
K. Ireþek, Istorija na Bălgarite. Pod red. na V. N. Zlatarski. Prev. A. Diamandiev i I. Raev
(Sofia 1929).
Ireþek 1939
K. Ireþek, Istorija na bălgarite. Popravki i dobavki ot samija avtor. Po răkopisnite negovi
beležki sistematizira, prevede i stăkmi za izdanieto Stojan Argirov. Posmărtno izd. Pod
red. na St. Mladenov (Sofia 1939).
Istorija 1971
Istorija na B©lgarskata akademija na naukite. 1869-1969 (Sofia 1971).
Jire²ek 1872
K. Jire²ek, Bibliographie de la littérature bulgare moderne 1806-1870/Knigopis na
novob©lgarskata knižnina 1806-1870 (Wien 1872).
Jire²ek 1876
K. Jire²ek, D»jiny národa Bulharského (V Praze 1876).
Jire²ek 1888
K. Jire²ek, Cesty po Bulharsku (V Praze 1888).
Jire²ek 1891
K. Jire²ek, Das Fürstenthum Bulgarien. Seine Bodengestaltung, Natur, Bevölke-
rung, wirtschaftliche Zustände, geistige Cultur, Staatsverfassung, Staatsverwal-
tung und neueste Geschichte (Wien 1891).
Jire²ek 1930-1932
K. Jire²ek, B©lgarski dnevnik: 30. oktomvrij 1879 – 26. oktomvrij 1884 g. T. 1-2.
Prevel ot ²eskija r©kopis Stojan Argirov (Plovdiv-Sofia 1930-1932).
65
Kassner 1918
K. Kassner, Bulgarien. Land und Volk (2. Aufl. Leipzig 1918).
Mijatev/Dimov 1958
P. Mijatev, G. Dimov (Hrsg.), Dokumenti za istorijata na B©lgarskoto knižovno
družestvo v Braila 1868-1976 (Sofia 1958).
Mom²ilov 1868
I. Mom²ilov, Gramatika za novob©lgarskija ezik. V pe²atnicata na Dunavskata
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Nau²en archiv na B©lgarskata akademija na naukuite, f.1, op.1., p. 3. B©lgarska
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Chr. Pavlovi², Grammatika slavenobolgarskaja (Budim 1836).
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N. Rilski, Bolgarska gramatika sega pervo so²inena v Kraguevc» 1835. U knja-
žesko-serbskoj tipografii (Neudruck Sofia 1984).
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H. W. Schaller, Bulgarien und Großbritannien. Kulturelle Beziehungen im 19.
und 20. Jahrhundert. Bulgarien-Jahrbuch 1998/1999, 71–96.
Sborni²e 1900
Sborni²e za jubileja na profesora Marin S. Drinov 1869-1899. Naredi i izdade
B©lgarskoto knižovno družestvo v Sofija (Sofia 1900).
Stojanov/Rakovski 1880
K. Stojanov/G. S. Rakovski, Klju² bolgarskogo jazyka (Odessa 1880).
Stojkov 1949
S. Stojkov (Hrsg.), D-r Pet©r Beron, Bukvar s razli²ni pou²enija: Riben bukvar
(Sofia 1949).
66
Hans-Dieter Döpmann†
Technischer Fortschritt und Religion
Unser heutiges Symposium erweist sich mit dem Bezug zur Naturwissen-
schaft und Technik als eine beachtliche inhaltliche Erweiterung unserer
kontinuierlichen Arbeit. Die einzelnen dankenswerten Beiträge lassen er-
kennen, dass die traditionelle Unterscheidung von Geisteswissenschaften
und Naturwissenschaften bei aller Berechtigung nicht als Aufspaltung ge-
sehen werden kann, sondern beides, sich ergänzend, einen jeweiligen Be-
zug zu unserer Lebenswirklichkeit hat. Und dies ist bei den Bulgaren in
gleicher Weise bewusst, wie auch bei uns. Wir tagen in den Räumen unserer
1810 gegründeten Berliner Universität, benannt nach den beiden Brüdern
Alexander und Wilhelm von Humboldt, bei denen sich Natur- und Geistes-
wissenschaft unmittelbar ergänzten. Traditionell gehört dazu auch an un-
serer Universität die Theologische Fakultät, seit ihrem Anfang geprägt von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (gest. 1834), der als protestantischer
Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchen-
politiker, Pädagoge und Soziologe in seiner Zeit gewirkt hat. Schon in
seiner Studie von 1799 „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter
ihren Verächtern” wollte er die Notwendigkeit religiöser Besinnung aus
der Situation des Gebildeten heraus aufzeigen: Dem vernünftig Denkenden
sollte gerade in seiner Vernunft die zentrale Bedeutung des Christentums
nachgewiesen werden. Und erst am 20./21.4.2012 hatten wir eine wissen-
schaftliche Konferenz zum Thema: „Wozu Theologie? Über Ort und Auf-
gabe der Theologie an der Universität”.
Technischer Fortschritt und Religion. Beides sind an sich getrennte
Phänomene. Und doch zeigt sich gerade in unserer Zeit, wie beide auf-
einander zu beziehen sind. Christlicher Glaube befasst sich mit der Liebe
zu Gott und zum Nächsten. Technischer Fortschritt hat seine Grundlage in
der dem Menschen gegebenen Erkenntnismöglichkeit, Neues zu schaffen
und zu entwickeln. Aber das kann nicht nur aus religiöser Sicht zu einer
Gefahr werden, wenn die Verantwortung gegenüber Gott und dem Mit-
menschen dabei aus den Augen verloren wird. Und hier hat die Religion
eine bleibende Bedeutung, die Richtung des menschlichen Denkens und
Forschens mitzubestimmen.
Die Stellung der Kirche in der aufbrechenden Neuzeit gegenüber den
einsetzenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die Prozesse um
Giordano Bruno und Galileo Galilei sind vielfach unvergessen und haben
das Verhältnis der Disziplinen lange Zeit hinweg belastet.
67
In der Neuzeit wurden zahlreiche Naturwissenschaftler immer wieder
zu Fragen der Religion sowie des Glaubens geführt. Dazu gehören z. B. die
Physiker Albert Einstein, Otto Heckmann, Werner Heisenberg, Pascual
Jordan sowie Max Planck. Im Verständnis des heutigen Weltbildes sowie
der Entwicklung der Physik spielen diese Gelehrten eine entscheidende
Rolle. Ihre Arbeiten bildeten vielfach die Basis für ein Neuverständnis der
Physik und leiteten eine neue Herangehensweise in der physikalischen
und verwandten Forschung ein.
In der Menschheitsgeschichte wurden leider beim Entwickeln von In-
strumenten zum Töten anderer Menschen am konsequentesten Fortschritte
erzielt. Denken Sie an die furchtbaren Folgen des Einsatzes der ABC-
Waffen am Ende und nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert. Und
denken Sie an die gegenwärtige Angst vor der Entwicklung neuer Atom-
waffen. Aber dazu gehört auch unsere Sorge um die Produktion und die
Waffenlieferungen insgesamt, darunter die Problematik, dass Deutschland
der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist.
Der römische Papst hat in der diesjährigen Osternacht zu einem kriti-
schen Umgang mit dem technischen Fortschritt ermahnt.
„Wir wissen und können in den materiellen Dingen unerhört vieles, unser Wis-
sen und unsere technischen Leistungen sind Legion, aber was darüber hinaus-
geht, Gott und das Gute, vermögen wir nicht mehr zu identifizieren.“
Solange Gut und Böse aber nicht unterschieden werden könnten,
„sind alle Erleuchtungen, die uns ein so unglaubliches Können ermöglichen,
nicht nur Fortschritte, sondern zugleich Bedrohungen, die uns und die Welt
gefährden.“
Unser evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg, Markus Dröge, for-
derte zu Ostern die Rückbesinnung auf „eine Kultur des Lebens.“1 Die
Frühjahrsynode unserer Evangelischen Kirche in Berlin, Brandenburg und
der schlesischen Oberlausitz befasste sich auf ihrer zweitägigen Beratung
am 20./21.4.12. mit Fragen zur Bewahrung der Schöpfung, auch damit, was
jeder Einzelne zum Klimaschutz beitragen kann. In dem dazu von der
Kirchenleitung vorgegebenen „Votum zu Perspektiven der Energiewende“
heißt es, dass die Landeskirche den erneuerbaren Energien den eindeu-
tigen Vorrang gibt und beispielsweise der Braunkohleverstromung nur
noch eine kurzzeitige Brückenfunktion zugesteht. Der neue theologische
Referent für Umweltfragen, Hans-Georg Baaske, sagte dazu:
1 Berliner Morgenpost, 8.4.12.
68
„Es geht um Umweltschutz im Sinne von Schöpfungsverantwortung. Ich sehe
meine Aufgabe darin, die theologischen und ethischen Fragestellungen zur
Schöpfungsbewahrung in die Gesprächsprozesse einzubringen. Wir haben viele
Kirchengemeinden auf dem Land. Da geht es um Kriterien für die Vergabe
von Pachtverträgen. Die Nichtverwendung von genmanipuliertem Saatgut ist
ja bereits beschlossene Sache. Wie aber stehen wir zu „Energiepflanzen“,
Solaranlagen und Windparks auf Ackerflächen? Und noch ein weiteres span-
nendes Thema: Wie positionieren wir uns zum freiwilligen Verzicht auf immer
mehr Konsum? Aus der Bibel können wir hierzu viele Impulse bekommen.
Ich möchte helfen, diesen Schatz zu heben.“2
Von den vielen weiteren Aktivitäten in unseren eigenen Kirchen sei hier
lediglich als ein Beispiel erwähnt: Die Evangelische Akademie Villigst in
Schwerte/Westfalen, Arbeitskreis Naturwissenschaften und Theologie mit
ihrem Dialog zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie.
Auf einer dortigen Konferenz wurde erklärt: Die Naturwissenschaften
haben unsere moderne, nun weltweit sich ausbreitende „Fortschrittsgesell-
schaft“ erst möglich gemacht. Sie prägen unser Weltbild, die Einschätzung
des Lebens und unser menschliches Selbstbild. Sie revolutionieren aber
auch unsere Lebenspraxis. Die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften,
wie die Einsichten der Quantentheorie, der Genetik oder der Informatik
und ihre technischen Anwendungen haben binnen weniger Jahrzehnte
unsere Lebenswirklichkeit grundlegend verändert. Zugleich wachsen die
Gefährdungspotentiale. Grund genug, das, was in den Wissenschaften
geschieht, aufmerksam nachzuvollziehen, zu analysieren, zu diskutieren
und in seinen Konsequenzen für unsere Weltsicht und Lebenspraxis zu
reflektieren. Naturphilosophische, technische, anthropologische, ethische,
soziologische, wissenschafts- und kulturhistorische Horizonte müssen
einbezogen werden; insbesondere aber religionsphilosophische und theo-
logische Perspektiven.
Das Modell der sozialen Marktwirtschaft leistet einen erheblichen Bei-
trag zum Ausgleich zwischen Gerechtigkeit und Freiheit. Langfristig trag-
fähig ist ein solches Modell nur, wenn neben den sozialen auch öko-
logische und kulturelle Aspekte integriert werden und wenn der Staat
seine politische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit behält, bzw. wie-
dergewinnt und die Märkte verantwortungsbewusst reguliert.3
Kirchlicherseits wird die Bedeutung moderner Forschung nicht über-
sehen, sondern unterstützt. Das zeigen z. B. die Äußerungen des EKD-
2 Die Kirche 22.4.12, 3 u. 8.
3 www.kircheundgesellschaft.de
69
Präsidenten Nikolaus Schneider über Präimplantationsdiagnostik im Blick
darauf, dass Gentests dem Leben dienen können.4
Auch orthodoxer Glaube – und damit denken wir hier auch an
Bulgarien – beschränkt sich nicht auf das eigene Seelenheil. In einem
Interview vom 19. Februar 2012 weist der Abt des Rila-Klosters, Bischof
Evlogij, auf die Probleme des Werteverfalls hin: Eine Gesellschaft ohne
Normen verfällt in Anarchie. Jeden Gottesdienst, sagt er, beginnen wir mit
dem Gebet für den Frieden und das Wohlergehen des ganzen bulgarischen
Volks.5
Was vielen bei uns als konservative Äußerlichkeit erscheint, ist für die
Orthodoxen mit Inhalt erfüllt. Dabei geht es nicht nur ums Hören, sondern
auch ums Schauen, werden alle menschlichen Sinne einbezogen. Hier im
Gottesdienst geht es weniger um ein Reden über Gott, als um das Reden
mit Gott im Gebet. Hier im Gotteshaus als dem Hause Gottes hat der
Gläubige teil an der Gemeinschaft mit dem Herrn im Wort und im Sakra-
ment der Eucharistie, weiß sich verbunden mit den auf den Ikonen Dar-
gestellten, versteht sich in der Gemeinschaft mit den im Gottesdienst
Versammelten, wird erfüllt von einer spirituellen Erfahrung, die auf sein
Dasein in dieser Welt und auf die Welt draußen ausstrahlt. Dieses ausge-
prägte Gemeinschaftsbewußtsein blieb auch in sozialistischer Zeit tragend.
Und von da aus läßt sich die heutige Skepsis gegenüber einem übersteiger-
ten westlichen Individualismus verstehen.
Sehr zutreffend erläuterte anläßlich des diesjährigen Osterfestes Metro-
polit Gavriil von Love² was es bedeutet, in der Osternacht aus der Kirche
die brennende Osterkerze in die Wohnung zu bringen und damit das
Evangelium ins alltägliche Leben zu tragen.6 Es hat mich, ebenso wie in
anderen orthodoxen Ländern, auch in Bulgarien immer sehr beeindruckt,
wie selbst in sozialistischer Zeit Gottesdienstbesucher sich sogar im Taxi
mit der brennenden Kerze nach Hause fahren ließen. Denn es geht darum,
von der Botschaft der Auferstehung, von der Botschaft: „Siehe, ich mache
alles neu!“7 und vom Erleuchtetwerden durch Christus als „das Licht der
Welt“8 her das eigene Leben zu Hause und auf allen Gebieten erfüllt sein
zu lassen.
Es hat mich früher immer wieder beeindruckt, mit welcher hohen An-
erkennung man in Bulgarien von Deutschland und den Deutschen sprach:
4 Berliner Zeitung 24./26.12.10, 6.
5 Dveri.bg 24.2.12.
6 Dveri.bg 14.4.12.
7 Offb. 21, 5.
8 Joh. 8, 12.
70
Sauberkeit des Landes, Ordnung, Disziplin, Fleiß. Und all dies war ja auch
Grundlage für die bei uns auf allen Gebieten erzielten Leistungen. Nach
dem Kriege berichteten mir wiederholt staunend Bulgaren aus ihrer eige-
nen Erfahrung: Die Deutschen arbeiteten ja sogar, ohne dass jemand auf-
passte! Davon ist leider vieles verloren gegangen. Denken Sie heute an die
besprayten Wände und S-Bahn-Wagen, an die an Bus-Haltestellen herum-
liegenden Zigaretten-Kippen, an die täglichen Meldungen über brutale,
blutige und nicht selten tödliche Messer-Attacken, die Zunahme von Ein-
brüchen in Wohnungen und Einfamilienhäuser, an die Angst vieler Men-
schen, abends noch das Haus zu verlassen. Und wer hätte es früher für
möglich gehalten, dass auch in Deutschland die Mafia Einfluss nehmen
kann! Konkurrenzdenken und Egoismus führen nach Erkenntnis der
Opferschutzorganisation Weißer Ring dazu, dass Gewalttäter immer bru-
taler werden.
„In der Gesellschaft kommt immer mehr eine Ellenbogenmentalität auf“,
sagte der Vorsitzende der Opferschutzorganisation Weißer Ring Sachsen-
Anhalt, Wolfgang Kummerländer, in einem Gespräch mit der Nachrichten-
agentur dpa in Halle.9
In unseren Schulen bemängeln Lehrer mangelnde Disziplin und nach-
lassende Konzentrationsfähigkeit ihrer Schüler sowie die Realitätsferne der
Bildungspolitik.10 Es zeigt sich ein falsches Verständnis von Freiheit und
Individualismus, wenn Schüler heute ausführlich über ihre Rechte in-
formiert werden, nicht aber auf die damit verbundenen Pflichten. Der-
artige Probleme bestehen für die Menschen in Bulgarien durchaus in ähn-
licher Weise.
Dazu kommen die Folgen der jüngsten Finanzkrise, die sich zugleich als
eine Krise der Werte und Tugenden erweist. So die in vielen Ländern hohe
Jugendarbeitslosigkeit, d. h. die Unter-25-Jährigen, mit einem kürzlich für
Bulgarien angegebenen relativ hohen Wert von 29,3%.11 Dagegen ist
Bulgarien eines der am wenigsten verschuldeten Länder Europas (16,2 %
des BSP).12
Wenn man falsche Entwicklungen korrigieren will – und das gilt in
meinen Augen auch für die demographische Entwicklung, den Kinder-
mangel in Deutschland und das schwach gewordene Familienbewusstsein
als eine Voraussetzung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung – kommt es
9 Mitteldeutsche Zeitung 24.4.12.
10 Berliner Zeitung 25.4.12, 1.
11 Berliner Zeitung 30.4.12, 2.
12 http://www.staatsverschuldung.de/ausland.htm 2011.
71
nach meiner Überzeugung zuerst einmal darauf an, deren Ursachen ein-
gehend zu untersuchen, statt lediglich – wie es üblich geworden ist – rein
äußerlich heutigen Folgen abhelfen zu wollen. Selbst in Bulgarien hat ja
das einst so ausgeprägte Familienbewusstsein spürbar nachgelassen. Auch
der leider im Jahre 2010 zurückgetretene Bundespräsident Horst Köhler
hatte dies wiederholt und in seltener Konsequenz gefordert. Bis heute sind
die Verantwortlichen – nicht nur in Deutschland – dem ausgewichen. Aber
die Aufgabe besteht weiter.
Man spricht heute viel und durchaus berechtigt von notwendiger
Bildung. Und dies ist in allen unseren Ländern eine ganz wesentliche Vor-
aussetzung für erfolgreiches Forschen und wissenschaftliche Erkenntnisse.
Aber es ist traurig, dass in Deutschland, z. B. durch die 68er, die notwen-
dige Erziehung in Misskredit gekommen ist. Einer der führenden, aus den
68ern hervorgegangenen Pädagogen sagte einmal: „Wir glaubten damals
an die Selbstverwirklichung der Jugend.” Maßnahmen gegen Randale,
Verrohung, Vandalismus, jugendliche Brutalität ist auch eine der Aufgaben
religiöser Erziehung: Vom Glauben her kann man zu einem rechten Ver-
hältnis zum Mitmenschen, zum Nächsten, erziehen.
In den westlichen Medien wird kaum zur Kenntnis genommen, in welch
hohem Maße sich in den vordem sozialistischen Ländern im Zusammen-
hang mit den neuen Freiheiten und Möglichkeiten das Bewusstsein der
notwendigen Bewährung von Liebe und Barmherzigkeit in der sozialen
Funktion der Kirche in der Gesellschaft neu entfaltet hat. Die diakonische
Fürsorge für Arme, Kranke, Notleidende und Gefangene nahm in den
östlichen Gemeinden und Klöstern ihren Anfang. Zu allen Zeiten haben
orthodoxe Kirchen, wo es die gesellschaftlichen Verhältnisse erforderten
bzw. erlaubten, diese Aufgaben im Blick behalten. Insbesondere die Klöster
waren stets Mittelpunkt geistlichen, kulturellen und vielfach auch sozialen
Wirkens. Jedem Besucher des Rila-Klosters wird das deutlich. Heute
bemühen sich die orthodoxen Kirchen in ihren jeweiligen Ländern, die in
den Jahren des Totalitarismus verhinderte Wohltätigkeitsarbeit in erwei-
tertem Maße fortzuführen. Und dies nicht zuletzt, weil sich die sozialen
Verhältnisse in vieler Hinsicht bisher nicht gebessert haben. Zur Abwen-
dung von das Leben bedrohenden Gefahren wird seit der Wende von 1989
auch Fragen der Ökologie, der Menschenrechte und neuerdings auch der
Bedrohung durch Armut und Hunger zunehmend Bedeutung geschenkt.
In Bulgarien gab es, wie ich es auch schon in anderen Vorträgen er-
wähnt habe, vor 1945 in den einzelnen Gemeinden etwa 700 Bruder-
schaften. Sie unterhielten auch Waisen- und Altersheime, unentgeltliche
Speisehallen und Nachtquartiere, Tagesräume und Kindergärten, Sommer-
kolonien. Für die Zeit seit der „Wende” sei, stellvertretend auch für andere,
72
die Tätigkeit der 1994 entstandenen Pokrov Foundation (Fondacija „Po-
krov Bogorodi²en“) in Sofia erwähnt (Pokrov = Mariä Obhut, am 1. Ok-
tober Fest des »Schutzmantels unserer Allerheiligsten Herrin, der Gottes-
mutter und Immerjungfrau Maria«). Sie geht zurück auf das von Jordanka
Filaretova in Anlehnung an ihre Erfahrungen bei der Russischen Ortho-
doxen Kirche, den dortigen Armenhäusern (bogadel’ni) für Notleidende
und Bedürftige, 1909 in Sofia begründete Wohlfahrtskomitee und dessen
Heim für Bedürftige, neben dem 1929 die Pokrov-Kirche entstand. Ziel der
Pokrov Foundation ist die Förderung einer lebendigen, geistlich-geistig
und karitativ tätigen Orthodoxie in Bulgarien, deren Arbeit Familien,
Kindern und Notleidenden gilt. Seit 2002 wird ein eigenes Medizin-
Zentrum unterhalten.13
Ansätze zu einer orthodoxen Soziallehre haben sich allerdings erst in
der Gegenwart herausgebildet. Denn der Orthodoxie geht es nicht um
Gesellschaftstheorien. Sie versteht sich vielmehr als eine vor allem durch
die Teilhabe an der Eucharistie verwandelte und geheiligte Gemeinschaft,
als einen Sauerteig, der die ganze Schöpfung durch seine heiligende
Gegenwart durchwirkt. Seitdem Gott Mensch wurde, gibt es eine Gemein-
schaft zwischen Gott und Mensch:
„Weil Gott Gott ist, weil er in Jesus Christus Mensch wurde und weil Gott in
den Menschen hineinkommt, kann der Mensch nur Mensch sein, Träger des
Bildes Gottes und berufen Ähnlichkeit mit ihm, wenn er von der Menschlich-
keit Gottes bestimmt wird“ (Metropolit Damaskinos Papandreou).
Dazu wurde erstmals in der Russischen Orthodoxen Kirche auch der lehr-
mäßigen Entwicklung, dem systematischen Durchdenken, wesentliche Auf-
merksamkeit geschenkt. Im Moskauer Patriarchat hat als Arbeitsergebnis
einer Kommission unter Leitung von Metropolit Kirill von Smolensk und
Kaliningrad, dem heutigen Patriarchen, die Moskauer Bischofssynode im
August 2000 ihre umfassenden „Grundlagen einer Sozial-Konzeption“
verabschiedet.14 Inzwischen erschien 2007 auch eine serbische Übersetzung
„Das Leben der Kirche“. Dieses Werk bringt zum Ausdruck, was die
orthodoxen Kirchen insgesamt, und damit auch die mit der Russischen seit
jeher eng verbundene Bulgarische Orthodoxe Kirche, in ihrem Bezug zu
den aktuellen Lebensfragen und -aufgaben beschäftigt.
In Hinblick auf entsprechende Gemeinsamkeit im Denken beider
orthodoxen Kirchen sei auch verwiesen auf den Besuch des Moskauer
13 Döpmann 2006, 99; Döpmann 2010, 261.
14 Deutscher Buchtitel lautet unkorrekt übersetzt: J. Thesing/R. Uetz (Hrsg.), Die Grund-
lagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche (Sankt Augustin 2001).
73
Patriarchen Kyrill in Bulgarien vom 27.–29. April 2012 mit einer 40
Teilnehmer umfassenden Gruppe. Erstes Ergebnis des Besuchs war der
Abschluss eines Vertrags über die Zusammenarbeit der Sofioter Uni-
versität mit der Moskauer Orthodoxen Universität „Hl. Johannes der Theo-
loge” über höhere theologische Bildungsarbeit, unterzeichnet russischer-
seits vom Rektor der Moskauer Orthodoxen Universität, Igumen Petr
Eremeev, der nach mehrjährigem Studienaufenthalt an der Sofioter Theo-
logischen Fakultät seine Doktordissertation in Sofia 2003 in bulgarischer
Sprache verteidigt hatte.15
In jenen „Grundlagen einer Sozial-Konzeption“ wird eingangs gesagt,
der Auftrag,
„zu dem jeder Mensch gerufen ist, bedeutet den unablässigen Dienst an Gott
und den Menschen.“16 […] „Die Kirche erfüllt den Heilsauftrag am mensch-
lichen Geschlecht nicht nur durch unmittelbare Predigt, sondern auch durch
gute Werke, die die Verbesserung des spirituell-moralischen sowie materiel-
len Zustands der Welt zum Ziel haben. Mit Blick darauf tritt sie in Beziehun-
gen zum Staat, auch wenn er keinen christlichen Charakter trägt, sowie zu ver-
schiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und einzelnen Menschen, selbst
wenn sie sich mit dem christlichen Glauben nicht identifizieren.“17
In 16 Kapiteln werden Haltung und Aufgaben der Kirche im Bezug zu den
verschiedenen Lebensbereichen behandelt, z. B.: Die Arbeit und ihre
Früchte, die Gesundheit der Person und des Volkes, Fragen der Bioethik,
die Kirche und Fragen der Ökologie, weltliche Wissenschaft, Kultur und
Bildung, die Kirche und die weltlichen Massenmedien, internationale
Beziehungen, Probleme der Globalisierung und des Säkularismus.
So heißt es im 6. Kapitel
„Die Arbeit und ihre Früchte”: „Die Vervollkommnung der Arbeitsgeräte und
-methoden, die Teilung der Arbeit in verschiedene Berufe sowie der Über-
gang von einfachen zu komplizierten Formen der Arbeit tragen zur Verbesse-
rung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen bei. Allerdings liegt
in den Errungenschaften der Zivilisation auch die Verführung der Menschen,
sich vom Schöpfer zu entfernen, führen sie doch zum scheinbaren Triumph
einer Vernunft, die das Leben auf der Erde ohne Gott zu regeln bestrebt ist.”18
15 Dveri.bg. 25.4.12.
16 Thesing/Uetz 2001, 3.
17 Thesing/Uetz 2001, 4.
18 Thesing/Uetz 2001, 55–56.
74
Das 11. Kapitel, „Die Gesundheit der Person und des Volkes”, geht aus von
der Feststellung:
„Die geistige und körperliche Gesundheit des Menschen ist ein traditioneller
Gegenstand kirchlicher Fürsorge. Nach Auffassung der Orthodoxie stellt je-
doch die physische Gesundheit allein ohne Beziehung zur geistigen keinen
unbedingten Wert dar.”19
Ferner heißt es:
„Die Kirche ist berufen, in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden
sowie den interessierten gesellschaftlichen Kreisen sich an der Ausarbeitung
einer solchen Konzeption der Gesundheitsfürsorge der Nation zu beteiligen,
nach der jedem Menschen ermöglicht werden soll, sein Recht auf geistige,
physische und psychische Gesundheit sowie auf soziales Wohlergehen bei
längst möglicher Lebensdauer in Anspruch zu nehmen.”20
Im Einzelnen bedeutet dies auch:
„Der Hauptgrund der Flucht unserer Zeitgenossen in das Reich der durch Al-
kohol oder Drogen hervorgerufenen Illusionen besteht in der seelischen Ver-
wüstung, der Sinnentleerung des Lebens sowie dem Schwinden moralischer
Leitlinien.”21
Doch äußert man im Kap. 12, „Fragen der Bioethik”, auch tiefe Besorgnis:
„Der Versuch der Menschen, durch eine nach Belieben vorgenommene Ände-
rung und ‚Verbesserung‘ seiner Schöpfung Gott gleich zu werden, birgt die
Gefahr, der Menschheit neue Bürden und neues Leid aufzuerlegen.”22
Die Frage des Klonens, d. h. die Frage nach der Geburt eines Lebewesens,
das nicht auf natürliche Weise unter Verschmelzung spezieller Zellen von
Vater und Mutter gezeugt wurde, sondern auf künstlichem Wege der
Transplantation von Genen, wird von den Orthodoxen ebenso kritisch
aufgegriffen wie im Westen.
Auch von Regierungsseite her finden wir Beispiele des Bezugs von
Religion und Gesellschaft. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes-
republik Deutschland empfing ihr Bundespräsident Christian Wulff im
November 2011 im Berliner Schloß Bellevue eine Delegation orthodoxer
Hierarchen. Dazu gehörte der bulgarische Vikarbischof Antonij des bul-
19 Thesing/Uetz 2001, 88.
20 Thesing/Uetz 2001, 90.
21 Thesing/Uetz 2001, 94.
22 Thesing/Uetz 2001, 95.
75
garischen Metropoliten für West- und Mitteleuropa, Simeon. Anwesend
war für die bulgarische Seite auch der Berater der Metropolie und Spezi-
alist für Kirchenrecht Christo Berov. Die Begegnung lässt erkennen, welche
Bedeutung Glaubensfragen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung
zugemessen wird und somit natürlich auch für die Entwicklung von
Naturwissenschaft und Technik.23
Eine Offenheit gegenüber der Kirche bezeigte auch Bulgariens neuer
Präsident Rosen Plevnevliev in Gestalt seines Besuches am 16. und 17.
April 2012 auf dem Athos, insbesondere auch dem Zograph-Kloster.24 Und
von besonderer Bedeutung waren die Gespräche des Präsidenten und auch
des Premierministers Bojko Borisov mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill
bei seinem Besuch in Sofia im April 2012. Betont wurde nicht nur die
traditionelle Freundschaft zwischen beiden Völkern, sondern behandelt
wurden auch Fragen wie das christliche Verständnis von Freiheit, die
Notwendigkeit, die christlichen Wurzeln der gesamteuropäischen Zivili-
sation im Auge zu behalten, die Bedeutung der christlichen Identität für
die Zukunft des europäischen Kontinents sowie das Aufgreifen von päda-
gogischen Erfahrungen Russlands.25
All dies erfordert ein Höchstmaß an Bildung. Die Notwendigkeit der
Bildung prägt auch das Denken im heutigen Bulgarien. Am 23. April 2012
veranstaltete man an der Theologischen Fakultät der Sofioter Universität
„St. Kliment Ohridski” eine internationale Konferenz und einen Runden
Tisch zur Thematik „Theologie und Gesellschaft: Die Liebe fürchtet sich
nicht vor dem Dialog”, geleitet von Dr. Stojan Danev aus Dänemark und
unter Teilnahme namhafter orthodoxer Theologen aus verschiedenen Län-
dern, darunter den USA und Kanada.26 Bei seiner Begrüßung im Namen
des Patriarchen betonte der Protosingel der Metropolie Sofia, prot. Angel
Angelov, die Tagung sei notwendig und aktuell, denn die heutige Ge-
sellschaft braucht Gott. Dazu referierte eingangs Metropolit Gavriil von
Love² über die „Aufgabe der geistlichen Bildung in der gegenwärtigen
weltlichen und kirchlichen Unterweisung“, unterstützt durch Hinweise von
Prof. Božidar Andonov von der Sofioter Theologischen Fakultät über das
notwendige Zusammenwirken von Universitätstheologie und Gemeinde-
praxis.
23 dveri.bg 12.11.11.
24 dveri.bg 17.4.12.
25 http://www.mospat.ru/ru/2012/04/29/news62491/
26 dveri.bg 24.4.12.
76
Als ein Beispiel erwähnt sei der Vortrag des Kirchenhistorikers Dr. Joost
van Rossum vom Orthodoxen Theologischen St. Sergius-Institut in Paris
zum Thema „Theologie und Säkularismus.” Dabei betonte er:
„Säkularismus ist nicht unbedingt ein Synonym für Atheismus.” Auch müsse
sich „die Theologie nicht vor der Wissenschaft fürchten.”
Er verwies auf die großen Kirchenväter wie Johannes Chrysostomos und
Basilios den Großen, welche die Errungenschaften der Wissenschaft ihrer
Zeit anerkannten und für ihre Theologie nutzbar machten. Er widersetzte
sich einem Fundamentalismus als einer „Theologie der Angst”, die den
Dialog mit der Wissenschaft ablehnt.
„Die Grund-Sünde ist der Stolz, der Wunsch Gott gleich zu sein und damit un-
abhängig von ihm. Somit kann man den Säkularismus als Grund-Sünde (nach
Alexander Šmeman die Grund-Häresie) unserer Zeit sehen.”
Entsprechend zeigt er sich auch offen für ökumenisches Denken, sofern
dieses sich abgrenzt von prinzipienlosem Synkretismus.
Dr. Georgi Dragas von der Schule „Hl. Kreuz” in den USA verwies auf
den nicht ungefährlichen Einfluß, den die Medien auf das Denken und
Handeln der Jugend ausüben. Hier ergibt sich für die Kirche eine große
Aufgabe, jungen Menschen zum rechten Lebensweg zu verhelfen, einem
rechten Verhältnis zum Mitmenschen, zum Leben in der Gemeinde wie der
gesamten Gesellschaft. Beim Runden Tisch wurde auch auf die kirchen-
feindlichen Äußerungen mancher Journalisten eingegangen.
Dabei sollten wir nicht übersehen, dass es in Bulgarien von jeher eine
Art des Zusammenlebens gegeben hat, deren Erfahrungen wir innerhalb
der EU nutzbar machen können. Im November 2005 erklärte der ameri-
kanische Botschafter John Beyrle anläßlich der Eröffnung der Konferenz
über „Ethnische Integration und Toleranz”:
„Bulgarien erweist sich von jeher als ein Modell für ethnische Toleranz auf
dem Balkan.“
Hervorheben möchte ich hierzu den ersten „Religionsgipfel” in Sofia, das
Treffen von hochrangigen Repräsentanten der in Bulgarien vertretenen
Glaubensbekenntnisse, Christen verschiedener Konfessionen, Muslimen
und Juden, der am 28. März 2006 im Palais des Hl. Synods der BOK mit
Metropolit Kiril von Varna und Groß-Preslav als Gastgeber stattgefunden
hat. In deren gemeinsamer Erklärung heißt es: Wir
„erklären als Staatsbürger unseren unbeugsamen Willen, den Frieden zwischen
Religionen und Volksgruppen zu unterstützen und zu bewahren.” […] „Kate-
77
gorisch verurteilen wir jede Verbreitung von Hass und stellen uns jeder Aufhet-
zung entgegen, die den religiösen und ethnischen Frieden im Staat gefährdet.”
Aufgerufen werden besonders die Massenmedien,
„über die Gefahren der Radikalisierung zu informieren und sich eindeutig von
allen Aussagen zu distanzieren, die die religiösen Gefühle der Menschen be-
leidigen könnten. Von neuem erinnern wir, dass die Freiheit des Wortes uns
verpflichtet, die religiösen Gefühle der Menschen zu respektieren.“
Gerade unter dem Gesichtspunkt unserer heutigen Thematik möchte ich
abschließend erwähnen: Wenn heute von der DDR gesprochen wird,
betont man berechtigt die Kritik gegen die SED-Diktatur und die Stasi.
Aber das war nur ein Teil der damaligen Wirklichkeit, über deren Vielfalt
zu informieren sich lohnen würde. Es gab gerade im Blick auf unsere heu-
tige Thematik in der DDR – nicht seitens des Staates, sondern im Rahmen
der Kirche – sogar wegweisende Bemühungen um den Bezug von Glauben
und Wissenschaft in der Arbeit unserer in vorbildlicher Weise von den
westlichen Kirchen und Wissenschaftlern unterstützten Evangelischen
Forschungsakademie (EFA).
Die Evangelische Forschungsakademie (EFA, nicht zu verwechseln mit
den Evangelischen Akademien der jeweiligen Landeskirchen) – heißt es in
ihrer Selbstbeschreibung – ist eine Einrichtung der Union Evangelischer
Kirchen (UEK). Sie vereinigt Wissenschaftler christlichen Glaubens, die
verbunden sind durch die ihnen gemeinsamen Fragen von christlichem
Lebensverständnis und wissenschaftlichem Arbeiten. Die Evangelische
Forschungsakademie (EFA) wurde im Oktober 1948 in Ilsenburg/Harz
gegründet. Ziel war es, in Deutschland nach dem Ende der nationalsozia-
listischen Herrschaft eine Neubesinnung für das menschliche Leben und
damit auch für die wissenschaftliche Arbeit zu fördern. Oskar Söhngen,
der Begründer und erste Direktor der EFA, zitierte bei der Eröffnung der
Gründungstagung aus einer Denkschrift der Evangelischen Akademie Bad
Boll u. a.:
„Es genügt nicht, den modernen Menschen das Fundament eines persönlichen
Glaubenslebens zu vermitteln. Eine evangelische Akademie muss aufzeigen,
wie die einzelnen Gebiete des weltlichen Lebens und Denkens sachgemäß auf
diesem Fundament gegründet werden können.“
Dementsprechend hat der Leipziger Theologe Alfred Dedo Müller in sei-
nem grundlegenden Referat „Die Erkenntnisfunktion des Glaubens“ auf
der Eröffnungstagung die Arbeitsweise der EFA visionär zum Ausdruck
gebracht:
78
„Bei der ungeheuren Verbreiterung der Weltkenntnis in den letzten Jahrhun-
derten kann nur die Anerkennung des Begegnungs- und Gesprächscharakters
der Wahrheitserkenntnis und nur die organisierte Gemeinsamkeit die Bemü-
hung darum aus der gegenwärtigen Aufsplitterung der nach außen immens
erweiterten Erkenntnis und der erschreckenden Einengung aller ihrer inneren
Horizonte herausführen. Diese Erkenntnis ist es ja auch, die zur Begründung
der Evangelischen Forschungsakademie Ilsenburg geführt hat.“
Auch nach dem Bau der Berliner Mauer ist es der in der DDR ange-
siedelten EFA als Einrichtung der Evangelischen Kirche der Union (EKU)
gelungen, den Freiraum zum interdisziplinären Gespräch von Wissen-
schaftlern aus Ost und West gegen die staatlich angestrebte ideologische
Einengung des wissenschaftlichen Diskurses zu erhalten und damit zum
Zusammengehörigkeitsgefühl beider deutscher Staaten während der
Teilung beizutragen. Seit der deutschen Einheit im Jahr 1990 stellt sie sich
den neuen globalen Herausforderungen im Prozess einer fortschreitenden
europäischen Säkularisierung. Mit ihrer Gründung setzte sich die For-
schungsakademie das Ziel, Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen
zusammenzuführen, um die jeweils neuesten Erkenntnisse und Entwick-
lungen in Wissenschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Die Erkenntnis-
funktion des Glaubens und die ethische Verantwortung des Wissen-
schaftlers und akademischen Lehrers sind dabei besondere Anliegen.
Unter dem Motto „Glaubend erkennen – erkennend glauben – verantwort-
lich handeln” stellt sie sich den Herausforderungen unserer Zeit zur
zukunftsfähigen Gestaltung von Lehre, Bildung und Forschung in christ-
lich-ethischer Verantwortung. Dazu veranstaltet sie in der Regel zwei jähr-
liche Tagungen, die einer allseitigen Bereicherung dienen und bei denen
wir Theologen nur als eine Minderheit vertreten sind. Die jeweilige Januar-
tagung in Berlin dient der Behandlung eines Generalthemas, inter-
disziplinär durch Vorträge und ausführliche Diskussionen aus der Sicht
der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, während die Pfingst-
tagung – in der DDR-Zeit in Buckow/Märkische Schweiz, neuerdings im
Evangelischen Zentrum Drübeck – mit der Vorstellung und Diskussion
von aktuellen Entwicklungen der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche
zu einer Erweiterung des Kenntnishorizontes aller Teilnehmer beiträgt.27
Unsere heutige Tagung veranlaßt mich, darüber nachzudenken, ob und
inwieweit wir in diese Art des wissenschaftlichen Arbeitens auch Bul-
garien mit einbeziehen können.
27 Hoffmann et al. 1998; Tröger/Opitz 1998.
79
Literatur
Döpmann 2006
H.-D. Döpmann, Kirche in Bulgarien von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bul-
garische Bibliothek. N. F. 11 (München 2006).
Döpmann 2010
H.-D. Döpmann, Die orthodoxen Kirchen in Geschichte und Gegenwart. 2. über-
arbeitete und ergänzte Aufl. Trierer Abhandlungen zur Slavistik 9 (Frankfurt/M.
2010).
Hoffmann et al. 1998
E. Hoffmann/H. Opitz/K.-W. Tröger, Glaubend erkennen – erkennend glauben –
verantwortlich handeln. Geschichte der Evangelischen Forschungsakademie 1948–
1998 (Berlin 1998).
Thesing/Uetz 2001
J. Thesing/R. Uetz (Hrsg.), Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Ortho-
doxen Kirche (Sankt Augustin 2001).
Tröger/Opitz 1998
K.-W. Tröger/H. Opitz (Hrsg.), Forschung und Glaube. Beiträge zu ethisch ver-
antworteter Wissenschaft und Politik. Festgabe der Evangelischen Forschungs-
akademie aus Anlass ihres fünfzigjährigen Bestehens im Auftrag des Kuratoriums
(Berlin 1998).
80
Dietmar Linke
Ivan Nikolov Stranski (1897–1979), der bulgarisch-deutsche
„Großmeister des Kristallwachstums“ und sein Wirken im
Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik
Schlägt man in Lexika nach, dann ist Ivan Nikolov
1
Stranski in Deutsch-
land ein „deutscher Physikochemiker bulgarischer Herkunft“ (Brockhaus
1994), in Bulgarien ein „bulgarischer Gelehrter, Begründer der bulgari-
schen Schule der Physikochemie und 'Vater des Kristallwachstums'“
2
(ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a). Für die eine Version spricht das über 30jährige Wirken
von Stranski in Deutschland, zugunsten der anderen seine dominierende
Rolle als Hochschullehrer in Sofia bei der Stimulierung und allmählichen
Herausbildung einer noch heute etablierten wissenschaftlichen Schule.
Abb. 1: Porträt Stranski
1
So die korrekte Transliteration zu ɸʵʲˑ ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ. In der deutschen Litera-
tur meist Iwan Nikola S., so z.B. im Schriftverkehr des Fritz-Haber-Instituts; ge-
legentlich auch mit Akzent 'Nikolá', sehr selten 'Nikolaus'.
2
Der Titel 'The Father of Crystal Growth' wurde ihm 1971 auf der 3. Tagung der Inter-
national Conference on Crystal Growth (ICCG) in Marseille zugesprochen.
81
Biographisches – Herkunft und Werdegang
Ivan Nikolov Stranski wurde in Sofia am 2. Januar 1897 (21.12.1896 alter
Stil) geboren, als drittes Kind des Hofapothekers Dr. Nikola Ivanov Stran-
ski (1854–1910) und dessen deutschbaltischer Frau Maria, geb. Krohn
3
(1860–1918). Die Stranskis waren ein einflussreiches altes Geschlecht aus
Kalofer, einem Zentrum der bulgarischen Wiedergeburt nordöstlich von
Plovdiv. Durch Stranskis Großvater väterlicherseits wurde der türkisch-
stämmige Familienname Jabandžiev (von yabancÍ – Ausländer, Fremder)
rebulgarisiert.
4
Auch Brüder des Vaters waren einflussreich im jungen
bulgarischen Nationalstaat bzw. bei den vorgelagerten Kämpfen (ʍˆˊˆ-
˔ʺʹˆˮ 2013b): Vidul Stranski (†1878) war Mitstreiter des Nationalhelden
Stefan Karadža (1840–68). Der Arzt Dr. Georgi Stranski (1847–1904) nahm
am Krieg 1877–78 teil, wurde Vorsitzender der provisorischen Regierung
von Ostrumelien und 1887–90 bulgarischer Innen- bzw. Außenminister.
Ein Cousin von Ivan, Ivan Todorov Stranski (1886–1959), war als namhaf-
ter Agronom gleichfalls Mitglied der Bulgarischen Akademie der Wissen-
schaften (BAN).
Abb. 2: Detail Hauptgebäude Uni Sofia
3
In der Literatur häufig fälschlich als 'Korn' angeführt.
4
˖˘˕ʲˑˑˆˊ – Wanderer, Fremdling; ˖˘˕ʲˑ˖˘ʵʲː – wandern, reisen.
82
J
ahr(e) Täti
g
keit bzw. Erei
g
nis
1915 Abitur am 1. Sofioter Knaben-Gymnasium, Zweig 'halbklassische
Abteilun
g
'
b
is 1917 Beamter der Bul
g
arischen Nationalbank
1917/18 Wegen der zeitlebens großen gesundheitliche Probleme
(Knochentuberkulose!) kurzzeitig Medizin-, dann Chemiestudium
in Wien
1918–22 Chemiestudium in Sofia bis zum Di
p
lom
1922–25
Assistent bei dem Physikochemiker Paul Günther (1892-1969),
Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, dort 1925 Promotion zum
Dr.
p
hil. mit „Beiträ
g
en zur Rönt
g
ens
p
ektralanal
y
se“
1925 Habilitation an der Universität Sofia
1926 Ordentlicher Dozent und erster (!) bulgarischer Hochschullehrer
für Ph
y
sikalische Chemie
1929 Außerordentlicher Professor
1937 Ordinarius (nach mehr
j
ähri
g
er Laufzeit des Berufun
g
s-Verfahrens)5
Tab. 1: Stranskis Weg zum Hochschullehrer an der Universität Sofia
1926 heiratete Stranski Martha Pötschke (1893–1974), geboren in Guben
(Niederlausitz), die später gleich ihrem Manne auf lange Jahre Zugehörig-
keit zum Fritz-Haber-Institut verweisen konnte. Die Ehe blieb kinderlos.
Ab September 1930 war Stranski wieder in Deutschland, für ein Jahr als
Rockefeller-Stipendiat bei Max Volmer (1885–1965) an der TH Berlin-
Charlottenburg (Lacmann 1987), der späteren Technischen Universität
Berlin (TUB). Zeitgleich nahm sein später bekanntester Schüler, Rostislav
Atanasov Kaišev (1908–2002), ein Humboldt-Stipendium bei Franz Simon
(1893–1956) wahr, der in dieser Zeit von Berlin nach Breslau wechselte,
nunmehr als Ordinarius für Physikalische Chemie.
Von Dezember 1935 bis Dezember 1936 war Stranski auf Einladung der
Akademie der Wissenschaften der UdSSR als Abteilungsleiter am Physi-
kalisch-Technischen Institut des Ural in Sverdlovsk tätig.6 Wiederholt war
er Präsident der Chemischen Gesellschaft von Sofia, 1939 dann Präsident
des Verbandes Bulgarischer Chemiker. Trotz seiner gesundheitlichen
Probleme war Ivan Stranski – nomen est omen! – stets ein ausgesprochen
mobiler Mensch, so von 1930–40 ständig einige Monate bis zu einem Jahr
5 Durch Mitbewerber vorgebrachte Zweifel an Stranskis Befähigung wurden letztlich
durch zusätzliche Gutachten, unter anderen von Kossel und Volmer sowie durch eine
sehr umfangreiche Darstellung (ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1934/35) seiner Ergebnisse durch Stranski
selbst ausgeräumt; vgl. auch (ʊ˓˦ʺʵ 1997a) und (ʃʲˑʺʵ 2012).
6 Heute wieder Jekaterinburg.
83
im Ausland. Rechnet man die Zeit bis 1943 dazu, nutzte er die halbe Zeit
zur Spezialisierung, als Gastwissenschaftler und Dozent.
Das starke deutsche Interesse an Stranski führte zur Einladung durch
die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG), am 25. November 1939
einen Kolloquiumsvortrag über seine Arbeiten zum Kristallwachstum zu
halten. Der entsprechende Vorschlag kam vom Direktor des Staatlichen
Forschungsinstituts für Metallchemie Marburg, dem Physikochemiker und
Mineralogen Prof. Rudolf Friedrich Schenck (1870–1965), der im Januar
1939 geschrieben hatte (Archiv GDCh 1939a):
„...Endlich ist es mir gelungen, über Herrn Stranski einige Nachrichten ein-
zuziehen; insbesondere von Herrn Prof. Bodenstein7, der ihn genauer kennt.
Dabei habe ich folgendes feststellen können: Dass Herr Stranski im Gebiet des
Kristallwachstums arbeitet und dort sehr gute Ergebnisse gezeitigt hat, dass
er glänzend deutsch spricht und eine deutsche Frau hat. Herr Bodenstein
meint, dass es gar nicht dumm sein würde, ihn durch eine Einladung nach
Deutschland als international beachtlichen Mann abzustempeln. Es würde
seine Position in Sofia voraussichtlich günstig beeinflussen....“
Nachdem sich Stranski für die Einladung bedankt hatte, galt es, die Be-
denken der DChG-Geschäftsstelle auszuräumen (Archiv GDCh 1939b),
„unter den derzeitigen Verhältnissen die Sitzung stattfinden zu lassen. Es fehlt
für eine größere Veranstaltung an geeignetem Luftschutzraum. Ebenso kann
das übliche Abendessen nicht stattfinden...“
Der Vortrag kam dennoch zustande.8 Er bewirkte ein Schreiben an die
DChG von General a. D. und SS-Gruppenführer Ewald von Massow (1869–
1942), dem Präsidenten der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft e.V. (Archiv
GDCh 1939c):
„Die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft erlaubt sich hiermit anzuregen, dass in
Beantwortung des Besuches des bulgarischen Chemikers Prof. I. N. Stranski ...
ein führender deutscher Chemiker zu einigen Vorträgen nach Sofia im Laufe
des Winterhalbjahres 1939/40 fährt. Es wäre wünschenswert, wenn zum Aus-
bau der deutsch-bulgarischen Beziehungen auf dem Gebiete der chemischen
Forschung einige führende Herren der Deutschen Chemischen Gesellschaft ...
nach Sofia fahren würden. ...“
7 Max Ernst August Bodenstein (1871–1942), deutscher Physikochemiker.
8 Sogar einschließlich der Nachsitzung mit einem „trockenen Gedeck“ für 5 Reichs-
mark!
84
Im Oktober 1941 trat Stranski eine Gastprofessur an Universität und TH in
Breslau an, zunächst für ein Jahr. Mit Hinweisen auf die Kriegswichtigkeit9
seiner Arbeiten in Deutschland gelang es, die bulgarischen Genehmigun-
gen zur zweimaligen Verlängerung des Aufenthalts bis Oktober 1944 zu
bekommen.
Zur wissenschaftlichen Bedeutung seiner Arbeiten
Die Vielzahl der Arbeitsgebiete von Stranski kann hier nur angedeutet
werden. Am bekanntesten wurden seine fundamentalen Untersuchungen
und Berechnungen zum Auf- bzw. Abbau von Kristallen. Da die grund-
legende Arbeit (ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1927/28) zuerst auf Bulgarisch erschien und die
deutsche Fassung (Stranski 1928) erst nach der sehr ähnlichen (Kossel 1927)
des Physikers Walther Kossel (1888–1956), wurde die Priorität oft diesem
zugesprochen. Nach einem bei ʃʲˑʺʵ (2012) zitierten, ausführlichen bul-
garischen Gutachten (1937/38) wäre bei gleichzeitiger Publikation der
beiden Stranski-Versionen unstrittig ihm die Priorität zugekommen, an-
gesichts der umfassenderen und tiefergehenden Bearbeitung. Dass Stranski
in vielen Punkten über Kossel hinausging, betonte auch M. Volmer in
einem Widmungsheft zum 60. Geburtstag von Stranski (Volmer 1957).
Zunächst galten die Überlegungen ideal gebauten Ionenkristallen10, z. B.
dem als Kochsalz bekannten Natriumchlorid. Danach lagern sich die
Bausteine des Gitters, z. B. Ionen, dort an Kristallflächen an, wo es ener-
getisch am günstigsten ist. Trotz des zunächst starken Näherungscharak-
ters der Rechnungen ergaben sich aus den – in die Literatur als Kossel-
Stranski-Theorie eingegangenen – Vorstellungen wertvolle Erkenntnisse
für die Praxis der Kristallzüchtung und für das Verständnis der dabei
vorzugsweise gebildeten Kristallformen.
Die Veröffentlichung von Stranski und Kr©stanov11 zum Mechanismus
des epitaktischen Aufwachsens12 wird noch heute sehr häufig als grund-
9 Höchstens Stranskis Untersuchungen zum Verhindern des Flugzeug-Vereisens
kämen in Frage. Befunde zur Eiskristall-Bildung wurden spät publiziert (Lacmann et
al. 1972).
10 Also ohne Fehlstellen oder sonstige Defekte, wie sie Kossel als „unmoralisch“, der
Schweizer Kristallograph Paul Niggli (1888–1953) gar als „pathologisch“ verdammte.
11 Ljubomir Kr©stanov Kr©stanov (1908–1977) wurde später vor allem als Meteorologe
und Geophysiker bekannt (ɫ. ʂˆˏ˓˦ʺʵ 2009).
12 Hierbei wachsen Kristalle kompakt oder in Schichten auf anderen auf, sofern pas-
sende kristallographische Orientierungen zwischen den beiden kristallinen Phasen
vorliegen.
85
legend zitiert (Stranski/Kr©stanov 1938) oder – da allgemein bekannt –
einfach vorausgesetzt.
Die Arbeiten von Stranski und Rudolf Suhrmann (1895–1971) zur
Elektronenemission aus Metallen wurden wichtig für die feldionenmikro-
skopischen Untersuchungen von Erwin W. Müller (1911–77), der 1947–50
bei Stranski in Berlin-Dahlem tätig war. Mit seinem Mikroskop gelangen
seinerzeit sensationelle atomar aufgelöste Bilder, z. B. von einer Wolfram-
Spitze.
Als unmittelbar praxisrelevant können Stranskis Befunde zum Ver-
halten von gelösten Elementen in flüssigem Eisen genannt werden, die zur
Gefügeoptimierung und zu Qualitätsverbesserungen bei Stählen führten.
Die damit auch ökonomisch bedeutsamen Vorteile wurden seinerzeit von
der Hüttenwerk Oberhausen AG durch die Benennung des – im September
1965 beschlossenen und im Juli 1967 übergebenen – Industrieforschungs-
Instituts als „I.-N.-Stranski-Institut für Metallurgie“ anerkannt.13
Ein vollständiges Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichun-
gen von Stranski in Deutsch, Bulgarisch, Englisch und in weiteren
Sprachen liegt wohl noch nicht vor. Wesentliche Teile lassen sich aus
Sammelwerken, wie Poggendorff (1961)14, aber auch aus Publikationen von
Stranski und über ihn erschließen. Etwa 100 Arbeiten sind in dem im
Aufbau befindlichen Verzeichnis (Archiv FHI 2013) des Fritz-Haber-Insti-
tuts erfasst.14 In ʃʲˑʺʵ (2012) wird von insgesamt etwa 150 Titeln ge-
sprochen, verschiedentlich auch von über 200.15
In den 40er Jahren mehrten sich Zweifel an den für Idealkristalle
geltenden Aussagen der Kossel-Stranski-Theorie, da sich immer häufiger
Abweichungen von vielen Zehnerpotenzen gegenüber den Erwartungen
ergaben. Frederick Charles Frank (1911–1998) formulierte auf einer Ta-
gung, zunächst als Hypothese (Frank 1949), bald darauf auch experi-
mentell bewiesen, dass das Wachstum von Realkristallen durch die
zahlreichen Baufehler dominiert wird, besonders durch die sogenannten
Spiralversetzungen.16 Stranski, Teilnehmer der genannten Tagung, beharrte
– wie auch andere – zunächst darauf, dass es sich bei solchen Kristallen nur
um unsaubere, eben „pathologische“ Proben handeln könne! Hierauf kann
13 Ab 1971 noch einige Jahre unter dem Dach der Thyssen-Niederrhein-AG Ober-
hausen.
14 Allerdings werden kyrillisch geschriebene Titel weggelassen!
15 Hier sind wohl auch einige Kurzreferate berücksichtigt.
16 Noch heute wenig bekannt ist, dass die Franksche Hypothese durch Beobachtungen
von Georgij Glebovi² Lemmlein (1901–1963) an Carborund (Siliciumcarbid SiC) be-
reits durch dessen Vortrag 20.03.1945 vor der Akad. Wiss. UdSSR vorweggenommen
war (Šaskolskaja 1978).
86
man wohl – wie so oft in der Wissenschaft – den sarkastischen Kommentar
von Thomas Henry Huxley17 (1825–1895) anwenden:
„Die große Tragödie in der Wissenschaft ist, dass die schönsten Hypothesen
von hässlichen Fakten erschlagen werden.“
Einige Jahre später finden sich aber doch Belege, die Stranskis Anerken-
nung der Rolle von Störstellen im Kristallgitter beweisen, erleichtert durch
die Feststellung von Frank selbst, dass
„die Wachstumstheorie für reale Kristalle auf den am idealen Kristall er-
arbeiteten Erkenntnissen aufbaut“ (Honigmann 1972).
Auch Kaišev, der 'Meisterschüler' von Stranski, und seine Mitarbeiter be-
legten in Sofia nach vieljährigen Versuchen (1949–66), dass durch Elektro-
kristallisation so perfekte Silberkristalle erhältlich sind, dass die Stranski-
Theorie der zweidimensionalen Keimbildung als Grenzfall weiterhin
berechtigt blieb, auch als Basis für die genannten Schraubenversetzungen.
Also statt des „Entweder ... Oder!“ nunmehr ein „Sowohl ... als auch!“,
entsprechend der Bemerkung von Friedrich Schiller (1759–1805) in seinen
„Philosophischen Briefen“:
„Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit.“
Auch bei Goethes „Aphorismen zur Naturwissenschaft“ finden wir ein
passendes Zitat zur 'Ehrenrettung' von Stranski:
„Bei Erweiterung des Wissens macht sich von Zeit zu Zeit eine Umordnung
nötig; sie geschieht meistens nach neueren Maximen, bleibt aber immer pro-
visorisch.“
Der 'Vater des Kristallwachstums' wäre stolz, könnte er die Perfektheit der
heutigen – für uns unverzichtbar gewordenen – Einkristalle erleben, z. B.
die des Siliciums mit einer Reinheit von mehr als 99,9999 %!
In Übersichtsarbeiten zum Erkenntnisstand auf dem Gebiet des Kristall-
wachstums wird – seit vielen Jahren bis heute – der große Anteil von
Stranski an der Entwicklung dieser Fachdisziplin hervorgehoben, z. B. bei
Heyer 1966; Kern 1967; Kaišev 1981a; Kaišev 1981b; R. Lacmann 1981;
Platikanov 1996/97; Markov 1996/97; ʂʲ˕ˊ˓ʵ 1997; Gutzow 1997; ʊ˓˦ʺʵ
1997b; Tassev/Bliss 2008; ʃʲˑʺʵ 2012; Linke 2013.
17 Englischer Naturforscher und Philosoph.
87
Stranski ab 1944: Ausgegrenzt in Bulgarien, hochgeschätzt in Berlin
a) Bulgarien
Aufgrund seiner Gastprofessur in Deutschland ab 1941 war Stranski die
Rückkehr in seine Heimat18 nach dem 9. September 1944 faktisch unmög-
lich. Zunächst wurden im Januar 1945, auf der Grundlage einer Verfügung
zur Säuberung und 'Defaschisierung' des Lehrkörpers der Universität
Sofia, drei Professoren, unter ihnen Stranski, für immer von der Sofioter
Universität verwiesen.19 Nachfolgend kamen weitere 'unzuverlässige
Gelehrte' ins Visier, unter ihnen Kaišev und sein Anorganiker-Kollege
Dimit©r Hristov Balarev (1885–1964); nicht alle wurden dann aber relegiert,
auch Kaišev nicht.
b) Stranski am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und
Elektrochemie, dem späteren Fritz-Haber-Institut (1944–1967)
Noch in Breslau tätig, wurde Stranski am 27. Januar 1944 vom Senat der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) aufgrund eines Antrages von Prof.
Peter Adolf Thiessen (1899–1990), Max von Laue (1879–1960), Otto Hahn
(1879–1968) und Wilhelm Eitel (1891–1979) für die Zeit ab 11/1944 zum
Wissenschaftlichen Mitglied (WM) des Instituts in Berlin-Dahlem berufen
(Archiv MPG 1943).20 Eine solche Ehrung entsprach im Rang etwa einer
Ernennung zum Akademie-Mitglied!
Bis zum Kriegsende 1945 hatten zahlreiche führende Wissenschaftler
Berlin in Richtung Westen verlassen, so die Nobelpreisträger Max Planck
(1858–1947), Max von Laue, Werner Heisenberg (1901–76), Peter Debye
(1884–1966), Adolf Butenandt (1903–95) und der 'Nobelpreis-Anwärter'
Otto Hahn21. Ihre Rückkehr ließ Jahre auf sich warten oder blieb ganz aus.
Von den Instituten der KWG galt nur noch das für Physikalische Chemie
und Elektrochemie als nahezu arbeitsfähig, wenn man vom fehlenden
Personal und von der Demontage der Einrichtungen absieht. Thiessen als
Direktor erhielt am 12.05.1945 vom Bezirksbürgermeister Berlin-Zehlen-
dorf den Auftrag „für die einstweilige Leitung der KWG“ (Archiv MPG
18 Nunmehr war Bulgarien Kriegsteilnehmer an der Seite der UdSSR gegen Deutsch-
land.
19 In einer Bewertung dieser Vorgänge (ʈ˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2000) heißt es, dass Anlass der Ent-
lassungen häufig – neben oder gar statt unerwünschter politischer Betätigung –
persönliche Differenzen zwischen den 'Entscheidern' und den Relegierten waren.
20 Dass er, wie manchmal zu lesen ist, vor der näherkommenden Front nach Berlin
auswich, ist also nicht richtig.
21 Der Preis wurde 1945 für 1944 verliehen und 1946 überreicht.
88
1945).22 Zu den wenigen in der Stadt verbliebenen prominenten Chemikern
zählte auch Stranski. Mehrfach belegt ist sein „tatkräftiger Einsatz in
schwieriger Nachkriegszeit“ 23, seine mutige und uneigennützige Hilfe in
den Wirren des Kriegsendes, z. B. bei den ersten – naturgemäß besonders
kritischen – Verhandlungen mit sowjetischen Offizieren24 im Dahlemer
Institut (Florek 2003) oder bei dem Sichern von Büchern und Möbeln für
den Physikerkollegen Josef Mattauch (1895–1976) aus dessen ausgebomb-
ter Wohnung. Auch für Stranski selbst war der Neubeginn nach Kriegs-
ende alles andere als einfach: Das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft
belegt die Mühen des Alltags, etwa Anfang 1946 die Anträge Havemanns
an den Bezirksbürgermeister Zehlendorf auf einen Bezugsschein für ortho-
pädische Schuhe für Stranski oder für Bescheinigungen zur Vorlage beim
Ernährungsamt für angemessene Lebensmittelrationen für die Wissen-
schaftler.25
Jahre später, in Vorbereitung auf die zum 01.07.1953 anstehende Über-
führung des offiziell noch als „Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische
Chemie und Elektrochemie“ firmierenden Hauses in die Max-Planck-
Gesellschaft (MPG) unter dem Namen „Fritz-Haber-Institut“ (FHI) stellte
der Direktor Max von Laue (Amtszeit 1951–1959) mit Schreiben vom
20.10.1952 an Otto Hahn den Antrag, Stranski zum stellvertretenden Direk-
tor zu ernennen. Er sei
„nach Lebensalter und Dienstzeit der Älteste der Abteilungsleiter, seine Ab-
teilung ist die größte des Institutes, und er hat seine Verwaltungsfähigkeiten
als Rektor der TU glänzend bewährt. Zudem kommt er nicht selten in die
Lage, mich vertreten zu müssen“ (Archiv MPG 1952).
Stranski wurde dann bis 1963 „Direktor am FHI“26, ständiger Stellvertreter
des Institutsdirektors und Leiter der großen selbstständigen Abteilung für
Physikalische Chemie des FHI. Seine Abteilung untersuchte Kristall-
struktur und -wachstum, z. B. von Arsenik-Modifikationen, sowie auch die
katalytischen Eigenschaften von Zeolithen. Der Briefwechsel Laue/Hahn
22 Anfang Juli 1945 wurde dann Robert Havemann (1910–1982) in dieses Amt berufen.
23 So im Schreiben von Butenandt, MPG-Präsident, zum 75. Geburtstag von Stranski.
24 Ähnlich hatte sich Nikolaj Vladimirovi² Timofeev-Resovkij (1900–1981), WM am
KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch, für seine Mitarbeiter verbürgt, was ihnen
zwar half, aber seine eigene lange Lagerhaft in der UdSSR nicht verhinderte.
25 Das Ernährungsamt solle mindestens 10 Std. täglicher Arbeitszeit berücksichtigen.
26 Nach Ansicht von Stranski – auf Anregung von Laues danach befragt – war dieser
Titel für ihn höherwertig als der eines „stellvertretenden Direktors“. Publikationen zu
Stranski interpretieren aber „Direktor am Institut“ oft missverständlich als „Direktor
des Instituts“.
89
(Archiv MPG 1955) bezeugt das langjährige gute Verhältnis von Stranski
mit von Laue: Als die Freie Universität Berlin (FUB) Stranski auf das
Ordinariat für Physikalische Chemie holen wollte
27
, gab von Laue zu
verstehen, dass Stranski damit rechne, sein Nachfolger zu werden. Diese
Nachfolge kam aber nicht zustande (Zeitz 2006).
Abb. 3: Fritz-Haber-Institut Berlin-Dahlem (FHI):
Historischer Eingang aus der Zeit des Kaiser-Wilhelm-Instituts
Eine ausführliche Darstellung des Instituts als KWG- bzw. MPG-Einrich-
tung erschien zum Jahrhundert-Jubiläum des Hauses (Steinhauser et. al.
2011). Sehr instruktiv, besonders im Hinblick auf die Einbindung des Insti-
tuts in die Wissenschafts-Domäne Dahlem, sind auch frühere Darstellun-
gen (Engel 1984; Henning/Kazemi 2009). Ab 1963, nach der Emeritierung
an der Technischen Universität Berlin (TUB), konnte sich Stranski stärker
auf die Tätigkeit am FHI konzentrieren. Die beantragte Verlängerung
27
Dort war Stranski seit 1949 Honorarprofessor; er blieb es dann auch bis 1963.
90
seines Dienstverhältnisses bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres wurde
genehmigt. Sein Arbeitsplatz blieb ihm erhalten, Planstellen für je einen
wissenschaftlichen und technischen Assistenten wurden bereitgestellt,
ebenso eine halbe Sekretärinnen-Stelle. Die Weiterführung des Arbeits-
gebietes von Stranski war allerdings – im Bemühen um eine Neuaus-
richtung des FHI nach dem Ausscheiden von Max von Laue – nicht mehr
vorgesehen. Anfang 1967 wurde Stranski offiziell in den Ruhestand ver-
setzt. Auch sollte er seine repräsentative Sechs-Zimmer-Dienstwohnung
28
freiziehen, worauf man dann aber wegen der Körperbehinderung von
Stranski nicht bestand. So blieb sie seiner Frau und ihm bis zu seinem
Ableben erhalten.
29
Abb. 4: Direktorenvilla des FHI:
Dienstwohnung von Stranski im 1. Stock mit Balkon und Veranda (Foto 2009)
c) Stranski an der Technischen Universität Berlin
30
(1945–1963)
Im Herbst 1945 – noch vor der am 12.12.1945 für März 1946 beschlossenen
Wiedereröffnung – wurde Stranski Professor für Physikalische Chemie
und Institutsdirektor, zunächst als kommissarischer Vertreter, dann als
Nachfolger des in die UdSSR verpflichteten und dort fast zehn Jahre
28
200 m2 im 1. Stock der Direktorenvilla, Faradayweg 8.
29
Als zweite Ehefrau – die erste starb 1974 – wird 1978 die Bulgarin Stoika (Toni) S.
erwähnt; sie verstarb am 07.10.1999.
30
Bis zur Wiedereröffnung am 15.03.1946 noch „TH Berlin-Charlottenburg“
91
tätigen Max Volmer (1885–1965).
31
In die schwere Nachkriegszeit fallen
seine Ämter als Dekan der Fakultät für allgemeine und Ingenieur-
wissenschaften (1948/49, 1953/54), als Prorektor (1949/50) sowie zwei Amts-
perioden als Rektor (1951–53).
32
Bedingung für die Einstellung Stranskis
war 1945 für die britische Behörde eine ‚Unbedenklichkeitserklärung‘, die
der kommissarische Rektor, Prof. Schnadel (1891–1980), abgab:
Stranski „ist politisch einwandfrei, da er als Bulgare eine Aufforderung der
deutschen Regierung, sich der nationalsozialistischen Gegenregierung für Bul-
garien anzuschließen, abgelehnt hat.“
33
Abb. 5: Grab von Ivan und Martha Stranski auf dem Waldfriedhof Berlin-Dahlem
(Foto 2009)
Der von Stranski verfasste Lebenslauf vom 25.07.1945 (Archiv TUB 1945)
enthält auch folgende Aussagen:
„Keine Mitgliedschaft in NSDAP, SA, SS; keine Funktion in DAF (Deutsche
Arbeitsfront), NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), NSD-Dozenten-
31
Nach ihm erfolgte später die Namensgebung als „Max-Volmer-Institut für Physika-
lische und Biophysikalische Chemie“ an der TUB.
32
Fotos der TUB (Internet) zeigen den Rektor mit hohen Gästen, wie Konrad Adenauer
(1876–1967) und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (1897–1977).
33
Um welche 'Gegenregierung' es sich bei den vielen faschistoiden Splittergruppen in
Bulgarien gehandelt haben mag, bleibt im Dunklen.
92
bund (Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund); nicht politisch organi-
siert vor 1933, nicht politisch gemaßregelt, nicht teilgenommen an antifaschis-
tischer Arbeit, nicht bekannt geworden durch antifaschistische Einstellung.“
Ausführlich eingegangen auf den erheblichen Anteil Stranskis am Wieder-
aufbau der stark zerstörten TH/TU34 wurde auf der Festveranstaltung zur
Verleihung der selten vergebenen akademischen Würde eines Ehren-
senators an ihn am 15.07.1963 (Kölbel 1963). So wurde die Wiederherstel-
lung der Südfront des Universitätshauptgebäudes bis 1953 mit einem
Mittelaufwand von 8 Millionen DM wesentlich auf sein organisatorisches
Geschick im Umgang mit den Behörden zurückgeführt.
Für die Zeitgeschichte der TUB bedeutsam ist auch der Aufruf Stranskis
vom 11.05.1953 an die Dekane, Professoren und Emeriti, alles Wissens-
werte für das durch den Krieg weitgehend zerstörte Archiv der Hoch-
schule zu bewahren.
Stranski als Persönlichkeit
Anlässlich seines 70. Geburtstages wird Stranski in den – unter Chemikern
als 'Blaue Blätter' bekannten – „Nachrichten aus Chemie und Technik“
unter der Überschrift „Wer ist's?“ nicht nur als bedeutender Wissen-
schaftler geschildert, sondern auch als Kenner der schönen Literatur, die er
in Deutsch, Bulgarisch, Russisch und Englisch liest, als brillanter Gesell-
schafter, der gutes Essen und gutes Bier liebt (Anonym 1967).
Zahlreiche persönliche Erinnerungen an Stranski sind in den Reden zu
den zahlreichen Jubiläums-, bzw. Gedenkveranstaltungen für ihn in
Deutschland, bzw. Bulgarien enthalten, auch in fach- wie populärwissen-
schaftlichen Publikationen über ihn; nicht zu vergessen der feinsinnige
Humor, der sowohl aus den Reden Stranskis spricht, als auch aus seinen
für einen breiteren Leserkreis bestimmten Veröffentlichungen (z.B. Stranski
1963). Zum Schmunzeln auch die Anekdote (ʂˆˏˣʺʵ 2006), wie er voller
Mitgefühl die Publikation eines im Ausland kaum bekannten jungen
Kollegen – nach mehrfacher Zurückweisung – doch bei dem gestrengen
Gutachter durchsetzte.
Über die vielfältige Anerkennung, die Stranski für sein wissenschaft-
liches Wirken und für sein sonstiges Engagement erfuhr, gibt die Tabelle
Auskunft.
34 Danach war 1945 im Hauptgebäude nur das Rektorzimmer (zugleich Senats-Sitzungs-
saal) durch ein Kanonenöfchen – mit Schornstein durch das Fenster! – notdürftig zu
beheizen.
93
J
ahr Erei
g
nis
1938 Galvani-Medaille der Universität Bolo
g
na
1939 Silberne Hofmann-Medaille der Deutschen Chemischen Gesellschaft;
Akademiemit
g
lied Göttin
g
en; Bul
g
arischer Zivildienstorden 4. Klasse
1940 Akademiemit
g
lied Götebor
g
; Dr. h. c., Breslau
1954 Dr. h. c., Freie Universität Berlin
1955 Akademiemit
g
lied New York
1957 Mineral Stranskiit (CuZn2[AsO4]2), triklin, c
y
anblau (Namibia)
1962 Akademiemit
g
lied München
1963 15.07. Ehrensenator der Technischen Universität Berlin
1964 Dr. techn. h.c., TH Wien; Dr. Ing. E.h., TUB; Dr. Ing. E.h., RWTH
Aachen; Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD
1966 Mitglied der Leopoldina (Halle), Sektion Physik; 09/1966
Ausländisches Mitglied der Bulgarischen Akademie der
Wissenschaften (BAN)
1967 Namensgebung für das 1965 eingerichtete II. Phys.-Chem. Inst.:
„Iwan-N.-Stranski-Institut für Physikalische und Theoretische
Chemie“ der TUB;
„I.-N.-Stranski-Institut für Metallur
g
ie“
,
Hüttenwerk Oberhausen AG
1972 Carl-Lue
g
-Denkmünze des Verbandes Deutscher Eisenhüttenleute
1975 Dr. h. c., Universität Aix/Marseille
1977 Kyrill-Methodius-Orden 1. Klasse für Wissenschaft der BAN
(ins
g
esamt dreimal K
y
rill-Methodius-Orden, zuerst 1940)
Tab. 2. Ehrungen von Stranski (Auswahl35)
War Stranski auch Schulenbildner?
Was die Einschätzung eines Gelehrten als Begründer einer „wissenschaft-
lichen Schule“ betrifft, so ist das bei Ivan Nikolov Stranski nicht einfach.
Natürlich ist er – siehe Einleitung – als „Begründer der bulgarischen Schule
der Physikochemie“ anerkannt; dennoch plädieren auch bulgarische Au-
toren dafür, dass trotz zahlreicher prominenter Schüler von ihm nicht er
selbst, sondern sein Schüler Kaišev der eigentliche Schulenbildner in Sofia
sei (Mischeva 1991). Wie kommt man eigentlich zur Schulenbildung?
Kaišev hatte dafür ein ganz einfach erscheinendes Rezept. In der ganzsei-
tigen Darstellung einer Tageszeitung zu den „Beherrschern der Kristalle“
(ʇʲʴ˓˘ˑˆˣʺ˖ˊ˓ ʹʺˏ˓ 1989) lautet es:
35 Nicht enthalten sind mehrere weitere Ehrungen zu Jubiläen, bzw. zum Gedenken an
Stranski durch die TUB, z.B. 03.01.1967, 07.01.1972, 10.01.1977, 18.06.1980, 24.01.1997,
auch nicht die Benennung eines Boulevards in Sofia nach ihm.
94
„ɼʲˊ ˖ʺ ˖˨˄ʹʲʵʲ ˑʲ˙ˣˑʲ ˦ˊ˓ˏʲ? ʊ˕ˮʴʵʲ ʹʲ ˖˨ʴʺ˕ʺ˦ ˘ʲˏʲˑ˘ˏˆʵˆ ˠ˓˕ʲ, ʹʲ ʶˆ
ˑʲ˖˓ˣˆ˦ ˊ˨ː ˆˑ˘ʺ˕ʺ˖ˑʲ ˆ ˔ʺ˕˖˔ʺˊ˘ˆʵˑʲ ˘ʺːʲ˘ˆˊʲ ˆ ʹʲ ˆː ˖˨˄ʹʲʹʺ˦
˙˖ˏ˓ʵˆˮ ʹʲ ˕ʲʴ˓˘ˮ˘.“
36
Abb. 6: Straßenname in Sofia zu Ehren von Stranski (Foto 2009)
Einer Schulenbildung besonders förderlich war Stranskis Wirken weder in
Deutschland noch in Bulgarien. In deutsche Institutionen war er vor dem 2.
Weltkrieg nicht kontinuierlich oder gar langfristig genug eingebunden,
nach dem Krieg war er drei Institutionen zugleich verpflichtet. Zur
Vielzahl seiner Ämter und Verpflichtungen kam darüber hinaus die Be-
schäftigung mit wirtschaftsnahen angewandten Arbeiten. Gegenläufig zu
einer Schulenbildung wirkte und wirkt in Deutschland auch die tradi-
tionelle Praxis an Hochschulen und an KWG-/MPG-Einrichtungen, dass
der Amtsnachfolger von außerhalb in der Regel ein neues Arbeitsgebiet
mitbringt.
37
Für eine Stranski-Schule in Bulgarien käme höchstens die Zeit
36
Deutsch: „Wie gründet man eine wissenschaftliche Schule? Du musst talentierte
Leute zusammenführen, sie auf eine interessante und perspektivische Thematik
orientieren und ihnen die Bedingungen zum Arbeiten schaffen.“
37
So formte der unmittelbare Nachfolger Stranskis an der TUB, Prof. Horst Tobias Witt
(1922–2007), aus dem Institut ein Zentrum für biophysikalische Studien zur Photo-
synthese.
95
zwischen Mitte der 20er und Ende der 30er Jahre in Frage; danach war er
lange abwesend, erzwungen de jure ab 1944, de facto aber schon ab Herbst
1941 wegen der langen Gastprofessur in Deutschland.
Abb. 7: Akademiemitglied (BAN) und Humboldt-Preisträger
ɸʵʲˑ ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ ɫ˙ˢ˓ʵ (Gutzow), einer der Schüler von Stranski (Foto 2010)
Zu den Eigenschaften von Schulenbildnern meinte Nobelpreisträger Max
Delbrück (1906–81):
„Wenn Schüler ihre Lehrer nicht überflügeln, dann hat jedenfalls auch der
Lehrer nichts getaugt“.
Ein anderer Nobel-Laureat, Ernest Rutherford (1871–1937), fand,
„dass es das Wichtigste für einen Lehrer sei, zu lernen, nicht auf die Erfolge
seiner Schüler neidisch zu sein“.
Diesen Prämissen wird Stranski im Rahmen der ihm gegebenen Möglich-
keiten sehr weitgehend gerecht; der „Vater des Kristallwachstums“ ist er in
jedem Fall.
96
Abb. 8: Zwei – inzwischen emeritierte – Nachfolger von Stranski auf dem Lehrstuhl
für Physikalische Chemie der Universität Sofia, Prof. Dimo Platikanov (li.; 2002-2006
Vorsitzender der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bulgarien)
und Prof. Borislav Tošev (Foto 2009)
Die heutige hohe Wertschätzung von Stranski in Kreisen der bul-
garischen Wissenschaft ist dementsprechend über jeden Zweifel erhaben.
In einer Festschrift zum 120. Jahrestag der Universität Sofia „Sveti Kliment
Ochridski“ (2008) werden im Kapitel „Namen des 20. Jahrhunderts“
lediglich vier der vielen Hochschullehrer ausführlich gewürdigt, neben
Stranski ein weiterer Chemiker, ein Physiker und ein Genetiker.
Am 15. Januar 2007 lief ein vielbeachteter 30-min-Film über Stranski im
bulgarischen Fernsehen (ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ 2006). Im Rahmen eines Projekts 2001–
2004 sammelte N. Sretenova von der Bulgarischen Akademie der Wissen-
schaften Material für eine umfassende Stranski-Biographie in 18 Archiven
in Deutschland, Bulgarien, Großbritannien und in den USA (C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ
2005; C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2006).
38
Zurück zu der Rehabilitierung Stranskis, die eigentlich aufgrund seiner
auch in Bulgarien stets anerkannten Leistungen schon in den 50er Jahren
überfällig war. Sie erfolgte erst 1967, nach der Ernennung zum 'Aus-
ländischen Mitglied' der BAN; sie wurde durch seine Schüler in hohen
38
Mangels weiterer Finanzierung harren nun leider schon seit Jahren mehrere tausend
Blatt an Dokumenten und Sekundärliteratur der weiteren Bearbeitung.
97
Ämtern bewirkt, durch Krӽstanov als Akademiepräsident (1962–68) und
Kaišev als Vizepräsident (1961–68). Die Übergabe der Urkunde erfolgte an
der TUB durch Kaišev zum Fest-Colloquium für Stranski am 03.01.1967.
Nun konnte Stranski beruhigt wieder die alte Heimat besuchen, was er
wiederholt tat, erstmals 1969 zu einem BAN-Jubiläum. Anhaltende
gesundheitliche Beschwerden veranlassten ihn auch im Jahr 1978 zu einem
Kuraufenthalt in Bulgarien. Dort verstarb er nach fast neun Monaten am
19. Juni 1979. Seine letzte Ruhe fand der stete „Wanderer“ am 09.07.1979
auf dem Waldfriedhof Berlin-Dahlem, Hüttenweg.
Die TUB bewahrt im Archiv Traueranzeigen zum Ableben von Stranski,
darunter auch von den Mitarbeitern ihrer beiden Einrichtungen „Iwan-N.-
Stranski-Institut für Physikalische Chemie und Theoretische Chemie“ und
„Max-Volmer-Institut für Physikalische Chemie und Molekularbiologie“.
Eine ausführliche Würdigung erfolgte am 18.06.1980, auf dem Col-
loquium des Fachbereichs 17/6 der TUB zum 1. Todestag von Stranski. Den
Gedenkvortrag hielt Kaišev als Gast aus Sofia, Fachvorträge kamen von
den ehemaligen Berliner Schülern Stranskis, den Professoren Ludwig
von Bogdandy (Klöckner-Werke AG Duisburg), Otmar Knacke (RWTH
Aachen), Rolf Lacmann (TU Braunschweig), sowie von Dr. Bertold Honig-
mann (BASF Ludwigshafen).
Als Ausklang möge die Einschätzung Stranskis dienen, die Kaišev in
seinen Erinnerungen gibt (ʂˆˏˣʺʵ/ʈ˘˓ˮˑ˓ʵ 2003, 58):
„Ivan Stranski war ein bemerkenswerter Mensch. Er verfügte über eine benei-
denswerte wissenschaftliche Intuition und Fantasie, wie auch über die Fähig-
keit, das Wesentliche in den ihn beschäftigenden Problemen zu sehen und
den einfachsten Weg zu ihrer Lösung zu finden. Seine wertvollste Eigenschaft
war, dass er es verstand, junge Leute zu begeistern. ... Mit einigen von ihnen
bearbeitete er Probleme, die dauerhaft in die Wissenschaft eingingen, so zum
Beispiel den heute breit genutzten Stranski-Krӽstanov-Mechanismus des iso-
morphen Aufwachsens auf Kristallen, oder seine Arbeit mit Totomanov zur
sogenannten Ostwaldschen Stufenregel.“
98
Abb. 9: Gebäude der Chemischen Fakultät der Universität Sofia (Foto 2009)
Danksagung
– dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, insbesondere Frau
Dr. M. Kazemi,
– dem Archiv der Technischen Universität Berlin, insbesondere Frau Dr. I.
Schwab,
– zahlreichen bulgarischen Kollegen von der BAN und der Universität Sofia für
Gespräche und für die Überlassung von Sonderdrucken ihrer Arbeiten,
– Herrn Ralf Hahn, Berlin, für Materialien aus dem Archiv der GDCh, Frank-
furt/Main, zum Kolloquiumsvortrag von Stranski 1939.
Literatur
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Anonym, Wer ist‘s? – Iwan N. Stranski. Nachr. Chem. Technik 15.1, 1967, 5.
Archiv FHI 2013
Archiv FHI, Prof. Dr. Iwan N. Stranski, List of Publications <http://www.fhi-
berlin.mpg.de/pc/stranski/Stranski-publis.html> (17.02.2013).
99
Archiv GDCh 1939a
Archiv GDCh, R. F. Schenck, Brief an Prof. Weidenhagen/DChG, 12.01.1939.
Archiv GDCh 1939b
Archiv GDCh, Geschäftsstelle DChG an Prof. R. Kuhn, Heidelberg, 20.09.1939.
Archiv GDCh 1939c
Archiv GDCh, E. von Massow, Brief an DChG, 02.12.1939.
Archiv MPG 1943
Archiv MPG, Niederschrift über die Sitzung des Senats der KWG zur Förderung
der Wissenschaften, 11.11.1943. In: Niederschriften von Sitzungen des Senats der
KWG 1933–43.
Archiv MPG 1945
Archiv MPG, Bezirksbürgermeister Berlin-Zehlendorf an Thiessen, 12.05.1945
Archiv MPG 1952
Archiv MPG, Brief v. Laue an Hahn, 20.10.1952.
Archiv MPG 1955
Archiv MPG, Briefwechsel v. Laue 02.05.1955/Hahn 16.05.1955.
Archiv TUB 1945
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Brockhaus 1994
Brockhaus Enzyklopädie, XXV (1994), 921.
Engel 1984
M. Engel, Geschichte Dahlems (Berlin 1984).
Florek 2003
D. Florek (geb. Thiessen), Erinnerungen an die Jahre 1944-45 im Kaiser-Wilhelm-
Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie. Dahlemer Archivgespräche
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ʵˏˆˮˑˆʺ ʵ˨˕ˠ˙ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑʲ˘ʲ ˘ʺ˓˕ˆˮ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˑˆˮ ˕ʲ˖˘ʺʾ. ʈ˔ˆ˖ʲˑˆʺ ˑʲ ɩ˨ˏ-
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C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2005
ʃ. C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ, ɸʵʲˑ ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ: ɯʹˑ˓ ʵ˨ˏˑ˙ʵʲ˧˓ ˔˨˘˙ʵʲˑʺ ˊ˨ː ʲˊʲʹʺːˆˣ-
ˑˆˮ ʵ˕˨ˠ. ɸˑʹˆʵˆʹ˙ʲˏʺˑ ˑʲ˙ˣʺˑ ˔˕˓ʺˊ˘ (2001-2004) (78 Seiten, unveröffent-
lichtes Manuskript).
C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ 2006
ʃ. C˕ʺ˘ʺˑ˓ʵʲ, ɸʵʲˑ ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ: ɯʹˑ˓ ʵ˨ˏˑ˙ʵʲ˧˓ ˔˨˘˙ʵʲˑʺ ˊ˨ː ʲˊʲʹʺːˆˣ-
ˑˆˮ ʵ˕˨ˠ. ʒˆːˆˮ 14.4, 2006, 311–328.
ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ 2006
ʈ. ʈ˘ʺ˟ʲˑ˓ʵ, ʆ˨˕ʵ˓ːʲˇ˖˘˓˕˨˘ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˑˆˮ ˕ʲ˖˘ʺʾ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʃʲˢˆ˓-
ˑʲˏˑʲ ʊʺˏʺʵˆ˄ˆˮ, 2006.
ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1927/28
ɸ. ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ɪ˨˕ˠ˙ ˕ʲ˖˘ʺʾʲ ˑʲ ˊ˕ˆ˖˘ʲˏˆ˘ʺ. ɫ˓ʹˆ˦ˑˆˊ ʈ˓˟. ˙ˑˆʵ., ʑˆ˄.-
ːʲ˘. ˟ʲˊ. 24.2, 1927/28, 297–315.
ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ 1934/35
ɸ. ʃ. ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ʅ˘ʶ˓ʵ˓˕ ˑʲ ʹ˓ˊˏʲʹʲ ˑʲ ʶ-ˑ ɮ. ɩʲˏʲ˕ʺʵ ʵ˨˕ˠ˙ ˖˘˓ˇˑ˓˖˘˘ʲ ˑʲ
ˑʲ˙ˣˑˆ˘ʺ ːˆ ˘˕˙ʹ˓ʵʺ ˔ˆ˖ʲˑ ˓˘ ˑʺʶ˓ ˊʲ˘˓ ˕ʺˢʺˑ˄ʺˑ˘ ˆ˄ʴ˕ʲˑ ˓˘ ʈ˨ʵʺ˘ʲ ˑʲ
ʑˆ˄ˆˊ˓-ːʲ˘ʺːʲ˘ˆˣʺ˖ˊˆˮ ˟ʲˊ˙ˏ˘ʺ˘. ɫ˓ʹˆ˦ˑˆˊ ʈ˓˟. ˙ˑˆʵ., ʑˆ˄.-ːʲ˘. ˟ʲˊ.
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ɩ. ʊ˓˦ʺʵ 1997a
ɩ. ʊ˓˦ʺʵ (Hrsg.), ʈ˓˟ˆˇ˖ˊˆ ˙ˑˆʵʺ˕˖ˆ˘ʺ˘, ɼʲ˘ʺʹ˕ʲ ˔˓ ˟ˆ˄ˆˊ˓ˠˆːˆˮ, ɩˆʴˏˆ˓-
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ɩ. ʊ˓˦ʺʵ 1997b
ɩ. ʊ˓˦ʺʵ, ʆ˕˓˟. ʹ-˕ ɸʵʲˑ ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ. ʒˆːˆˮ 6.1–2, 1997, 68–73.
ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a
ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013a, ɸʵʲˑ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ (˟ˆ˄ˆˊ˓ˠˆːˆˊ) (16.02.2013).
ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013b
ʍˆˊˆ˔ʺʹˆˮ 2013b, ʇ˓ʹ˨˘ ʈ˘˕ʲˑ˖ˊˆ, ɮʵ˓˕ˢ˓ʵʲ ˖ʵˆ˘ʲ ˔˕ˆ ʹʵ˓˕ˑ˓˘˓ ˓ʴ˧ʺ˖˘ʵ˓
ˑʲ ʊ˕ʺ˘˓˘˓ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊ˓ ˢʲ˕˖˘ʵ˓, <http://pridvorni.blog.com/2007/08/03/ ˕˓ʹ˨˘-
˖˘˕ʲˑ˖ˊˆ/> (16.02.2013)
104
Verzeichnis der Abkürzungen
BAN Bulgarische Akademie der Wissenschaften/ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ɧˊʲʹʺːˆˮ ˑʲ
ʃʲ˙ˊˆ˘ʺ
BASF Badische Anilin- & Soda-Fabrik
DChG Deutsche Chemische Gesellschaft
FHI Fritz-Haber-Institut
FUB Freie Universität Berlin
GDCh Gesellschaft Deutscher Chemiker
KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
KWI Kaiser-Wilhelm-Institut
MPG Max-Planck-Gesellschaft
RWTH Rheinisch-Westfälische Hochschule
TH, TU Technische Hochschule, Technische Universität
TUB Technische Universität Berlin
WM Wissenschaftliches Mitglied
Abbildungsnachweis
Abb. 1: o. A., „Wer ist's? - Iwan N. Stranski“. Nachr. Chem. Technik 15.1, 1967, 5.
Abb. 2 bis Abb. 9: Fotos D. Linke.
105
Helmut W. Schaller
Aus Gustav Weigands „Bulgarischer Bibliothek“:
Geographie, Eisenbahn und Bergbau in Bulgarien
Betrachtet man die Lehr- und Forschungstätigkeit sowie die zahlreichen
herausgeberischen Aktivitäten des Leipziger Romanisten, Balkanologen
und Bulgaristen Gustav Weigand (1860-1930) zunächst aus allgemeiner
Sicht, so war diese ganz offensichtlich darauf ausgerichtet, der deutschen
und der Weltöffentlichkeit die Lage der Balkanvölker vor und nach dem
Ersten Weltkriege von wissenschaftlichen Positionen aus zur Kenntnis zu
bringen. Sein Interesse für die Balkanvölker, so auch für die Bulgaren, war
kein Ergebnis einer zufälligen Regung, wie der bulgarische Historiker
Konstantin Kosev schreibt (Kosev 1973), sondern gerade zu seiner Zeit war
der Balkan als Urheber von Unruhen und nationalen Zusammenstößen
zum neuralgischen Punkt der europäischen Politik geworden. Wie der Ost-
und Südosteuropahistoriker Georg Stadtmüller 1942 ausführte, hatte Gu-
stav Weigand während zahlreicher Studienaufenthalte und Studienreisen
auch in Bulgarien Land, Leute und Sprache in einzigartiger Weise, wie ein
Einheimischer, kennengelernt. Zu Fuß und mit dem Maultier durchreiste
er die innerbalkanischen Berglandschaften, immer in unmittelbarer Be-
rührung mit der Bevölkerung, deren Sprache er beherrschte, deren Sinnes-
art ihm wohl vertraut war (Stadtmüller 1962, 86). Es überrascht daher
nicht, dass sich Gustav Weigands Interessen nicht nur auf Sprache und
Volkskultur der Balkanvölker beschränkten, sondern er als Herausgeber
der „Bulgarischen Bibliothek“ auch die Kenntnis des Eisenbahnwesens
und des Bergbaus Bulgariens aktiv förderte.
Im Jahre 1916 begründete Gustav Weigand seine „Bulgarische Biblio-
thek“, die die „Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Be-
ziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien“ seit 1997 in „Neuer
Folge“ fortsetzt und die seinerzeit von dem bulgarischen Verleger Ivan
Parlapanoff in Leipzig verlegt wurde. Die Planung für diese Reihe ging
schon mit ihrem ersten Band weit über den philologisch-historischen
Bereich der Bulgaristik hinaus, der mit dem Titel Bulgarien. Land und Leute
von Anastas Ischirkoff (= Iširkov), Professor der Geographie an der Uni-
versität Sofia, verfasst worden war. Für die Weigandsche „Bulgarische
Bibliothek“ zeichnete ein Ehrenausschuss mit dem Leipziger Slavisten
August Leskien, dem Berliner Meteorologen Karl Kassner, dem Wiener
Osteuropahistoriker Otto Uebersberger sowie dem Budapester Slavisten
106
U. von Asboth verantwortlich. Hinzu kam ein Redaktionsausschuss in
Sofia mit dem Geographen Anastas Iširkov, Professor Mollov, Ministerial-
direktor Herbst und Andrej Proti². In der Vorrede zum ersten Band seiner
Reihe schreibt Gustav Weigand:
„Mit der Bulgarischen Bibliothek, deren erste Nummer mit dem vorliegenden
Band in die Öffentlichkeit tritt, beabsichtigen wir, dem deutschen Publikum
eine Reihe von Hilfsmitteln zu bieten, die über alle Gebiete des öffentlichen
Lebens, über Geschichte, Ethnographie, Volkskunde, kurz über alles spezifisch
Bulgarische, das einen weiteren Interessentenkreis vermuten lässt, gediegene
Auskunft geben und die bulgarischen Quellen, die ja für Deutsche der Sprache
wegen schwer zugänglich sind, ersetzen sollen. Es liegt uns fern eine Unter-
haltungsbibliothek, hervorgegangen aus dem augenblicklich größeren Inte-
resse beider Völker zueinander ins Leben zu rufen, sondern wir erstreben eine
wissenschaftliche Leistung von dauerndem Wert, berechnet für den gebildeten
Laien und den Gelehrten. Aus diesem Grunde lag es nicht in der Absicht des
Herausgebers dem Ganzen einen streng wissenschaftlichen Anstrich zu geben,
aber die Wissenschaft soll darin zu ihrem vollen Rechte kommen, und deshalb
sind nur durchaus erprobte Mitarbeiter gewonnen werden, die das ihnen ge-
läufige Gebiet behandeln werden. Allerdings wird ja, was unausbleiblich ist,
der eine Mitarbeiter den wissenschaftlichen Charakter mehr, der andere weni-
ger hervorheben. Es war notwendig die Verfasser anzuhalten, den Umfang
ihrer Arbeiten auf fünf bis sieben Druckbogen zu beschränken, was die Fach-
kritik berücksichtigen möge, wenn sie bei dem einen oder anderen Werke nicht
genügende Ausführlichkeit findet“ (Iširkov 1916, V–VI).
Gustav Weigand weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass
das Zustandekommen der Reihe „Bulgarische Bibliothek“ auch dem Sofio-
ter Redaktionskomitee zu verdanken sei. An erster Stelle werden A. Išir-
kov, Professor Mollov, A. Proti² und Direktor Herbst genannt, denen es
gelungen war, die große Zahl von bulgarischen Autoren für Weigands
Plan zu gewinnen. Erwähnt wird von Gustav Weigand auch die Unter-
stützung der Reihe durch den bulgarischen Ministerpräsidenten Rado-
slavov.
Die ersten beiden Bände der „Bulgarischen Bibliothek“ wurden von
Anastas Iširkov unter dem Thema „Bulgarien. Land und Leute“ bearbeitet.
Weigand hatte über 30 bulgarische Fachleute vorgesehen, die zu verschie-
denen Themen des bulgarischen Lebens Monographien verfassen sollten,
die aus dem Bulgarischen in das Deutsche zu übersetzen waren, ein
Vorhaben, das alleine schon aufgrund seines Umfanges, vor allem aber
auch durch die schwierigen Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit
nur zu einem Teil verwirklicht werden konnte. Die folgenden, von Gustav
107
Weigand geplanten Bände, konnten aufgrund der Kriegs- und Nachkriegs-
verhältnisse nur zu einem kleinen Teil veröffentlicht werden.
Die folgenden Bände der „Bulgarischen Bibliothek“ konnten veröffent-
licht werden:
– Ing. Dantschoff (= Dan²ov), Sektionschef im Eisenbahnministerium: Das Eisen-
bahnwesen in Bulgarien;
– Prof. Dr. Arnaudoff (= Arnaudov): Die bulgarischen Festbräuche;
– Prof. Dr. Slatarski (= Zlatarski): Geschichte Bulgariens bis zur Unterwerfung
Bulgariens unter die türkische Herrschaft 1492.
Vorgesehen waren als weitere Bände:
– Prof. Dr. Miletitsch (= Mileti²): Makedonien. Land und Leute;
– Prof. Danailoff (= Danailov): Der bulgarische Bauer, eine volkswirtschaftliche
Studie.
Die folgenden, von Gustav Weigand vorgesehenen Bände konnten da-
gegen nicht erscheinen:
– Progymnasialdirektor Staneff (= Stanev): Geschichte Bulgariens von 1492 bis
1914;
– Prof. Dr. Filoff (= Filov), Direktor des Nationalmuseums: Antike Kunst in
Bulgarien;
– Prof. Dr. Noikoff (= Nojkov): Das Bildungswesen in Bulgarien;
– Dr. Sakaroff (= Sakarov): Die bulgarischen Staatsfinanzen;
– Kir. Popoff (= Popov), Direktor des Königlichen Statistischen Amtes: Volks-
wirtschaftliche Entwicklung Bulgariens von 1879-1914;
– Prof. Mischaikoff (= Mišajkov): Die Bevölkerung Bulgariens, statistische Studie;
– Prof. Dr. Romansky (= Romanski): Ethnographie Bulgariens;
– Prof. Michaltscheff (= Michal²ev): Der Marxismus in Bulgarien;
– Prof. Mladenoff (Mladenov): Die Bulgaren im Kreise der Indogermanen;
– Oberstleutnant Nikoloff (= Nikolov) vom bulgarischen Generalstab: Die Wehr-
macht Bulgariens, Entwicklung und jetziger Zustand;
– Prof. Molloff (= Mollov): Zivilprozeßordnung in Bulgarien;
– Dr. Girginoff (= Girginov): Die bulgarische Verfassung;
– A. Nikoloff (=Nikolov): Die bulgarische Gerichts- und Verfassungsorganisation;
– B. Angeloff (= Angelov): Iwan Wasoff (= Vazov), der bulgarische Volksdichter;
– Dr. Stojanoff (= Stojanov): System der bulgarischen Handelsvertragspolitik;
Erschienen ist im Jahre 1919 dagegen die Buchveröffentlichung des Inge-
nieurs Radoslawoff (= Radoslavov), Sektionschef im Handelsministerium:
Der Bergbau in Bulgarien.
108
Nicht erschienen sind die zwei letzten von Gustav Weigand genannten
Buchveröffentlichungen, nämlich:
– Dr. Balabanoff (= Balabanov): Die neuere bulgarische Lyrik;
– Prof. Dr. Weigand: Bulgarische Volksliteratur.
Als weitere mögliche Autoren der „Bulgarischen Bibliothek“ wurden von
Gustav Weigand genannt: Prof. Dr. Schischmanoff (= Šišmanov), A. Protitsch
(= Proti²), Prof. Dr. Zankoff (= Cankov), Prof. Dr. Ganeff (= Ganev), Dr.
Chr. Tschakaloff (= +akalov), Prof. Dr. Fadenhecht (Iširkov 1916, VI–VII).
Weigand schließt seine an Pfingsten 1916 in Leipzig verfasste Vorrede
für den ersten Band mit dem folgenden Satz:
„Möge das Werk als erstes der Bibliothek freundliche Aufnahme finden und
mit dazu beitragen, unsere jüngsten Bundes- und Kampfgenossen und ihr
Land genauer kennen und schätzen zu lernen“ (Iširkov 1916, VIII).
Der erste Band der „Bulgarischen Bibliothek“ mit Anastas Iširkovs Bul-
garien. Land und Leute ist ausgesprochen naturwissenschaftlich ausgerich-
tet, indem hier zunächst Allgemeines, dann die Paläogeographie Bulga-
riens, die Oberflächengestaltung des Landes, das Klima, das Pflanzenleben
und die Tierwelt behandelt werden. Der Verfasser, Anastas Iširkov, hatte
zunächst an der Universität Sofia Geschichte studiert, war dann nach
Leipzig gegangen, wo er vor allem Geographie bei Ratzel studierte und mit
einer geographischen Abhandlung zu Südbulgarien im Jahre 1895 pro-
moviert wurde. Weitere Studien führten ihn nach Berlin, u.a. zum dortigen
Geographen von Richthofen, nach Wien sowie nach Paris. In Sofia be-
gründete er das Geographische Institut der Universität und war in den
folgenden Jahren mit zahlreichen geographischen, nach dem Ersten Welt-
kriege auch politisch ausgerichteten Schriften hervorgetreten. Iširkov ver-
öffentlichte nicht nur in bulgarischer und deutscher, sondern auch in
russischer, ungarischer und tschechischer Sprache.
Mit einer Beschreibung des „Zartums Bulgarien“ ging Iširkov im ersten
Band seiner 1916 erschienen Darstellung zunächst auf Name, Grenzen,
Lage und Größe Bulgariens ein, gefolgt von einem paläogeographischen
Überblick und einer Darstellung der Oberflächengestaltung. Hier werden
die „Rhodopenmasse“ behandelt, dann das Balkangebirge, die Übergangs-
zone im westlichen Mittelbulgarien, das Tundža-Massiv, das dem Balkan
vorgelagerte Tal, die Maricaniederung, das Übergangsgebirge im west-
lichen Mittelbulgarien, die bulgarischen Ebenen und das Donautafelland.
Drei weitere Abschnitte behandeln das Klima, das Pflanzenleben und die
Tierwelt Bulgariens. Iširkov vertritt in seiner Darstellung des Klimas die
Auffassung, dass Bulgarien hier „stiefmütterlich“ bedacht wurde:
109
„Im Verhältnis zu seiner Breitenlage hat es eine zu niedrige Temperatur; be-
züglich der Regenmenge und deren Jahresverteilung, muss man es mehr zu
dem kontinentalen Ost-Europa, als zu den Mittelmeerländern oder zentral-
europäischen Ländern rechnen, mit denen es sonst in mancher Beziehung eng
verbunden ist“ (Iširkov 1916, 99).
Zum Pflanzenleben Bulgariens führt Iširkov aus, das Bulgarien als „kleines
Land“ mit den anderen Bereichen der Balkanhalbinsel und den benach-
barten Teilen Europas und Asiens eng verbunden ist und deshalb nicht als
ein selbstständiges Pflanzengebiet betrachtet werden kann, in Bulgarien
finden sich Pflanzen die sowohl zur Mittelmeerflora als auch zur mittel-
europäischen und osteuropäischen Flora gerechnet werden können (Išir-
kov 1916, 103–104). Zur Tierwelt Bulgariens führt Iširkov aus, dass Bul-
garien ein noch mäßig besiedeltes Land sei, in dem zahlreiche Raubtiere
Unterschlupf fänden, die den Menschen schädigten, indem sie dessen
Haustiere bedrohen und das Wild vernichten. Als das schädlichste Tier
wird von ihm der Wolf angeführt, gefolgt vom Fuchs, ebenso auch der
Schakal. Besonders reichhaltig sei die Vogelwelt Bulgariens, von F. Christo-
witsch und O. Reiser werden Hunderte von Vogelarten beschrieben.
Der zweite Band von Anastas Iširkovs Bulgarien. Land und Leute, er-
schienen 1917, behandelt die bulgarische Bevölkerung, die Volkswirtschaft
sowie die Siedlungsverhältnisse. Beigegeben ist diesem Band eine damals
aktuelle Eisenbahnkarte. Mit der „Bulgarischen Bibliothek“ sollte in
Deutschland ein gründlicheres Verständnis für Bulgarien, überhaupt alles
Wissenswerte aus den verschiedensten Gebieten ermöglicht werden.
Bei den neun veröffentlichten Bänden handelt es sich um Überset-
zungen bulgarischer Originalausgaben, so auch beim ersten und zweiten
Teil von Anastas Iširkovs Band drei der „Bulgarischen Bibliothek“ mit dem
Titel Das Eisenbahnwesen in Bulgarien mit 24 Bildtafeln und einer Eisenbahn-
karte, verfasst von Dr. Jordan Dan²ov , geboren im Jahre 1871 in Sliven,
seinerzeit „Ingenieur-Inspektor“ im bulgarischen Eisenbahnministerium.
Dan²ov hatte Mathematik in Gand/Belgien und Leipzig sowie Ingenieur-
wesen in Zürich studiert. Lange Zeit war Dan²ov Leiter des Eisenbahn-
und Eisenbahnstationenbaus in Bulgarien, er war auch für die Gesetz-
gebung des Wege- und Verbindungswesens zuständig. Dan²ov hat zahl-
reiche Abhandlungen zu Fragen der Verkehrsverbindungen veröffentlicht,
u. a. in der „Revue générale des chemins de fer“. Seine 1917 in Leipzig
veröffentlichte Darstellung „Das Eisenbahnwesen in Bulgarien“ wurde von
Gustav Weigand mit einem Vorwort versehen, das dieser am 6. Januar
1917 verfasst hatte:
110
„Der dritte Band der Bulgarischen Bibliothek soll zunächst den Fachmann
über das bulgarische Eisenbahnwesen unterrichten, doch hat der Verfasser es
verstanden, das Ganze in einer Weise darzustellen, dass auch das Interesse
des Laien gefesselt wird, was vor allem bei dem ersten Teile der Fall ist, in
dem die Geschichte der bulgarischen Bahnen mitgeteilt wird. Wie scharf tritt
bei dem Verkauf der Linie Rustschuk-Warna, die von einer englischen Gesell-
schaft erbaut worden war, das rücksichtslose Eintreten der englischen Regie-
rung für ihre Staatsangehörigen hervor! Und was musste sich der bulgarische
Staat von der durch die internationale Hochfinanz gestützten Orientbahngesell-
schaft gefallen lassen! Macht geht vor Recht, das zeigt auch die Geschichte der
bulgarischen Bahnen; doch trotz aller Schwierigkeiten politischer und finanzi-
eller Natur hat sich das Bahnnetz mächtig ausgebreitet und wird sich, wie das
Kapitel über Zukunftspläne zeigt, weiter entwickeln zur Hebung von Land-
wirtschaft, Handel und Industrie. Zwei Linien schneiden bereits den Balkan,
die eine folgt dem Iskerdurchbruch, die andere übersteigt den Balkan in einer
vielgewundenen Linie über den Bäsowetzberg…“ (Dantschoff 1917, V).
Das Inhaltsverzeichnis von Dan²ov Darstellung zeigt, dass zunächst in
einem großen Abschnitt unter dem Titel „Eisenbahnbaupolitik und Ent-
wicklung des Staatsbahnwesens“ an erster Stelle die Eisenbahnen aus der
türkischen Zeit behandelt werden, gefolgt von einer Darstellung des
Ausbaus des inneren Bahnnetzes Bulgariens, den Eisenbahnverbindungen
mit benachbarten Staaten und den damals aktuellen Zukunftsplänen. Im
zweiten Abschnitt der Darstellung zum Thema „Das Staatsbahnnetz und
Betriebsergebnisse“ wird nach allgemeinen Ausführungen über die bul-
garischen Staatsbahnen, über die Betriebsergebnisse, die Einrichtung und
Ausgestaltung des Tarifwesens sowie die Verwaltung des bulgarischen
Bahnwesens berichtet. Der dritte und abschließende Abschnitt berichtet
über die bulgarischen Industriebahnen.
Jordan Dan²ov weist darauf hin, dass das Fürstentum Bulgarien nach
der Befreiung im Jahre 1878 nur über eine einzige Eisenbahnlinie verfügte,
nämlich die damals in privater Hand befindliche Linie Rus²uk–Varna mit
einer Länge von nur 224 Kilometern. Dan²ov schreibt dann, dass
„dem in jeder Beziehung volkswirtschaftlich wie kulturell rückständig geblie-
benen jungen Fürstentum daher eine fast unbezwingbare Aufgabe zugefallen
sei, nämlich die für die Zukunft unumgänglich notwendigen Grundlagen zur
wirtschaftlichen Hebung und staatlichen Wohlfahrt zu schaffen, worunter das
wesentlichste und nächstliegende ein rationelles Eisenbahnnetz war“ (Dan-
tschoff 1917, 1).
111
Eine schwere Belastung in dieser Anfangszeit des freien Bulgarien war
durch den Berliner Vertrag gegeben, der in Bezug auf die verbliebenen
Eisenbahnen sowie den Neubau von Eisenbahnen Verpflichtungen auf-
erlegt hatte, die in den Artikeln 10 und 38 des Vertrages festgelegt waren.
So wurde Bulgarien verpflichtet, die von der Türkei übernommenen Ver-
bindlichkeiten gegenüber Österreich-Ungarn oder der Betriebsgesellschaft
der Orientbahnen zur Verbindung Konstantinopels mit Westeuropa durch
die Eisenbahn zu erfüllen. Diese Verpflichtungen erstreckten sich auf die
Verbindlichkeiten der Türkei gegenüber der konzessionierten Gesellschaft
der Eisenbahnlinie Rus²uk-Varna. Ein Jahr nach dem Regierungsantritt
von Fürst Ferdinand, dem bekanntlich die Förderung des Eisenbahn-
wesens ein ganz besonderes Anliegen war, wurde in der bulgarischen
Nationalversammlung eine Gesetzesvorlage eingebracht, die die Errich-
tung der folgenden Eisenbahnlinien vorsah: Kaspi²an – Šumen – Farnovo –
Sevlievo – Love² – Pleven – Sofia – Kjustendil – Jambol – Burgas sowie eine
Eisenbahnverbindung zwischen den beiden bulgarischen Schwarzmeer-
häfen Varna und Burgas. Geplant wurden in dieser Zeit auch Eisenbahn-
verbindungen mit den benachbarten Staaten Bulgariens, so mit Make-
donien und Rumänien. Das Gesetz für den Bahnbau im Jahre 1894 sah
noch weitergehende Pläne zur Erweiterung des Bahnnetzes vor, nämlich
Radomir – Dupnica – Džumaja, mit einer Länge von 75,2 km, Dupnica –
Bobov Dol mit einer Länge von 16,1 km, Samovit – Nikopol mit einer
Länge von 13 km, Pleven – Love² – Sevlievo – Gabrovo mit einer Länge
von 145 km, Sofia – Samokov mit 58 km, Šumen – Smedovo – Sinnica oder
Karnobat mit einer Länge von 122 bzw. 104 km, +erven Breg – Orechovo
mit 79 km, Eski Džumaja – Osman Pazar mit 26 km, Philippopel – Karlovo
mit 65 km sowie Jambol – Kasal Aga² bis zur türkischen Grenze mit
744 km. Damit war ein Gesamtnetz der bulgarischen Bahnen mit 686 km
geplant worden. Ergänzt wird in der Darstellung noch das Netz der Indus-
triebahnen. Im Abschnitt über die Staatsbahnen und die Betriebsergebnisse
wird Allgemeines über die Staatsbahnen, die Betriebsergebnisse, Einrich-
tung und Ausgestaltung des Tarifwesens sowie die Verwaltung der bul-
garischen Bahnen berichtet.
Dass dem Buch von Jordan Dan²ov über das Eisenbahnwesen in Bul-
garien auch militärisch-strategische Bedeutung beigemessen wurde, zeigt
ein Vermerk im Exemplar der „Library of Congress“ in Washington:
„This volume as Property of the Library of Congress Washington, is lent to
the Department of State for Use at the Peace Conference”.1
1 Library of Congress Washington/Class HE 3235, Book: D 3.
112
Bei späterer Gelegenheit, nämlich anlässlich des 50jährigen Jubiläums des
bulgarischen Staates im Jahre 1928 hatte Jordan Dan²ov angeführt, dass
während des Ersten Weltkrieges die Leitung des bulgarischen Eisenbahn-
wesens in den Händen des bulgarischen Generalstabes lag (Dantschoff
1928). Dieser war bestrebt, die Versorgung der bulgarischen Armee mit
Munition, Lebensmitteln u. a. unbedingt notwendigem Material herzu-
stellen. So baute die bulgarische Heeresleitung sogar während des Krieges
noch weitere Eisenbahnlinien aus, die 1919 zum staatlichen Eisenbahnnetz
hinzukamen. Der Friede von Neuilly hatte für Bulgarien ein unvollendetes
und zerrissenes Eisenbahnnetz zur Folge. So wurde die weitere Förderung
des bulgarischen Bahnnetzes nach dem Ersten Weltkrieg eine der wich-
tigsten Aufgaben, die jedoch durch die schlechte Finanzlage des Landes
und die zerstörte Volkswirtschaft stark behindert wurde. Zusammen-
fassend führt Dan²ov in seinem Jubiläumsbeitrag aus:
„Allgemein betrachtet hat sich seit 1919 die Lage der Eisenbahnen, soweit Ver-
kehr und Einnahmen in Frage kommen, gebessert, und zwar fast gleichmäßig
so bis einschließlich 1924, in dem der Personenverkehr, nach Personenkilo-
metern gerechnet, sich gegen das Jahr 1911 – das günstigste vor dem Kriege –
um das 2,45fache und der Güterverkehr um das 2,03fache vermehrt hat…
Man braucht nicht erst auf die große Bedeutung hinzuweisen, welche das
Eisenbahnnetz für die Entwicklung der Volkswirtschaft gehabt hat und
noch hat, und welche Rolle es im wirtschaftlichen Ausbau Bulgariens noch
spielen wird. Das sind Wahrheiten, die jeder kennt und die keines beson-
deren Beweises bedürfen“ (Dantschoff 1928, 329).
„Das Innere unserer Erde ist die Urquelle sämtlicher Güter der Menschheit.
Schön und reich ist unser Land! Neben den prächtigen Wäldern und Bergen,
fruchtbaren Feldern und Tälern, verbirgt unser Land in seinem Erdinnern
große und reiche Mineralschätze“,
schreibt Bogomil Radoslavov in einer vom Königlichen Bulgarischen
Ministerium für Handel, Gewerbe und Arbeit anlässlich der Tausendjahr-
feier des Zaren Simeon des Großen und der Fünfzigjahrfeier der Befreiung
Bulgariens im Jahre 1931 auf Deutsch abgefassten Darstellung über das
Bergwesen Bulgariens unter besonderer Berücksichtigung der Steinbrüche
und Mineralquellen (Radoslavov 1931).2
2 Vgl. dort das am 12. Juli 1931 in Sofia von Prof. Dr. Carl Kassner verfasste kurze Vor-
wort:
„Trotz seines geringen Umfanges bringt das vorliegende Buch in knapper, klarer Dar-
stellung eine außerordentliche Fülle von Belehrung über die reichen bulgarischen
113
Als Band 7 der „Bulgarischen Bibliothek“ veröffentlichte Gustav Weigand
bereits im Jahre 1919 diese Darstellung mit dem Titel Der Bergbau in Bul-
garien, verfasst von Radoslavov, späterem Diplom-Bergingenieur und Di-
plom-Ingenieur Markscheider, zugleich Chef der Bergwerksabteilung beim
Königlichen Bulgarischen Handelsministerium. Die Übersetzung des Wer-
kes aus dem Bulgarischen ins Deutsche war von Gustav Weigand durch-
geführt worden (Radoslavov 1919). Am 10. November 1918 schrieb Gustav
Weigand das folgende Vorwort zu diesem Band seiner „Bulgarischen
Bibliothek“:
„Dank dem Umstande, dass ich in meiner Jugend als eifriger Sammler von
Stufen viel in Bergwerken umher gekommen bin und dadurch mit den techni-
schen Ausdrücken des Bergbaues vertraut wurde, sah ich mich in der glück-
lichen Lage, die vorliegende Arbeit des Herrn Dr. Radoslavov über den bul-
garischen Bergbau ins Deutsche übersetzen zu können, ohne die Hilfe eines
Fachmannes in Anspruch zu nehmen. Ja nicht einmal war es möglich, dem Ver-
fasser die Übersetzung zur Durchsicht vorzulegen, da wir durch die Zeitver-
hältnisse gänzlich von Bulgarien abgeschlossen sind. Aus demselben Grunde
erklärt es sich auch, dass die Mineralquellen, die der Verfasser noch bearbei-
ten wollte, nicht mit aufgenommen sind. Dadurch ist der Umfang des Werkes
kleiner als gewöhnlich, aber dennoch sehr inhaltsreich und belehrend und
wird, wie wir hoffen, allen interessierten Kreisen sehr zustatten kommen, wes-
halb wir auch glaubten, trotz der Ungunst der Verhältnisse mit der Heraus-
gabe des Werkes nicht zögern zu sollen.“
Das Werk gliedert sich in drei Abschnitte, nämlich
I.: Der geologische Bau Bulgariens,
II.: Geschichte des alten Bergbaus in Bulgarien und
III.: Die Jüngstvergangenheit und die jetzige Lage des Bergbaus in Bulgarien.
Im ersten Teil werden das archäische Gebiet, Silur, Steinkohle, Dyas-Trias-
Formation, Trias, Kreide, Tertiärformation, Siluvium und Alluvium be-
handelt. Im zweiten Teil wird eine Geschichte des alten Bergbaus in Bul-
garien, beginnend mit den Römern, dann mit den Sachsen, alten Erzgruben
Bodenschätze. Hierzu kommt der besondere Vorzug, dass der Verfasser selbst seit
vielen Jahren an leitender Stelle mitwirkt und somit die zuverlässigsten Angaben zur
Hand hat. Ausführliche Tabellen ergänzen den Text ebenso vortrefflich, wie ihn die
Profile und Diagramme übersichtlich erläutern. Überall zeigt der Verfasser, wie großes
schon geleistet wurde und was noch ausbaufähig ist. Dabei geht er auch an vorhan-
denen Mängeln nicht stillschweigend vorüber, und gerade hierdurch erweckt der
Verfasser Vertrauen zu seinen Ausführungen. Solches Vertrauen aber ist das beste
Lob eines Buches.“
114
und der Epoche der Türkenzeit geboten. Der dritte Teil mit der jüngsten
Vergangenheit und der Anfang des 20. Jahrhunderts aktuellen Situation
bringt eine Darstellung der Schurfsteine, der Mutungen sowie ein Ver-
zeichnis der damals in Betrieb befindlichen Gruben und zwar für Braun-
kohle, Steinkohle, Anthrazitkohle, bituminöse Schiefer, Naphtha, Kupfer-
erze, Bleierze, Zinkerze, Eisenerze, Manganerze, Silbererze, Silber-Bleierze,
Kupfer-Bleierze, Blei- und Zink-Kupfererze, Zinkbleierze und Talk.
Radoslavov weist einleitend darauf hin, dass der geologische Aufbau
Bulgariens äußerst mannigfaltig sei. In Bulgarien trifft man Schichten und
Ablagerungen des größten Teils aller vorkommenden Formationen, von
den ältesten bis zu den jüngsten, unabhängig davon gibt es in Bulgarien
kleine und große Massive alter und junger vulkanischer Gesteine, die
zusammen mit den sehr verschiedenen Sedimentärgesteinen dem ganzen
Gebiet einen überaus vielgestaltigen und interessanten petrographischen
Charakter geben. Nach Darstellung von Radoslavov ist auch der tek-
tonische Aufbau Bulgariens nicht weniger interessant. Es gibt alle Arten
von Faltungen, Brüchen, Überschiebungen, Verschiebungen usw., die man
verfolgen kann und zwar sowohl bei großen Schluchten, wie auch bei
großen verschobenen Schichten, nicht selten sind auch zufällige Vorkomm-
nisse, durch die auf ziemlich große Strecken hin die Lagerungen sichtbar
werden (Radoslavov 1919, 1).
Bogomil Minkov Radoslavov wurde am 4. Juli 1881 in T©rnovo geboren,
studierte bis 1904 Bergbau in Freiberg/Sachsen und war dann 1904 bis 1908
erster Direktor des Bergbaugebietes von Pernik. Die Leitung dieses Unter-
nehmens hatte er nach dem Ersten Weltkrieg nochmals in den Jahren 1923
bis 1925 inne. 1908 bis 1919 war er Inspekteur und Leiter der Bergbau-
abteilung im Bulgarischen Ministerium für Handel, Industrie und Arbeit.
Radoslavov förderte die Mechanisierung der Kohleförderung in den An-
lagen von Pernik und war auch mit der Grube „Marica“ offiziell befasst. Er
starb am 12. Januar 1933 in Sofia.
In zwei im Jahre 1928 erschienenen Veröffentlichungen befasste sich
Radoslavov mit den Einflüssen der Erderschütterungen im Frühjahr 1928
auf die Mineralquellen und Thermen in Bulgarien (Radoslavov 1928a), der
bulgarische Reichtum an Mineralien war Thema einer weiteren Veröffent-
lichung (Radoslavov 1928b).
In seinem 1931 erschienenen Werk führte Radoslavov aus, dass die
Natur sehr großzügig mit Bulgarien verfahren sei, diese Großzügigkeit
würde durch die Mannigfaltigkeit des Bodens in geologischer und petro-
graphischer Beziehung erklärlich, ebenso auch durch die Verschiedenartig-
keit einer komplizierten Dynamik und Tektonik. In der Tat sei der Boden
Bulgariens in geologischer Beziehung sehr mannigfaltig. Es finden sich Ab-
115
lagerungen fast sämtlicher Formationen und von diesen wiederum viele
ihrer Stufen und Unterstufen. Nicht weniger abwechslungsreich zeigt sich
der Boden Bulgariens in petrographischer Hinsicht, wo neben ausgedehn-
ten Sedimentärablagerungen verschiedenste Eruptiv- und Tiefengesteine
jüngeren und höheren Alters zu finden sind. Auch in dynamischer und
tektonischer Hinsicht sei der Boden Bulgariens im Verlaufe verschiedener
Zeitalter von größeren und kleineren Faltungen, Verwerfungen, Verschie-
bungen und Überschiebungen gekennzeichnet. Besonders stark dürften
nach Auffassung Radoslavovs diese Veränderungen in der Mitte und am
Ende des Tertiärzeitalters gewesen zu sein, als sich nämlich das Balkan-
gebirge, die Sredna Gora, die Rhodopen und andere bulgarische Gebirgs-
züge entwickelt hatten. Wichtig erschien Radoslavov die Tatsache, dass
diese Prozesse noch bis vor kurzem angehalten hatten, in manchen Gegen-
den Bulgariens noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts (Radoslavov
1931, 5).
Über die Geschichte des Bergbaus in Bulgarien, insbesondere in der Zeit
der Türkenherrschaft, liegen nur sehr wenige Informationen vor. Einiges
wenige berichtet 1652 der türkische Reisende und Forscher Ewlia Tsche-
lebi. In neuerer Zeit besuchten mehrere Wissenschaftler Bulgarien, sei es
auf Einladung der türkischen Regierung oder auf Anregung der Wiener
Akademie der Wissenschaften hin, so Franz Toula, Amie Boué, Hoch-
stätter, Felix Kanitz. Ihre Forschungsergebnisse hielten sie in den Jahr-
büchern der Wiener Akademie der Wissenschaften oder auch in Einzel-
veröffentlichungen fest. Zur Zeit der Befreiungskriege 1876 bis 1878 war
der Bergbau in Bulgarien aus verständlichen Gründen noch in einem sehr
primitiven Stadium. Mit Ausnahme einer sehr eingeschränkten Eisen-
gewinnung gab es fast nichts, was als Bergbau beschrieben werden konnte.
Auch nach der Befreiung war das Interesse am Bergbau zunächst nur sehr
schwach ausgeprägt. Erst als ausgebildete Bergleute auftauchten, wurden
sie von den Bulgaren als „imanjari“, nämlich „Schatzsucher“ bezeichnet.
Nach der Befreiung Bulgariens gab es für die Führung der Bergwerke,
Steinbrüche und Mineralquellen auch keine eigenen Verwaltungen. Diese
wurde erst mit der Gründung der Bergwerksabteilung im Jahre 1890 ein-
gerichtet, die im Jahre 1912 dem neuen Ministerium für Handel, Gewerbe
und Arbeit zugeordnet wurde. Im Jahre 1931 gab es bei dieser Abteilung
dann auch eine Sektion für Bergwerke und Steinbrüche, eine weitere
Sektion für Mineralwässer, Bäder und Kurorte, eine Sektion für geo-
logische, montanistische und geophysische Forschungen, eine metallur-
gische, hüttenmännische und Aufbereitungssektion, eine Markscheider-
sektion und schließlich auch noch eine Bausektion.
116
Was den Bergbau in Bulgarien in neuerer Zeit betrifft, so war aus wirt-
schaftlicher Sicht die Eröffnung des Kohlewerks „Pernik“ im Jahre 1891
von größter Bedeutung. Den größten Abnehmer der Braunkohle stellten
nämlich die bulgarischen Staatseisenbahnen dar. Lange Jahre galt es als
sicher, dass gerade die Braunkohle aus Pernik für den Eisenbahnbetrieb
besonders geeignet war. In der ersten Zeit nach der Befreiung Bulgariens
hatte man ausländische Kohle, insbesondere aus England, Deutschland
und der Türkei für die Eisenbahnen eingeführt. Nach dem Ersten Welt-
krieg konnte die bulgarische Eisenbahn aber auf die Braunkohle von Per-
nik zurückgreifen, zu der dann noch andere staatliche und auch private
Kohlegruben kamen. Radoslavov erwähnt weiter, dass die Kohleberg-
werke in Pernik ausschließlich aufgrund inländischer, bulgarischer Mittel
begründet und entwickelt wurden und betont dabei die wirtschaftliche
und auch kulturelle Rolle, die sie für das Land gespielt haben. Sie haben
am meisten die Entwicklung der bulgarischen Industrie und auch das
Eisenbahnwesen gefördert. Auch vom militärischen Standpunkt aus kam
den Kohlebergwerken von Pernik eine sehr große Bedeutung zu. So haben
in der Zeit des Balkankrieges 1912/13 und auch im Ersten Weltkrieg, als
Bulgarien von allen Seiten isoliert war und keine ausländische Kohle ein-
geführt werden konnte, die Bergwerke von Pernik mit ihrer, wenn auch
damals noch ungenügenden, Kohleförderung den allernotwendigsten Be-
darf an Steinkohle decken können und spielten damit aus bulgarischer
Sicht eine wichtige militärische Rolle. Die Grube „Pernik“ war übrigens
auch das erste technische Unternehmen in Bulgarien, das mit elektrischer
Beleuchtung ausgestattet wurde.
An staatlichen Gruben in Bulgarien sind für die Jahre 1879 bis 1884 zu
nennen die Grube „Mošino“ und für die Jahre 1891 bis 1925 die Grube
„Pernik“, die mit dem 1. April 1925 aufgrund eines besonderen Gesetzes
autonom verwaltet wurde. Zu nennen ist ferner die Grube „Bobovdol“ für
die Jahre 1890 bis 1928, die Grube „Marica“ für die Zeit von 1917 bis 1931
sowie die Grube „Belnovr©ch“ für die Jahre 1892 bis 1898 bzw. 1915 bis
1919. Die Ausgaben für das Personal und für die in Anwendung gebrach-
ten Materialien waren in den Jahren von 1891 bis 1930 stetig gestiegen,
lediglich seit dem Jahre 1925/26 waren durch die Selbstständigkeit des
Kohlebergwerks „Pernik“ die Beträge für Personal und Materialien zu-
rückgegangen.
Zu erwähnen ist auch die Tatsache, dass in Bulgarien kaum technisches
Personal für den Bergbau zur Verfügung stand, so dass eine größere Zahl
von ausländischen Fachkräften nach Bulgarien geholt werden musste. Erst
in den dreißiger Jahren waren von den 69 aktiven Bergingenieuren 59
bulgarischer Herkunft, zehn waren russische Staatsangehörige. Von diesen
117
Bergingenieuren hatten 32 ihre Ausbildung in Deutschland erhalten und
zwar 19 in Freiberg in Sachsen, neun in Berlin und vier in Aachen. 15 bul-
garische Bergingenieure hatten ihre Ausbildung in Leoben/Österreich er-
halten, drei in Belgien, einer in der Tschechoslowakei, sechs in Russland,
einer in Polen und ein weiterer in den USA.
Die ersten Pioniere des bulgarischen Bergwesens nach der Befreiung
waren Professor G. Zlatarski, Professor L. Vankov sowie die Berginge-
nieure Jordanov, Chr. Andrej²ev, St. Karavelov, T. Cankov, T. Michaj-
lovski, Iv. Simeonov, S. Toškov, G. Ivanov, K. Bojadžiev, T. Theodorov und
noch manch andere.
Zu erwähnen ist hier auch die Tatsache, dass nach der Gründung der
bulgarischen Bergwerksabteilung eine entsprechende Berggesetzgebung
ausgearbeitet wurde, die von der Nationalversammlung bereits im Jahre
1891 angenommen wurde. Erst im Jahre 1910 trat ein neues Gesetz in Kraft,
wobei nunmehr die Nutzung aller Bodenschätze dem Staat vorbehalten
wurde.
Der Abbau der Bodenschätze konnte in den verschiedenen Regierungs-
bezirken Bulgariens als Bergwerkskonzession weitergegeben werden. In
Bulgarien ging es bis 1930 nach den Feststellungen Radoslavovs um die
folgenden Mineralsubstanzen, wobei an erster Stelle die Kohleförderung
stand, gefolgt von Kupfer-, Eisen- und Manganerzen, auch Gold und Silber
wurden gefördert, Aluminium, Steinsalz und eine Salzquelle in Varna
werden von ihm genannt. Zu erwähnen sind schließlich noch die zahl-
reichen Mineralquellen Bulgariens. Nach den Feststellungen Radoslavovs
gibt es in Europa kein anderes Land, das auf einer verhältnismäßig
geringen Fläche so viele Mineralquellen verschiedener Temperatur,
Mineralgehalte, Radioaktivität und Heilkraft besitzt. Bereits die Römer
hatten die bulgarischen Heilquellen genutzt, worüber eine ganze Reihe von
Ruinen römischer Bäder und Quellenfassungen, so z. B. in Sofia Zeugnis
ablegt.
Mit diesen Ausführungen konnten nur einige wenige Aspekte des
Bergbaus in Bulgarien behandelt werden. Ganz offensichtlich wurde mit
dem systematischen, technisch und wissenschaftlich ausgerichteten Berg-
bau erst nach der Befreiung Bulgariens begonnen. Eine nicht geringe Rolle
spielten dabei die technisch-wissenschaftlichen Beziehungen zu anderen
europäischen Ländern, wobei Deutschland mit seinen damaligen wissen-
schaftlichen Einrichtungen wohl an erster Stelle zu stehen kommt.
118
Literatur
Dantschoff 1917
J. Dantschoff, Das Eisenbahnwesen in Bulgarien. Bulgarische Bibliothek 3 (Leip-
zig 1917).
Dantschoff 1928
J. Dantschoff, Das Eisenbahnwesen. In: I. Parlapanoff (Hrsg.), Jubileen Almanach
Carstvo B©lgarija/Jubiläums-Almanach für das Königreich Bulgarien (Leipzig/
Sofia 1928) 327–329.
Iširkov 1916
A. Iširkov, Bulgarien. Land und Leute 1. Allgemeines, Paläogeographie, Ober-
flächengestaltung, Klima, Pflanzenleben, Tierwelt. Bulgarische Bibliothek 1 (Leip-
zig 1916).
Kosev 1973
K. Kosev, Gustav Weigand (1860-1930) und die Bulgaren. Études historiques 6,
1973, 175–187.
Radoslavov 1919
B. Radoslavov, Der Bergbau in Bulgarien. Bulgarische Bibliothek 7 (Leipzig 1919).
Radoslavov 1928a
B. Radoslavov, Influence des tremblements de terre survenues au printemps de
l’année 1928. Sur les sources minerals et thermals en Bulgarie (Sofia 1928).
Radoslavov 1928b
B. Radoslavov, Mineral wealth of Bulgaria (Sofia 1928).
Radoslavov 1931
B. M. Radoslavov, Das Bergwesen Bulgariens unter besonderer Berücksichtigung
der Steinbrüche und Mineralquellen (Sofia 1931).
Stadtmüller 1962
G. Stadtmüller, Dr. Gustav Weigand. In: 200 Jahre Paisij 1762–1962 (1962).
119
Horst Röhling
Von Außenzentren zu Eigenzentren und
inländischen Interessen der Abonnenten mathematisch-
naturwissenschaftlicher Bücher in Bulgarien 1833-1875
Hildegard Schroeder (1914-1978) in dankbarer Erinnerung
Mehrfach hat der Verfasser bereits auf die hervorragenden Leistungen der
bulgarischen Lexikographie aufmerksam gemacht. Ein Speziallexikon zur
Erhellung und Verstehensmöglichkeit der bulgarischen Wiedergeburt1 ge-
hört dazu. Es erlaubt tiefes Verstehen von Leben, Leiden, Streben und Wir-
ken des bulgarischen Volkes im 19. Jahrhundert. Es zeigt an persönlichen
Schicksalen, wie Herkunft, Krankheit, Vermögensverhältnissen, Stipendien,
Studien, Verhaftung, Gefängnis, Todesstrafen, Unsicherheiten, auch feh-
lende Lebensdaten, national wie konfessionell wechselhafte Lebensläufe,
internationale Verbindungen und breite Lebenswirklichkeit. Für Fragen
der Bildung, Studien und Wissenschaft ist dabei das Zusammenspiel von
Außenzentren und Inland2 von besonderer Bedeutung. Dass dabei auch die
Frauenbildung bemerkenswert und erstaunlich bedeutsam ist3, verdient
hervorgehoben zu werden. Wissenschaftsgeschichtlich von grundlegender
Bedeutung ist der sich verbreitende Anteil von Bulgaren am wissen-
schaftlichen Leben unter dem Einfluss des Positivismus, der sich auch die
Geisteswissenschaften um naturwissenschaftliche Exaktheit bemühen ließ.
Der Verfasser hat versucht, bulgarische Auslandsdissertationen unter
besonderer Berücksichtigung Deutschlands und deutschsprachiger Länder
zu analysieren.4 Für die Gesamtheit bulgarischer Wissenschaftsbemühun-
gen ist das aber nur die Spitze eines Eisberges. Mit Hilfe des soeben ge-
nannten Lexikons, das alle Studiengänge ohne fachliche Begrenzung und
sogar auch ohne Abschluss erfasst, lässt sich nicht nur die Herausbildung
einer bulgarischen Akademikerschaft präzisieren, sondern auch in die Tiefe
wissenschaftlicher Interessen und ihrer Förderung eindringen. Dabei ist
1 Bâlgarskata v©zroždenska inteligencija. Sofija 1988
2 E.Turczynski: Konfession und Nation. Düsseldorf 1976. S.185, 214, 247 und 257f.
3 J.Deimel: Bewegte Zeiten. Frauen in Bulgarien gestern und heute. München 1998.
4 In: Publikationsformen als verbindendes Element buch- und einzelwissenschaftlicher
Forschung an slavischen Beispielen. Frankfurt a.M. u.a. 1992. S.163ff.
120
die Entwicklung naturwissenschaftlicher Bemühungen zweifellos ein wich-
tiges Eigenkapitel. Zur Tiefe und Breite entsprechender Studien gehört,
noch spezieller und entsprechend schwer zu erfassen, das Vorhandensein
von naturwissenschaftlichen Interessen. Dies zu verdeutlichen kann ein
Aspekt der Buchwissenschaft, den das Lexikon höchst dankens- und
schätzenswerter Weise berücksichtigt, helfen. Es handelt sich um die Er-
wähnung der Abonnenten5 für bulgarische Bücher jeglicher Art. Die damit
gegebene Förderung des bulgarischen Buchdrucks ist von hoher Bedeu-
tung für die bulgarische Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte.
Der vorstehende Aufsatz widmet sich den Abonnenten mathematisch-
naturwissenschaftlicher Bücher. Sie verraten einerseits das bulgarische
Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften, andererseits sind sie
ein buchgeschichtlicher Aspekt ihrer Förderung und damit ein Hinweis auf
wissenschafts- und geistesgeschichtliche Spezifika. Eine erste entsprechende
Analyse gilt zunächst den bulgarischen Drucken der Zeit zwischen 1833
und 1875, unter denen Mathematik und Physik besonders berücksichtigt
sind.
I
Hinter 162 Abonnenten naturwissenschaftlich relevanter Veröffentlichun-
gen stehen geringfügig mehr Abonnements, weil es einige Abonnenten
gibt, die zwei Abonnements eingegangen sind. Allerdings begegnet auch
selten die Angabe „abonnierte viele Bücher“ ohne Nennung der Titel. Ein
Überblick über die durch Abonnements geförderten Drucke ist thematisch
wie zeitlich interessant und aufschlussreich. In zeitlicher Reihenfolge ergibt
sich dabei folgendes Bild:
Aritmetika 1833 (35 Abonnenten)
Aritmeti²esko rukovodstvo 1835 (12 Abonnenten)
Stichijnaja aritmetika 1843 (26 Abonnenten)
Bolgarska aritmetika 1845 (1 Abonnement)
Izvod ot fizika 1849 (33 Abonnenten)
Sredstva za predvarane za zaravanie na minimumrelite 1858 (25 Abonnenten)
Opitna ²islenica 1857 (9 Abonnenten)
Kratka estestvena istorija 1861 (5 Abonnenten)
P©lna matematika i fizi²eska geografija 1865 (3 Abonnenten)
Sobranie aritmeti²eski zadatâci 1869 (2 Abonnenten)
5 Zur Bedeutung von Abonnenten, Praenumeranten und Subskription im Verlags- und
Buchhandelswesen. 2.LBG 2.Aufl., I,10: VI, 81, VII, 298 f.
121
Geometrija pravolinejna 1873 (2 Abonnenten)
Fizi²eska geografija 1873 (2 Abonnenten)
Kosmografija 1873 (1 Abonnent)
R©kovodstvo k©m fizika 1874 (2 Abonnenten)
Selskijat lekar 1875 (1 Abonnent)
Thematisch zeigt der Überblick ein durchgängiges Interesse an Mathe-
matik/Arithmetik. Die Medizin, die im Gesamt des bulgarischen Interesses
auf dem Studiensektor einen hervorragenden Platz einnimmt, ist wenig,
aber sowohl bulgarisch-spezifisch mit dem „Dorfarzt“ und im internatio-
nalen Zusammenhang mit dem „Scheintod“6, einem heute in der Medizin
nicht mehr gebräuchlichem Begriff, vertreten. Das Schwanken der Abonne-
mentszahlen erklärt sich zum Teil aus der zeitlich dichten Folge ein-
schlägiger Veröffentlichungen, wie z.B. Arithmetik 1833 und 1835, die
dann 1843 wieder steigt, 1865 drastisch zurückgeht. Hoch ist die Abonne-
mentszahl am Anfang, wie auch der Auszug aus der Physik zeigt. Schließ-
lich dürften auch die finanziellen Möglichkeiten der Abonnenten eine Rolle
spielen. Das Ausgreifen in die physikalische Geographie, aber auch die
Beachtung von Naturgeschichte und Kosmographie verdienen Beachtung.
Zweifellos ragt das mathematisch-physikalische Interesse von 72,2% aller
Abonnenten heraus. Aufschlussreiche Ergebnisse bietet der Blick auf alle
Abonnenten, die jetzt in der Abfolge der Drucke vorgenommen wird.
II
Bereits die „Arithmetik“ von 1833 zeigt in ihren Abonnenten ein ein-
drucksvolles Bild von den Trägern bulgarischer Bildungsbemühungen im
19.Jahrhundert. Neben einem Lehrer taucht ein zweiter Lehrer in einer
Metohie auf, der 1834 Archimandrit und später Igumen wurde. Zwei wei-
tere Archimandriten schließen sich an. Alle übrigen Abonnenten sind Pfar-
rer, 31 an der Zahl. Zwei von ihnen abonnierten außer der „Arithmetik“
von 1833 auch das Arithmetik-Handbuch von 1835 bzw. die Elementar-
arithmetik von 1843. Die Schwierigkeit, genaue Daten für ein Lexikon der
Wiedergeburtszeit zu sammeln, zeigt sich darin, dass genaue Lebensdaten
von allen 35 Abonnenten fehlen. Wesentlich besser sieht es mit Angaben zu
den Orten ihrer Tätigkeit aus, sodass eine Art bulgarischer „Bildungs-
6 Einen heiter.makabren literarischen Reflex findet man bei Werner Bergengruen: Der
Tod von Reval. 1965. – Zur Medizin des gesamten Raums jetzt: Theodor Daniela
Sechel (Hrsg.): Medicine within and between the Habsburg and Ottoman Empires
18th-19th centuries. Bochum 2011.
122
geographie“ der Wiedergeburtszeit möglich wird. Es begegnen Gabrovo 6
Mal, das Gebiet von Elena 6 Mal (Zlatarica 2, Bebrovo 2 Mal), Drjanovo 4,
das Gebiet von Târnovo 4 (Kapinovo 1, Kadi +iflik 2, Debelec 1), Svištov 3,
Samokov 3, Pleven 2, Trjavna 2, je einmal Kazanl©k, Kovanl©k, das heute
zu Rumänien gehörende Braila und einmal fehlt eine Angabe. Bei sehr
eindeutigem Ergebnis der Berufe der Abonnenten zeigt sich in der geo-
graphischen Breite ihrer Tätigkeit eine Schwerpunktbildung mit Gabrovo,
Elena, Drjanovo und Târnovo, die 20 von 35 Abonnenten betreffen, also
57,1%. Der Verfasser der „Arithmetik“ hatte theologisch-klösterlichen
Bildungshintergrund, war Mönch und Lehrer. Er gründete auch eine
Schule mit Bedeutung für ganz Bulgarien7. Christaki/Christo/Chrisant lebte
von 1804 bis 1848. Die „Arithmetik“ wurde in Serbien (Belgrad) gedruckt,
in gewisser Weise ein Hinweis auf Außenzentren. Die gleichen Fragen sind
nun an die Abonnenten der weiteren Drucke zu richten, bevor am Ende
eine Zusammenfassung erfolgt.
III
Das bereits zwei Jahre nach der „Arithmetik“ erschienene „Arithmetische
Handbuch“ des Jahres 1835 bringt es auf 12 Abonnenten, darunter einen,
der bereits oben mit einem Abonnement für die „Arithmetik“ von 1833
erwähnt wurde. Das „Handbuch“ 1835 wurde ebenfalls in Serbien ge-
druckt. Sein Autor ist ein Großer der bulgarischen Wiedergeburtszeit,
Neofit Chilendarski-Bozveli (ca.1785-1848)8, der nun wieder ganz dem
kirchlich-klösterlichen Leben zuzuordnen ist. Unter den Abonnenten des
Handbuches sind 8 geistliche, 3 Igumene und ein Archimandrit. Partiell
vergleichbar mit den entsprechenden Angaben bei der „Arithmetik“ sind
die geographischen Bezüge beim „Handbuch“ mit vier Mal Svištov, 3 Mal
T©rnovo (darunter einmal mit Fragezeichen), je einmal Pleven, Trojan,
Stara Zagora, Karlovo und Sopot (mit Fragezeichen). In allen zwölf Fällen
sind die Lebensdaten unbekannt.
IV
Zwischen dem Erscheinen des „Handbuchs“ 1835 und der in Smirna
gedruckten „Elementarmathematik“ von 1843 liegen immerhin acht Jahre.
Das bewirkt wohl auch den Anstieg der Abonnenten auf 26, die das Buch
7 B©lgarska v©zroždenska inteligencija. S.448f.
8 Ebda. 461f.
123
des griechischen Autors At. Geraki, übersetzt von dem Diakon und Lehrer
Radulov, Sava (ca.1817-1887) durch ein Abonnement förderten. Die beruf-
lichen Tätigkeiten der Abonnenten zeigen im Prinzip das Bild, das bereits
gewonnen wurde, es ist aber eine leichte Differenzierung zu bobachten.
Neben die dominierende Position der Pfarrer mit 19 Abonnenten tauchen
die Lehrer mit 5, darunter ein „Zellenlehrer“ auf und zwei Mal erscheint
die Berufsangabe Pfarrer und Lehrer. Eine weitere Differenzierung ist bei
den Orten zu beobachten, an denen die Abonnenten wirkten. Bei zwei von
ihnen fehlen die entsprechenden Angaben. An der Spitze steht Panag-
jurište und sein Gebiet (Strelca) mit 5 Nennungen, gefolgt von Karlovo (3),
Vraca bzw. sein Gebiet (Vlasotnica) mit zwei, Samokov zwei, Klisura zwei,
Kostenec zwei und je einer Nennung von Pleven (der Abonnent wirkte
auch in Vraca und ist dort schon mit erwähnt), Rilakloster, Trojankloster,
Koprivštica, Svištov, Ljaskowec, T©rnovo, dem Gebiet von Pazardžik
(Patilenica) und Elenea (Zlatarica). Mit der Ausnahme von Nenov, Nestor
(1796-1876) fehlen alle anderen Lebensdaten.
V
Die geographische Verbreitung ist als Verbreitung von Interessen und
Bildung zu sehen, weil die Abonnenten durchweg als Multiplikatoren zu
bezeichnen sind. Das gilt auch, wenn zu beobachten ist, dass sich für die
nur zwei Jahre später erschienene bulgarische Arithmetik nur ein Abonne-
ment nachweisen lässt. Wie oben bereits beobachtet, geht die Zahl der
Abonnenten zurück, wenn zu wenig zeitlicher Zwischenraum zwischen
den Publikationen besteht. Die „bulgarische Arithmetik“ wurde in Buka-
rest von Kostovi² Si²an-Nikolov, Christodul (1808-1889)9, einem Mit-
arbeiter von Neofit Rilski10 und späteren Mitarbeiter eines protestantischen
Verlags in Istanbul verfasst. Ihr Abonnent war in den 40er Jahren des
19. Jahrhunderts Pfarrer und Klosterverwalter (Ikonom) in Galac. Seine
Lebensdaten sind genauso wenig bekannt wie die der Abonnenten für die
unter IV behandelte „Elementararithmetik“, von denen nur Nenov, Nestor
(1796-1876) eine Ausnahme ist. Sehr wichtig aber ist das Auftauchen von
Bukarest11 im Zusammenhang mit dem naturwissenschaftlichen Buch-
druck, weil Bukarest als Studienort für eine heranwachsende bulgarische
Akademikerschicht eine große Bedeutung hat.
9 Ebda., 359f.
10 Ebda., 459f.
11 E. Sjupjur: B©lgarskata emigrantska inteligencija v Rum©nija prez XIX vek. Sofija 1972.
124
VI
Mit Najden Gerovs (1823-1900)12 in Belgrad 1849 erschienenem „Auszug
aus der Physik“ kommt außer einem Großen der bulgarischen Bildungs-
bemühungen im 19.Jahrhundert ein neues mathematisch-naturwissen-
schaftliches Fach in den Blick. Dieses erklärt hinlänglich den Anstieg auf 33
Absolventen. Die wechselnden Erscheinungsorte Belgrad, Bukarest, Istan-
bul weisen auf das Phänomen der Außenzentren der bulgarischen Kultur-
und Wirtschaftsentwicklung im 19.Jahrhundert, aber die Abonnenten auch
auf das Zusammenspiel zwischen Außenzentren und Inland. Die Abon-
nenten teilen sich in zwei Gruppen, wie bereits bekannt. 28 Pfarrern stehen
fünf Lehrer zur Seite. Unter den Lehrern befindet sich ein Zellenlehrer.
Unter den Pfarrern wiederum begegnet ein Dorfpfarrer und ein Pfarrer,
der zwischen 1873 und 1875 Bischofsverweser war. Mit Ausnahme von
D.S.Malinkov (1815-1878)13 und Nestor Nenov (1796-1876)14 fehlen bei allen
Abonnenten die genauen Lebensdaten. Bemerkenswert ist eine breitere
Differenzierung der Wirkungsorte der Abonnenten. Hier zeigen sich mit
Koprivštica (7), Pirot (5) und Orten, die heute in Serbien liegen (4) Schwer-
punkte. Mit je zwei Abonnenten in Sopot und Pazardžik, und je einmal
Dupnica, Tuiden, Panagjurište, Carobrod, +irpna, Chas`koj (Dobrotica/
Sikistra); Dobri Dol (Kjustendil), Prokuple, Chaskovo, Belovo (Pazardžik),
Gradišnica (Vraca), Osmakovo, Kalofer aber ist eine breite geographische
Streuung angedeutet, die die Abonnenten, die man auch als Multiplika-
toren begreifen kann, erreichen und damit die Verbreitung naturwissen-
schaftlichen Interesses und ihrer Kenntnisse.
VII
Ein bemerkenswertes Interesse verraten 25 Abonnenten für ein Thema, das
in die Medizin führt, in der es heute nicht mehr unter diesem Namen
bekannt ist: Der Scheintod. Ein literarischer Reflex des Interesses, das es
einmal genoss, kann bei Bergengrün nachgelesen werden15. Mit Russland
kommt dabei ein für die bulgarische Bildungs- und Wissenschafts-
geschichte außerordentlich wichtiges Außenzentrum in den Blick, mit dem
Erscheinungsort Istanbul ein schon bekannter Bezug. Aus dem Russischen
12 B©lgarska v©zroždenska inteligencija. S.154 f.
13 Ebda., 389
14 Ebda., 457
15 Siehe Anm.6
125
übersetzte es Zacharaij Knjažeski (=Žeko Petrov Rusev 1810-1877)16. In die
Phalanx der Abonnenten von Pfarrern (14) und Lehrern (10), darunter eine
Lehrerin und ein Lehrer für Griechisch und Türkisch, bricht, vom Thema
her erklärlich, ein Apotheker als Abonnent ein. Man kann damit nicht von
einer beruflichen Differenzierung sprechen, wohl aber fällt der größere
Anteil der Lehrer auf. Erneut weisen die geographischen Bezüge auf
Schwerpunkte und wachsende Verbreitung. Haskovo und Kazanl©k sind je
vier Mal vertreten, wobei das Gebiet von Kazanlâk mit fünf Mal M©gliž
und ein Mal Dolno Sachrane eine auffällige Verstärkung erfährt, hinter der
wohl auch persönliche Beziehungen stehen. +irpan und Kara Terzilevo in
seinem Umfeld tauchen je zwei Mal auf. Zu den acht Orten mit je einem
Abonnenten gehören Žeravna, Love², Gabrovo, Kilifarevo, Šumen, Kanlij
und Arabadžievo im Gebiet von Stara Zagora, Charmandi (Panagjuriste
und, hervorzuheben, Kubanka in Bessarabien). Bei allen Abonnenten feh-
len die genauen Lebensdaten, eine Ausnahme bietet ein Todesjahr 1868.
VIII
Mit der sechs Jahre vorher erschienenen „Opisna ²islennica“ kehrt der
naturwissenschaftlich-mathematische Buchdruck zur Mathematik zurück,
die es allerdings nach ihrem dominanten Start nur auf neun Abonnenten
bringt. Das soll aber nicht hindern, auf diesen Druck betont hinzuweisen,
einmal, weil sein Übersetzer mit Bukarest, Athen, Pisa einen bemerkens-
werten Bildungshintergrund aufwiese und alte Sprachen, Französisch,
Deutsch, Rumänisch, Bulgarisch lehrte, zum anderen der ausgesprochen
pädagogische Bezug auffiel. Er übersetzte die 3.Auflage seines Lehrers
Ch.Vafa als erste bulgarische und brachte sie 1852 in Carigrad heraus. Aus
dem Titel sei zitiert: Opitna ²islennica za upotreblenie na tjach, koito sja
u²at na naj-dolnite ²inova na elenskite u²iliste… pervo preveden na blago-
slavjanskij jazik ot spisatelen u²enik. Griechische Beziehung, Pädagogi-
sches, bulgarioslavische Sprache,. Alles ist von Bedeutung. Vom Über-
setzer Zlatev/Zlatevi², Zlatiev/, Christo/Christofor, Christaki/Michajlov17
wissen wir zwar auch die Lebensdaten nicht. Es ist aber genügend bekannt
über seine Leistungen und Lebensstationen. Bei den Abonnenten werden
erst mal die Lehrer (5) zahlreicher als die Pfarrer (4). Bei den Lehrern ist
auch ein Lehrer des Griechischen. Nicht verwundert die Herkunft der
Abonnenten aus Šumen (4) und seinen Bezirk (1), weil der Übersetzer in
16 Bâlgarska vâzroždenska inteligencija, 338
17 Ebda., 256
126
Šumen wirkte, hiermit wohl eine gewisse Kollegialität gewirkt haben
dürfte. Damit deutet sich das Risiko damaliger Veröffentlichungstätigkeit
an. Die vier anderen Abonnenten kommen aus Razgrad (2), Kotel und
G. Orjachovica. Letzterer lebte zur Zeit der Veröffentlichung der „Opisna
cislennica“ an ihrem Erscheinungsort. Genaue Lebensdaten fehlen erneut.
IX
Die „Kurze Naturgeschichte“, die neben B. Damjanovi² Petâr Kostov
Arnaudov, Lehrer und Pfarrer mit Bildung am Moskauer Seminar18 über-
setzt hat, erschien 1861 in Wien, einem bedeutenden Außenzentrum der
bulgarischen Kultur und Wissenschaft. Das Buch findet fünf Abonnenten,
die sich auf Pfarrer (3) und Lehrer (2) verteilen. Ihre Wirkungsorte stim-
men mit den Berufen überein. Die Pfarrer wirkten in Elena, die Lehrer in
Ruse. Eine hinlängliche Erklärung dafür bietet das Leben des Übersetzers
Arnaudov, der in Elena geboren wurde und in Ruse lehrte. Lebensdaten
der Abonnenten sind nicht bekannt.
X
Nur drei Abonnenten findet die „Vollständige mathematische und phy-
sische Geographie“ von Spiridon Petrov Gramadov, einem Lehrer und
späteren Justizbeamten aus Arbanasi19. Als Druckort erscheint in unserem
Zusammenhang erstmals mit Ruse ein bulgarischer Ort. Damit zeigt sich
der schrittweise Übergang von den Außenzentren ins Inland an. Die drei
Abonnenten sind Pfarrer (2) und einmal begegnet, ganz symbolträchtig ein
Lehrer, der später Pfarrer wurde. Zwei Mal begegnet dabei als Wirkungs-
ort Debrovo/Elena und einmal Senovo/Razgrad, das auch in der Vita S.P.
Gramadovs eine Rolle spielt. Genaue Lebensdaten fehlen.
XI
Die Zahl der Abonnenten geht auf zwei zurück für die „Sammlung arith-
metischer Aufgaben“20, die der Lehrer und vielfältig tätige Markov Demi-
rev, Nestor (1836-1916) herausgegeben hat. Dennoch ist mit diesem Druck
18 Ebda., 46
19 Ebda., 162
20 Ebda., 404f.
127
bedeutendes verbunden, weil mit Chr. Gruev Danov (1828-1911)21 eine sehr
bedeutende Gestalt des bulgarischen Verlagswesens als Anreger ins
Blickfeld gerät, und mit ihm Buchhandelsfilialen in Bulgarien verbunden
sind. Als Druckort erscheint hier wieder Rus²uk. Wie gehabt verteilen sich
die beiden Abonnenten beruflich auf Pfarrer und Lehrer, geographisch auf
Love² und Pleven, ohne Angabe von Lebensdaten.
XII
Wissenschaftsgeschichtlich Bedeutsames ergibt sich aus der wieder mit
N.D.Markov verbundenen und wieder in Ruse gedruckten und von ihm
übersetzten und herausgegebenen „Geometrija pravolinejna“. Hinwen-
dung zur Geometrie taucht hier erstmals auf und bringt es auf eine leicht
gestiegene Zahl von neun Abonnenten. Diese Abonnenten bereiten eine
auffällige Überraschung im Vergleich zu bisher Gefundenem. Es sind vier
Schüler am Gymnasium in Tabor/+echien und fünf Studenten an der
militärmedizinischen Schule in Istanbul, die für die bulgarische Mediziner-
ausbildung große Bedeutung hatte. Genaue Lebensdaten fehlen bei allen.
Besondere Bedeutung kommt dem Buch aber zu, weil es wichtige Vertreter
des Fachs im internationalen Maßstab vermittelt.
XIII
Mit der „Physischen Geographie 1833“ und der „Kosmographie 1873“ ist
nicht nur der durch langen Bildungsgang in Istanbul und Russland aus-
gezeichnete Dimitâr Poptonev En²ev (1841-1882)22 als Herausgeber und
Übersetzer verbunden, der das Werk zweier seiner russischen Kollegen –
A.Malinin und K.Burenin, Lehrer am 4.Moskauer Gymnasium, – den Bul-
garen zugänglich macht, sondern mit der in T©rnovo und Ruse ansässigen
Buchhandlung Mom²ilov23,einer weiteren bulgarischen für das Buchwesen
wichtigen Firma. Die Außenzentren verlieren etwas an Bedeutung, die
Verbindung zur russischen Wissenschaft bleibt. Bleiben kann auch die
Angabe für die wieder ohne genaue Lebensdaten bekannten Abonnenten.
Ein Lehrer und ein Pfarrer, beide aus dem Gebiet von Stara Zagora für die
21 Christo D. Brâzicov: B©lgarski knigoizdateli. Sofija 1976. S.11ff. Osnovopoložnik
Christo G. Danov.
22 B©lgarskata v©zroždenska intelegencija. S.237.
23 Ebda., 437f.
128
„Physische Geographie“ und ein Lehrer ohne Lebensdaten aus dem Gebiet
von Vodica für die „Kosmographie“.
XIV
Mit dem „Handbuch der Physik“ 1874, kehrt Chr. G. Danov als Verleger
und Buchhändler mit Filialen nun schon in Plovdiv, Rus²uk, Veles, Prag
zurück. Der Verfasser Gjuzelev, Ivan Nedev (1844-1916) lehrte mit breitem
Bildungshintergrund in Griechenland und Russland. Nicht überraschen-
derweise sind seine beiden Abonnenten Pfarrer ohne genaue Lebensdaten
aus Kazanl©k und aus dem Gebiet von Pazaradžik24.
XV
Den Schluss des Überblicks über Abonnenten bulgarischer naturwissen-
schaftlicher Bücher des 19.Jahrhunderts bildet die Medizin, die in der
allgemeinen akademischen Bildung von Bulgaren in der Wiedergeburtszeit
eine große Bedeutung hatte. Bezeichnenderweise ist es eine Schrift des
berühmten bulgarischen Gelehrten Ivan Andreev Bogorov (1818-1892)25
und wiederum, bezeichnenderweise auf die bulgarischen Verhältnisse
bezogen, eine Schrift über den „Dorfarzt“. Hier kommt noch einmal eine
Verbindung von Außenzentrum und Inland zum Zug, weil das Buch zwar
in Wien erschienen ist, jedoch in der bulgarischen Druckerei von Janko
S.Kova²ev26 (1852-1926) aus Svištov entstanden ist, dessen enge Zusam-
menarbeit mit Danov hervorzuheben ist. Der Abonnent des Buches ist ein
Archimandrit aus Vidin ohne Lebensdaten, signifikant wie ständig gehabt.
+
Bei Berücksichtigung nur der Orte, die in Bulgarien liegen, also ohne Ser-
bien, Rumänien Bessarabien und +echien, ist das Ergebnis im Blick auf die
Abonnenten eindeutig. 76,5% sind Pfarrer oder Vertreter von Kirche und
Mönchtum, 21,4% Lehrer. Mithin stellen diese Berufe 96,9% aller Abon-
nenten. Ein weitgespanntes Netz von 50 Orten, aus denen die Abonnenten
24 Ebda., 173 f. Als Übersetzer und Kürzer hat er auch mitgewirkt an der 1973 in Prag
erschienenen „Elementargeometrie von A. Davidov.
25 Ebda., 77 F. D. Endler (Hrsg.): Deutsch-Bulgarische Begegnungen in Kunst und Lite-
ratur während des 19. und 20.Jahrhunderts. München 2006. S.10ff.: H.Walter: Ivan
Bogorov und Leipzig.
26 B©lgarskata v©zroždenska intelegencija, 34of.
129
kamen, Städte und Dörfer, bietet rein statistische 3,5 Abonnenten pro Buch
für die 15 untersuchten Veröffentlichungen. Real reicht das Abonnement
von 1 bis 13 Orten. Spitzenpositionen nehmen Elena und Svistov mit je 13,
T©rnovo mit 12 und Panagjurište mit 11 Abonnements ein. Da Pfarrer und
Lehrer als Multiplikatoren zu bezeichnen sind, kann von einer im Ein-
zelnen unterschiedlich gewichtigen Wirkung dieser mathematisch-natur-
wissenschaftlichen Literatur gesprochen werden und zwar bei grundsätz-
lich breiter geographischer Verbreitung, unter der die Mathematik eine
zahlenmäßig besondere Rolle spielt. Eine weitere Studie ist für alle bul-
garischen Studenten geplant. Sie wird, da bereits vorhandene Vorstudien
dies zeigen, die große Rolle der Medizin verdeutlichen, die in der vor-
stehenden Studie, die vor allem Schulfächer betraf, gerade zweimal zu
Wort kam. Durchaus in ein positivistisches Wissenschaftsverständnis passt
die Tatsache, dass Abonnenten für unterschiedslos Bücher natur- und
geisteswissenschaftlichen Inhalts wählten. Die Abonnenten, die mehrmals
abonnierten, haben Natur- und Geisteswissenschaften bedacht. Die hier
untersuchten Drucke sind zwischen 1833 und 1875 erschienen und ver-
raten durchaus eine Entwicklung wissenschaftlicher Interessen und geo-
graphischer Verbreitung, zweifellos wegen vorwiegend pädagogischer
Zielsetzungen und schulischer Förderung. Bedeutend ist, dass in diesem
Zeitraum die Entwicklung von den Außenzentren nach Bulgarien einsetzt
und mit Danov und Mom²ilov27 deutlich greifbar wird. Man kann von
einem Zusammenspiel zwischen Außenzentren und inländischen Abon-
nenten sprechen. Der Verfasser gedenkt, mit einem gewagten Aspekt theo-
logischen Denkens zu schließen. Die hohe Zahl kirchlicher Abonnenten für
naturwissenschaftliche Veröffentlichungen zeigt eine theologische Un-
befangenheit gegenüber den Naturwissenschaften, Geistes- und Natur-
wissenschaften werden gleichermaßen gefördert. Gelegentlich wird, auch
seitens von Orthodoxen, das Fehlen der Aufklärung bedauert. Hier deutet
sich aber eine Gnade der späten Geburt an. Erspart wird eine gelegentlich
auch unfruchtbare Auseinandersetzung mit Aufklärung und Naturwissen-
schaften. Man übernimmt problemlos Wissenschaft der Aufklärung und
steigt in ein positivistisches Wissenschaftsverständnis ein. Theologisch
scheint das möglich zu sein, weil eine massive Inkarnationstheologie der
Orthodoxie den Weg frei macht für ein ganzheitliches Verständnis des
27 Die bulgarische Buchforschung hat sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts
aufmerksam einschlägigen Themen gewidmet. Konstantin Punev: Dragan Man²ov,
Sofija 1989; Angel Dimitrov: Apostoli na knigata. -2. Sofija 1984 und 1986. Christo D,.
Br©zicov: B©lgarski knigoizdateli. Sofija 1976.
130
geheiligten Menschen und der geheiligten Materie auf dem Weg der Welt
zur Vergöttlichung und Alleinheit. Ein Hinweis auf Solov‘ev28 genügt.
Dieser Gedanke klingt an in den berühmten Versen des Divan: „Gottes ist
der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände ruht im
Frieden seiner Hände.“29
28 LThK 9, 2009, p.714f., RGG 4.Aufl. 2004, Sp.1431f.
29 Buch des Sängers, Talismane.
131
Sigrun Comati
Zum Symposium „Bulgarien im europäischen Haus“
am 15. November 2012 in Darmstadt
Es ist zur Tradition der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung
der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland e.V. geworden,
dass in jedem Jahr ein bis zwei Symposien zu deutsch-bulgarischen The-
men abgehalten werden. Im Jahr 2012 fiel die Wahl für den Veranstaltungs-
ort auf die geschichtsträchtige Stadt Darmstadt. Dieser Ort spielte für die
historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien bereits im
19. Jahrhundert eine ganz große Rolle. Denn Alexander von Battenberg
(1857–1893), der Sohn Großherzog Ludwigs II. von Hessen und bei Rhein,
wuchs in Darmstadt auf und war ein Zögling des Darmstädter Ludwig-
Georg-Gymnasiums. Er schlug eine militärische Laufbahn ein und war von
1879 bis 1886 der gewählte und regierende Fürst von Bulgarien.
In der heutigen Zeit hat Darmstadt für Bulgarien wieder eine wichtige
Bedeutung erlangt, und zwar aufgrund einer relativ hohen Anzahl von
Bulgaren, die im Rhein-Main-Gebiet leben, studieren, arbeiten und ihre
Firmenniederlassungen in Hessen haben. Aus diesem Grunde wurde in
Frankfurt am Main ein bulgarisches Konsulat eröffnet. Doch von bulga-
rischer Seite wurde ganz bewusst Wert darauf gelegt, dass in Darmstadt,
wo sich auch der Sitz des Regierungspräsidiums für Südhessen befindet,
ein bulgarisches Honorarkonsulat eingerichtet wurde.
Das Regierungspräsidium Darmstadt unterstützte dieses Symposium
und stellte in seinen repräsentativen Räumlichkeiten am Luisenplatz zwei
Säle für die beiden Tagungssektionen dieser Veranstaltung zur Verfügung.
Die zahlreichen Gäste wurden vom Regierungspräsidenten, Herrn Jo-
hannes Baron, in einer Begrüßungsansprache herzlich willkommen ge-
heißen. Danach wurde ein Grußwort des Botschafters der Republik Bul-
garien, S. E. Radi Najdenov, vorgetragen. Im Anschluss daran sprach der
Honorarkonsul der Republik Bulgarien in Hessen, Herr Ingo-Endrick
Lankau, zu den Gästen und hob in seiner Rede die Bedeutung Bulgariens
für Darmstadt und Hessen ganz besonders hervor. Und schließlich ergriff
Helmut Schaller, als Präsident dieser Gesellschaft, das Wort und begrüßte
die Gäste im Namen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur Förderung
der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland. Die Organisation
dieses Symposiums oblag der Bulgaristin Sigrun Comati. Sie dankte im
Namen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft dem Regierungspräsidium
132
Darmstadt und dabei ganz besonders der Pressereferentin Frau Nicole
Ohly-Müller, der Stadt Darmstadt und dem Honorarkonsul der Republik
Bulgarien in Hessen, Herrn Ingo-Endrick Lankau, für die freundliche
Unterstützung dieser für Darmstadt so wichtigen Veranstaltung.
Es folgte eine interessante Präsentation über das Schloss Heiligenberg,
den Landsitz der Familie Battenberg, die von Joachim Horn, dem Vor-
standsvorsitzenden der Stiftung Heiligenberg Jugenheim vorgetragen
wurde.
Danach begann die Arbeit in den beiden Sektionen des Symposiums,
wobei insgesamt sechzehn Vorträge gehalten wurden. Die Sektion I be-
trachtete Geschichte und historische Beziehungen zwischen Bulgarien und
Deutschland, wobei besonders sprachliche und literarische Aspekte Beach-
tung fanden. Hier kamen folgende Vorträge zu Gehör und wurden disku-
tiert: Lupold von Lehsten sprach über die Bedeutung der bulgarischen
Fürstenwahl 1879 für das Haus Battenberg. Daran schloss sich thematisch
sehr gut der Vortrag von Bianca Wieland zu Prinzessin Marie zu Erbach-
Schönbergs Reise nach Bulgarien im Jahre 1848 an. Als langjährig tätiger
Wissenschaftler referierte Helmut Schaller über die kulturellen und wis-
senschaftlichen Beziehungen zwischen Italien und Bulgarien im 20. Jahr-
hundert, während Gisela Lindner das Thema der Beziehungen zwischen
Bulgarien und Frankreich in Vergangenheit und Gegenwart beleuchtete.
Der Vortrag der bekannten bulgarischen Germanistin Emilia Staitscheva
von der Universität „St. Kliment Ohridski“ in Sofia hatte den großen
Dichter Bulgariens, Ivan Vazov, zum Thema. Hierbei wurde der bisher
noch unbekannte Dialog dieses Schriftstellers mit der deutschen Literatur
vorgetragen und wissenschaftlich kommentiert, wobei ein Teil dieser
Forschungsergebnisse im Jahre 2014 in einer Helmut Schaller gewidmeten
Festschrift (Staitscheva 2014) bereits veröffentlicht wurde. An diesen Vor-
trag schloss sich der Beitrag des Kenners der bulgarischen Literatur, Diet-
mar Endler an, er brachte dem Publikum interessante Ergebnisse seiner
Studien zu intertextuellen Zusammenhängen in der bulgarischen Belletris-
tik nahe. Beispielsweise erörterte er die Frage zum Auftreten von Phileas
Fogg in der Oberthrakischen Ebene (natürlich nur in der bulgarischen
Literatur!). Dieser Beitrag wurde bereits im Bulgarien-Jahrbuch 2012 ver-
öffentlicht (Endler 2012). Ein weiterer Beitrag der kenntnisreichen und
international beachteten bulgarischen Sprachwissenschaftlerin Ruselina
Nicolova von der Universität „St. Kliment Ohridski“ in Sofia betrachtete
den bulgarischen Admirativ und seine deutschen Entsprechungen. Sigrun
Comati referierte über das aktuelle Thema der bulgarischen Sprache im
Zeitalter des Internets und der Digitalisierung im Vergleich mit anderen
europäischen Sprachen. Abschließend trug in dieser Sektion der Lehrstuhl-
133
inhaber für Südslawistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Thede
Kahl, Beobachtungen zum interkulturellen Thema der Bulgarischsprechen-
den in Rumänien vor.
Die Sektion II widmete sich vorrangig deutsch-bulgarischen Beziehun-
gen auf schöngeistigen Gebieten wie Kunst, Musik und Tanz, doch auch zu
Themen wie Religion und Migrationsfragen wurde referiert. Der erste
Vortrag dieser Sektion von Dilyana Panayotova-Grün war den Merkmalen
der bulgarischen Migration in Deutschland am Beispiel von Bayern gewid-
met. Es folgte ein Beitrag von Denitza Kisseler zu bulgarischen Künstlern
in München, wobei sie diese Kunstbeziehungen von der Mitte des 19. bis
zur Mitte des 20. Jahrhunderts beleuchtete. Rumjana Zlatanova schloss sich
mit einem Vortrag über das Leben und Wirken der bulgarischen Tänzerin
Emilia Andonova an. Dieser interessante Beitrag wurde in wesentlich er-
weiterter Form bereits veröffentlicht (Zlatanova 2014). Der herausragende
Bibliothekswissenschaftler und Publizist auf dem Gebiet der Slavistik und
der Ostkirchen, Horst Röhling, thematisierte in seinem Beitrag Bulgarien
im Spiegel britischer Hochschulschriften von 1907–2006. Leider war Herr
Röhling aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend, deshalb hatte er
im Vorfeld der Veranstaltung seinen Beitrag der Organisatorin des Sym-
posiums zukommen lassen, so dass der Beitrag verlesen werden konnte.
Danach sprach die bulgarische Sprachwissenschaftlerin Radka Vlahova-
Rujkova von der Universität „St. Kliment Ohridski“ Sofia zum Merkmal
„deutsch“ in der Wertungsskala der bulgarischen Politik und der bul-
garischen Politiker. Die Musikwissenschaftlerin Deniza Popova ließ, be-
gleitend zu ihrem Vortrag zu „bulgarischen Musiken“, auch interessante
Hörbeispiele erklingen, wobei sie auf das Spannungsfeld zwischen Ver-
ständnis und Selbstverständnis einging.
Der sowohl in der orthodoxen als auch in der evangelischen Kirche
bekannte Theologe Hans-Dieter Döpmann hatte seinen Vortrag über die
Bulgaren und das Zograf-Kloster ebenfalls vorab an die Organisatorin ge-
schickt, mit der Bitte, den Text vortragen zu lassen, da er aus gesund-
heitlichen Gründen nicht in der Lage war, zum Symposium nach Darm-
stadt zu kommen. Auch dieser Beitrag wurde bereits an anderer Stelle
veröffentlicht (Döpmann 2013).
Im Anschluss an die Tagung stand für alle Teilnehmer eine sachkundige
Führung durch das Schloss Darmstadt auf dem Programm, wobei ganz
besonders auf die Familiengeschichte des Alexander von Battenberg ein-
gegangen wurde.
Für die Abendveranstaltung hatte die Darmstädter Deutsch-Bulgarische
Gesellschaft unter der Leitung von Nadezhda Büse herzlich in das Kennedy-
Haus eingeladen. Dort klang bei einem Klavierkonzert, dargeboten von
134
Nikolaj Zahariev, und bei einer anschließenden bulgarischen Weinprobe
mit Weinmarketing Bossev, dieser ereignisreiche Tag aus.
Am nächsten Tag war im Rahmen der Veranstaltung eine Führung
durch das Hessische Staatsarchiv anberaumt. Einen solchen Einblick in die
Stadtgeschichte wussten alle Teilnehmenden sehr zu schätzen und dankten
Archivoberrat Rack für seine Erläuterungen.
Die Mitgliederversammlung der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur
Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V. im
Regierungspräsidium Darmstadt bildete den Abschluss dieser gelungenen
Veranstaltung. Der Dank an die Organisatoren und Veranstalter war mit
dem Wunsch verbunden, in dieser Region in naher Zukunft wieder ein
Symposium mit bulgarischer Thematik durchzuführen.
Literatur
Döpmann 2013
H.-D. Döpmann, Die Bulgaren und das Zograf-Kloster. Forum Bulgarien 1(Berlin
2013) 11–20.
Endler 2012
D. Endler, Phileas Fogg in der Oberthrakischen Ebene. Intertextuelles bei Ivan
Vazov. Autoren – Figuren – Zitate. Bulgarien-Jahrbuch 2012, 22–40.
Staitscheva 2014
E. Staitscheva, Ivan Vazov im Dialog mit der deutschen Literatur. In: J. Kristoph-
son/R. Zlatanova (Hrsg.), Non solum philologus. Vorträge vom 5. November 2010
anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Wilhelm Schaller.
Bulgarische Bibliothek begründet von Gustav Weigand, Band 20 (Verlag Otto
Sagner München-Berlin-Washington, D.C. 2014) 154-162.
Zlatanova 2014
R. Zlatanova, Eine Bulgarin in Terpsichores Tempel. In: J. Kristophson/R. Zlata-
nova (Hrsg.), Non solum philologus. Vorträge vom 5. November 2010 anlässlich
des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Wilhelm Schaller. Bulgarische
Bibliothek begründet von Gustav Weigand 20 (München-Berlin-Washington D.C.
2014) 172–193.
135
Ansprache von Ingo-Endrick Lankau,
Honorarkonsul der Republik Bulgarien für das Land Hessen,
anlässlich des Symposiums der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft zur
Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V.
„Bulgarien im europäischen Haus“
am 15.11.2012 im Regierungspräsidium Darmstadt
Fürst Alexander I. von Bulgarien – ein Darmstädter
Sehr geehrter Herr Regierungspräsident Baron,
sehr geehrte Mitglieder und Gäste der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft
zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien e.V.
aus ganz Deutschland,
liebe Freundinnen und Freunde Bulgariens,
Mit großer Freude darf ich Sie als Honorarkonsul der Republik Bulgarien
in Hessen und gleichzeitig auch als zweiter Vorsitzender der Deutsch-
Bulgarischen Gesellschaft Darmstadt begrüßen und meine Freude darüber
zum Ausdruck bringen, dass Sie Ihr diesjähriges Symposium und Ihre
Jahresmitgliederversammlung bei uns in Darmstadt durchführen. Die be-
grüßens- und unterstützenswerten Aktivitäten der Deutsch-Bulgarischen
Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und
Bulgarien e.V. und damit auch ein solches Symposium und eine Jahres-
mitgliederversammlung haben den Sinn, den in Deutschland lebenden
Bulgaren eine Verbundenheit zu geben, kulturellen und wissenschaftlichen
Erfahrungsaustausch zu ermöglichen und, bei Bedarf, auch Heimweh nach
Bulgarien zu bekämpfen. Und auf der anderen Seite sollen Deutsche für
Bulgarien, seine geschichtliche, politische, kulturelle und wirtschaftliche
Entwicklung interessiert und eingeladen werden, in einer solchen kulturel-
len Vereinigung mitzuwirken und damit auch die Verbundenheit zu Bul-
garien als europäischem Mitgliedsstaat zu fördern. Die Veröffentlichungen
dieser Gesellschaft tragen in einem hohen Maße dazu bei, die kulturellen
und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien
zu pflegen. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass
jede und jeder von Ihnen möglichst viel Gewinn aus diesen Veranstal-
tungen mitnimmt und nach Hause bringt.
Wenn wir uns hier treffen, sollte nicht unterlassen werden, darauf
hinzuweisen, dass wir uns in Darmstadt und in Südhessen an einem Ort
befinden, der für die geschichtliche Entwicklung Bulgariens von ganz
136
herausragender Bedeutung ist. Der erste frei gewählte Fürst von Bulgarien
nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft war Alexander Prinz
von Battenberg, Fürst Alexander I. von Bulgarien.
Fürst Alexander entstammte als Prinz aus hessischem großherzoglichem
Haus dem regierenden europäischen Hochadel. Er wuchs auf Schloss
Heiligenberg im Ortsteil Jugenheim der heutigen Gemeinde Seeheim-
Jugenheim südlich von Darmstadt auf und besuchte mehrere Jahre lang
das auch schon damals bedeutende historische Ludwig-Georgs-Gymna-
sium in Darmstadt, wo wir seitens der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft
Darmstadt e.V. in Gegenwart der damaligen bulgarischen Botschafterin Dr.
Meglena Plugtschieva eine Erinnerungstafel an Fürst Alexander enthüllt
haben. Vor allem ʲbʺr in Jugenheim, auf Schloss Heiligenberg mit seiner
Gedenkstätte, wird die Erinnerung an Fürst Alexander liebevoll aufrecht
erhalten, die hierbei tätigen Kreise nennen ihn „Sandro“.
Zwar wurde der Fürst 1857 in Verona geboren, ʲbʺr ʺr war von seiner
Herkunft tatsächlich ein echter Darmstädter, denn ʺr entstammte unmittel-
bar der Familie der Großherzöge von Hessen und bei Rhein und gehörte
dadurch zum europäischen Hochadel der regierenden Häuser. Die hessi-
schen Landgrafen haben jahrhundertelang von Marburg aus regiert, der
Bedeutendste war Philipp der Großmütige, der 1527 in Marburg die erste
protestantische Universität gründete und überhaupt der erste protestan-
tische Fürst war. Nach der Teilung Hessens auf vier seiner Söhne entstand
die Landgrafschaft Darmstadt und Landgraf Ludwig ʒ. wurde 1806 Groß-
herzog Ludwig I.
Der Vater unseres bulgarischen Fürsten Alexander hieß Alexander von
Hessen und bei Rhein und war Bruder des regierenden Großherzogs
Ludwig III. Die Schwester der beiden, Marie, heiratete 1840 den späteren
russischen Zaren Alexander II. und hieß als Zarin Maria Alexandrovna.
So haben wir es in unserer „Fürstenrunde“ mit drei Fürsten Alexander
zu tun: Unserem bulgarischen Fürsten Alexander I., dessen Vater Prinz
Alexander von Hessen und bei Rhein sowie dessen Schwager und dem
Onkel unseres bulgarischen Fürsten, Zar Alexander II. Der Vater unseres
Fürsten nun begleitete seine Schwester nach St. Petersburg an den dortigen
Zarenhof und machte eine beachtliche militärische Karriere im Dienste des
Zaren.
Und dort, am Zarenhof, traf ihn der scharfe Pfeil der Liebe: ɯr verliebte
sich in eine Hofdame seiner Schwester, was für den Angehörigen eines
regierenden europäischen Hauses und des Schwagers des Zaren ein un-
erhörter Skandal war, so dass er den russischen Dienst quittieren musste.
Er, der Vater unseres bulgarischen Fürsten, ließ sich aber durch nichts von
der Liebe zu dieser Hofdame abbringen und entschied sich, sie zu heiraten,
137
was er auch tat. Weil diese Eheschließung aber aus Hochadelssicht nicht
ebenbürtig war, die Hofdame Julia Hauke gehörte lediglich niedrigem
polnischem Ernennungsadel an, war es die konsequente Folge dieser Ehe-
schließung, dass der hessische Prinz seine Thronrechte verlor und von der
Erbfolge in Hessen ausgeschlossen wurde.
Der Skandal wurde auch nicht dadurch kleiner, dass die beiden auf der
Reise von St. Petersburg nach Südhessen heirateten und die Gemahlin
dabei schon Mutterfreuden entgegensah.
Das änderte natürlich nichts an den engen blutsverwandtschaftlichen
Beziehungen. Nur: Die Kinder aus dieser Ehe konnten nicht den Namen
des großherzoglichen Hauses Hessen tragen, dem sie entstammten. Der
Bruder des hessischen Prinzen, Großherzog Ludwig III., ernannte seine
Schwägerin Julia Hauke wenige Tage nach der Eheschließung mit seinem
Bruder zur Gräfin von Battenberg und sieben Jahre später zur Fürstin von
Battenberg. Von da an hat der Prinz Alexander, der Vater unseres bul-
garischen Fürsten, der bis dahin Alexander Prinz von Hessen und bei
Rhein hieß, selbst auch den Namen „Fürst von Battenberg“ geführt und
mit seiner Frau auf Schloss Heiligenberg gewohnt, das er neben den er-
forderlichen Lebenshaltungskosten von seinem Bruder überlassen bekam.
Die Familie Battenberg lebte dort mit fünf Kindern.
Das dritte dieser Kinder war der spätere Alexander I., Fürst von Bul-
garien. Nur zur Abrundung: Das zweite Kind dieser Ehe war Ludwig von
Battenberg, der spätere Louis Mountbatten, der die Dynastie der Mount-
battens in Großbritannien begründete, so dass in Jugenheim auch die Er-
innerung an Louis Mountbatten und seine Nachkommen wach gehalten
wird.
Unser Alexander schlug ebenso wie sein Vater eine militärische Lauf-
bahn ein und nahm in russischen Diensten am Russisch-Türkischen Krieg
in Bulgarien teil, der zur Befreiung Bulgariens führte. Und als Ergebnis der
geopolitischen und geostrategischen Überlegungen der Großmächte über
die Zukunft des Balkan, insbesondere Bulgariens, wurde auf dem Kon-
gress 1878 in Berlin, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss des russischen
Zaren, entschieden, den Angehörigen eines europäischen hochadeligen
Hauses zum ersten bulgarischen Fürsten zu bestellen, der ʲbʺr keinem
regierenden Haus angehören sollte, um insoweit Interessenkollisionen
auszuschließen. Und so wurde Alexander am 29.04.1879 von der bulgari-
schen Nationalversammlung einstimmig zum ersten Fürsten des Fürsten-
tums Bulgarien gewählt.
Die weitere Entwicklung Bulgariens ist bekannt und würde den Rah-
men meines kleinen „Einführungsvortrages“ sprengen. Nur: Durch eine
ganz besondere Leistung ist Fürst Alexander den Bulgaren im besonderen
138
Bewusstsein, die bis heute zu seiner breiten Anerkennung führte: Die
Vereinigung der unter osmanischem Einfluss gebliebenen autonomen
Region Ost-Rumelien mit dem Fürstentum Bulgarien am 06.09.1885 wurde
von Fürst Alexander am 08.09. in einem Manifest offiziell vollzogen, so
dass das heutige Bulgarien entstand. Und das führte dazu, dass bis heute
gerade durch diese Tat die Erinnerung an Fürst Alexander in Bulgarien bei
allen unauslöschlich anerkannt ist. In diesem Zusammenhang ist ihm das
Zitat zugeschrieben:
„Ich riskiere meinen Thron und mein Leben, doch was soll ich machen? Ich
liebe Bulgarien!“
In der Tat führten die von ihm vollzogene Vereinigung und die damit
verbundene erhebliche Vergrößerung Bulgariens im Ergebnis zu Putsch-
versuchen gegen ihn und letztlich dazu, dass ʺr zur Abdankung gezwun-
gen wurde. Nach sieben Jahren war seine Herrschaft auf dem Thron Bul-
gariens wieder beendet, und der Fürst hatte im jugendlichen Alter von 29
Jahren seine Zeit als Herrscher schon wieder hinter sich. Überliefert ist ʲbʺr
seine tiefe Liebe für „sein“ Bulgarien. Er hat für Bulgarien hohe Opfer
gebracht, es ist ihm gelungen, trotz erheblicher ʇr˓blʺmʺ und Widerstände
in dieser ersten Entstehungszeit Bulgariens, die entscheidenden und rich-
tigen Weichen zu stellen, insbesondere auch mit der Vereinigung von
Fürstentum und der Provinz Ost-Rumelien.
Interessant ist sein weiteres Schicksal: Immerhin verlobte ʺr sich –
übrigens während seiner Zeit als Fürst von Bulgarien – mit der preußi-
schen Prinzessin Viktoria, der Tochter von Kaiser Friedrich III., dem so
genannten 99-Tage-Kaiser, der seinen Vater Kaiser Wilhelm I. wegen seines
Kehlkopfkrebses nur diese wenige Zeit überlebte. Immerhin war Prinzes-
sin Viktoria die Enkelin der britischen Königin Viktoria. ɧbʺr der Groß-
vater, Kaiser Wilhelm I., und Fürst Bismarck haben aus politischen Grün-
den das Verlöbnis missbilligt und die Heirat verboten. Daran erkennt man,
in welchen höchsten Adels- und Herrscherkreisen Europas unser Fürst sich
anerkanntermaßen bewegte.
Fürst Alexander heiratete dann eine Opernsängerin, nahm mit dieser
die Namen Gräfin und Graf von Hartenau an und zog sich damit sozu-
sagen unauffällig aus der Öffentlichkeit zurück. ɯr trat in den Dienst der
Kaiserlichen und Königlichen Armee Österreichs und wohnte mit seiner
Familie in Graz, wo ʺr 1893 unerwartet und viel zu früh, im Alter von nur
36 Jahren starb.
Die dankbaren Bulgaren haben ihn nach Überführung nach Sofia prunk-
voll in einem Mausoleum als bulgarischen Fürsten begraben. Und die
Namen seiner Kinder aus dieser Ehe signalisieren seine Liebe zu Bulgarien,
139
der Sohn hieß Asen Ludwig Alexander, Graf von Hartenau und die Tochter
Marie Therese Vera Zwetana, Gräfin von Hartenau.
In der Gedenkstätte in Heiligenberg ist eine Gedächtniskapelle zugun-
sten unseres bulgarischen Fürsten eingerichtet und seine Eltern, der hes-
sische Prinz Alexander und seine Ehefrau Julia Hauke, liegen nicht etwa in
Darmstadt in der Erbbegräbnisstätte der hessischen Landgrafen und Groß-
herzöge, sondern ebenfalls in der Gedenkstätte Heiligenberg, auf eigenen
Wunsch „unter freiem Himmel“.
Diese Gedenkstätte und seine Herkunft aus Darmstadt, bzw. dem hessi-
schen großherzoglichen Haus, sind die enge Verbindung zwischen Hessen
und Bulgarien, die wir hier in Darmstadt ganz bewusst pflegen und weiter-
entwickeln wollen.
140
Denitza Kisseler
Die Bulgarischen Künstler und München. Kunstbeziehungen
von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Die große repräsentative Ausstellung „Die bulgarischen Künstler und
München. Die neue Kunstpraxis von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahr-
hunderts“ in der Städtischen Galerie Sofia vom 14.12.2008–22.02.20091,
deren Anlass das 200jährige Jubiläum der Kunstakademie in München
war, thematisierte das für die bulgarische Kunstgeschichtsschreibung
wichtige Thema der Anziehungskraft Münchens auf die bulgarischen
Künstler, die Auswirkungen interkultureller Beziehungen und Kontakte in
Bulgarien und das Verhältnis der bulgarischen Kunst zu den europäischen
Kunsttraditionen. Die Ausstellung präsentierte zum ersten Mal gemeinsam
die bedeutendsten bulgarischen Künstler, die sich im Zeitraum von ca.
1850 bis 1950 in München aufhielten und ergänzte und präzisierte die
bisherigen Untersuchungen zur Rolle und Bedeutung Münchens in diesem
Zusammenhang (vgl. Dobrianowa-Bauer 1999; Angelov 2001; Dinova-
Russeva 1984; Marinska 1999; Georgieva 2000). In diesen rund 100 Jahren
hatten mehrere Generationen bulgarischer Künstler in München aus ver-
schiedenen historischen, politischen und wirtschaftlichen Motiven heraus
gelebt und gearbeitet. Im Rahmen der Ausstellung konnte auch erstmals
die Vita von sieben ehemaligen Schülern der Münchner Akademie auf-
gearbeitet werden.
Der russisch-türkische Krieg 1877–1878 brachte Bulgarien die Un-
abhängigkeit vom Osmanischen Reich. Nach den Beschlüssen des Berliner
Kongresses (1878) wurde das bulgarische Territorium in das souveräne
Fürstentum Bulgarien und in das weiterhin osmanische, aber autonome
Ostrumelien aufgeteilt, bis sich diese Landesteile 1885 vereinten. Die Ent-
wicklung der so genannten „neuen bulgarischen Kunst“ begann in Bul-
garien mit der Gründung des Nationalstaates. Der entscheidende Unter-
schied zwischen den Vertretern der Moderne in Bulgarien und ihren Vor-
gängern war die akademische Ausbildung, die anfangs mangels eigener
Einrichtungen nur im Ausland zu erhalten war. Bevorzugte Studienorte
waren neben München auch Wien, Florenz, Turin und später Rom und
Paris. Diese europäischen Kunstzentren blieben ständige Ziele für einen
Aufenthalt, auch nach der Gründung der Staatlichen Zeichenschule in
1 Kuratoren Anelia Nikolaeva und Denitza Kisseler.
141
Sofia im Jahre 1896, die 1909 in ‚Kunstindustrieschule‘ und schließlich,
1921, in ‚Kunstakademie‘ umbenannt wurde.2 Diese Institutionalisierung
der Kunstausbildung war ein prägendes Merkmal der Modernisierung und
bedeutete für die damaligen Verhältnisse einen großen Fortschritt. Im
Gefolge von Nikolai Pavlovi² (1835–1894), der als erster (und einziger)
Bulgare Mitte des 19. Jahrhunderts an der Münchner Kunstakademie
studierte, wurde ein großer Teil der ersten Lehrkräfte an der Zeichenschule
in Sofia in München ausgebildet. Ivan Ange lov (1864–1924) und die ge-
bürtigen Tschechen Ivan Mrkv i²ka (1856–1938) und Jaro slav Vešin
(1860–1915), die die Staatsbürgerschaft Bulgariens annahmen und dann als
bulgarische Künstler ausstellten, repräsentierten die erste Generation
dieser neuen Kunst. Sie waren vor allem Genremaler, die als Vertreter
einer realistischen Kunstauffassung angesehen werden können. Zu den in
München ausgebildeten Lehrern der Zeichenschule zählen auch die Bild-
hauer Žeko Spi r idon o v (1867–1945) und Mar i n Va s ilev (1867–1931).
Sie legten die systematische Grundlage für eine an europäischen Vor-
bildern orientierte Kunstpraxis.3
Mit der Möglichkeit, in Bulgarien Kunst zu studieren, wurde es auch
üblich, zur Weiterbildung in eine Kunstinstitution oder zur „Horizont-
erweiterung“ auch außerhalb einer solchen ins Ausland zu gehen. Dafür
gab es neben Privatinitiativen auch kunstpolitisch gesetzte Anreize, wie
staatliche Ausschreibungen von Stipendien.4 Meistens hatten die bulga-
rischen Künstler ihren Auslandsaufenthalt von vornherein als zeitlich
begrenzt und als Vorbereitung auf ihr weiteres Wirken in der Heimat be-
trachtet. Sie waren bestrebt, das nach ihrem Verständnis „Beste“ der euro-
päischen Kunst aufzunehmen und in ihrem Heimatland zu implemen-
tieren. Die Begegnung mit der Kunst des Auslandes war vielfältig, geprägt
von großem Respekt gegenüber den „Alten Meistern“ und auch einem
kritischen, zuweilen skeptischen Blick auf die zeitgenössische Avantgarde,
aber im Prinzip offen und zugleich selbstbewusst. Aus den Arbeiten der
2 Das erste Projekt aus den 1860er Jahren für eine Kunstschule in Bulgarien stammt
von Nikolai Pavlovi² (1835–1894). Sein Programm wurde bei der Gründung der Staat-
lichen Zeichenschule 1896 zum Vorbild genommen.
3 Bis zu diesem Zeitpunkt bestanden bloß Traditionen mit regional abgrenzbaren
Merkmalen in der religiösen Malerei, dem Kirchenbau und im Kunsthandwerk. Nur
einzelne Elemente der westeuropäischen bildenden Kunst, wie die Linearperspek-
tive bei den Landschaftshintergründen mancher Ikonen oder barocke Ornamente bei
Holzschnitzereien an Ikonostasen oder auch bei den einzelnen Ikonen wurden über-
nommen.
4 Das Ministerium für Volksbildung vergab seit 1878 21 Stipendien für ein Studium an
ausländischen Kunstakademien. Ohne staatliche Unterstützung schlossen im Zeit-
raum von 1898 bis 1909 23 Studierende eine Ausbildung an einer Kunstakademie ab.
142
Künstler während des Auslandsaufenthalts und unmittelbar danach lässt
sich genau beobachten, welche Einflüsse sie zugelassen haben. Die An-
regungen und Aneignungen waren jedenfalls deutlich spürbar, haben den
weiteren persönlichen Weg mit gestaltet und in ihrer Umsetzung die
Kunstentwicklung in Bulgarien mitgeprägt.
Im Vergleich zu Studenten anderer Nationen kamen bulgarische Stu-
denten erst mit etwas Verspätung in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahr-
hunderts vermehrt nach München. Wie die Studenten der anderen Länder
wurden sie nicht nur von der glanzvollen Vergangenheit und dem hervor-
ragenden Ruf der Kunstakademie angezogen, sondern auch von der Stadt-
atmosphäre. Für viele Bulgaren bedeutete München eine – oft die erste –
Begegnung mit der facettenreichen europäischen Hochkultur und die Stadt
beeindruckte durch die vielen Sammlungen und Museen, die Intensität des
Kunstlebens und den gesellschaftlichen Status, den ein Künstler dort zu
erreichen vermochte. Die große Lyrikerin Elisaveta Bagrjana, die Anfang
der 1920er in München weilte, beschrieb ihre Erfahrungen:
„Beim Schlendern durch die Ausstellungen fingen wir mit den Klassikern an.
Dann gingen wir weiter zu den Modernisten, um die man viel Lärm machte
und viel diskutierte...“5
Der Maler De²ko Uzunov äußerte sich über dieselbe Zeit:
„...Dann, als ich nach München kam, hat sich die Tür ganz geöffnet. Wenn ich
von meinen eigentlichen Lehrern sprechen soll, ihre Bilder hingen an den
Wänden in den Kunstgalerien in München, wo ich studierte, in Wien, Paris,
Amsterdam“.6
Bedeutsam für die bulgarische Kunstentwicklung Anfang des 20. Jahr-
hunderts war der im Jahr 1903 ins Leben gerufene Künstlerverein „S©vre-
menno izkustvo“ (Zeitgenössische Kunst), in dessen Statut proklamiert
wurde, man beziehe sich auf die Bewegung der Münchner Sezession, im
Sinne eines Bruchs mit der akademischen Tradition. Die Gründungs-
mitglieder des Künstlervereins zählten größtenteils zu den ersten Absol-
venten der Zeichenschule in Sofia und stammten aus der Klasse von
Jaroslav Vešin, der selbst in München neben der Kunstakademie auch die
5 „ʆ˕ˆ ˓ʴˆˊʲˏˮˑʺ˘˓ ˑʲ ˆ˄ˏ˓ʾʴˆ˘ʺ ˄ʲ˔˓ˣˑʲˠːʺ ˖ ˊˏʲ˖ˆˢˆ˘ʺ. ʈˏʺʹ ˘˓ʵʲ ˔˕˓ʹ˨ˏ-
ʾˆˠːʺ ˖ ː˓ʹʺ˕ˑˆ˖˘ˆ˘ʺ, ˄ʲ ˊ˓ˆ˘˓ ˖ʺ ʵʹˆʶʲ˦ʺ ːˑ˓ʶ˓ ˦˙ː, ˖˔˓˕ʺ˦ʺ ˖ʺ...”. Fileva/
Genova 2003, 236.
6 „ɸ ˊ˓ʶʲ˘˓ ˄ʲːˆˑʲˠ ˔˓˖ˏʺ ˄ʲ ʂ˭ˑˠʺˑ ʵ˕ʲ˘ʲ˘ʲ ˖˨ʵ˖ʺː ˖ʺ ˓˘ʵ˓˕ˆ. ... ɧˊ˓ ˘˕ˮʴʵʲ ʹʲ
ʶ˓ʵ˓˕ˮ ˄ʲ ˆ˖˘ˆˑ˖ˊˆ˘ʺ ˖ˆ ˙ˣˆ˘ʺˏˆ, ˘˓ ˘ʺˠˑˆ˘ʺ ˊʲ˕˘ˆˑˆ ʵˆ˖ˮˠʲ ˔˓ ˖˘ʺˑˆ˘ʺ ˑʲ ˠ˙ʹ˓-
ʾʺ˖˘ʵʺˑˆ˘ʺ ʶʲˏʺ˕ˆˆ ʵ ʂ˭ˑˠʺˑ, ˊ˨ʹʺ˘˓ ˙ˣʺˠ, ɪˆʺˑʲ, ʆʲ˕ˆʾ, ɧː˖˘ʺ˕ʹʲː ....”.
Fileva/Genova 2003, 290.
143
private Schule von Józef Brandt besucht hatte. Als Vertreter einer moder-
neren Ästhetik war Vešin die wichtigste Autorität, geachtetes Vorbild und
Inspirator, der die junge Generation in ihrem Bestreben unterstützte.
Folgerichtig wurde er auch Vorsitzender des neuen Vereins. Sein künst-
lerischer Einfluss setzte im bulgarischen Kontext einen neuen Modernitäts-
maßstab, der den Anschluss an die europäischen Tendenzen bewirkte.
Von 1890 bis 1920 kamen über dreißig weitere bulgarische Künstler
nach München. Die meisten haben sich an der Kunstakademie immatriku-
liert, und zwar überwiegend, wie aus deren Laufbahn zu sehen ist, weil sie
das solide traditionelle Unterrichtsprogramm schätzten. Mit dieser Aus-
bildung waren besagte Künstler später in verschiedenen Städten Bulga-
riens als Kunstlehrer tätig und nahmen auch mit traditionell akademischen
Werken an regionalen Ausstellungen teil. Beispiele dafür sind Niko la
Kanov (1864–1939), Christo Kazandžiev (1874–1952), Alexand©r
Obre tenov (1878–1945), Serg e j Iva nov (1882–1967), S t efan Egar o v
(1882–1973) und Geor gi At anaso v (1874–1950). Ein anderer Teil der im
Folgenden näher beschriebenen Künstler jener Zeit aber übernahm eine
wegweisende Funktion für das bulgarische Kunstleben und zwar auf den
verschiedensten Gebieten.
Die Freilichtmalerei der ersten bedeutenden bulgarischen Künstlerinnen
war eng mit der Münchner Kunstszene verbunden. Elen a Kar amich aj-
lova (1875–1961) wurde von ihrer fortschrittlichen Familie gefördert und
studierte zwischen1898 und 1902 in München an der Privatschule von
Heinrich Knirr und an der Damenakademie bei Christian Landenberger
und Angelo Jank. Von 1909 bis 1910 lebte und arbeitete sie als frei-
schaffende Künstlerin erneut in der Stadt, so dass ihre hellfarbige, luftige
Malerei mit ihren deutschen Lehrern in Verbindung gebracht werden
muss. Sie schuf vorwiegend Porträts (seltener Landschaften) und Figuren-
kompositionen, die eine moderne, subjektive Empfindung widerspiegeln.
Nach der Rückkehr nach Bulgarien zeigte ihr Werk eine konsequente
Fortsetzung impressionistischer Prinzipien, womit Karamichajlova als eine
Vertreterin des Spätimpressionismus in Bulgarien angesehen werden kann.
Derselben Linie folgte Elis aveta Kons ulov a -Vaz o va (1881–1965).
Als Schülerin von Vešin weilte sie mehrmals in München. Ihren ersten
Aufenthalt in den Sommermonaten der Jahre 1905 und 1906 schilderte sie
so:
„Der Aufenthalt in München, der Stadt, von der ich seit Jahren dank des Ein-
flusses unseres Professors Vešin geträumt hatte, war wie ein glücklicher Rausch
in allem, wonach ich mich gesehnt hatte. Den ganzen Tag waren meine Freun-
din [die Malerin Vita Georgova, Anm. D. K.] und ich in den Pinakotheken, wo
144
wir eifrig kopierten. In diesem Monat gelang es mir, den „Schweren Gang“ des
damals zeitgenössischen Malers Fritz von Uhde und „Jupiter und Antiope“
von Veronese zu kopieren.“7
Elisaveta Konsulova-Vazova besuchte Fritz von Uhde sogar in seinem
Atelier in der Theresienstraße. In der in Sofia verlegten Zeitschrift „Hudož-
nik“ (Künstler) veröffentlichte sie einen Artikel über Uhdes Kunst als Teil
einer Serie über Münchner Künstler wie Franz von Lenbach und Franz von
Stuck. Von 1909 bis 1910 bildete sich die Künstlerin wieder in der bayeri-
schen Hauptstadt bei Heinrich Knirr weiter. 1921 bis 1922 gab es erneut
einen längeren Aufenthalt in der Stadt, der allerdings an den bereits
entwickelten Präferenzen nichts mehr änderte, die das gesamte weitere
Schaffen der Künstlerin bestimmten. Konsulova-Vazova engagierte sich
auch sehr für die Verbreitung der europäischen Kultur in Bulgarien. So
verfasste sie 1907 die erste kunsthistorische Übersetzung ins Bulgarische,
nämlich Auszüge aus der 1899 bis 1902 in Deutschland herausgegebenen
Geschichte der Malerei von Richard Muther. Ihre aufklärerischen Initiativen
gingen weit über die Kunst hinaus: So war sie zwischen 1934 und 1943
Herausgeberin der Frauenzeitschrift „Beseda“ („Unterhaltung“) und ab
1940 „Dom i svjat“ („Haus und Welt“), in der sie oft unter Hinweis auf
Vorbilder in Deutschland fortschrittliche Ideen zur Haushaltsführung vor-
stellte.
Besonders wichtig waren die unterschiedlich langen Aufenthalte in
München zwischen 1902 und 1904 für die künstlerische Entwicklung des
ersten bulgarischen Karikaturisten Alex and©r B ožino v (1887–1968). Es
sind keine Dokumente bekannt, aus denen hervorgeht, dass er irgendeine
Ausbildungsstätte besuchte, aber der Jugendstil, die Auseinandersetzung
mit den Zeitschriften „Jugend“ und besonders „Simplicissimus“, hatten
seinen Stil sichtbar bereichert und einen großen Einfluss auf die Gestaltung
der ersten bulgarischen satirisch-humoristischen Zeitschrift „B©lgaran“
(1904–1909), deren Hauptzeichner er war. Ab der dritten Ausgabe wurde
Božinov auch zum Redakteur, womit die Blütezeit des Blattes begann. In
„B©lgaran“ wurden sowohl Karikaturen von den deutschen Zeichnern des
Simplicissimus wie Olaf Gulbransson und Thomas Theodor Heine, als
auch einige Karikaturen von dem in Bulgarien geborenen Simplicissimus-
7 „ʆ˕ʺʴˆʵʲʵʲˑʺ˘˓ ʵ ʂ˭ˑˠʺˑ, ˔˓ʹ ˣˆʺ˘˓ ˓ʴʲˮˑˆʺ ʴˮˠ ʾˆʵˮˏʲ ʶ˓ʹˆˑˆ ˑʲ˕ʺʹ ʴˏʲʶ˓-
ʹʲ˕ʺˑˆʺ ˑʲ ˑʲ˦ˆˮ ˔˕˓˟ʺ˖˓˕ ɪʺ˦ˆˑ, ʴʺ ʺʹˑ˓ ˧ʲ˖˘ˏˆʵ˓ ˓˔ˆˮˑʺˑˆʺ ˓˘ ʵ˖ˆˣˊ˓, ˄ʲ
ˊ˓ʺ˘˓ ˖˨ː ˊ˓˔ˑˮˏʲ. ʔʺˏˆˮ˘ ʹʺˑ ˔˕ʺˊʲ˕ʵʲˠːʺ ˖ ˔˕ˆˮ˘ʺˏˊʲ˘ʲ ːˆ (ˠ˙ʹ˓ʾˑˆˣˊʲ˘ʲ
ɪˆ˘ʲ ɫʺ˓˕ʶ˓ʵʲ – ʴʺˏ. ɮ.ɼ.) ʵ ˔ˆˑʲˊ˓˘ʺˊˆ˘ʺ, ˊʲ˘˓ ˊ˓˔ˆ˕ʲˠːʺ ˑʲˇ-˙˖˨˕ʹˑ˓. ʊ˓ˮ ːʺ-
˖ʺˢ ˙˖˔ˮˠ ʹʲ ˊ˓˔ˆ˕ʲː „ʊ˕˙ʹˑˆˮ ˔˨˘ ” ˓˘ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ˘˓ʶʲʵʲ ˑʺː˖ˊˆ ˠ˙ʹ˓ʾˑˆˊ
ʑ˕ˆˢ ˟˓ˑ ʍʹʺ ˆ „ʟ˔ˆ˘ʺ˕ ˆ ɧˑ˘ˆ˓˔ʲ” ˓˘ ɪʺ˕˓ˑʺ˄ʺ...“ Konssulova-Vazova 1962.
145
mitarbeiter Jules Pascin publiziert.8 So wurden beispielsweise Pascins
Zeichnungen „Die Maske“ (B©lgaran 19.2.1906, S. 3) und „Mann und Frau“
(B©lgaran 12.11.1906, S. 3) in beiden Zeitschriften veröffentlicht.
Von großer Bedeutung war München auch für den ersten bulgarischen
Bühnenmaler Alex and©r Mile n kov (1882–1971). Er studierte1902 ein
Semester an der Städtischen Gewerbeschule bei Adolf Dietl. Anschließend
spezialisierte er sich auf Bühnenmalerei, die er bei Hans Frahm am
Theateratelier der Münchner Oper ausübte. Diese Ausbildung wurde vom
bulgarischen Nationaltheater hoch bewertet und deswegen unterstützt. Mit
einigen Unterbrechungen verbrachte Alexand©r Milenkov insgesamt drei
Jahre bei Prof. Frahm, bis er schließlich 1910 der erste professionelle
Bühnenmaler am Nationaltheater in Sofia wurde.
Zwei weitere Künstler, die die bulgarische Malerei bereicherten, waren
ebenfalls Studenten an der Kunstakademie. Der erste, Alex and©r Muta-
fov (1879–1957), besuchte die Kunstakademie „Albertina“ in Turin, bevor
ersich in der Malklasse von Ludwig von Löfftz einschrieb und dort von
1902 bis 1903 blieb. In München wurde Mutafov von der Jugendstil-
bewegung inspiriert und entdeckte für sich die melancholischen und
romantischen Stimmungen des Symbolismus, die lange seine vorwiegend
maritimen Landschaftsbilder dominierten. Von seinem Lehrer in München
konnte er sich in diesem Genre bestätigt fühlen. Mutafov reicherte seine
Werke mit nuanciertem Kolorit an, wurde mit diesen Qualitäten später als
Marinemaler hoch geachtet und legte den Grundstein für dieses Genre in
der bulgarischen Kunst. Von 1920 bis 1932 lehrte er als Professor für
Malerei an der Kunstakademie in Sofia.
Der zweite ist Bori s Dene v (1883–1969); er reformierte schon sehr
früh den Zeichenunterricht an den Schulen, an denen er lehrte. Sein ei-
gener Kunstlehrer in Veliko T©rnovo, Dimit©r Petkov, war bereits an der
Münchner Akademie ausgebildet worden. Außerdem hatte deren über-
lieferter guter Ruf seine Wahl bestimmt. Mit den Einnahmen seiner Aus-
8 Jules Pascin/Julius Pincas (1885–1930) wurde in Vidin, Bulgarien geboren. Er stammt
aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Seine Kindheit verbrachte er ab 1891 in
Bukarest. Er besuchte das Gymnasium in Wien, wo er auch 1902 anfing, Malerei zu
studieren. 1904–1905 besuchte er in München die Privatschule von Moritz Heymann.
Er wurde Mitarbeiter des „Simplicissimus“ (1905–1913 und 1920–1929). Ende 1905
ließ er sich in Paris nieder und schloss sich der künstlerischen Boheme in Mont-
parnasse an. 1907 hatte er seine erste Einzelausstellung bei Paul Cassirer in Berlin. Er
unternahm viele Reisen, verbrachte den Ersten Weltkrieg in den USA und kehrte da-
nach nach Paris zurück. Sein Schaffen beinhaltet Karikatur, Grafik, Malerei und Aqua-
rell und zeigt vorwiegend das verborgene großstädtische Leben. Seine Akte, erotische
Szenen und Frauenporträts sind von eleganten und expressiven Linien bestimmt.
146
stellungen in Sofia finanzierte Denev diese Aufenthalte in München. 1910
schrieb er sich an der Kunstakademie in der Malklasse von Ludwig von
Löfftz ein. Nach dessen Tod studierte er bis 1913 mit Unterbrechungen bei
Carl von Marr und Angelo Jank weiter. Dort wurde ihm ermöglicht, wo-
nach er strebte – einerseits das Erlernen der klassischen Maltechniken und
Methoden, andererseits die Ermutigung zum Experimentieren mit Farbe
und Form, wobei er verschiedene Stilelemente verwendete. In Denevs
Landschaften und Kompositionen vereinigen sich impressionistische und
symbolistische Tendenzen, es finden sich aber auch expressionistische
Ausdrucksweisen. Mit diesem ihm eigenen Stil behandelte Denev meistens
bulgarische Sujets. Nach einigen Jahren war er einer der wenigen aus
seiner Generation, der als freischaffender Künstler von seiner Kunst leben
konnte. Vor allem seine Landschaften beeinflussten maßgeblich die Ent-
wicklung diese Genres in Bulgarien.
Die Lebenswege der bisher vorgestellten Künstler zeigten die Möglich-
keiten und den Rahmen auf, in dem sich die moderne Kunst in Bulgarien
am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeln konnte. Angesichts der histo-
risch verspäteten Öffnung der bulgarischen Kultur gegenüber dem übrigen
Europa ist ein rasches Tempo festzustellen, in dem sich die fortschrittlichen
Protagonisten von der akademischen Kunstpraxis ablösten. Diese begaben
sich aber dann auf einen unradikalen Weg der Modernisierung, den sie
selbst und die bulgarische Gesellschaft aufnehmen, reflektieren und akzep-
tieren konnten.
Im Gegensatz dazu stand Geor ges P apazo ff (1894–1972), der am
offensten und mit größtem Freimut modernistisch experimentierte. Er
hatte keine systematische akademische Ausbildung, weilte aber nach dem
Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich und besuchte in München
1918/19 die Privatschule von Hans Hoffmann. 1924 ließ er sich in Paris
nieder und schuf von Träumen inspirierte Werke. Der heute anerkannte
Vorläufer und Mitbegründer des Surrealismus stellte auch in Sofia (1919,
1928) aus.9 1934 und 1935 versuchte er erneut, seine Kunst mit einer Reihe
von Ausstellungen und Vorträgen in Bulgarien zu verbreiten, blieb aber
unverstanden. Enttäuscht kehrte er nach Frankreich zurück und kam nie
wieder in seine Heimat.
9 1925 nahm Georges Papazoff in Paris an den ersten Gruppenausstellungen der Sur-
realisten zusammen mit Hans Arp, Max Ernst, Paul Klee, André Masson, Joan Miró,
u. a. teil. Seine freie und anarchistische Einstellung aber ließ ihn nicht zu der Gruppe
von André Breton stoßen. So blieb er unorganisierter Vertreter der surrealistischen
Bewegung.
147
Es gibt auch einige andere Bulgaren, die nicht vorwiegend im Land
selbst an der Entwicklung der bulgarischen Kunst mitwirkten, sondern sie
im Ausland repräsentierten und so einen spezifischen, mit München ver-
bundenen Beitrag dazu leisteten.
Einer von ihnen ist Niko la Mi chajl ov (1876–1960), dererst in der
Privatschule bei Heinrich Knirr war, dann an der Kunstakademie bei Otto
Seitz und Alexander von Wagner studierte. Danach betrieb er sogar für
kurze Zeit (1900–1902) eine eigene Privatschule in München. Später machte
er von Berlin aus eine steile internationale Karriere als Salonmaler. Ein
großer Teil seiner frühen Werke lehnt sich an den Symbolismus an, aller-
dings mit der Besonderheit, anstelle von Motiven aus der antiken Mytho-
logie solche der bulgarischen Legenden und Folklore aufzugreifen. Nach
dieser Periode von 1900 bis 1910 wurde Michajlov durch seine wirkungs-
vollen und virtuosen Porträts berühmt. Als Mitglied des Vorstands der
Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft war er zwischen den beiden Welt-
kriegen auch politisch einer der wichtigsten Repräsentanten für die Kunst-
beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien.10 Da Bulgarien sowohl
im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg an der Seite Deutschlands stand,
war die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft während des Nationalsozialis-
mus einer besonderen staatlichen Förderung, aber auch Kontrolle und
Kulturpropaganda unterworfen. Michajlov selbst porträtierte in dieser Zeit
– wie schon zuvor in der Weimarer Republik – auch hohe Regierungs-
repräsentanten und solche aus dem verbündeten Ausland, darunter Adolf
Hitler und Mussolini. Trotz dieser Umstände und seines Engagements in
der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft stellte er aber auch nach dem Zwei-
ten Weltkrieg weiter international aus.
Boris Georgiev (1888–1962) war schon früh aus Bulgarien emigriert,
verlor aber nie die Verbindung zu seinem Heimatland und hatte dort meh-
rere erfolgreiche Ausstellungen. Sein stark von Nikolai Roerich geprägtes
Selbstverständnis war das eines Weltbürgers, der eine geistige Mission zu
10 Die Deutsch-bulgarische Gesellschaft (DBG) wurde am 15.2.1916 in Berlin gegründet.
Zweigstellen entstanden auch in München, Dresden, Leipzig, Wien, Graz, Breslau und
Prag. Ziel war die Verständigung der beiden Völker durch Organisation kultureller
Ereignisse. Die DBG arbeitete eng mit den Regierungen beider Länder zusammen und
folgte der staatlichen Kulturpolitik. Im Jahr 1934 wurde die Führung von General
Ewald von Massow (1869–1943) übernommen. Nachher entwickelte die DBG beson-
ders aktive Tätigkeit und lud regelmäßig bulgarische Künstler, Musiker, Schriftsteller
und Wissenschaftler nach Deutschland ein. In Bulgarien gastierte im Gegenzug z. B.
der Kunsthistoriker Prof. Hubert Schrade, der in der Kunstakademie inSofia eine
Reihe von Vorträgen über die deutsche Kunst hielt (1939, 1942). Bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs organisierte die DBG den größten Teil des gesamten kulturellen
Austauschs zwischen dem Deutschen Reich und Königreich Bulgarien.
148
erfüllen hat.11 Nach einem Studium an der Kunstakademie in St. Peters-
burg reiste er im April 1910 nach München und bildete sich an der Kunst-
akademie bei Peter von Halm und Angelo Jank weiter. Gleichzeitig be-
suchte er Vorlesungen an der philosophischen Fakultät der Münchner
Universität. Sein eleganter, linearer Stil, der vor allem aus der italienischen
Renaissance schöpfte, wurde in München durch den sezessionistischen
Schwung in der Bewegung und eine feine Stilisierung bereichert, wie die
erhaltenen Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen. In den Folgejahren durch-
querte Georgiev zu Fuß ganz Europa und bildete sich an der Freien Schule
der Florentiner Kunstakademie im Aktzeichnen weiter. In den 1930er
Jahren unternahm er lange Reisen nach Indien, wo er ein Freund Mahatma
Gandhis, Rabindranath Tagores und Jawaharlal Nehrus wurde. Er fertigte
Porträts von zahlreichen Persönlichkeiten, so etwa von Albert Einstein. Die
letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Georgiev in Italien als frei-
schaffender Künstler.
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg entstand in Bulgarien eine neue
Kunstbewegung, die nach kultureller und nationaler Kontinuität strebte.
Es wurde nach Wegen gesucht, die nationale Identität zu betonen und man
wandte sich alten Kunstpraktiken aus der Zeit vor der Rezeption der Kunst
aus West- und Mitteleuropa zu, die zum Bestandteil einer eigenen moder-
nen Ausdrucksform wurden. Viele Künstler wurden so zum Beispiel durch
die Ikonenmalerei und Holzschnitzkunst oder das Kunsthandwerk ange-
regt. In der Kunstkritik dieser Zeit ist das Hauptthema die Diskussion um
die Verbindung von „modern“ und „heimatlich“ sowie von „westlich“
und „östlich“. In gewissem Sinne war dieses Interesse an der eigenen Ver-
gangenheit auch durch die Auslandserfahrungen hervorgerufen worden.
Zum einen war es das Erlebnis der jeweiligen Traditionen in anderen
Ländern, zum anderen schärfte die Distanz zur Heimat die Empfindsam-
keit für die eigene Spezifik.
Einige wichtige Vertreter dieser Bewegung, der so genannten „Rodno
izkustvo“ (Heimatliche Kunst), die während der 1920er Jahre in der bul-
garischen Kunst vorherrschte, waren auch mit München verbunden. Dazu
zählte der Bildhauer Ivan Laza rov (1889–1952). Nach dem Studium in
Sofia kam er als Stipendiat des Bildungsministeriums in die Isarmetropole
und im Wintersemester 1917/18 schrieb er sich an der Kunstakademie in
11 Nikolai Roerich (1874–1947) war russischer Maler, Bühnenbildner, Kunsttheoretiker
und Archäologe. Bis 1917 war er in St. Petersburg tätig, 1920 übersiedelte er in die
USA, 1930 nach Indien. 1929 legte er durch den sogenannten Roerich-Pakt die Grund-
lage für die „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Kon-
flikten“ (1954). Seine humanistischen Ideen spiegeln sich auch in seiner Malerei, vor-
wiegend Panoramalandschaften und Kompositionen aus der Geschichte.
149
der Klasse von Hermann Hahn ein. Aus seiner Autobiographie ist zu er-
fahren, dass dieser Aufenthalt seine künstlerische Position maßgeblich
prägte. So fand Lazarov in München zu einem Komplex von künstleri-
schen Ideen, die seinen weiteren Weg in der Darstellung des bulgarischen
Nationaltypus bestimmten. Die entscheidenden Anstöße hierzu sind indes
außerhalb der Akademie zu suchen. In seiner Biographie ist zu lesen, dass
Lazarov einerseits stark beeindruckt von der ägyptischen Kunst war, die er
in den Münchner Museen studiert hatte und durch die ihm die Kraft der
klaren, verallgemeinernden und vereinfachenden Formen bewusst gewor-
den war.12 Andererseits widmete er dem zeitgenössischen Bildhauer Ernst
Barlach besondere Aufmerksamkeit. Als Lazarov wieder in Bulgarien war,
erschuf er mit den neu gewonnenen plastischen Ausdrucksmitteln natio-
naltypische Motive und Gestalten, die seitdem seine Hauptsujets blieben.
Bekanntlich fand die moderne und avantgardistische Kunst spätestens
nach dem Ersten Weltkrieg in München weniger Raum. Insbesondere blie-
ben dieser Kunst die Türen der Akademie verschlossen. Auf den ersten
Blick umso erstaunlicher ist es deshalb, dass München trotzdem seine
Attraktivität für die bulgarischen Künstler behielt und deren Zahl gerade
in den 1920er Jahren anstieg. Dafür gibt es eine Reihe unterschiedlicher
Gründe. Für viele, die den modernen künstlerischen Ausdruck gegenüber
den Traditionalisten suchten, erwies sich München als „besonders pas-
send“ im Gegensatz zu Berlin, das zwar aufregend, aber auch fremder war.
Die bulgarischen Künstler genossen die Zeit in München sehr und aus
heutiger Sicht sind diese Aufenthalte tatsächlich anregend, fruchtbar und
bereichernd gewesen. Der Verfall der Reichsmark Anfang der 1920er Jahre
erleichterte diese Aufenthalte auch erheblich. Ungefähr drei Jahre lang
wurde jene Zeit von den Bulgaren als besonders ungewöhnlich und kurios
empfunden, denn bis die Einführung der Rentenmark dem ein Ende setzte,
lebten sie mit ihren „spärlichen studentischen Mitteln […] wie die
Fürsten.“13
Die seit dem Herbst 1922 bestehende bulgarische Kolonie umfasste
Studenten, bildende Künstler, Literaten, Musiker und Schauspieler und
pflegte ein intensives kulturelles Leben. Dabei wurde das ganze Spektrum
des kulturellen Angebots berücksichtigt:
„Meine schönsten Erinnerungen sind […] an die Abende in den großen Kon-
zertsälen und in der Oper […] Endlos waren die Gespräche über moderne
12 Vor 1966 waren die Aegyptica in München in verschiedenen Münchner Museen und
Sammlungen zerstreut. Diese „Ägyptische Sammlung des Bayerischen Staates“ be-
findet sich seit 1970 als Ägyptisches Museum in der Münchner Residenz.
13 Erinnerungen von Fani Popova-Mutafova. Kuzmova-Zografova 2001, 99.
150
Kunst, über die Inszenierungen von Klabund, die Bilder von Picasso und Cha-
gall, über die Theaterstücke von Wedekind.“ (Kuzmova-Zografova 2001, 108)
Ein guter Kenner des Kulturlebens in der Stadt war +avdar Mutafov
(1889–1954). Während seines ersten Aufenthalts (1908–1912, 1913–14) stu-
dierte er Maschinenbau. Beim zweiten Mal (1922–1925) studierte er Archi-
tektur und gleichzeitig hörte er an der Universität die kunsthistorischen
Vorlesungen von Heinrich Wölfflin. Die Anregungen aus dieser Zeit hatten
ihm geholfen, seine persönlichen Vorlieben zu finden und nach seiner
Rückkehr entwickelte sich Mutafov mit seiner Kunstkritik, Literatur sowie
Lehrtätigkeit an der Kunstakademie zu einem der wichtigsten Verfechter
der modernen Kunst in Bulgarien. Er beschrieb die spannende und wider-
sprüchliche Zeit in München folgendermaßen:
„Es gibt wohl keine andere Stadt in Deutschland wie München, wo die Kunst
so zurückhaltend und gleichzeitig kühn ist: Traditionsschwer und gleichzeitig
trunken ob der eigenen Siege, fast apathisch ihre Todessaltos vollziehend,
doch mit klassischer Präzision. [...] Obwohl dort jedes Jahr eine Revolution
stattfindet, ist es aber eben eine Münchner Revolution, deswegen schreckt sie
niemanden.“14
Andere Mitglieder dieser aufgeschlossenen Gesellschaft Anfang der 1920er
Jahre waren die damals noch jungen bulgarischen Maler De²ko Uzunov,
Ivan Penkov und Konstantin St©rkelov, die sich für München entschieden,
nachdem sie den Aufenthalt durch den Verkauf einiger Arbeiten finan-
zieren konnten. Dazu gehörten auch Maša Živkova, die später als Uzunovs
erste Frau den Namen Živkova-Uzunova annahm, und der Karikaturist
Rajko Alexiev. Für kürzere Zeit gesellten sich auch die Maler Vladimir
Dimitrov-Majstora, Nikola Tanev mit seiner Frau und der Grafiker Vassil
Zachariev hinzu.
Einige hatten sich an der Kunstakademie eingeschrieben – Ivan Pen-
kov (1897–1957) bei Adolf Hengeler 1922/23, De²ko Uzunov (1899–
1986) bei Carl von Marr 1922/23 sowie Maš a Živkova (1903–1986) bei
Hugo von Habermann und Olaf Gulbransson 1924/25. Sie besuchten
gleichzeitig Privatateliers, so auch Ilij a Pet rov (1903–1975), der bei
Förderung durch ein staatliches Stipendium 1927/28 München für seine
Spezialisierung wählte. Bei allen diesen Künstlern lässt sich sowohl aus
14 „ɯʹʵʲ ˏˆ ˆːʲ ʵ ɫʺ˕ːʲˑˆˮ ʹ˕˙ʶˆ ʶ˕ʲʹ ˊʲ˘˓ ʂ˭ˑˠʺˑ, ʹʺ˘˓ ˆ˄ˊ˙˖˘ʵ˓˘˓ ʺ ˘˨ˇ ʵ˨˄-
ʹ˨˕ʾʲˑ˓ ˆ ˖ːʺˏ˓ ʺʹˑ˓ʵ˕ʺːʺˑˑ˓: ˘ʺʾˊ˓ ˓˘ ˘˕ʲʹˆˢˆˮ ˆ ˓˔ˆˮˑʺˑ˓ ˓˘ ˖˓ʴ˖˘ʵʺˑˆ˘ʺ
˖ˆ ˔˓ʴʺʹˆ, ˔˕ʲʵʺ˧˓ ˔˓ˣ˘ˆ ʲ˔ʲ˘ˆˣˑ˓ ˖ː˨˕˘ˑˆ˘ʺ ˖ˆ ˖ˊ˓ˊ˓ʵʺ, ʲˏʲ ˖ ˊˏʲ˖ˆˣˑʲ ˓˘-
ˣʺ˘ˏˆʵ˓˖˘.[...] ːʲˊʲ˕ ˣʺ ˘ʲː ˖˘ʲʵʲ ʵ˖ˮˊʲ ʶ˓ʹˆˑʲ ˕ʺʵ˓ˏ˭ˢˆˮ, ˘˓ʵʲ ʺ ˘˨ˊː˓ ː˭ˑˠʺˑ-
˖ˊʲ ˕ʺʵ˓ˏ˭ˢˆˮ ˆ ˄ʲ˘˓ʵʲ ˑʺ ˔ˏʲ˦ˆ ˑˆˊ˓ʶ˓”. Mutafov 1924, 4.
151
ihren Werken als auch aus ihren Erinnerungen entnehmen, dass ihr
Interesse nicht so sehr auf den Unterricht an der Akademie, sondern das
außerakademische visuelle Umfeld und den informellen Ideen- und
Erfahrungsaustausch gerichtet war. Besonders nachhaltig wurden die
Münchner Erfahrungen bei Ivan Penkov umgesetzt. In seiner Malerei führ-
ten die Münchner Anregungen zu einem viel expressiveren und ornamen-
talen Stil. Seine Projekte für angewandte Kunst verabschieden sich von der
überalterten, in Bulgarien aber immer noch präsenten Jugendstilästhetik
zugunsten einer funktionalen und an nationalen Traditionen anknüpfen-
den Ausdrucksform, wie sie sich in zahlreichen Szenographien und Glas-
malereien zeigt (vgl. Georgieva 2009).
Außerhalb dieses Kreises gab es auch Künstler, die in den 1920er Jahren
gleich mehrere Jahre in der Akademie verbrachten. Elie zer A lšech /
Alch eh (1908–1983) studierte zwischen 1928 und 1933 Malerei bei Karl
Caspar und Grafik bei Adolf Schinnerer. Alšech nutzte die Chance, bei
dem seinerzeit einzigen zu ihm passenden Professor der Akademie eine
Ausbildungsmöglichkeit zu bekommen, denn die Herausbildung seines
individuellen Stils war besonders von Karl Caspar beeinflusst. Mit einem
pastosen, breiten und dynamisch ausgeführten Pinselstrich baute Alcheh
seine Landschaften und Porträts auf. Die subjektive, expressionistische
Malweise entsprach seinem Wesen am besten. Ihr blieb er sein ganzes
Leben verbunden. Im Laufe der Zeit änderte sich sein Kolorit, das etwas
Hellere und Kräftigere wurde später bevorzugt, aber Grundlage seiner
Malerei war stets die systematisch vervollkommnete Ausdrucksweise aus
seiner Münchner Zeit.
Eine gegensätzliche Kunstauffassung hatte Kiri l Con ev (1896–1961).
Er kam noch früher an die Münchner Akademie, um von 1921–1925 bei
Karl Caspar und Hugo von Habermann zu studieren, dessen Meister-
schüler er wurde. Gleichzeitig lernte er bei Max Doerner Maltechnologie,
Konservierung und Restaurierung. Diese zusätzliche Spezialisierung sollte
ihm später, als er im sozialistischen Bulgarien Malverbot bekam, ermög-
lichen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vor diesem Umbruch war er
allein Maler. Sein Malstil schloss sich an die Neue Sachlichkeit an, vor
allem bei den klaren, geschlossenen Formen, exakter Linienbetonung und
ausgeglichenen Kompositionen monumental wirkender Porträts und spä-
terer Landschaftsbilder. Bei der Betonung der Parallelen zwischen Conevs
Arbeiten und jenen von Alexander Kanoldt, beide Vertreter der klassi-
zistischen Linie der Neuen Sachlichkeit, wurde nie berücksichtigt, dass die
Einflüsse seines Lehrers Hugo von Habermann zwar vielleicht nicht so
stark, aber durchaus in der Einstellung zur Kunst bei Conev präsent sind
(vgl. Koeva 1996). Bis 1929 lebte und arbeitete Conev in München und
152
hatte dort acht eigene Ausstellungen. Während dieser Zeit war er Mitglied
des Künstlerverbands „Die Juryfreien München e.V.“, mit dem er sich
mehrmals an den Ausstellungen im Glaspalast beteiligte. Mit Beginn des
nationalsozialistischen Regimes wurde der Verein 1933 aufgelöst. In Conevs
Autobiographie ist hierzu überliefert:
„48 Mitgliedern wurde verboten, den Künstlerberuf auszuüben. Ich musste
innerhalb einer bestimmten Frist Deutschland verlassen.“15
So kehrte er nach Bulgarien zurück, wo er von 1942 bis 1950 Professor an
der Kunstakademie in Sofia wurde.
Ganz anders verlief der Lebensweg von Kons tanti n Gar nev (1894–
1966). Von 1924 bis 1930 studierte er Malerei an der Münchner Kunst-
akademie. Zuerst war er bei Hermann Groeber, dann wurde er einer der
letzten Meisterschüler von Franz von Stuck. Die Einflüsse seiner Lehrer
sind in seinen frühen Kompositionen spürbar, wurden aber bald über-
wunden, um dem expressiveren Umgang mit Form und Farbe den für
seine Arbeiten bestimmenden Platz zu geben. Garnev beteiligte sich an
zahlreichen Ausstellungen in Deutschland und Bulgarien. Eine Einzel-
ausstellung in Sofia (1934) hatte eine positive Resonanz, aber er wählte
doch München als Wohnsitz. Dort hatte er schließlich auch seine repräsen-
tativste Einzelausstellung mit über hundert Werken in der Galerie am
Lenbachplatz (1940). Aus Münchner Perspektive erlebte Garnev auch die
Kunst- und Kulturentwicklung während des NS-Regimes. Er blieb nicht
teilnahmslos angesichts der Pathetik der nationalsozialistischen Propa-
ganda und hielt sich mit seinen Landschaften und Kompositionen in den
Grenzen des Kunstdiktats, ohne sich deshalb verbiegen zu müssen. Kunst-
politisches Engagement äußerte sich in beifälligen Berichten über kultu-
relle Ereignisse in Deutschland, die regelmäßig in der bulgarischen Presse
erschienen. Garnev wurde auch zum gefragten Mitarbeiter bei bulgarisch-
deutschen Projekten, so zum Beispiel für die zusammen mit Ivan Penkov
organisierte und gestaltete Ausstellung „Heimatkunst in Bulgarien“ (1933)
in München. Wegen dieses Engagements hatte Garnev später, in Bulga-
riens sozialistischer Zeit, keine Gelegenheit mehr, sich dort in Ausstellun-
gen zu präsentieren, seine zahlreichen vergeblichen Versuche diesbezüg-
lich verbitterten ihn. Er starb, ohne nach dem Zweiten Weltkrieg Bulgarien
noch einmal besucht zu haben.
Alle diese Künstler, die seit Beginn der 1920er Jahre nach München
gekommen waren, hatten nicht nur sehr verschiedene Schicksale; vielmehr
15 „ʃʲ 48 ʹ˙˦ˆ ˓˘ ˣˏʺˑ˓ʵʺ˘ʺ ˖ʺ ˄ʲʴ˕ʲˑˆ ʹʲ ˙˔˕ʲʾˑˮʵʲ˘ ˔˕˓˟ʺ˖ˆˮ˘ʲ ˖ˆ ˑʲ ˠ˙ʹ˓ʾ-
ˑˆˢˆ. ɧ ˑʲ ːʺˑ ːˆ ʴʺ˦ʺ ʹʲʹʺˑ ˖˕˓ˊ ʹʲ ˑʲ˔˙˖ˑʲ ɫʺ˕ːʲˑˆˮ”. Zonev 1969, 272.
153
wiesen sie auch überaus unterschiedliche Charakteristika auf. In den
1930er Jahren aber wurden sie alle in Bulgarien als „Modernisten“ be-
zeichnet. In der Kunstkritik der damaligen Zeit definierte man den Moder-
nismus undifferenziert als eine allgemeine Tendenz des Subjektivismus als
autonomer, aber an der Wirklichkeit orientierter Ausdrucksweise. Die
bulgarischen Modernisten blieben also bei einer figürlichen und gegen-
ständlichen Bildgestaltung. Ein Merkmal, das damals als unentbehrlich für
die Qualität galt, war „Wahrhaftigkeit“. Die Werke sollten dem Tempera-
ment des Künstlers entsprechen und ein „nationales Gepräge“ haben.
Unter „modern“ war also in Bulgarien eine individuelle, subjektive Kombi-
nation von Elementen verschiedener Richtungen wie Neoklassizismus,
Postimpressionismus, Expressionismus und Postexpressionismus zu ver-
stehen.
Zeitgleich mit dieser Entwicklung, aber ohne unmittelbare Einmischung
in das Schaffen der bulgarischen Künstler, waren die 1930er Jahre stark
vom politischen Geschehen geprägt. Die traditionell engen Kunstbeziehun-
gen zwischen Deutschland und Bulgarien blieben intensiv, wurden aber
zunehmend politisch ausgenutzt und gezielt intensiviert.16 Oft wurden
Bulgaren zu Ausstellungen nach Deutschland eingeladen. Mit staatlichen
Stipendien kamen selbst während des Zweiten Weltkriegs vier bulgarische
Gaststudenten und der Restaurator des Archäologischen Museums in Sofia
für eine Spezialisierung nach München.
Insgesamt hielten sich über 60 Künstler von Mitte des 19. bis Mitte des
20. Jahrhunderts für längere Zeit im Kunstzentrum München auf. Für die
meisten Bulgaren waren diese Aufenthalte von komplexer Bedeutung. In
München besuchten sie sowohl staatliche Institutionen wie die Kunst-
akademie, die Gewerbeschule und die Technische Hochschule, als auch
private Schulen und Ateliers und es gab einige, die einfach nur aus der
urbanen Atmosphäre und dem Kunstleben schöpften. Die Aufnahme der
Münchner Impulse gestaltete sich weder gradlinig noch planmäßig. Die
Einflüsse und deren Umsetzung wurden vielmehr durch das Prisma der
eigenen Interessen gefiltert und durch die Bedürfnisse und Besonderheiten
des bulgarischen kulturellen Kontextes geprägt.
16 Das Dritte Reich bemühte sich, Bulgarien als Verbündeten zu gewinnen. Nachdem
dies gelungen war, wurde der kulturelle Austausch zwischen beiden Ländern noch
intensiver. Vgl. Kisseler 2005.
154
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155
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+. Mutafov, Mjunchensko izkustvo/Münchner Kunst. Slovo 668, 1924, 4.
156
Diliana Panayotova-Grün
Merkmale der bulgarischen Migration in Deutschland
am Beispiel von Bayern
Für die jüngste bulgarische Migration in Richtung Deutschland spielen die
historischen Verbindungen zwischen Deutschland und Bulgarien eine
wichtige Rolle. Diese Verbindungen lassen sich vor dem Hintergrund der
zwischenstaatlichen Beziehungen in Mitteleuropa, nämlich den deutschen
Königreichen und Österreich-Ungarn einerseits und dem Balkan oder dem
Osmanischen Reich andererseits positionieren.
Bereits im 19. Jahrhundert gab es rege Handelsbeziehungen auf breiter
und regelmäßiger Basis, die den deutschen Sprachraum mit Südosteuropa
verbanden. Aber auch politisch wurden die beiden europäischen Areale
verbunden. Deutschland brachte deutsche Könige auf den Balkan, zuerst
nach Griechenland, dann auch nach Bulgarien. Dies war ein wichtiger
Grund dafür, das Bulgarien seitdem sein Referenzland in der Runde der
großen westeuropäischen Mächte in Deutschland gesehen hat.
Im Folgenden wird zunächst der Versuch unternommen, zu beweisen,
dass die bulgarische Bildungs- und Elitemigration in Bayern Tradition hat.
Dazu wird die Entwicklung der bulgarischen Migration in Deutschland
mit dem Fokus auf Bayern umrissen. Mit Daten und Fakten aus Archiven,
Statistiken und Fachliteratur wird aus dem groben Bild aller Auswanderer
die konkrete bulgarische Migration herausgearbeitet. Es ist zu erwarten,
dass sich aus den vorhandenen Quellen der Umfang dieser Migration, ihre
Typologie sowie ihre Tendenzen und Formen herauskristallisieren lassen.
An zweiter Stelle wird die Suche nach den Gründen für die bulgarische
Migration nach Deutschland und Bayern aufgenommen. Die Migrations-
gründe werden traditionellerweise gern als push-and-pull Faktoren erklärt.
Diese Faktoren sind im Grunde genommen politische, wirtschaftliche,
demographische oder umwelttechnische Ereignisse und Gegebenheiten,
die die Macht entwickeln können, die Wanderung von Menschen zu be-
einflussen. Eine solche Kategorisierung wäre allerdings viel zu einfach, um
die Entstehung von Migration im Detail erklären zu können, deshalb
drängt sich den Migrationsforschern die Frage auf, ob nicht eine Hierarchi-
sierung der Faktoren mehr Erklärungspotential für dieses komplexe Phä-
nomen hätte.
Da hier der Fokus auf die bulgarische Migration als Gruppenbewegung
gelegt wird, werden dementsprechend die allgemein wirkenden Gründe
157
erörtert. Aus diesen Überlegungen heraus wird die gegenseitige Ver-
quickung von politischen und wirtschaftlichen Faktoren, die die Migration
beeinflussen, vor dem Hintergrund von historisch-politischen Ereignissen
in chronologischer Reihenfolge dargestellt.
Ein solches Ereignis war der Mauerfall von 1989 und die darauf fol-
gende Migration nach Westeuropa. Auf den ersten Blick wirkt diese Migra-
tion als eine Art Initialmigration, die eine neue Ära der binneneuro-
päischen Wanderung eingeleitet hat; und was die Migrantenzahlen betrifft,
war es tatsächlich so. Die Tatsache jedoch, dass im Vergleich zu anderen
Emigranten überproportional mehr Bulgaren nach Deutschland kamen
und immer noch kommen, bedarf einer Erklärung. Vielleicht waren
Arbeits- und Bildungsmigration aus Bulgarien auch früher keine Aus-
nahmen. Die Migranten aus Bulgarien, die nach der Wende in Richtung
Westeuropa aufbrachen, suchten nämlich nach bekannten Wegen und ver-
trauten Ländern und orientierten sich dementsprechend nach Deutschland.
Entwicklung der bulgarischen Migration
Die hier behandelte Entwicklung der bulgarischen Migration umfasst die
Zeit von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bis 2010. Entgegen einer
möglichen Vermutung war die Arbeitsmobilität der Bulgaren schon im 19.
Jahrhundert keine Ausnahme und sogar keine Seltenheit. Das Phänomen
der gurbetschii stammt aus der Zeit der osmanischen Herrschaft auf dem
Balkan und bezeichnet jene mobilen Arbeitskräfte, die zum Arbeiten ins
Ausland gingen. „Gurbetschii“ (Singular „gurbetschia“ auf Bulgarisch)
wird vom Wort gurbet (türkisch für „Ausland“, entlehnt aus dem Arabi-
schen) abgeleitet und im Sinne von Arbeit oder Gewinn durch Arbeit im
Ausland verwendet. Die gurbetschii waren somit Arbeitsmigranten, die ihre
Arbeitskraft im Ausland verkauften. Basil Gounaris macht so gut wie
keinen Unterschied zwischen Migranten und gurbetschii, wenn er die
makedonische saisonale Arbeitsmigration vom Ende des 19. und Anfang
des 20. Jahrhunderts beschreibt.
Laut B. Gounaris ist der typische Emigrant aus Makedonien (Engl. im
Orig. „Macedonia“) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts männlich,
slavisch-sprechend, zwischen 18 und 35 Jahre alt, meistens Bauer (vom
Land und in der Landwirtschaft tätig). Diese Menschen suchten ihr Glück
überwiegend in Übersee, z. B. in Saint Louis, wo ihr Einkommen min-
destens doppelt so hoch wie in Makedonien gewesen sein soll.1 Ein Teil
davon wanderte anscheinend auch nach Nordostbulgarien: Es waren zu
1 Gounaris 1989, 140; 144.
158
einem großen Teil Maurer, Bäcker, „millet beer makers“2, oder andere
Handwerker, aber auch nicht wenige landwirtschaftliche Arbeiter. Diese
für damals „interne“ Migration innerhalb der osmanischen Grenzen betraf
offensichtlich die europäischen Teile (nicht nur die bulgarischen Gebiete)
des Imperiums und überdauerte die Wiederherstellung der Balkanstaaten
Ende des 19. Jahrhunderts. Nach einer von Gounaris zitierten Studie von
Todorov, orientierte sich ein Drittel der jährlichen makedonischen Emi-
gration nach Bulgarien und einzelne Personen ließen sich dort sogar
nieder.3 Da aus dieser Zeit keine zuverlässigen Zahlen auffindbar sind,
ergibt sich eine recht breite Spanne von wahrscheinlich einigen Hundert
bis einigen Tausend Migranten, die jährlich in Bulgarien zum Arbeiten
einwanderten.
Für die Bulgaren der damaligen Zeit hatte der oben genannte Begriff
gurbetschii die gleiche Bedeutung wie für ihre makedonischen Nachbarn.
Auf gurbet geht jemand, der einen gewissen Gewinn von seinem Auslands-
aufenthalt erwartet. Somit ist gurbet im Sinne von Portes eine typische
Migrationsbewegung, die durch die Mittelschicht, bzw. die Schicht mit
etwas besseren Möglichkeiten getragen wird: „The very poor and the un-
employed are not the first to migrate and are generally underrepresented
in the outbound flow. Instead, it is people with some resources – small
rural proprietors, urban artisans, and skilled workers – who most com-
monly initiate and sustain the movement.“4 Die nachfolgend beschriebene
Sonderform der Arbeitsmigranten, die bulgarischen Gärtner, untermalt
beispielhaft diese Aussage.
Die bulgarischen Gärtner verbrachten die Monate zwischen März und
November üblicherweise in einer mitteleuropäischen Stadt, wo sie Land
pachteten und Gemüse anbauten. Für die Wintermonate kehrten sie in
ihren Heimatort in Bulgarien zurück. Ein Beitrag zur Erforschung dieser
Migrantengruppe leisteten Jana Pospíšilová und Helena Bo²ková im Band
14 der Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation.5 Beim
Vergleich mit den Beispielen von Gounaris kristallisiert sich eine Parallele
zwischen den bulgarischen Gärtnern und den Arbeitsmigranten aus Make-
donien heraus, die auch in der Landwirtschaft und ebenfalls saisonal
beschäftigt waren. Die Ähnlichkeit wird zusätzlich dadurch verstärkt,
dass J. Pospíšilová und H. Bo²ková erwähnen, dass es auch in Südwest-
2 Damit ist entweder das afrikanische millet beer gemeint oder eher das millet ale, oder
boza, ein typisches bulgarisches Getränk, das auch in anderen Balkanländern gern ge-
trunken wird.
3 Gounaris 1989, 134.
4 Portes 1995, 20.
5 Roth 2003.
159
Makedonien gewerbstätige Gemüsebauern gab.6 Es werden unter anderem
ähnliche Gepflogenheiten der bulgarischen Saisonarbeiter beschrieben, wie
im Beitrag von B. Gounaris: Auch unter denen gibt es boza-Hersteller und
auch sie kommen aus den Gebirgsgegenden.
Die Tradition der gurbetschii lebt noch heute im Volksmund weiter, nicht
nur durch die Fortsetzung der saisonalen Arbeitsmigration, sondern auch
durch die Folklore dieser Migranten. Der Begriff gurbetschii blieb erhalten
für die nächsten Generationen bulgarischer Arbeitsmigranten bis zur heu-
tigen Zeit, wenn er auch meistens mit Humor und um der alten Zeiten
Willen verwendet wird. Heute ist er nicht mehr nur für die männlichen
Migranten reserviert, sondern für alle, die einen finanziellen Gewinn und
eventuell zusätzlichen Mehrwert aus ihrem Auslandsaufenthalt mitneh-
men wollen.
I. Ditchev beschreibt gurbet als die herkömmliche bulgarische Emigra-
tion von männlichen agrarwirtschaftlichen Zeitmigranten, deren Wurzeln
in der ottomanischen (osmanischen) Periode Bulgariens zu finden sind. In
seiner Untersuchung liegt die Betonung auf der Befristung und Rückkehr-
option dieser Art von Migration im 19. Jahrhundert, in der sozialistischen
Zeit und heute. Während des Sozialismus wurden nach Ditchev die tradi-
tionellen Regeln des gurbet durch ideologische Sanktionen ersetzt, die die
Arbeitsmigranten daran hinderten, im Gastland Fuß zu fassen, da meistens
ein Teil der Familie zurück in der Heimat verblieb.7 Eine dauerhafte Migra-
tion in die politisch befreundeten Ländern Europas, aber auch Nordafrikas
und zum Teil Asiens (Vietnam), war deshalb nicht erwünscht und auch
nicht möglich. Bei den Migranten handelte es sich um qualifizierte Fach-
kräfte und Akademiker, die entweder in die Entwicklungsländer entsandt
wurden oder unter den sozialistischen Ländern zum intellektuellen und
politischen Austausch beitrugen. Die Möglichkeit, im Ausland Geld zu
verdienen, war eine geregelte und auch angesehene Art und Weise der be-
fristeten Migration.
Eine Fortsetzung sozialistischer Reglementierung als gelebte Form des
Zusatzverdienstes sieht Ditchev in der Ähnlichkeit zwischen den sozialisti-
schen „Brigaden“ und den saisonalen Jobs für Studenten in Westeuropa
oder den USA.8 Diese kurzfristigen Erwerbstätigkeiten wurden von vielen
bulgarischen Studenten nach der Wende wahrgenommen. Nach Ditchev
6 Pospíšilová/Bo²ková 2003, 85.
7 Ditchev 2010, 16.
8 Meistens Sommerlager mit verpflichtender Arbeit zur Unterstützung der Landwirt-
schaft durch alle Schichten der urbanisierten Bevölkerung, inklusive Schüler und
Studenten.
160
kehrt die Lebensform des gurbet in der Transformationsperiode wieder als
Migrationsmodell für junge Menschen zurück, die ihre ausländischen
Einkommen zu Hause ausgeben und auf diese Weise ihren Arbeitsort vom
Lebensort trennen.9
Über die heutige Zeit schreibt I. Ditchev, dass die Tradition des gurbet
durch etablierte Netzwerke wieder hergestellt wird und belegt seine Be-
hauptung mit einigen Zahlen: 2007 gaben 67 % der jungen bulgarischen
Stadtbewohner an, dass sie für längere Zeit im Ausland arbeiten würden,
währenddessen nur 6 % die Aussage machten, sie würden dauerhaft emi-
grieren wollen.10 Eine Studie der United Nations’ International Organisa-
tion for Migration, die in einigen Ländern Osteuropas durchgeführt wurde,
zeigte 1992 ein ähnliches Ergebnis: 69 % der Ukrainer und 65 % der Bulga-
ren gaben an, sie würden auch für wenige Monate zum Arbeiten ins Aus-
land gehen.11 Arbeiten im Ausland auf Zeit scheint eine wichtige Option
für junge Bulgaren zu sein. Und welche genau diese Menschen sind,
beschreibt Ditchev indirekt: “In fact, not the unemployed or disadvantaged
but the educated urbanite is most likely to emigrate”12 – ausgebildete,
junge Stadtbewohner, die, man kann ergänzen, gut informiert sind oder
über die nötigen Netzwerke im Ausland verfügen, um migrieren zu kön-
nen. Es verfestigt sich die Feststellung, wie oben von Portes zitiert, dass die
Migranten in den meisten Fällen Personen mit gewissen Ressourcen sind,
ob finanziell, intellektuell, sozial (Sozialkapital) oder anderer Natur.
Die Argumentation von I. Ditchev erklärt die Entwicklung der Arbeits-
migration der Bulgaren durch den gurbet-Begriff. Ob es Hochqualifizierte,
Landarbeiter oder Studenten sind, alle werden als verschiedene Typen
gurbetschii klassifiziert. Ich möchte im Gegensatz dazu die Arbeitsmigran-
ten von den Bildungsmigranten unterscheiden.
Die bulgarische Bildungsmigration
Die Ausbildung in einer großen europäischen Stadt hat seit jeher den Reiz
und den Wert eines besonderen Gutes für die Menschen auf dem Balkan,
so natürlich auch für die Bulgaren. Sei es der Titel „Hadschi“ nach dem
Besuch der heiligen Stätte Jerusalem, eine Ausbildung zum Mediziner in
Wien, oder ein Jahr gurbet in Mitteleuropa – der Kulturwert eines Aus-
landsaufenthalts stieg sogar über den der mitgebrachten fremden und
9 Ditchev 2010, 22.
10 Ditchev 2010, 17.
11 Eichengreen 1994, 7.
12 Ditchev 2010, 18.
161
unbekannten materiellen Güter hinaus. Herausragend in dieser Reihe der
Errungenschaften ist die Stellung des ausländischen Studiums, nicht nur
wegen des längeren Auslandsaufenthalts, sondern vor allem auch wegen
der erworbenen Fähigkeiten oder im besten Fall der Profession, die man
danach ausüben kann.
Die bayerische Metropole München gewann wie Wien, Berlin, Budapest
oder Zürich im 19. Jahrhundert an Anziehungskraft. Bulgarische Studenten
folgten dem Ruf dieser Kulturstädte und reisten für kurze oder längere
Zeit dorthin, um Qualifikation und Erfahrung zu sammeln. Trotz fremder
Herrschaft war es für junge Menschen aus Bulgarien im 19. Jahrhundert
offensichtlich möglich, im Ausland zu studieren.
Der wahrscheinlich erste prominente Student und Doktorand aus Bul-
garien in München war der Wissenschaftler und Aufklärer Dr. Pet©r Beron,
der Autor der sogenannten „Fisch-Fibel“, des ersten neubulgarischen Schul-
buches. Beron wurde in Kotel, Bulgarien, geboren, lebte aber in seiner Hei-
mat nur ca. 20 Jahre und danach in Braóov, Rumänien, wo er das eben er-
wähnte Schulbuch im Alter von nur 24 Jahren verfasste und zusammen mit
Anton Ivanov herausgab. Im Osmanischen Reich war das Drucken auf Bul-
garisch nicht gestattet, weswegen das Erscheinen von bulgarischen Zeitun-
gen und Büchern durch mitteleuropäische Druckereien und Buchverlage
unterstützt werden musste.13 Danach studierte Beron in Heidelberg und
ein Jahr später bereits in München, wo er 1831 zum Doktor der Medizin
promovierte.14
Pet©r Beron war jedoch nicht der einzige Student vom Balkan, wie das
Buch von Konstantin Kotsowilis, das den griechischen Studierenden von
1826 bis 1844 an der LMU gewidmet ist, deutlich zeigt.15 Der Autor führt
Beispiele von ca. 100 Studenten mit griechischen Namen auf, um zu
veranschaulichen, wie sich die Kulturbeziehungen zwischen Bayern und
Griechenland während der Regierung von Ludwig I. entwickelten. Pet©r
Beron (im Buch Petros Beron) wird als griechischer Student dargestellt,
wobei die Schreibweise des Namens im Text in zwei Versionen angegeben
wird – ̅ΉΕЏΑ und ̅νΕΓΙ.16 Eventuell kann man diesen Familiennamen
auch auf zwei Arten lesen und es ist unklar, wie ihn Pet©r Beron selbst
ausgesprochen hat. Beron wird vom Autor aufgrund seiner in Braóov ab-
geschlossenen griechischen Schule und aufgrund der Schreibweise seines
13 Paskaleva 1984, 133.
14 Kotsowilis 1995, 86.
15 In diesem Jahr wurde die Universität auf Wunsch von Ludwig I aus Landshut nach
München verlegt. Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_I._(Bayern) (Juni 2011).
16 Kotsowilis 1995, 86–87.
162
Namens als Grieche dargestellt. Tatsache ist, dass einige Bulgaren im 19.
Jahrhundert lieber die griechische Variation ihrer Namen verwendet ha-
ben, um bessere gesellschaftliche Chancen zu bekommen: Griechenland
erhielt die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich (1826) früher als Bul-
garien und seine Bürger hatten eben viel mehr Privilegien als die Bulgaren,
die bis 1878 osmanische Untertanen blieben. Pet©r Beron ist jedenfalls im
Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität als abstammend von „Thra-
cien“ eingetragen worden.17
Im Buch von K. Kotsowilis fällt auf, dass sich die Herkunftsorte der
aufgelisteten Studenten oft wiederholen. Zu vermuten wäre hier eine
Kettenmigration von jungen Menschen aus dem gleichen Herkunftsort, die
sich einer nach dem anderen an der gleichen Universität und zu ungefähr
der gleichen Zeit einschreiben ließen. Unter den Studierenden finden sich
immer wieder welche, die auf dem Umweg über Rumänien nach Deutsch-
land gekommen sind und manchmal zwischen den Universitäten Heidel-
berg und München gewechselt haben, was dazu verleitet, Pet©r Beron
geradezu als ein Paradebeispiel für diese jungen Ausländer anzusehen.
Man kann aus diesen Studentenbeispielen herauslesen, dass schon da-
mals Migrantennetzwerke (aus heutiger Sicht sogar inter- und transnatio-
nal) am Werk waren, die die Migranten zu einem Wanderungsstrom mit
klarem Ausgangsort und klarem Ziel konsolidierten. An zweiter Stelle ist
die Internationalität dieser Menschen zu vermerken. Nicht weil einige von
ihnen einen Zwischenstopp in Rumänien einlegten, sondern vielmehr weil
sie in Bayern studiert haben und weil es sich, wie im Fall von Pet©r Beron,
bei einzelnen davon vielleicht um Menschen mit einer anderen ethnischen
Zugehörigkeit handelte.
Einen ähnlichen Migrationsweg gingen die an der Münchener Akademie
der Bildenden Künste eingeschriebenen bulgarischen Studenten. Nikolai
Pavlovi² z. B., in Svishtov geboren, studierte zunächst in Wien Malerei,
wechselte aber 1856 nach vier Jahren in die bayerische Hauptstadt, da die
internationale Autorität der Münchener Kunstakademie nicht zuletzt durch
ihre berühmten Direktoren, wie z. B. Wilhelm von Kaulbach, merklich
wuchs. Pavlovi² wurde zunächst durch die Brüder Zankov unterstützt, mit
denen er in Bukarest anfänglich aufgrund der kaufmännischen Lehre ver-
bunden war und die ihm die Reise nach Wien ermöglichten; dort wohnte er
bei dem Bulgaren Atanas Jovanovi² und erlernte von ihm das Lithographen-
handwerk. Interessanterweise traf er in München auf Dr. Pet©r Beron, der
ihm sein zweites Studium an der Münchener Akademie ermöglichte.18
17 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9529/1/pvz_lmu_1829_30_wise.pdf (Juni 2011).
18 Ficker 1984, 69.
163
Pavlovi² folgten weitere junge Künstler, die zu den bedeutsamsten
bulgarischen Malern überhaupt gerechnet werden und die die bulgarische
Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollkommen domi-
nierten: Ivan Mrkvi²ka, Jaroslav V»šín und Ivan Angelov. Diese zweite
Generation von Studenten trat in die Fußstapfen von Pavlovi², was die
Ausdrucksformen und die Auswahl von historisch(-kriegerisch)en Sujets
ihrer Bilder betrifft – passend zu der Epoche der Wiedergeburt und der
Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft.19 Auf diese Art und
Weise verarbeiteten und unterstützten sie künstlerisch das sich heraus-
bildende neue Nationalbewusstsein der Bulgaren vor und nach dem rus-
sisch-türkischen Befreiungskrieg um Bulgarien. Und auch eine dritte
Generation bulgarischer Maler wie etwa Nikola Michajlov, Alexander
Mutafov und Christo Stan²ev wurde in der Münchener Kunstakademie
ausgebildet. Nikola Michajlov arbeitete zusätzlich in freier Praxis und
wurde in Deutschland als Porträtist bedeutsam. Er gründete Anfang des
20. Jahrhunderts eine private Kunstschule in München20, arbeitete aber
gleichzeitig auch in Bulgarien, wo er berühmte Poeten, mit denen er be-
freundet war, portraitierte.21
Michajlov war Teil eines größeren Kreises von bulgarischen Künstlern,
die zu der bulgarischen Elite der Vergangenheit gezählt werden. Diese
Elite brachte Schriftsteller, Maler und Poeten hervor, die sich untereinan-
der kannten und, was viel bedeutsamer ist, oft zusammen im Ausland ihre
Entwicklung und künstlerische Reifung vorantrieben. Der von Michajlov
portraitierte Pencho Slaveikov z. B., ein herausragender Dichter und
Schriftsteller, studierte Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls in Deutschland,
diesmal in Leipzig. Diesen elitären Kreis bulgarischer Künstler könnte man
auch als Elitenetzwerk bezeichnen, welches durch eine gewisse Kontinuität
von Studierenden aus Bulgarien an der Kunstakademie ermöglicht wurde.
Die Tradition des Bildungserwerbs in München setzte sich bei den
jungen bulgarischen Künstlern und Intellektuellen auch im 20. Jahrhundert
fort. Einen originellen Höhepunkt dieses Zusammenwirkens findet man im
Album der Gruppe „Klepalo“, eine Dokumentation der künstlerischen Be-
gabung dieser Intellektuellen und auch ihrer freundschaftlichen Beziehun-
gen zueinander: Sozusagen die „Chronik einer großen geistigen Familie“.22
Offensichtlich war dieser Kreis von damals noch unbekannten Schriftstel-
lern, Malern und Dichtern eine Art Freundeskreis, der in München durch
19 Dinova-Ruseva 1984, 32.
20 Dinova-Ruseva 1984, 36.
21 http://www.artfact.com/artist/mihailov-nikola-zav0htju7o (Juli 2011).
22 Georgieva 2006, 120.
164
ähnliche Interessen, Herkunft und Intentionen stark zusammengeschweißt
wurde. Beispiele dafür liefert Milena Georgieva in ihrem Beitrag „An der
Grenze zwischen Kunst und Leben. Die bulgarische Kolonie in München
(1922/1923). Das Album der Gruppe „Klepalo“ (Simandron)“.23 Die Au-
torin skizziert das Leben von einigen bedeutsamen bulgarischen Künstlern
– Vladimir Poljanov, Svetoslav Minkov, +avdar Mutafov, De²ko Uzunov,
Konstantin ht©rkelov, Georgi Raj²ev, Kiril Conev, Ivan Penkov u. a. wäh-
rend ihres Aufenthalts in München. Dies sind nur die bekanntesten Per-
sönlichkeiten einer größeren Gruppe, die u. a. auch Elisaveta Konsulova-
Vazova und Aleksandar Božinov, sowie Olga und Maša Živkovi umfasste.
Nach diesem Umriss der ruhmreichen bulgarischen Migration in Bayern ist
es nun an der Zeit, die andere, teils unsichtbare, teils in Vergessenheit
geratene Migration von Studenten der Natur- und Ingenieurwissenschaf-
ten sowie der Medizin, die ebenfalls in München studierten, zu erwähnen.
Fakten und Vermächtnisse sind von diesen Menschen wenig geblieben, da
sie sich nicht so wie die Künstler ins kollektive Gedächtnis der bulga-
rischen Nation eingeprägt haben. Hier gilt es aber dennoch, auch diese zu
erwähnen, nicht zuletzt, weil einige davon ihre weniger bodenständigen
künstlerisch tätigen Mitbürger finanziell unterstützten.24 Man darf eben
nicht vergessen, dass neben der Kunstakademie auch die Ludwig-Maxi-
milians-Universität bulgarische Studenten anzog, die später als Ingenieure
und Ärzte in Bulgarien arbeiteten.
Ein Blick in die elektronisch zugänglichen Matrikelbücher der LMU
lässt erkennen, dass die Anzahl der bulgarischen Studenten in den 1920ern
und 1930ern relativ hoch war: Sie schwankte über die Jahre zwischen ca. 20
und 80 Personen.25 Auffallend viele studierten Medizin (oder Zahnheil-
kunde), gefolgt von den Fächern Philosophie und Staatswirtschaft.26 Im
Archiv der LMU findet man Angaben zum „Vaterland“ für das Winter-
semester 1934/35 zum letzten Mal. Danach sind die Studenten bis 1995
namentlich und nur mit der simplen Unterscheidung zwischen Deutschen
und Ausländern aufgeführt.
Allerdings finden sich Berichte von Augenzeugen, die interessante Belege
für die Bulgaren in München liefern. Vatiu Koralsky z. B., der in den 40er
Jahren studierte, spricht in seinem autobiographischen Buch „Der Über-
lebende“ von 1.200 bulgarischen Studenten im Jahr 1943 in München.27
23 Endler 2006.
24 Georgieva 2006, 128.
25 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9694/ (Juli 2011).
26 http://epub.ub.uni-muenchen.de/9693/ (Juli 2011).
27 Koralsky 2006, 89.
165
Diese erstaunlich hohe Zahl ist jedoch wissenschaftlich nicht geprüft wor-
den und hat bis jetzt auch nicht den Weg in die Chronik der bulgarischen
Migration in Deutschland gefunden. Die Jahre zwischen 1945 und 1990 hin-
gegen verzeichnen eine Periode der gedämpften Migration aus Bulgarien.
Nachdem der Eiserne Vorhang dann gehoben wurde, war das Studium
in Westeuropa ein legaler Einreisegrund für viele osteuropäische und
somit auch bulgarische Studenten. Wie auch die Asylsuche oder die Au-
Pair-Tätigkeit bot das Studium eine Migrationsmöglichkeit auf eigene
Gefahr für alle an, die nach Deutschland wollten. Vor allem für Abiturien-
ten bot sich diese Möglichkeit und es waren erstaunlich viele, die sie wahr-
nahmen. Die Statistik zeigt einen Zuwachs von 80,7 % der Studierenden
aus den osteuropäischen Ländern zwischen 1997 und 2000, ein mehrfach
höheres Wachstum im Vergleich zu Studenten aus anderen Teilen Eu-
ropas.28 Die bulgarischen Studierenden kamen sogar auf einen Zuwachs
von ca. 205 % in der gleichen Zeitspanne und nahmen einen respektablen
Platz in den Top Ten der Länder mit den höchsten Kontingenten für 2000
ein.29 Erstaunlich ist die Entwicklung dieser Gruppe im Vergleich zu 198030:
von 121 auf 5 015 im Jahr 2001.31
Aus der Perspektive der Bundesländer ist interessant zu bemerken, dass
Bayern in den Jahren 2000/2001 immerhin 12 % der ausländischen Studen-
ten in Deutschland und dabei 16 % derjenigen aus den Schwellenländern,
zu denen der ehemalige Ostblock zählt, aufnahm und sich damit an dritter
Stelle (nach Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) unter den be-
liebtesten Zielregionen Deutschlands für das Hochschulstudium platzierte.32
Angaben aus dem Statistischen Jahrbuch der Stadt München für 2000
deuten auf über 7 000 ausländische Studierende an den zwei Münchner
Universitäten TU und LMU hin.33 Die Statistik der LMU zeigt folgendes
Bild der ausländischen Studierenden für 2004: Eine erstaunliche Zahl von
804 bulgarischen Studenten im Vergleich zu 580 aus Polen, 441 aus der
russischen Föderation und 404 aus der Ukraine.34 Von diesen Vieren ist
Bulgarien mit Abstand das kleinste Land, weist aber die meisten Studie-
renden auf.
28 Isserstedt/Schnitzer 2002, 5.
29 Isserstedt/Schnitzer 2002, 9.
30 Im Gegensatz zum Archiv der LMU, finden sich hier und da in der Literatur aus-
gewählte Zahlenangaben auch über die bulgarischen Studenten während des Kalten
Krieges.
31 Isserstedt/Schnitzer 2002, 17.
32 Isserstedt/Schnitzer 2002, 34.
33 Statistisches Jahrbuch München 2000, 104.
34 Siehe ZDV, Abt. II A – Studienreferate. Studentenstatistik Sommersemester 2004, 102.
166
Dieses Ungleichgewicht lässt sich anhand von zwei Tatsachen erklären:
Erstens ist München seit langem Zielort der bulgarischen Bildungsmigra-
tion und zweitens kommen hohe Migrantenzahlen durch funktionierende
Netzwerke zwischen dem Sende- und dem Empfangsland zustande. Solche
Netzwerke von Freunden, Bekannten oder Verwandten können schnell zur
Kettenmigration und sogar zur Gruppenmigration von einem bestimmten
Ort in Bulgarien nach München (channelling) beitragen.35 Beispiele dafür
sind Gruppen von Kommilitonen, die organisiert nach Deutschland aus-
reisen. Die Statistik zeigt: Im Jahr 2007 waren 12 170 Bulgaren an deutschen
Universitäten eingeschrieben.36 Heutzutage geht man von über 15 000
bulgarischen Studenten aus.
Die Studentenmigration oder auch Bildungsmigration ist ein Teil der
Elitemigration eines jeden Landes. Die Elitemigration von Studenten und
Hochqualifizierten als Abwanderung in großem Maßstab hat auch einen
anderen Namen, der allerdings etwas in die Jahre gekommen ist: Der
berüchtigte brain-drain. Er betraf alle ost- und südosteuropäischen Länder
nach 1989 und viele statistische Angaben deuten darauf hin, dass Bulgarien
nach der Wende einen besonders starken Abgang an qualifizierten, auch
hochqualifizierten, und dazu jungen Menschen erfahren hat.
Aus der bulgarischen Perspektive sind die Zahlen der Fortgezogenen
nahezu dramatisch im Vergleich zur landeseigenen Fachkräfteverteilung.
Der Anteil hochqualifizierter Migranten erhöhte sich rapide zwischen 1990
und 2000, als immer mehr Menschen emigrierten; 1990 waren das 32 648
von insgesamt 322 993 im ganzen Land, im Jahr 2000 dann bereits 75 873
von 463 564.37 Gleich nach 1989 wollte der größte Teil (20 %) aller aus-
reisenden Bulgaren Deutschland erreichen38, ein Anteil, der sich aus drei
großen und mehreren kleineren Gruppen zusammensetzt: Asylsuchende,
(Hoch-)Qualifizierte und Studenten sind die zahlreichsten darunter ge-
wesen. Au-Pair-Mädchen, Saisonarbeiter39, Werkvertrags-40 und Gastarbeit-
nehmer kamen in kleineren Zahlen dazu. Deutschland war somit das Ziel-
land Nr.1 für die Bulgaren nach der Wende.
35 Siehe Gurak/Caces 1992, 157.
36 Breinbauer 2010, 106.
37 Breinbauer 2010, 101.
38 Bobeva 1996, 313.
39 Die Anzahl der bulgarischen Saisonarbeitnehmer belief sich auf 0,2% aller 318 549
für 2003. Siehe Focus Migration: Länderprofil Deutschland, April 2005, Nr. 1., S. 2.
40 Laut des Migrationsbericht 2009 des BAMF waren die Werkvertragsarbeitnehmer aus
Bulgarien zwischen 50 und 500 Personen. Siehe http://www.bamf.de/SharedDocs/An
lagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2009.html (Juli 2011).
167
Der brain-drain lässt qualifizierte Fachkräfte in eine bestimmte Richtung
migrieren, nämlich von Orten mit wenig verfügbaren Positionen für Spe-
zialisten zu Orten mit größerer Nachfrage für solche (und auch besseren
Verdienstchancen). Die qualifizierten Fachkräfte kehren seltener zurück als
andere Migranten. Außerdem tätigen sie, wie Riccardo Faini betont, sel-
tener und/oder geringere (Geld)Überweisungen nach Hause als andere.41
Im gleichen Ton schreibt auch Daniela Bobeva im Jahr 1996, dass „ein
wesentlicher Teil der Emigranten weder zurückkommen wird noch Geld
nach Bulgarien überweist.“42 Der Abwanderungsprozess aus Südosteuropa
stellt einen Verlust an Humankapital dar, den nicht nur Bulgarien sondern
auch andere Transformationsländer nur mit Mühe eindämmen können.43
Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Europa betrachtend, vermutet
Helen Grabbe: „The consequence of liberalizing labour markets is more
likely to be a „brain drain“ of the highly skilled to western Europe than
any large-scale movement of unskilled workers.”44
Gründe für die bulgarische Migration
Wie bereits weiter oben dargelegt, haben die Gründe für die bulgarische
Migration nach Deutschland einen historischen Ursprung.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts und im Zuge der Unabhängigkeit Bul-
gariens intensivierten und vervielfältigten sich die Beziehungen zwischen
Deutschland und Bulgarien. In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts
wurden die Beziehungen im Handelsbereich immer lebendiger. Die wirt-
schaftliche Expansion Deutschlands (und Österreichs) auf dem Balkan
zeigte sich im Bau von Eisenbahnen (nach 1866) sowie allgemein in der
Einfuhr von Manufaktur- und Industrieprodukten.45 Ab Mitte des Jahr-
hunderts wurde die Palette der in die Balkanländer eingeführten Waren
(Textilien, Konsumgüter) immer breiter, währenddessen Bulgarien fast aus-
schließlich landwirtschaftliche Produkte exportierte.46 In diesem Zusam-
menhang ist die Entstehung der saisonbedingten Arbeitsmigration bul-
garischer Gärtner besser zu verstehen, wenn man von einem wachsenden
Bedarf an Gemüse Ende des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa ausgeht.
Bulgarien war außerdem aufgrund seiner Lage an der Donau deshalb für
Bayern und Österreich interessant, weil der Fluss als Transportweg zum
41 Faini 2005, 172; 180.
42 Bobeva 1996, 315.
43 Sterbling 2006, 120.
44 Grabbe 2000, 500.
45 Berov 1989, 51.
46 Paskaleva 1984, 128.
168
Absatzmarkt benutzt werden konnte; dementsprechend wurden die mei-
sten Waren aus Österreich, der Schweiz und Deutschland importiert.47
Die intensivierten wirtschaftlichen Beziehungen und der Austausch
verursachten ein besseres Kennenlernen oder zumindest größeres Interesse
für Europa auf dem Balkan und trugen dazu bei, dass sich junge Menschen
sowie Intellektuelle, die sich eine Reise leisten konnten, immer wieder auf
den Weg in Richtung einer europäischen Stadt begaben. Diese Öffnung für
Europa und speziell Deutschland fand auch vor Ort in Bulgarien statt, zum
Beispiel durch die Rezeption deutscher Klassiker von Lessing, Goethe,
Schiller und anderen einerseits und andererseits durch die Übernahme
künstlerischer Techniken und Motive durch die in Bayern ausgebildeten
bulgarischen Maler. Parallel dazu blühte die eigene Literatur auf, die sich
durch die Diversifizierung der Genres an der europäischen orientierte,
dennoch aber eigene Themen interpretierte.
Die kulturellen Kontakte durch handfeste Kulturgüter (Alltagskultur)
einerseits und andererseits durch Kulturexport (Hochkultur) spornten in
jener Zeit nicht wenige junge Bulgaren an, ein Studium im Ausland, ja in
Mitteleuropa, anzustreben.48 Im Osmanischen Reich war es für die Bul-
garen schwer, ihr eigenes Bildungswesen (das damals sehr stark an die
Vorstellung von unabhängiger Kirche und somit freier Kirchenschule ge-
koppelt war) zu etablieren, da die osmanische Regierung keinen Wert da-
rauf legte.49 Auch wegen der sehr dürftigen Anzahl von Grundschulen
waren die Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt.50 Folglich entstanden
Funktionen der Selbstorganisation und -verwaltung: Die Bulgaren ver-
suchten, ihre eigenen Schulen zu errichten und zu finanzieren sowie ihre
Jugend im Ausland ausbilden zu lassen.51
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfte Bulgarien verstärkt um seine
kulturelle und politische Unabhängigkeit. 1878 wurde Kraft des Friedens-
vertrags von San Stefano das kleine Fürstentum Bulgarien mit eigener
Regierung und Armee gegründet, blieb jedoch vorerst dem Sultan tribut-
pflichtig. 1887 wurde einem deutschen Fürsten, Ferdinand von Sachsen-
Coburg und Gotha angeboten, den bulgarischen Thron zu besteigen, was
den Anfang der „Bulgarian-German connection“ bedeutete.52 Später sollte
Bulgarien an der Seite von Deutschland an zwei Weltkriegen teilnehmen.
47 Paskaleva 1984, 130.
48 Paskaleva 1984, 134.
49 Šarova 1984, 197.
50 Schaller 1998, 26.
51 Šarova 1984, 197.
52 Derleth 2000, 136.
169
Die bulgarische Wiedergeburt bleibt eine Periode, die nicht nur stark
von internationalen, vor allem deutschen, Maßstäben in der Wissenschaft
und Kunst beeinflusst wurde, sondern die auch den Anfangspunkt einer
langfristigen Verbindung mit Deutschland setzte. Pet©r Šopov findet den
Anfang des neubulgarischen Bildungswesen sogar in München – in der
Persönlichkeit von Dr. Pet©r Beron und seiner „Fisch Fibel“.53Aus der
zeitlichen Perspektive ist es dennoch nur gerecht, einzuschränken, dass die
Beziehungen zwischen den zwei Ländern recht einseitig verliefen, mit
Bulgarien als Empfängerland des Kulturaustausches. Sowohl politisch als
auch kulturell hat sich Bulgarien immer wieder nach Deutschland orien-
tiert: Einerseits weil es einen starken Verbündeten brauchte und anderer-
seits weil es zu Deutschland als zum Land der Dichter und Denker hinauf-
blickte.
Die bulgarischen Könige deutscher Abstammung spielten eine bedeu-
tende Rolle bei der kulturellen und auch politischen Orientierung Bul-
gariens nach Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie
oben bereits erwähnt, begeisterte sich die bulgarische Intelligenz für die
deutsche Kunst, Literatur und Wissenschaft. Aber auch das Handels-
geschäft mit Deutschland erhielt eine Prioritätsstellung und trug zur Erho-
lung und Stabilisierung der bulgarischen Wirtschaft nach dem Ersten Welt-
krieg bei.54
Die politischen Gegebenheiten im Kalten Krieg verpflichteten Bulgarien
auf einen reglementierten Austausch von Gütern, aber auch von Wissen-
schaftlern, Künstlern und Staatsbeamten mit Ostdeutschland. Die Bulgaren
waren unter den stärksten Migrantengruppen (neben Vietnamesen, Un-
garn und Russen) in der DDR.55 Aber Bulgarien bemühte sich um gute
Beziehungen auch zum westdeutschen Staat, obgleich deutlich später. So
unterschrieb der Vorstand der Volksrepublik Bulgarien, Todor Zhivkov,
im Jahr 1973 ein Kulturabkommen mit dem Bundeskanzler Helmut
Schmidt und 1979 folgte dann ein zweijähriges Abkommen für wissen-
schaftlich-technische sowie Bildungs- und Kulturzusammenarbeit.56 Es
fanden darüber hinaus – in Ellwangen und Marburg – Tagungen statt, die
die bilateralen Beziehungen verstärken sollten. Und an den Universitäten
wurden bulgarische Lektorate eröffnet: In München, Münster, Heidelberg,
Erlangen, Bonn, Kiel, Köln, Regensburg u. a.57 Trotzdem kann man nicht
53 Šopov 1984, 203.
54 Petzold 1981, 202.
55 Gemende 1999, 87.
56 Šopov 1984, 215.
57 Šopov 1984, 216.
170
von einer Weiterführung der Beziehungen sprechen, weder in dem Aus-
maß, noch in dem Sinne der Zeit vor dem Sozialismus. Der Kalte Krieg
reduzierte den Austausch zwischen Bulgarien und Deutschland auf staat-
lich kontrollierte, gestenreiche, oft unnatürliche Aktivitäten und zwar so-
wohl mit der BRD als auch mit der DDR.
Mit der Wende begann ein Transformationsprozess in Bulgarien, der
immer noch nicht abgeschlossen ist. Die instabile sozialpolitische Situation
und die wechselnden Regierungen in Bulgarien (keine Partei hat es bislang
geschafft, ein zweites Mal Mehrheitspartei zu werden) trieben viele Men-
schen auf der Suche nach mehr Möglichkeiten ins Ausland. Der vielleicht
wichtigste Migrationsgrund für die qualifizierten Arbeitskräfte war der
Wunsch nach einem angemessenen Beruf im Zusammenhang mit der
Schließung von staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen.58 Ein all-
gemeiner Beweggrund dürfte die Hoffnung auf besseres Leben und Wohl-
ergehen gewesen sein.59 So wirkte eine einfache Gegenüberstellung der
Gehälter in Deutschland und Bulgarien (1992 verdiente ein durchschnitt-
licher Industriearbeiter in Bulgarien nur zwischen 3 % und 4 % dessen, was
sein deutscher Kollege damals verdiente60) natürlich mit magischer An-
ziehungskraft auf die potentiellen Migranten. Auch die Erfahrungsberichte
von Mitbürgern konnten und können als ein starker Pull-Faktor der
Migration dienen61, insbesondere wenn diese Berichte aus einem attrak-
tiven Staat mit hohem Lohnniveau und blühender Wirtschaft wie Deutsch-
land stammen.
Welche Wege die Migranten für ihre Reise wählen und wohin sie
steuern, hängt – wie auch aus der obigen Darlegung folgt – davon ab, in
welchem ökonomischen, politischen und kulturellen Kontext das jeweilige
Sendeland mit anderen, nicht unbedingt benachbarten, Ländern steht.
Massey und Taylor behaupten zu Recht, dass Migranten nicht unbedingt
das nächste Wohlstandsland aufsuchen, sondern sich Zielorte aussuchen,
mit denen das eigene Land ökonomisch, sozial oder politisch bereits ver-
bunden war oder ist.62 Auch Fassmann und Münz beobachten dieses Phäno-
men innerhalb Europas und rechnen noch die historischen und kulturellen
Komponenten als Faktor für Migrationsverflechtungen zwischen zwei Län-
dern hinzu.63
58 Bobeva 1996, 313.
59 Bobeva 1996, 321.
60 Zimmermann 1994, 227.
61 Pries 2001, 41.
62 Massey/Taylor 2004, 385.
63 Fassmann/Münz 1996, 46–47.
171
Aus dieser kurzen Darstellung der Merkmale der bulgarischen Migration
nach Deutschland dürften die wichtigsten Gründe dafür deutlich werden.
Die Migrationsströme zwischen Bulgarien und Deutschland, die seit der
Wende (wieder) am Laufen sind, orientieren sich nach bekannten Wegen
und Zielorten. Individuelle Geschichten von bekannten Migranten aus der
Vergangenheit sowie die ehemaligen politischen Beziehungen zwischen
den beiden Ländern formen diese Ströme mental in den Vorstellungen der
potentiellen Migranten der Gegenwart sowie real in ihren vollzogenen
Wanderungen. Die Migrationsbewegungen der Vergangenheit erleben
somit in zeitgemäßer (daher verstärkter) Form eine Wiederholung in der
Gegenwart.
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Corinna Leschber
Lateinische und italienische Etymologien im Bulgarischen
In der bulgarischen Literatursprache finden sich zahlreiche Wörter mit
lateinischer Etymologie. Viele dieser gelehrten Übernahmen wurden dem
Bulgarischen im 18. und 19. Jahrhundert über das Russische und west-
europäische Sprachen, wie das Französische, Englische und Deutsche ver-
mittelt. Beispiele aus dem Bereich der Wissenschaft sind nach Milev (1979,
147–160) und Bojadžiev (1986, 193–194) bulg. vakuum, globus, profesor,
gradus, dekan, diktovka, konus, radius, formula, docent, meridian, alibi, univer-
sitet, škola, student, asistent, auditorija, rektor, lekcija, laboratorija. Die meisten
dieser Wörter haben die Bedeutung des lateinischen Ursprungswortes
bewahrt. Im Bulgarischen finden sich viele Latinismen im Wortschatz der
Politik, der Philosophie, der Verwaltung, der Technik und der Kultur, wie
bulg. avtor, advokat, arena, administrator, director, diktatura, distancija, doctor,
erudicija, ekskurzija, kancelarija, konstrukcija, konstitucija, kooperacija, kultura,
literatura, maksimum, minimum, minist©r, natura, notarius, progres, pompa, ple-
num, populjaren, proletariat, protekcija, republika (< frz. < lat.), familija, cher-
barij, cirk, cirkuljar, ciment, etc.
Die für die lateinischen Ursprungswörter typischen Suffixe -um, -us, -tor,
-ent, -ura und -cija (durch russische Vermittlung), finden sich auch in bulg.
ultimatum, forum, korpus, radius, sekcija, direktor, dokument, incident, cenzura,
usw. Produktive Morpheme lateinischer Herkunft im Bulgarischen sind
audio-, video-, vita-, de-, ekstra-, eks-, inter-, infra-, kontra-, re-, trans-, ultra-und
viele mehr.
Das alte lateinische Suffix –arius wurde bereits im Altslavischen bzw.
Altbulgarischen zu
–ar˪ umgeformt und diente auch hier zur Bildung von Nomina agentis: alt-
bulg. vinar˪ „Winzer, Weinbauer”, gr˨n²ar˪„Töpfer”, rybar˪„Fischer”.
Auch in den bulgarischen Dialekten und in der Umgangssprache finden
sich Wörter mit lateinischer, bzw. romanischer Etymologie. So gelten die
folgenden Wörter als aus dem volkstümlichen, gesprochenen Latein über-
nommen:
Bulg. ocèt „Essig”, früh übernommen als altbulg. oc˪t˪< lat. ac¾tum (BER IV,
987), weist jedoch phonetische Schwierigkeiten auf.
176
Bulg. dial. Bivolìca „Büffelweibchen”, fig. auch „große, kräftige Frau”, Demin.
von bulg. bìvol, altbulg. bivol˨„Büffel”, übernommen aus vulgärlat. *bĀvalus,
lat. *bĀbalus. Dieses bulg. Wort wurde in das Rumänische als bivolíô© „Büffel-
weibchen” übernommen (Petrovici 1966, 314; BER I, 46).
Bulg. komìn „Schornstein”, ursprünglich zu balkanlat. caminus„Ofen, Feuer-
stelle”, vgl. lat. camÎnus„Feuerstätte, Schmelzofen, Esse, Kamin, Kaminfeuer”
(BER II, 572).
Bulg. kùpa [BER III, 139; kùpa (2)] „tiefes, halbrundes Gefäß, tiefe Schale”, zu
altbulg. kupa „Becher, Fass“, vgl. dazu neu- und altgriech. ̍ΓΙΔ΅ „Becher,
Pokal” < lat. Cupa „Tonne, Fass”. Dieses bulg. Wort wurde dem Rumänischen
übermittelt: cúp©„(Holz-) Becher, Pokal, Kelch, Getränkemaß, Schaufel des
Mühlrades“ (Filipova-Bajrova 1969, 114; Barbolova 1999, 189).
Bulg. m©st „Most” ursprünglich aus balkanlat. Mustum „Most” (BER IV, 431–
432), bulg. m©st(2) (Walde-Hofmann 1938, 136; Mladenov 1987, 79, 82, 102;
Meyer-Lübke 2009, REW 5783) mýstum „Most”.
Bulg. pàtja(Vb.) „leiden”, ursprünglich aus balkanlat. patio, patire „leiden”
(BER V, 101).
Zu den christlichen Termini gehören laut Trummer (1998, 158) bulg. po-
gànin, Kolèda/Kòleda, oltàr und kòmka:
Bulg. volkstümlich pogànin „Heide, Person anderen, nichtchristlichen Glaubens,
unreiner, schmutziger Mensch” – über altbulg. poganin˨ „Nichtchrist, Heide”
zu urslav. *pag¬nin˨, durch Suffixwechsel *pag¬n˪c˪, aus urslav. *pag¬n˨ mit
einer hohen Produktivität, wovon zahlreiche Derivate im Bulgarischen zeu-
gen. Vergleiche dazu aus volkslatein./balkanlat. pag¬nus „heidnisch, Heide”
(BER V, 415–421). Vergleiche dazu im volkstümlichen, umgangssprachlichen
Bulgarischen mit auf das Urslavische zurückgehendem Suffixwechsel pogànec
„Heide, Kerl, Strolch” (BER V, 419–420). Das o. g. volkslat. Wort stammt von
dem klassischen lateinischen p¬g¬nus „dörflich, dumm, heidnisch, Heide”.
Dies wurde abgeleitet von p¬gus „Dorf, dörfliche Siedlung, Landkreis, Bezirk,
Gau”, zu lat. pangç, pangere „einschlagen, befestigen” und „festsetzen, be-
stimmen, verabreden” (de Vaan 2008, 442–443). Dieses Wort wurde als p©gîn
ins Rumänische übernommen. Die Spezialisierung der Bedeutung im Lateini-
schen geht laut BER (V, 417) auf die Zeit zurück, als das Christentum Staats-
religion wurde, sich in den Städten durchgesetzt hatte, das Heidentum in
abgelegenen Dörfern und Provinzen jedoch fortbestand. Auf der Sprachkarte
Nr. 42 des Bulgarischen Dialektatlasses, im zusammenfassenden Band, findet
sich das Wort mit einer nördlichen/westlichen Ausbreitung und mit der Be-
deutung „Maus”. Siehe dazu im B©lgarsko-nemski re²nik (2001, 723) bulg.
177
dial. pogànec(2) „Maus”. Im BER (V, 420) wird dies im Abschnitt bulg. pogànec
(2) „Maus, Ratte” erläutert, auch bulg. dial. pogànek (1) „Ratte, Maus”, siehe
dazu nach Dukova (1985, 35) slowenisch podg¬na „Ratte” < ital. pantegan,
pantegana, pontekana „Ratte”, ursprünglich aus lat. (mus) ponticus „pontische
Maus” (siehe auch im BER V, 419) – damit handelt es sich um ein Homonym
anderer Herkunft, bzw. Etymologie.
Bulg. Kolèda/Kòleda „Weihnachten“, bulg. dial. auch Kòlenda, altbulg. kol¿da
„Neujahrstag”, laut BER (II, 551–552) eine alte Übernahme aus lat. „calendae“
(der) erste Tag im Monat, Zahltag” (Mladenov 1987, 79, 90). Altbulg. kol¿da
„Neujahr” < lat. Calendae „erster Tag im Monat” wurde auch in das Rumä-
nische übernommen als colínd© „Weihnachts-, Neujahrslied; anhaltende Wan-
derung, Zug, Streifen; Weihnachtskuchen; Kringel, den man den Weihnachts-
sängern als Entlohnung gibt“. Der erhaltene Nasalvokal belegt dessen frühe
Übernahme aus dem Altbulgarischen. In Zentralrumänien lässt sich auf einer
Sprachinsel das bulg. dial. Kolanda „Weihnachten” nachweisen. Ein verwandtes
Wort tritt sogar im Ukrainischen auf: koljada „Weihnachten, Weihnachtslied”
(BER II, 551–552; DLR C, 658–659 colínd© [3]).
Bulg. oltàr „Altar”, ursprünglich aus urslav.*alt¬rj˪< althochdeutsch alt¬ri < lat.
alt¬re, zu altus „hoch” (BER IV, 864). Ins Rumänische als oltar übernommen.
Bulg. umgangssprachlich, im religiösen Kontext kòmkam (Vb.) „das Abendmahl
reichen”, kòmkam se „das Abendmahl empfangen”, cf. kirchenslav. Kom˨kati
„die heilige Kommunion spenden”, nach Berneker (I, 557) über *comncare < lat.
commĀnicare, als intransitives Verb auch „das Abendmahl empfangen, das
Abendmahl reichen”. Die Bedeutung des transitiven Verbs ist „gemeinsam
machen, vereinigen, teilen, mitteilen, geben”. Ein Derivat ist bulg. kòmka
„Hostie, Abendmahl” (BER II, 573–574).
Einen Überblick über die Rolle des Lateinischen und des Frühromanischen
in Südosteuropa bietet Trummer (1998, 157–158), während Fellerer (1998)
die Auswirkungen des slavisch-romanischen Sprachkontaktes insbeson-
dere für die slavischen Sprachen untersucht.
Aus dem Lateinischen stammende Wörter finden sich in vielen Be-
deutungsfeldern des Bulgarischen:
Bulg. kùkla „Puppe”, ursprünglich aus balkanlat. cuculla, spät- oder mittel-
lateinisch nach Menge (1985, 143) mit der Bedeutung „Mönchskutte, Kapuze
am Mantel” (BER III 90–91 kúkla [1]).
Bulg. archaisch klevrèt „unehrlicher, korrupter Beamter” < altbulg. klevr»t˨
„Gefährte, Arbeitskollege” < *k˨l˪vr»t˨ < griech. *ΎΓΏΏϟΆΉΕΘΓΖ < mittelalter-
liches lat. collÎbertus „Mitfreigelassener” (BER II, 428).
178
Bulg. vr©²va „Krug, Kanne, Tongefäß” (Mladenov 1987, 79, 84), nach den
Angaben des BER (I, 191) stammt dieses bulg. Wort mit südwestlicher Aus-
breitung aus altbulg. *vr˨²˪ < volkslatein. *urk-i-s– vergleiche dazu urceus
„Krug, Wasserkrug, Tonkrug”, urceus, orca „Tonne (für eingesalzene Fische)”.
Damit verwandt ist lat. urna „Wasserkrug, Flüssigkeitsmaß, Krug, Topf, Urne,
Schicksalsurne, Aschenkrug, Stimm- und Losurne, Wahl durch das Los”. Bei
diesen lateinischen Wörtern dürfte es sich ursprünglich um Übernahmen aus
’mediterranen Sprachen’ handeln (Menge 1985, 542–543). Im etymologischen
Wörterbuch des Lateinischen und der italischen Sprachen sind diese Wörter
nicht verzeichnet (de Vaan 2008). Breyer (1993, 276–279) diskutiert Deutungs-
versuche aus dem Etruskischen und weiteren mediterranen Sprachen (Walde-
Hofmann 1938, 838–839).
Bulg. kmet „Bürgermeister” zu späturslav. *k˨met˪ „höherer Beamter, geach-
teter Dorfbewohner”, mit der ursprünglichen Bedeutung „Dorfbewohner,
Bauer” (BER II, 494–495), aus dem lat. Akkusativ *com¼ыte(m), *cum¼ыte(m) von
lat. comes, Genitiv comitis „der mit jemandem geht, Weggefährte, Begleiter,
Teilnehmer, Erzieher, Hofmeister, Klient”, im Plural „Gefolge, Hofstaat”. Im
BER (II, 494) wird auf abweichende Deutungsversuche aus urslavisch *k˨-
met˪ja, *k˨met˪je (Plural) hingewiesen, mit der ursprünglichen Bedeutung „(die
hervorragendsten) Bewohner des Bezirkes, des Gebietes”, ebenfalls aus dem
Lateinischen stammend.
Bulg. dial. rùža „Rose” und als Bezeichnung diverser weiterer Blumen, sonst
auch „Eibisch”, einst über mittelhochdeutsch rçse < volkslat. rçsa, lat. (mittel-
lat.) rosa, roza (Paraškevov 1987, 36; BER VI, 338).
Bulg. mesàl „Tischtuch, Tuch” < neugriech. ΐΉΗΣΏ, mittelgriech. ΐΉΗΣΏΓΑ
„id.” < mittellat. mensale < lat. mensalium zu mensa „Tisch” (BER III, 753–754).
In mittelbulgarischen Schriftdenkmälern des elften bis vierzehnten Jahr-
hunderts finden sich zum Beispiel folgende Wörter mit einer lateinischen
Etymologie:
Bulg. dial. košùlja „Hemd”, ursprünglich zu Balkanlatein*casulla < spätlatei-
nisch casula (Demin.) „Messgewand, Kleid mit Kapuze” aus der ursprünglichen
Bedeutung „kleine Hütte, Totenkammer”, abgeleitet von casa „Häuschen,
Hütte” (Walde-Hofmann 1938, 175; BER II, 695–696; Mladenov 1987, 79, 86).
Bulg. panìca „irdene Schüssel”, ursprünglich zu kirchenslav. pany (nach dem
neunten Jahrhundert übernommen) < althochdeutsch pfanne, mittelhoch-
deutsch pfanne < vulgärlatein panna (mit Synkope) aus lat. patina „Pfanne,
Schüssel” (BER V, 45–46).
179
Bulg. kum „Trauzeuge”, ursprünglich vgl. altbulg. k©motr© < spätlat. commater
„Gevatterin”, compater „Gevatter” (BER III, 124–125; Mladenov 1987, 89).
Über griechische Vermittlung wurden folgende Wörter in das Bulgarische
übernommen:
Bulg. klisùra „Schlucht“ < neugriech. ΎΏΉΗΓΙΕ΅, ursprünglich zurückzufüh-
ren auf lat. clausĀra, unter Einwirkung volksetymologischer Prinzipien (BER
II, 459; Filipova-Bajrova 1969, 108).
Bulg. katinàr „Vorhängeschloss” < neugriech. ̍΅ΘΑΣΕ – ein Demin. von
mittelgriech. Ύ΅ΘφΑ΅, Ύ΅ΘϟΑ΅ „Kette” < ital. catena < lat. cat¾na (BER II, 273;
Filipova-Bajrova 1969, 103).
Bulg. kandìlo„ewiges Licht (vor einer Ikone)“ < neugriech., mittelgriech.
Ύ΅ΑΈφΏ΅, Ύ΅ΑΘφΏ΅ < lat. cand¾la „Wachskerze” (BER II, 202–203; Filipova-
Bajrova 1969, 100).
Bulg. lukànka „Dauerwurst” < neugriech. ΏΓΙΎΣΑΎΓ, mittelgriech. ΏΓΙΎΣΑΎΓΑ
< lat. lucanicum „Salami aus Lukanien” (BER III, 499; Filipova-Bajrova 1969,
121).
Bulg. fùrna „Ofen” stammt laut Filipova-Bajrova (1969, 168) aus neugriech.
˟˓ϾΕΑΓΖ < lat. furnus „Backofen” (Dzidzilis 1990, 33; Mladenov 1987, 79, 88).
Bulg. disàgi (Plural) „Satteltasche, Quersack” < griech. ΈΗΣΎΎ, mittelgriech.
ΈΗΣΎΎΓΑ, ΆΗΣΎΎΓΑ „id.”, Demin. von ΈϟΗ΅ΎΎΓΖ, evtl. aus lat. bisaccium
(Milev 1979, 149) oder aus dem Semitischen (BER I, 396; Filipova-Bajrova
1969, 86).
Einen besonders interessanten Lehnweg zeigt bulg. kantàr „Waage” < türk.
kantar < arab. qint¬r < griech. Ύ΅ΑΘΑΣΕ(ΓΑ) < lat. cent¾n¬rium, einer Ab-
leitung von centum „Hundert” (BER II, 208–209; Grannes et al. 2002, 123).
Mit dem italienischen Einfluss auf das Bulgarische haben sich Vankov
(1959) sowie Petkanov (1965a und b; 1973; 1979) befasst. Einen Überblick
bietet wiederum Trummer (1998, 146–147), der die Bedeutung Venedigs als
Seemacht ab dem 9. Jahrhundert, die Genuas ab dem 12. Jahrhundert und
schließlich beider Mächte ab dem 13. Jahrhundert verdeutlicht. Er be-
schreibt zudem die Bedeutung dieser Seemächte bei der Herausbildung
einer ’lingua franca’ im östlichen Mittelmeer, „mit reduzierter Grammatik
aber spezialisierter Lexik für das See- und Handelswesen” (Trummer 1998,
152). Im Türkischen lassen sich intensive Spuren dieser Sprachkontakte
nachweisen (Kahane et al. 1958). Einwirkungen dieser Terminologie sind
an der bulgarischen Schwarzmeerküste festzustellen, meist wurde dieses
180
spezifische Wortgut über das Griechische und Türkische vermittelt (Trum-
mer 1998, 153). Zu diesen Entlehnungen zählen bulg. kambàna „Glocke“ <
neugriech. Ύ΅ΐΔΣΑ΅ < ital. campana „id.” (BER II, 186), allerdings wurde
altbulg. kpona bereits aus lat. campana „Glocke” übernommen, und in der
Folge auch in das Rumänische als cúmp©n© „Waage; Maß, (Brunnen-)
Schwengel; Wasserwaage; Gerät, mit dem die Trauben zur Kelter getragen
werden“ (Duridanov 1991, 8; Cior©nescu 2001).
Zu diesen Entlehnungen im Zusammenhang mit der oben beschrie-
benen ’lingua franca’ zählt auch bulg. màndža „Speise, Eintopf”, über türk.
manca „Nahrung, Katzen- und Hundefutter” aus dem venezianischen
Gefängnisjargon mit der Bedeutung „Fressen”, nordital. dial. „Viehfutter”,
vgl. ital. mangiare „essen” (BER III, 645).
Darüber hinaus finden sich zahlreiche italienische Wörter in der bul-
garischen Literatursprache
a. im Bereich der Kunst, der Musik und der Literatur, zum Beispiel bulg. barok,
kolorit, karikatura, novela, pastel, palintra, scenarij, sgrafito, tempera, andante,
alegro, arija, alt, bravo, bufonada, bas, bariton, balerina, violon²elo, virtuoz,
opera, piano, tenor,
b. im Finanzsektor: bulg. banka, borsa, valuta, debit, inkasiram, kredit, kasa,
kvitancija,
c. in der Küche: biškoti, bira, kanela, limon, makaroni, olio, soda, sardela, salata,
salam,
d. sowie in den verschiedensten Bedeutungsfeldern: bulg. baraka, kazarma, kata-
komba, kazino, piaca, tribuna, avarija, banda, bomba, butilka, granata, gvar-
dija, influenca, mostra, mozajka, sako, turbina, trafik, tombola, fontan.
Ivanov (1997, 165–166) hat den Wortschatz der bulgarischen Sonder- und
Geheimsprachen untersucht und herausgefunden, dass unter insgesamt
5100 untersuchten sondersprachlichen bulgarischen Wörtern 35 Wörter aus
rumänischen Dialekten stammen, also 0,68 %, und 23 Wörter (0,45 %) aus
dem Italienischen, nämlich bulg. bufèla, dàlenka, karantìna, karafìla, kàtra, los,
tènte, tìbul, càkle, fok, ²i²òva, ²ò²a, etc. In Ivanov (1986) werden deren hoch-
komplexe Etymologien und Lehnwege im Einzelnen aufgezeigt.
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184
Ruselina Nicolova
Der bulgarische Admirativ und seine Wiedergabe
im Deutschen
Der Begriff Admirativ wird zum ersten Mal von A. Dozon in seinem
Albanisch-Lehrbuch aus dem Jahre 1879 erwähnt, und zwar als Bezeich-
nung für einen spezifischen Modus im Albanischen, der Verwunderung
und Erstaunen zum Ausdruck bringt. Im Bulgarischen wird der Admirativ
zum ersten Mal von dem großen deutschen Sprachwissenschaftler Gustav
Weigand im Jahre 1925 beschrieben. Andere Bezeichnungsformen für die
gleiche grammatische Erscheinung stammen von Ljubomir Andrej²in
(1938) als Inopinativ (Modalform der Verwunderung) oder Exclamativ von
Svetomir Ivan²ev (1973).
Laut Weigand ist der bulgarische Admirativ eine Verwendung des Per-
fekts anstatt des Präsens, um eine Überraschung oder Verwunderung über
einen plötzlich entdeckten Fakt oder ein eingetretenes Geschehnis zum
Ausdruck zu bringen, ein „Überraschtsein über ein nicht gewußtes Ge-
schehnis“ (Weigand 1925, 150). Stellen wir uns folgende Situation vor: Der
Sprecher schaut an einem sonnigen Tag aus dem Fenster hinaus und als er
sieht, dass es auf einmal zu regnen beginnt, sagt er verwundert:
ɧˠ, ˘˓ ʵʲˏˮˏ˓! – Ach, es regnet ja!
Weigand hat sowohl die Semantik des bulgarischen Admirativs exakt er-
kannt als auch dessen Formen genau bestimmt, und genau darüber herr-
schen bis heute in der Bulgaristik verschiedene Meinungen. Seiner Mei-
nung nach hat der Admirativ zwei Formen:
Erstens: als Perfekt ohne das Hilfsverb ˖˨ː (sein) in der 3. Person und
Zweitens: als doppelt zusammengesetztes Perfekt, wie die Form des renarra-
tiven Perfekts/Plusquamperfekts, z. B.:
ʊ˓ˇ ʴˆˏ ˖ʺ ˘ʵ˨˕ʹʺ ːˑ˓ʶ˓ ˆ˄ːʺˑˆˏ! - Er hat sich aber stark verändert! Oder:
ʊˆ ˖ˆ ʴˆˏ ːˑ˓ʶ˓ ˑʲ˔˕ʺʹˑʲˏ! - Sieh mal einer an, du bist aber gut voran gekommen!
Dabei führt Weigand Beispiele für die persönlichen und unpersönlichen
Gebrauchsmöglichkeiten des Admirativ an:
ʊˆ ˖ˆ ʴˆˏ ʴ˓ʶʲ˘ ˣ˓ʵʺˊ! – Du bist aber recht wohlhabend!
ʊ˓ˇ ˑʺ ˔˕ˆˏˆˣʲˏ ˑʲ ʴʲ˧ʲ ˖ˆ! – Er sieht seinem Vater aber gar nicht ähnlich!
ʊ˓ ʴˆˏ˓ ˠ˙ʴʲʵ˓ ʵ ʶ˕ʲʹʲ! – Es ist doch ganz schön in der Stadt!,
185
wobei er auch die albanischen Entsprechungen hinzu zieht. Er geht davon
aus, dass der bulgarische Admirativ unter albanischem Einfluss entstanden
ist. Dieser Einfluss kam, seiner Meinung nach, auf dem geographischen
Gebiet des Makedonischen mit gemischter bulgarischer und albanischer
Bevölkerung zustande, oder aber, so seine zweite Version: Als die albani-
schen Händler ihre Waren in Bulgarien verkauften, haben sie zur Ver-
breitung dieser Sprachform beigetragen.
Die These des albanischen Einflusses stieß bei den bulgarischen Gelehr-
ten sofort auf Kritik, wobei nicht nur historische, sondern auch rein philo-
logische Argumente dagegen angeführt wurden. So auch noch in heutiger
Zeit (siehe hierzu beispielsweise ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926; ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ 1928;
ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 101–121, ɧˏʺˊ˖˓ʵʲ 2003, 11–14, Nicolova 2003, 26–27). Es
gibt keine Beweise für einen intensiven sprachlichen Kontakt zwischen
Albanern und Bulgaren in den Gebieten mit gemischter Bevölkerung
Makedoniens, denn bis heute leben diese beiden ethnischen Gruppen dort
voneinander getrennt. Die philologischen Argumente sind ebenfalls über-
zeugend. An erster Stelle müssen wir hier die unterschiedlichen Modelle
zur Bildung der Formen des Admirativs im Bulgarischen und im Al-
banischen betrachten. Die Formen des albanischen Admirativs, die unter-
schiedliche Paradigmen für Präsens, Perfekt, Plusquamperfekt und Imper-
fekt haben, werden durch Inversion und Verschmelzung von den einzel-
nen Komponenten des Perfekts gebildet und unterscheiden sich dadurch
von den Formen des bulgarischen Admirativs. So z.B. Alb. Ai ka punuar
(Pf:Ind:3Sg:M) – ‘ʊ˓ˇ ʺ ˕ʲʴ˓˘ˆˏ‘ – Ai punuaka (Prs:Adm:3Sg) – ‘ʠ, ˘˓ˇ
˕ʲʴ˓˘ʺˏ!’ (Duchet, Përnaska 1996, 31-32).
Die Bedeutung des albanischen Admirativs unterscheidet sich ebenfalls
von der Bedeutung des bulgarischen Admirativs. Im Albanischen ist das
Perfekt aufgespalten in eine nicht markierte Vergangenheit und in ein
neues Perfekt mit einer Inversion der Bestandteile – einem Admirativ, der
allmählich alle Nuancen einer nichtindikativen Evidentialität bezeichnet.
Im Albanischen ist der Admirativ eine unabhängige Kategorie (Friedmann
1981, 24), im Gegensatz zum Bulgarischen und Türkischen, wo der Admi-
rativ ein Gebrauch evidentialer Formen ist. Außerdem wird der Admirativ
im Albanischen viel öfter und ohne diese strengen semantischen Ein-
grenzungen der Verbklassen, wie das im Bulgarischen und im Türkischen
der Fall ist, gebraucht. Wie ein Vergleich zwischen dem Original der
Erzählung „Baj Ganju“ von A. Konstantinov und seinen Übersetzungen ins
Albanische und ins Türkische zeigt, entsprechen die zahlreichen, in der
albanischen Übersetzung belegten Formen des Admirativs, nur in 10–15%
der Fälle denen im bulgarischen Text (Friedmann 1981).
186
Der bulgarische Admirativ hingegen weist eine gewisse typologische
Nähe zum türkischen Admirativ auf. Im Türkischen wird der Admirativ
durch die mIó-Formen zum Ausdruck gebracht, welche als Formen der
indirekten Erfahrung dienen, die auch renarrative und konklusive Bedeu-
tung ausdrücken können. Im Gegensatz dazu ist der Admirativ im Bul-
garischen eine Transposition der Renarrativformen.
In beiden Sprachen ist der Admirativ emotional besetzt, das heißt, er ist
meist in Äußerungen anzutreffen, die Verwunderung, Erstaunen, Ironie,
Verachtung oder aber Komplimente zum Ausdruck bringen (Slobin/Aksu
1982). D. h. beim Gebrauch des Admirativs stellen wir fest, dass es Paral-
lelen in beiden Sprachen gibt. Das ist leicht nachvollziehbar, denn der
Admirativ ist eine Form, die vorwiegend in der mündlichen Umgangs-
sprache gebraucht wird, also in einer Kommunikationssphäre, die auf dem
direkten Kontakt der Sprecher basiert. Und eben in dieser Sphäre ist der
Sprachkontakt intensiv und emotional gefärbte Äußerungen treten dort am
häufigsten auf. Außerdem ist der Gebrauch des Admirativs, sowohl im
Türkischen als auch im Bulgarischen, relativ selten, ganz im Gegensatz
zum Albanischen.
Formenbildung
Einige Autoren gehen davon aus, dass der Admirativ ein Perfekt des
Indikativs mit Ellipse des Hilfsverbs sein in der 3. Person Singular ist
(Weigand 1925; ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926; ɩʺ˦ʺʵˏˆʺʵ 1928; Ivan²ev 1973; ɸʵʲˑˣʺʵ
1976, 359; ʔ˓ˑʺʵ 1985; ɪ˕ˆˑʲ 1989; Guentchéva 1990, 51). Grundsätzlich ist
es so, dass alle historischen Perfektformen in semantischer Hinsicht mit
dem indikativischen Perfekt verbunden waren, doch jetzt, wo im Bulga-
rischen ein ganzes System von Evidentialformen besteht, das sogar schon
aus rein formaler Sicht erkennbar ist, kann man nicht mehr davon aus-
gehen, dass der Admirativ ein indikatives Perfekt ist, weil das Perfekt
keine Formen mit dem imperfektivischen Partizip, sondern nur mit dem
Aorist-Partizip bilden kann (siehe hierzu auch ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 106 und
ɧleksova 2001, 28).
Gerdžikov geht davon aus, dass der Admirativ ein „besonderer, emo-
tional-expressiver Gebrauch des Konklusivs ist, bei dem das Hilfsverb in
der 3. Person entfallen kann” (ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 111). Er, und ebenso seine
Schülerin Krasimira Aleksova, die (2003) eine umfassende und detaillierte
Monographie zu diesem Thema verfasst hat, legen dar, dass es zwei
Varianten des Admirativs gibt, zum einen, die expressivere mit Auslassen
des Hilfsverbs sein und zum anderen die weniger expressive mit sein. Man
kann aber auch annehmen, dass die weniger expressive Variante einfach
187
eine Gebrauchsvarietät des Konklusivs mit emotionaler Note ist, so wie
manchmal auch der Indikativ dahingehend gebraucht werden kann (siehe
ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1999, 430), obgleich ein solcher Gebrauch wohl kaum als Admira-
tiv im terminologischen Sinn dieses Begriffs unter den modernen typo-
logischen Studien gelten kann.
Die dritte Meinung (Andrej²in 1938; ʂʲ˖ˏ˓ʵ 1956; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976;
Walter 1977; ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 1993; ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994; RåHauge 1999, 28; u. a.) ist,
dass die Formen des Admirativs mit den Formen des Renarrativs über-
einstimmen. Diese Meinung überzeugt uns am ehesten, da aus formaler
Sicht der Admirativ mit den Formen des Renarrativs in der 3. Person (diese
Formen werden am häufigsten gebraucht) übereinstimmt - in der 1. und 2.
Person sind die Formen des Renarrativs und des Konklusivs gleich.
Es gibt keine einheitliche Meinung über die Anzahl der Tempusformen
im Admirativ. Jene Autoren, die davon ausgehen, dass der Admirativ ein
Gebrauch des indikativischen Perfekts ist, berücksichtigen nur eine Zeit-
form. Andrej²in vertritt die Meinung, dass der Admirativ seinen Gebrauch
nicht nur auf dem Gebiet der Vergangenheit, sondern auch in die Gegen-
wart und in die Zukunft hinein erweitern könnte. Außerdem geht er davon
aus, dass außer den Formen des Renarrativs mit admirativer Bedeutung
auch die Formen des Dubitativs gebraucht werden können (Andrej²in
1938; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ 1976, 347), jedoch kann er dies nicht mit Beispielen
belegen.
Gerdžikov vertritt ebenfalls die Meinung zur größeren Formenbreite
des Admirativs, sowohl ohne Hilfsverb sein in der 3. Person als auch solche
Formen, die mit den Konklusivformen (mit Hilfsverb sein) überein-
stimmen, und zwar für alle Temporalformen, mit Ausnahme des Futurum
exactum praeteriti und eventuell auch des Futurum exactum (ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ
1984, 102). Wenn wir aber von der engeren Definition des Admirativs
ausgehen, wie sie in den modernen typologischen Untersuchungen vor-
herrscht, dann gehen wir davon aus, dass der Admirativ nur in zwei
temporalen Formen vorkommt, bei denen das Intervall der Referenz den
Redemoment mit einschließt (ähnliche Meinungen vertreten auch ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ
1982 und Guentchéva 1990). Die Zeitformen des Admirativs sind unserer
Meinung nach folgende:
Präsens Perfekt
1. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˖˨ː ˔ˉ˖ʲˏ, -ʲ, -˓ ˖˨ː (ʴˆˏ, -ʲ, -˓)
2. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˖ˆ ˔ˉ˖ʲˏ, ʲ, ˓ ˖ˆ (ʴˆˏ, -ʲ, -˓)
3. ˔ˉ˦ʺˏ, -ʲ, -˓ ˔ˉ˖ʲˏ, -ʲ, -˓ (ʴˆˏ, ʲ, ˓ )
188
Präsens Perfek
1. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˖ːʺ ˔ˉ˖ʲˏˆ ˖ːʺ (ʴˆˏˆ)
2. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˖˘ʺ ˔ˉ˖ʲˏˆ ˖˘ʺ (ʴˆˏˆ)
3. ˔ˉ˦ʺˏˆ ˔ˉ˖ʲˏˆ (ʴˆˏˆ)
Das Präsens des Admirativs hat die Formen des Präsens des Renarrativs
und das Perfekt des Admirativs hat die Perfektformen des Renarrativs,
indem öfters ʴˆˏ, -ʲ, -˓, -ˆ ausgelassen werden, so wie beim indikativischen
Perfekt, wenn für die Feststellung auf Grund von Perzeption das Hilfsverb
sein in der 3. Person Präsens ausgelassen wird.
Bedeutung
Mit dem Admirativ wird die Verwunderung des Sprechers über einen
plötzlich festgestellten Sachverhalt unmittelbar vor dem Redemoment zum
Ausdruck gebracht, denn das neu erworbene Wissen steht im Kontrast zu
dem vorherigen Zustand des Nichtwissens. Diese Auffassung kommt der
Meinung von Guentchéva (1990, 51) sehr nahe. Der Admirativ bezeichnet
zwei kognitive Zustände des Sprechers, die aus der Präsupposition der
Äußerung herrühren: Der Zustand des Nichtwissens und der Zustand des
„Soeben-etwas-erfahren-haben“. Der erstere Zustand – des Nichtwissens –
impliziert die größere Möglichkeit des Existierens nicht-p, der im Gegen-
satz zum neu erfahrenen Wissen steht. Plungian spricht sogar vom Aus-
druck einer besonderen Art der Beurteilung, die sich im Zusammenhang
mit den Erwartungen des Sprechers ergibt (Plungian 2001, 355).
Die semantische Struktur der oben erwähnten Admirativ-Aussage:
Aˠ, ˘˓ ʵʲˏˮˏ˓! – Ach, es regnet ja! hat die folgende Form:
Präsupposition: Ich erfuhr, dass p (p - Proposition – es regnet) und das
verwundert mich, da ich aus meinen bisherigen (Un-)Kenntnissen gedacht
habe, dass es wahrscheinlicher sei, dass nicht-p eingetreten ist, d. h., dass
es nicht regnet.
Die Assertion: Ich behaupte, dass p.
Ein weiteres Beispiel:
Zwei Protagonisten aus einer Erzählung von Jordan Jovkov stehlen den
goldenen Kranz einer Ikone. Nachdem sie den Diebstahl begangen haben,
ritzt der eine mit seinem Messer in das Metall und stellt fest, dass der
Kranz gar nicht aus Gold ist. Er drückt seine große Wut und Enttäuschung
mit dem Admirativ aus:
ʊ˙ˇ ˑʺ ʴˆˏ˓ ˄ˏʲ˘˓! ʃˆˊʲˊʵ˓ ˄ˏʲ˘˓ ˑʺ ʺ. (ɹ. ɹ˓ʵˊ˓ʵ) – (das Beispiel stammt
aus ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ1976, 346).
Verflucht nochmal, das ist ja gar kein Gold! Lug und Trug, kein Gold!
189
Dieses Beispiel illustriert die Spezifik des Admirativs im Vergleich zum
Indikativ sehr anschaulich. Durch den Admirativ werden neue, unerwar-
tete Informationen ausgedrückt und durch den Indikativ Informationen,
die bereits im Informationsbestand der Kenntnisse des Sprechers vor-
handen sind. Das ist der „vorbereitete Verstand“ bei Slobin/Aksu (1982, 17)
oder „die Kenntnis, die bereits im Weltbild des Sprechers vorhanden ist”
(De Lancey 2001, 379). Nur, dass durch den Admirativ der erste Schritt
der Erkenntnis grammatikalisiert wird, dieser Übergang vom kognitiven
Zustand des Sprechers Nichtwissen in den kognitiven Zustand Wissen
und was zu diesem Übergang dazu gehört, ist die Verwunderung, das Er-
staunen.
Demina vermerkt, dass die Informationsquellen für admirative Hand-
lungen unterschiedlich sein können: Eigene Perzeption des Sprechers,
seine Konklusion, oder aber fremde Rede (ɮʺːˆˑʲ 1959, 327). Doch in den
meisten Fällen ist die Informationsquelle die eigene Perzeption. Manchmal
sind Admirativformen in Beurteilungen zu entdecken, die eine Verallge-
meinerung oder Bewertung eines Sachverhalts enthalten, den der Sprecher
durch Perzeption erfahren hat.
Ein anderer Fall liegt vor, wenn der Sprecher eine bestimmte Verallgemei-
nerung auf Grund fremder Mitteilungen macht. Zum Beispiel im Dialog
von B. Ognjanov im Roman Unter dem Joch von IvanVazov, an der Stelle,
nachdem er von Diakon Vikentij etwas über die patriotische Haltung von
Vater Jerotej erfährt. Denn er war davon ausgegangen, dass dieser über-
haupt kein Interesse an patriotischen Ideen hatte (Beispiel aus ɪʲ˄˓ʵ 1957,
257; dt. Übersetzung: Vazov 1961, 311).
ʊʲ ˘˓ˮ ˣ˓ʵʺˊ ʴˆˏ ˖ʵʺ˘ʺˢ! – Dieser Mensch ist ja ein Heiliger.
Ebenda: ɼ˓ˏˊ˓ ːʲˏˊ˓ ˖ːʺ ˄ˑʲʺˏˆ ˓˘ˢʲ ɹʺ˕˓˘ʺˮ!–
Wie wenig kannten wir Vater Jerotej! (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 257; dt. Übersetzung: Vazov
1961, 311).
Die Informationsquelle beim Admirativ ist vor allem die Perzeption un-
mittelbar vor dem Redeakt und deshalb bezeichnet der Sprecher die Hand-
lung als Gegenwart, wie in den oben zitierten Beispielen über den Regen
an einem sonnigen Tag oder wenn es um ein in der Gegenwart beobach-
tetes Ergebnis geht, das aus einer Handlung in der Vergangenheit resul-
tiert. So z. B.:
ʠ, ˘ˆ ʵʺˣʺ ˖ˆ (ʴˆˏ) ˖˘ʲˑʲˏ! – Schau mal an, du bist ja schon aufgestanden!
Wenn durch den Admirativ eine Charakterisierung oder Verallgemei-
nerung vorgenommen wird, dann wird dies auch durch den Gebrauch der
Gegenwart ausgedrückt. Deshalb kennt der Admirativ nur Präsens und
Perfekt.
190
Nach den statistischen Analysen von Kucarov wird in der Belletristik
das Hilfsverb sein in 78% der Fälle gebraucht (wir können hier noch hin-
zufügen – mit existentieller Bedeutung oder als Kopula in Charakteri-
sierungssätzen), nur in 11% finden wir das Verb haben und in weiteren 11%
andere Verben.
Die Frequenz des Admirativs ist im Vergeich mit den Evidentialformen
sehr begrenzt, weil der Admirativ nur in Exklamativsätzen in der direkten
Rede in der Umgangssprache oder in ihrer Wiedergabe in der Belletristik
vorkommt. In diesen Sätzen stehen die lexikalischen Marker der Bewer-
tung, der Emotionalität und des Kontakts mit dem Hörer im Vordergrund.
Dabei werden Ausdrücke wie z. B.ʵˆʾ sieh nur, ʶˏʺʹʲˇ guck dir das an, sieh
mal einer an verwendet oder aber Interjektionen wie: ˓ˠ Autsch, ʲˠ ach, ˙ˠ
uch, Partikeln wie:ˣʺ dass, ʲːʲ na ja, ʺ˘˓ a, hier1u. a. Auch Interrogativ- und
Demonstrativpronomen und eine ganze Reihe weiterer Intensifikatoren
werden gebraucht, wie auch bei ɧleksova (2003) angeführt. Beispiel:
ɧːʲ ˣʺ ˖ˆ ʴˆˏ ˔˕˓˖˘ ˣ˓ʵʺˊ – ˙ˊ˓˕ˮʵʲ˦e ːʺ ʴʲˇ ɫʲˑ˪˓, — ʲ˄ ˘ʺ ːˆ˖ˏʺˠ ˄ʲ ˔˓-
ˠˆ˘˨˕! (ɧ. Konstantinov) – Oh, du bist wirklich ein dummer Kerl – sagte Baj
Ganju vorwurfsvoll zu mir, – ich hatte dich für schlauer gehalten!
Person beim Admirativ
Das Subjekt kann bei den Admirativformen in allen drei Personen vor-
kommen, aber die Form für die erste Person Singular wird seltener
verwendet als die Formen für die dritte Person und besonders die Formen
für die zweite Person Singular. Dieser Sachverhalt lässt sich einfach er-
klären – der Sprecher kann selten verwunderliche Sachverhalte über sich
selbst plötzlich erfahren oder eine unerwartete Bewertung der eigenen
Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Häufiger teilt er solche Arten von
Information mit, die sich auf den Hörer oder eine dritte Person beziehen.
Vgl. hierzu das vorhergehende Beispiel mit dem folgenden:
ɼ˓ˏˊ˓ ˖˨ː ʴˆˏ ˑʲˆʵʺˑ! – Wie konnte ich nur so naiv sein!
Bei einer tiefgründigen Untersuchung der Exklamativsätze mit Admirativ
stellt sich heraus, dass sie nicht im Narrativ gebraucht werden können,
weil sie in erster Linie eine emotional markierte Feststellung eines Sach-
verhalts zum Ausdruck bringen. Und diese emotionale Färbung des Sach-
1 Die Übersetzung der bulgarischen Partikel ins Deutsche ist längst nicht mit den hier
angegebenen Wiedergabemöglichkeiten erschöpft, sondern sehr stark kontextabhän-
gig, wie auch von Comati (2008, 584–596) beschrieben wird.
191
verhalts wiederum hat den Sprecher bei seiner unerwarteten Feststellung
so stark beeindruckt, dass alles andere in den Hintergrund tritt.
Die Relation zwischen Evidentialität und Admirativität.
Die Stellung des Admirativs im bulgarischen Verbalsystem.
Zusammenfassend können wir sagen, dass in den letzten Arbeiten auf dem
Gebiet der Typologie die Meinung vorherrscht, dass Admirativität und
Evidentialität zwei verschiedene semantische und grammatische Katego-
rien sind. Ein Beweis dafür ist auch, dass es Sprachen gibt, in denen Ad-
mirativität ohne eine Verbindung zu evidentialen Paradigmen ausgedrückt
werden kann, wie z. B. in der athapaskischen Sprache Hare-Slave, oder im
Englischen, wo keine Grammatikalisierung der Evidentialität existiert.
Dafür wird aber in diesen Sprachen die Admirativität als versteckte gram-
matische Kategorie durch Intonation zum Ausdruck gebracht (siehe De
Lancey 2001; auch ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ 1998, 197 und Plungian 2001, 355).
Trotz des semantischen Unterschiedes zwischen Evidentialität und Ad-
mirativität im Bulgarischen sowie auch in anderen Balkansprachen (Tür-
kisch, Makedonisch, Albanisch), wird die Admirativität durch Evidential-
formen ausgedrückt; dies deutet auf eine bestimmte Nähe dieser beiden
Kategorien hin. Diese Nähe besteht darin, dass die beiden Kategorien in
ihren Präsuppositionen eine Information über vermittelte Information
beinhalten. Die Evidentialität weist auf die Quelle der Information des
Sprechers hin, während die Admirativität die Information als neu und
unerwartet darstellt, wobei der vorherige Zustand des Nichtwissens des
Sprechers ganz klar zum Ausdruck kommt. In den beiden Fällen informiert
der Sprecher in der Präsupposition den Hörer über seinen eigenen, kog-
nitiven Zustand vor dem Sprechakt, der hauptsächlich auf der mitgeteilten
Information basiert. Doch es sind zwei vollkommen unterschiedliche
Sachlagen: Bei der Evidentialität handelt es sich um das Erfahren und
Erhalten von Wissen aus unterschiedlichen Quellen, während bei der
Admirativität das vorherige Nichtwissen als Kontrast und Gegensatz zu
dem neuen, mitgeteilten Wissen erscheint.
Zum Ursprung des Admirativs
Wir nehmen an, dass der bulgarische Admirativ aus dem Perfekt der
Feststellung von Ergebnissen nicht beobachteter Handlungen entstanden
ist. In diesem Fall sind das die Formen der 3. Person ohne das Hilfsverb
sein (siehe hierzu auch die Ausführungen von ɧndrej²in1938; ɧˑʹ˕ʺˇˣˆˑ
1976; Ivan²ev 1973 und ɸʵʲˑˣʺʵ 1976).
192
Folgendes Beispiel aus der Belletristik zeigt, wie eine emotional mar-
kierte Perfektform in der Situation einer unerwarteten Feststellung als Ad-
mirativ fungieren kann:
(Die Protagonistin lacht, außer sich vor Empörung, nachdem sie mit eigenen
Augen die Situation gesehen hat, von der sie spricht, nämlich dass die Mit-
arbeiter sich gerade einen Pornofilm anschauen).
ɼʲˊʵˆ ˖˨˕ˢʲ! ʈʺʹˑʲˏˆ ʵ ˕ʲʴ˓˘ˑ˓ ʵ˕ʺːʺ ʵˆʹʺ˓ ʹʲ ʶˏʺʹʲ˘!–
Das ist ja unfassbar! Sitzen da während der Arbeit und gucken sich ein Video an!
(ʂˆ˦ʺʵ 1999)
Unter dem starken Einfluss des temporalen Systems des Indikativs bildete
sich im Laufe der Zeit in den Renarrativ- und Konklusivformen eine
Imperfektpartizipform heraus. Am Anfang gab es wahrscheinlich nur ein
gemeinsames Paradigma für indirekt erhaltene Information, entweder mit
dem Hilfsverb sein oder ohne dieses (siehe hierzu ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ 1984, 255–
261). Deshalb wurde es möglich, dass beim Admirativ neue, perfektivische
Formen mit dem Imperfektpartizip gebraucht wurden, analog zu den For-
men des Perfekts der Feststellung ohne sein. Sie dienten zur Bezeichnung
einer Handlung, die noch während des Redemoments andauert (Ivan²ev
1973; ɸʵʲˑˣʺʵ 1976, 359). Auf diese Art und Weise kam es, dass die
Admirativformen mit Imperfektpartizip ˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ , ˔ˆ˦ʺˏ mit
den neuen Renarrativ- ˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ , ˔ˆ˦ʺˏ und Konklusivformen
˔ˆ˦ʺˏ ˖˨ː, ˔ˆ˦ʺˏ ˖ˆ für Präsens/Imperfekt und die Perfektformen mit
Aoristpartizip ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː (ʴˆˏ), ˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ (ʴˆˏ), ˔ˆ˖ʲˏ (ʴˆˏ) – mit den
Renarrativ- ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː, ˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ, ˔ˆ˖ʲˏ und Konklusivformen ˔ˆ˖ʲˏ ˖˨ː,
˔ˆ˖ʲˏ ˖ˆ für den Aorist übereinstimmten, obwohl die Admirativformen
eine ausgesprochen perfektivische, resultative Bedeutung tragen. Um eine
völlige Übereinstimmung mit den Renarrativ- und Konklusivformen für
den Aorist zu erreichen, müssten die admirativen Perfektformen auch die
Formen des Hilfsverbs sein (ʴˆˏ, -ʲ,-˓, -ˆ) in ihren Bestand einschließen.
Doch dafür gibt es nur seltene Belege. Und so entwickelte sich, sprach-
geschichtlich betrachtet, die Formenbildung so, dass der Admirativ all-
mählich mit dem Renarrativ verschmolz, wie auch Kucarov (ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ
1994, 429) feststellt.
Deshalb betrachten wir heute, aus rein synchroner Sicht, den Admirativ
nicht als selbstständigen Modus, sondern als eine kontrastive Transposition
des Renarrativs. Wie wir weiter oben schon angemerkt haben, beziehen sich
Renarrativ und Admirativ in ihren Präsuppositionen auf vorherige kogni-
tive Situationen des Sprechers, die auf der mitgeteilten Information be-
ruhen. Beim Renarrativ beruhen diese auf dem Erwerb des neuen Wissens
und beim Admirativ auf dem vorherigen Nichtwissen, welches wiederum
193
im Gegensatz zur mitgeteilten Information steht. Beim Renarrativ distan-
ziert sich der Sprecher von der mitgeteilten Information, weil ihre Quelle
die Rede einer anderen Person ist, d. h.: Das bin nicht ich, der sagt, dass p.
Beim Admirativ hebt der Sprecher seine emotionale Beziehung zur mit-
geteilten Information hervor, die sich für ihn als neu und unerwartet, un-
abhängig von ihrer Informationsquelle, darstellt.
Nicht nur die semantische, sondern auch die funktionale Seite des
Admirativs zeigen, dass es sich hierbei um eine kontrastive Transposition
des Renarrativs handelt. Im Gegensatz zum Renarrativ wird der Admirativ
sehr stark kontextabhängig gebraucht, er ist unmittelbar in die sprachliche
Situation eingebunden. Wenn man diese Merkmale außer Acht lässt und
seine besondere exklamative Intonation nicht berücksichtigt, dann kann
der Admirativ auch als Renarrativ betrachtet werden. Der Renarrativ wird
meistens bei der Narration verwendet und der Admirativ im Dialog. Eine
typische Besonderheit der kontrastiven Transpositionen ist die Emotionali-
tät, die beim Admirativ vorhanden ist. Es ist kein Zufall, dass Sv. Ivanchev
diese Formen auch als Exclamativ bezeichnet (Ivan²ev 1973; ɸʵʲˑˣʺʵ 1976,
358).
Die Meinung, dass der Admirativ eine kontrastive Transposition zum
Renarrativ darstellt, ist in der Bulgaristik nicht neu (Andrej²in 1938, 311;
Darden 1977, 61; Walter 19877; 50–51 und besonders ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994, 429).
Sie wurde jedoch bisher nicht besonders berücksichtigt, oder aber auf
andere Art und Weise dargelegt und diskutiert.
Die Wiedergabe des Admirativs im Deutschen
Im grammatischen System des Deutschen gibt es keine spezifischen
Admirativgrammeme, doch das ist in vielen anderen Sprachen auch so.
Deshalb müssen Übersetzer und Dolmetscher andere Mittel wählen, um
die grammatische Semantik des Admirativs ins Deutsche zu übertragen.
Die temporale Spezifik der Admirativformen wird meist mit Präsens oder
Perfekt im Deutschen ausgedrückt, wie die folgenden Beispiele aus der
Übersetzungsliteratur veranschaulichen:
ʊʲ ˙ ˘˓ˮ ˣ˓ʵʺˊ ˆːʲˏ˓ ʴˏʲʶ˓˕˓ʹ˖˘ʵ˓! – ˙ˣ˙ʹˆ ˖ʺ ʅʶˑˮˑ˓ʵ (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 248) –
Schau mal an, dieser Samanow besitzt also doch Edelmut, stellte Ognjanow
verwundert fest.(dt. Übersetzung: Vazov 1961, 300);
ɯ˘˓ ʶˆ ˊ˨ʹʺ ʴˆˏˆ! ...ɫ˓˖˔˓ʹʲ, ː˓ˏˮ ʵˆ! ʃʲ˦ˆ˘ʺ ʹʲːˆ ˖ˊ˙ˣʲˮ˘! – (ɮˆˣʺʵ1983,
134) – Hier sind sie ja! …Meine Herren, ich bitte Sie! Unsere Damen langweilen
sich! (dt. Übersetzung: Ditschew 1970, 143);
ɩ˕ʺ, ˮ ʵˆʾ, ˓ˑˮ ˖ˆ ˓˖˘ʲʵˆˏ ˔ˆ˖ː˓˘˓ – ˔˕ˆʴʲʵˆ ˘˓ˇ, ˊʲ˘˓ ˔˓ˊʲ˄ʲ ˔˓ˏˆˣˊʲ˘ʲ
(ɪʲ˄˓ʵ 1957, 40) –
194
Ha, sieh mal an, der andere hat ja seinen Brief vergessen, fügte er hinzu und zeigte
auf das Regal. (dt. Übersetzung: Vazov 1961, 54);
ɧːʲ ˆ ˘ˆ ˖ˆ ˖ʺ ˄ʲʴˆˏ...- ː˨ʾ˨˘ ˖ʺ ˔˓ˣʺ˖ʲ ˖ ːʲˏˊˆˮ ˔˕˨˖˘ ˄ʲʹ ˙ˠ˓˘˓. – ɪˆʾ
ˊ˨ʹʺ ˖ˆ! (ʆ˓˔˓ʵ 2010, 204) –
„Dann hast du dich ja ordentlich verfahren…” Der Mann kratzte sich mit dem
kleinen Finger hinter dem Ohr. „Also, du bist hier.” (dt. Übersetzung: Popov 2012,
218.)
Der Admirativ ist im Bulgarischen sehr stark emotional geprägt und im
Dialog verankert. Deshalb werden je nach Kontext unterschiedliche lexi-
kalische Mittel gebraucht:
a) Kontaktredewendungen wie: Stellt Euch vor,… Schau mal an,… Sieh mal an,…
Damit wird die Außergewöhnlichkeit der unerwarteten admirativen Hand-
lung hervorgehoben;
b) Bewertungsadverbien wie wirklich, ordentlich und Partikel wie doch, also doch,
ja,welche die Faktizität der unerwarteten admirativen Handlung bestätigen;
c) Emotionspartikeln wie ach, na, ha, Wendungen wie meine Güte u. ä., welche die
Verwunderung des Sprechers über einen plötzlich festgestellten Sachverhalt
unmittelbar vor dem Redemoment zum Ausdruck bringen, wie die folgenden
Beispiele belegen:
ʒʲ˕˖˨˄ˆˑ˨˘ ˖ˆ ʺ ˠʲ˕˖˨˄ˆˑ! – ˔˕ˆʴʲʵˆ ˔ʲˑʹ˙˕ˆˑ˨˘ ˖˨˖ ˖ˊ˕ˆ˘ʲ ˕ʲʹ˓˖˘. –
ʅ˘ˊ˕ʲʹˑʲˏ ˑʲ ʹˮʹʲ ˔˓˔ʲ ʹ˕ʺˠˆ˘ʺ.(ɪʲ˄˓ʵ 1957, 144) – “
Spitzbube bleibt Spitzbube!” erklärte der Pandure mit heimlicher Freude, stellt Euch
vor, er hat dem Vater Popen die Kleider gemaust!” (dt. Übersetzung: Vazov1961,
180);
ɧ ʴʺ ˘˓ˇ ˏˆ ʴˆˏ ʴʺ, ːʲˇˊˆ! – ˊʲ˄ʲ ˖ˆ ˄ʲˣ˙ʹʺˑ˓ ʴʲˇ ʂˆʲˏ. (ɪʲ˄˓ʵ 1957,145) –
„Ach, das war er, heilige Mutter!” wunderte sich BaiMial. (dt. Übersetzung:
Vazov 1961, 180);
ʊʲ ˘˓ ʵ˖ˆˣˊ˓ ˔˓ˏ˙ʹˮˏ˓, ˓˘ ˖˘ʲ˕ˢˆ ʹ˓ ʴ˓˄ʲˇˑˆˢˆ – ˔˓ːˆ˖ˏˆ ˖ˆ ˘˓ˇ,... (ɪʲ˄˓ʵ
1957, 279) –
„Die sind ja wirklich alle wild geworden, von den Greisen bis zu den Säuglingen”,
ging es ihm durch den Kopf… (dt. Übersetzung: Vazov 1961, 336);
ɧːʲ ʵˆʺ ˢˮˏʲ ʹʺˏʺʶʲˢˆˮ ˖˘ʺ ˖˔˕ʺ˘ˑʲˏˆ! – ˦ʺʶ˙ʵʲː ˖ʺ (ʆ˓˔˓ʵ 2010, 116) –
„Na, da haben Sie ja eine ganze Delegation zusammengestellt”, scherze ich. (dt.
Übersetzung: Popov 2012, 124).
Nur selten kommen Übersetzer ohne zusätzliche lexikalische Mittel bei der
Wiedergabe des bulgarischen Admirativs im Deutschen aus, wie folgendes
Beispiel zeigt:
ʈˏ˙˦ʲˏʲ ːʺ ˓˧ʺ ˔˙˧ˆˑʲ˘ʲ! – ˊʲ˄ʲ ˆʶ˙ːʺˑ˨˘ (ɪʲ˄˓ʵ 1957, 91) –
195
„Es gehorcht mir immer noch, das Teufelsding!” rief der Abt aus… (dt. Über-
setzung: Vazov 1961, 115).
Diese Ausführungen belegen, dass der Admirativ im Bulgarischen keine so
hohe Frequenz im schriftlichen Gebrauch zeigt, sondern vorwiegend in
umgangssprachlich geprägten Dialogen auftritt. Der bulgarische Admira-
tiv ist eine originäre, grammatikalisierte Erscheinung, die in dieser Aus-
prägung und Bedeutungsvielfalt einmalig unter den slavischen Sprachen
ist. Deshalb wäre es ein lohnenswertes Projekt, einen umfangreicheren
Korpus von bulgarisch-deutschen Belegen zu dieser Thematik zu erstellen,
um alle lexikalischen Mittel zur Wiedergabe des Admirativs im Deutschen
vollständig zu erfassen und zu beschreiben.
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ˑʲ ʺˊ˖˔˕ʺ˖ˆʵˑ˓˖˘ ʵ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ˊˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ 2,
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˘˙˕ˑ˓ː ˮ˄˩ˊʺ. ɪ: ɪ˓˔˕˓˖˩ ʶ˕ʲːːʲ˘ˆˊˆ ʴ˓ˏʶʲ˕˖ˊ˓ʶ˓ ˏˆ˘ʺ˕ʲ˘˙˕ˑ˓ʶ˓ ˮ˄˩ˊʲ
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ʈʵ. ɸʵʲˑˣʺʵ, ʆ˕˓ʴˏʺːˆ ˑʲ ˕ʲ˄ʵˆ˘ˆʺ˘˓ ˆ ˟˙ˑˊˢˆ˓ˑˆ˕ʲˑʺ˘˓ ˑʲ ː˓ʹʲˏˑˆ˘ʺ
ˊʲ˘ʺʶ˓˕ˆˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ.ɪ: ʆ. ʆʲ˦˓ʵ/ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ (˖˨˖˘.), ʆ˓ːʲʶʲˏ˓ ˔˓
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ɫ. ɫʺ˕ʹʾˆˊ˓ʵ, ʆ˕ʺˆ˄ˊʲ˄ʵʲˑʺ˘˓ ˑʲ ʶˏʲʶ˓ˏˑ˓˘˓ ʹʺˇ˖˘ʵˆʺ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ
(ʈ˓˟ˆˮ 1984).
ɼ˓ˑ˖˘ʲˑ˘ˆˑ˓ʵ 1974
ɧ. ɼ˓ˑ˖˘ʲˑ˘ˆˑ˓ʵ, ɩʲˇ ɫʲˑ˪˓.ʈ˨ˣˆˑʺˑˆˮ, ˘. I. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ˔ˆ˖ʲ˘ʺˏ (ʈ˓˟ˆˮ 1974)
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ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1982
ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ɶʲ ˘ʲˊʲ ˑʲ˕ʺˣʺˑˆˮ ʲʹːˆ˕ʲ˘ˆʵ ʵ ˖˨ʵ˕ʺːʺˑˑˆˮ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ. ɪ:
ʈʴ˓˕ˑˆˊ ʹ˓ˊˏʲʹˆ ˓˘ ʟʴˆˏʺˇˑʲ˘ʲ ˑʲ˙ˣˑʲ ˖ʺ˖ˆˮ, ˔˓˖ʵʺ˘ʺˑʲ ˑʲ 1300-ʶ˓ʹˆ˦ˑˆ-
ˑʲ˘ʲ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ˘ʲ ʹ˨˕ʾʲʵʲ ˆ 10-ʶ˓ʹˆ˦ˑˆˑʲ˘ʲ ˑʲ ɪʆɸ-ʘ˙ːʺˑ (ɪʆɸ
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ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1994
ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ɯʹˑ˓ ʺˊ˄˓˘ˆˣˑ˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʶˏʲʶ˓ˏ (ʈ˓˟ˆˮ
1994).
ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ 1999
ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ, ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ. ɪ: ʊ. ɩ˓ˮʹʾˆʺʵ/ɸʵ. ɼ˙ˢʲ˕˓ʵ/ɹ. ʆʺˑˣʺʵ, ʈ˨ʵ˕ʺ-
ːʺˑʺˑ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ (ʈ˓˟ˆˮ 1999).
ʂʲ˖ˏ˓ʵ1956
ʟ. ʈ. ʂʲ˖ˏ˓ʵ, ɼ ʵ˓˔˕˓˖˙ ˓ ˖ˆ˖˘ʺːʺ˟˓˕ː˔ʺ˕ʺ˖ˊʲ˄˩ʵʲ˘ʺˏ˪ˑ˓ʶ˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆˮ. ɪ:
ʈʴ˓˕ˑˆˊ ʵ ˣʺ˖˘ ˑʲ ʲˊʲʹ. ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ. ɩɧʃ (ʈ˓˟ˆˮ 1956) 311–318.
ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ 1998
ʂ. ʂʺˏ˪ˣ˙ˊ, ɼ˙˕˖ ˓ʴ˧ʺˇ ː˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˆ, ˘. II, ʕʲ˖˘˪ʵ˘˓˕ʲˮ: ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆʺ
˄ˑʲˣʺˑˆˮ.Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 38.2 (ʂ˓˖ˊʵʲ/ɪʺˑʲ 1998).
ʂˆ˦ʺʵ 1999
ɫ. ʂˆ˦ʺʵ, ɮ˙ˑʲʵ-ː˓˖˘ (ʈ˓˟ˆˮ 1999).
ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 1993
ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ, ɼ˓ʶˑˆ˘ˆʵˑˆ ˖˨˖˘˓ˮˑˆˮ ˑʲ ʶ˓ʵ˓˕ʺ˧ˆˮ, ʺ˔ˆ˖˘ʺːˆˣˑʲ ː˓ʹʲˏˑ˓˖˘
ˆ ˘ʺː˔˓˕ʲˏˑ˓˖˘. ʈ˨˔˓˖˘ʲʵˆ˘ʺˏˑ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 3–4, 1993, 137–144.
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ɧ. ʆ˓˔˓ʵ, ʕʺ˕ˑʲ˘ʲ ˊ˙˘ˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2010).
ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ 1926
ʈ˘. ʇ˓ːʲˑ˖ˊˆ, ʇʺˢʺˑ˄ˆˮ ˑʲ ɪʲˇʶʲˑʹ 1925 ʶ. ʂʲˊʺʹ˓ˑ˖ˊˆ ˔˕ʺʶˏʺʹ 2.3, 1926,
143–145.
ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ 1957
ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ, ʕʺ˘ʵ˨˕˘˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ. ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆ ʺ˄ˆˊ 7.4, 1957, 306–317.
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ɧˏ. ʊʺ˓ʹ˓˕˓ʵ-ɩʲˏʲˑ, ʕʺ˘ʵ˨˕˘˓ ˑʲˊˏ˓ˑʺˑˆʺ. ɪ: ʆ. ʆʲ˦˓ʵ/ʇ. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ (˖˨˖˘.),
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ɩ. ʔ˓ˑʺʵ, ɸ˖˘˓˕ˆˮ ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ. ʊ. III. ɩ – ʈ˔ʺˢˆʲˏˑˆ ˣʲ˖˘ˆ (ʈ˓˟ˆˮ
1985).
199
Sigrun Comati
Vergleichende Betrachtungen zur bulgarischen und deutschen
Sprache im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets
In den letzten zwei Jahrzehnten sind große Fortschritte in der elektroni-
schen Textverarbeitung und der Vervollkommnung spracherkennender
Computerprogramme zu verzeichnen. Es war ein weiter Weg, den Philo-
sophie, Linguistik und natürlich die Naturwissenschaften bis zu diesen Er-
gebnissen beschritten haben. Als Beginn dieses Weges wird meist das philo-
sophische Gedankengut der Renaissance betrachtet. Der außergewöhnliche
italienische Philosoph und Gelehrte jener Zeit, Pico della Mirandola (1463–
1494) hat in seinem wegweisenden Werk Oratio de hominis dignitate (Rede
über die Würde des Menschen), veröffentlicht 1496 (hier zitiert nach 2012,
9), folgende Gedanken geäußert, die diesem Beitrag als Einführung voran-
gestellt werden sollen:
„Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte
äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir
verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die
du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten
und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe ent-
faltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von
allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich
überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe
ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten
kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen
Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich
gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem
Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du
bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst nach
eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben, in das Göttliche.“
Wir erkennen hier ein Weltbild, das Weltbild des Humanismus, das den
Menschen in das Zentrum der gesamten Entwicklung auf dieser Welt stellt.
Dieser Mensch soll all seine Begabungen möglichst umfassend und mög-
lichst weit entwickeln, der Schlüssel dazu heißt: Alls eitig e Bil dung!
Der Zugang zu dieser allseitigen Bildung war freilich in dieser Zeit längst
nicht allen möglich. Um das hohe Gut der Bildung zu verbreiten, bedurfte
es eines Mediums. Das war in der Zeit der Renaissance, und natürlich auch
200
schon lange vorher, das Buch, das zunächst mit der Hand geschrieben
wurde. Die große Revolution auf diesem Gebiet kam mit der Erfindung
des Buchdrucks durch den Mainzer Johannes Gutenberg, der von ca. 1400–
1468 lebte. Im Jahre 1450, nachdem Gutenberg die Druckkunst mit
beweglichen Lettern erfunden hatte, druckte er die berühmte Gutenberg-
Bibel und von da an war der Verbreitung des Wissens und der Informa-
tionen auf allen Gebieten der Wissenschaft der Weg gebahnt. In dieser
aufregenden Zeit wuchs ein neuer, kritischer, menschlicher Geist in Eu-
ropa, der durch wissenschaftliche Forschungen und Entdeckungen geprägt
wurde und der unter anderem auch die bestehende kirchliche Ordnung
hinterfragte und reformierte. Martin Luther (1483–1546) war in dieser Zeit
einer der größten Theologen, Reformatoren und Humanisten. Er setzte zu
Beginn des 16. Jahrhunderts seine Reformbestrebungen der Katholischen
Kirche unter größten Anstrengungen durch. Seine Bibelübersetzung ins
Frühneuhochdeutsche, die er gemeinsam mit seinen gelehrten Weggefähr-
ten und Zeitgenossen aus dem Aramäischen, Althebräischen, Lateinischen
und Altgriechischen in den Jahren 1521 und 1522 schuf, zeichnet ihn als
großen Humanisten aus, denn er versah seine deutsche Übersetzung mit
Redewendungen und Metaphern aus der Sprache des Volkes und machte
sie ihm damit zugänglich (Mayer 1982, 110–116). Diese Leistung ist durch-
aus vergleichbar mit dem, was die Slavenapostel Kyrill und Method im 9.
Jahrhundert vollbrachten und erreichten, als sie die altbulgarische (alt-
kirchenslavische) Sprache als Sprache des Volkes für die Bibelübersetzung
und als liturgische Sprache durchsetzten, denn bis dahin waren nur Hebrä-
isch, Griechisch und Latein die Sprachen der Kirche (Comati/Vlahova 2003,
88–91).
Dieser kurze Exkurs in die Vergangenheit ist notwendig, um einen
historischen Blick auf die Sprachen zu werfen, die uns hier interessieren,
denn ohne ein historisches Fundament können wir keine Zukunftsvisionen
für unsere Sprachen aufbauen.
Ein Blick auf die heutigen Medien
Die heutigen Medien zur Verbreitung von Information und Wissen wie
Fernsehen, Radio und Internet haben zweifelsohne einen ganz anderen
Stellenwert als das Buch in seiner Originalsprache oder dessen Überset-
zung. Und wie ist es nun um die Sprachen bestellt, die wir heute sprechen,
lesen und pflegen, oder besser gesagt, pflegen sollten? Wie gelingt es uns,
diese Sprachen zu digitalisieren und damit für Computernutzer zugänglich
zu machen? Doch bevor wir dieser Frage nachgehen, müssen wir fragen:
Wie viele Sprachen gibt es heute eigentlich?
201
Auf unserem Erdball werden nach Angaben von Sprachwissenschaft-
lern wie Haspelmath (2005) heute ca. 6.000 Sprachen gesprochen und es
wird davon ausgegangen, dass etwa 2000 von ihnen den so genannten
„Sprachtod“ erleiden werden, das heißt, sie werden verschwinden, weil sie
gravierend an Bedeutung und Relevanz als Kommunikationsmittel ver-
lieren, weil sie nicht mehr über genügend Muttersprachler verfügen und
ihre Verbreitungsgebiete, aus welchen Gründen auch immer, so stark
zurückgehen, dass sie schließlich keine Rolle mehr spielen. Verbunden mit
dem so genannten Sprachtod ist aber fast immer auch eine Sprachgeburt.
Um dazu nur ein Beispiel zu nennen: Das Altkirchenslavische, also das
Altbulgarische, ist die älteste slavische Schriftsprache, die im Bulgarischen
Reich des 9.-10. Jh. ihre größte Blüte erlebte. Als erste slavische Literatur-
sprache hat sie in allen slavischen Ländern des byzantinischen Kultur-
bereichs (d.h. in der Slavia Orthodoxa) jahrhundertelang einen enormen
sprachlichen Einfluss ausgeübt. Daher ist die Kenntnis des Altbulgarischen
für die historisch-vergleichende Grammatik und die Indogermanistik,
sowie für die historische Entwicklung der slavischen Sprachen unabding-
bar; sie ist auch heute noch eine wichtige Grundlage für das Studium der
slavischen Philologie. Das Altbulgarische hielt diese exponierte Funktion
der einzigen Schriftsprache auch im Zweiten Bulgarischen Reich (1185-
1396), doch der Bau der gesprochenen Sprache veränderte sich allmählich
in Richtung eines analytischen, neubulgarischen Sprachtyps, im Gegensatz
zum synthetisch geprägten Altbulgarisch. Zu Beginn des 15. Jahrhundert
wurde dieser Prozess der Sprachwandlung abgeschlossen.
Die europäischen Sprachen erfuhren im Laufe der nächsten Jahrhunderte
ihre so genannten Standardisierungen durch eine vereinheitlichte Schrift-
sprache mit einer verbindlichen Orthographie und Grammatik, wie sie all-
mählich in jedem europäischen Nationalstaat festgelegt wurde. Dieser Pro-
zess war auch für Bulgarien zum Ende des 19. Jahrhunderts im Großen und
Ganzen abgeschlossen. In dieser Zeit begann in Europa und in den USA
eine rasante Entwicklung der Technik, die sich auf die Sprache als Kommu-
nikations- und Austauschmedium für Information enorm auswirken sollte.
Die Entwicklung der Computertechnik und ihre Nutzbarmachung
für die Sprache
Durch die rasante Entwicklung von Industrie und Technik gelang es dem
US-Amerikaner Thomas Edison (1847–1931) im Jahre 1877 den Phonogra-
phen zu entwickeln, damit waren die ersten Tonaufzeichnungen möglich.
Der Ingenieur Konrad Zuse lebte von 1910–1995 und im Jahre 1941 war
er mit seinen Konstruktionsarbeiten so weit, dass er den ersten voll
202
funktionstüchtigen, frei programmierbaren Rechner in binärer Schalt-
technik der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Diese Rechner nennen wir
heute Computer. Eine ähnliche Erfindung gelang fast zeitgleich dem Com-
puterpionier John Atanasoff in den USA. Von dieser Zeit an begann eine
schnelle Entwicklung von Computern und Computerprogrammen, die in
immer kürzeren Zeitabständen immer mehr Verbesserungen erfuhren. Die
Computer wurden untereinander vernetzt, es wurden Datenautobahnen
geschaffen.
Seit 1989 kennen wir das World Wide Web, ein über das Internet ab-
rufbares System von elektronischen Hyperdokumenten, die durch Hyper-
links miteinander verknüpft sind. Das Web entstand 1989 als eine Projekt-
entwicklung unter der Federführung von Tim Berners-Lee im Forschungs-
zentrum CERN bei Genf. Das Web dient der Informationsbeschaffung
durch den allgemeinen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumen-
ten, die weltweit für jeden Computernutzer möglich ist.
Soweit die technischen Voraussetzungen für Sprachverarbeitungs- und
Sprachbearbeitungsprogramme. Wir alle nutzen diese Technologien schon
seit einigen Jahren und zwar folgendermaßen:
– wenn wir Informationen aus dem Internet abrufen
– wenn wir Korrekturprogramme für Orthographie und Grammatik für unsere
geschriebenen Texte nutzen
– wenn wir den computergesteuerten, sprachlichen Anweisungen von Naviga-
tionsprogrammen folgen
– wenn wir das Internet zum Kauf von verschiedenen Dingen nutzen
– wenn wir über bestimmte „Hotlines“ telefonisch Hilfe zu bestimmten Produk-
ten suchen oder Servicecenter anwählen
– wenn wir online Webseiten übersetzen
Als Lingua franca des Internets galt anfänglich die englische Sprache, alle
sprachver- und bearbeitenden Programme waren zunächst mit einem
englischen Eingabemodus und englischen Befehlen versehen und auch die
Bezeichnung von Soft- und Hardware war von englischen Begriffen ge-
prägt, angefangen vom Server über Browser bis hin zu Desktop, Style-
sheets und allen möglichen Downloads. Und so kamen gleich in den 90er
Jahren die ersten ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Einbeziehung der
kleineren Sprachen Europas in die Medien auf. Vor allem war aber die
wichtige Frage, die wir im Zusammenhang mit der Computertechnik zu
betrachten haben: Besteht eine ernste Gefahr für unsere Sprachen, werden
sie von englischen Wörtern bald ganz vereinnahmt und hoffnungslos
überflutet, so dass wir sie bald nicht mehr erkennen können? Die Antwort
für die deutsche Sprache auf diese Frage gibt uns der bekannte Germanist
203
und Verfasser grundlegender grammatischer Werke für die deutsche
Sprache, Peter Eisenberg (2011, 2)
„Fremdwörter sind Wörter des Deutschen, auch wenn sie ganz oder teilweise
aus anderen Sprachen übernommen sind. Ein Fremdwort aus dem Englischen
bezeichnet man als Anglizismus und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich
nicht um ein Wort des Englischen handelt, sondern um eines, das ganz oder
in Teilen aus dem Englischen stammt. Der Anglizismus Computer beispiels-
weise ist insofern ein Wort des Deutschen, als er, anders als im Englischen,
großgeschrieben wird und ein Genus (grammatisches Geschlecht) hat.“
Die Antwort für die bulgarische Sprache fällt ebenso aus: Trotz einer
500jährigen osmanischen Fremdherrschaft in Bulgarien in der Zeit von
1396–1878, während der das Türkische die Sprache der Administration, des
Militärs und aller offiziellen Einrichtungen war, blieb die bulgarische
Sprache dank ihrer Sprecher, einer unerschöpflichen Folklore und ihrer
vielfältigen Dialekte über die Jahrhunderte hinweg präsent und wurde
gesprochen. Der Anteil der Fremdwörter im Bulgarischen stieg ebenso,
doch Fremdwörter wurden und werden im Bulgarischen ebenfalls nach
bestimmten grammatischen Prinzipien assimiliert. Unnötiges, veraltetes
und nur noch selten gebräuchliches Wortgut gerät in Vergessenheit und
wird „aussortiert“. Für die bulgarische Sprache wird auf der Grundlage
des ʇʺˣˑˆˊ ˑʲ ˑ˓ʵˆ˘ʺ ʹ˙ːˆ ʵ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ (2010) festgestellt, dass beim
Zustrom an Fremdwörtern in den letzten Jahren etwa ein Viertel der ins-
gesamt neuen 4300 lexikalischen Einheiten Lehnwörter aus dem Engli-
schen sind (Blagoeva et al. 2012, 15).
Und dann gibt es da noch eine ganz wichtige Sache: Unsere Dialekte!
Die Dialekte gehören sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien zu den
wichtigsten Ressourcen unserer Sprachen, sie sind sozusagen die un-
erschöpflichen Quellen der Sprachforschung. Die Dialektforschung hat in
Deutschland und Bulgarien in den letzten Jahren präzise Dialektatlanten
erstellt und Tonaufzeichnungen angefertigt und archiviert, die als Groß-
projekte von der Europäischen Union entscheidende Förderung erfuhren.
Weshalb sind Dialekte so wichtig? Haftet ihren Sprechern mit starker
regionaler Aussprache nicht doch etwas Provinzielles an? Es hängt wohl
auch vom Selbstbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher dieser Dia-
lekte ab. In Deutschland und Bulgarien bedient man sich in der Öffent-
lichkeit einer normierten Sprache, man bezeichnet sie als Literatursprache,
Hochdeutsch, Standardsprache, im Bulgarischen kennen wir die Bezeich-
nung ˊˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ. Anders hingegen in der Schweiz, dort werden die
schweizerdeutschen Dialekte auch in der Öffentlichkeit mit Selbstbewusst-
sein gepflegt. Doch auch in Deutschland hat sich eine gewisse Wende zum
204
Bewahren des Kulturguts Dialekt vollzogen, so werden beispielsweise an
manchen Grundschulen in Norddeutschland Friesisch und Plattdeutsch
unterrichtet. Ob und weshalb eine Mundart, ein Dialekt, den Status einer
Hochsprache, einer Standardsprache oder gar einer eigenen Sprache erhält,
diese Frage hängt von vielen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Faktoren ab.
Auch die bulgarische Sprachwissenschaft legt großen Wert auf die
Pflege der Dialekte, doch an der Wertigkeit eines Dialekts werden keinerlei
Zweifel gehegt. Selbstverständlich wird in allen Schulen die bulgarische
Standardsprache gelehrt, doch die Dialekte haben nach wie vor ihre Da-
seinsberechtigung und gelten in der bulgarischen Grammatik, besonders
bei den grundlegenden Gesetzen der Lautlehre, als wichtiger Ausgangs-
punkt für die Entwicklung der bulgarischen Morphologie, wie bei Todor
Bojadžiev (2012, 38–40) ausführlich dargelegt wird.
Die Fragen der Phonetik und der Phonologie beschäftigen besonders
jene Forscher, die sich mit der künstlichen Intelligenz der so genannten
Spracherkennungsprogramme beschäftigen. Und eben diese Programme
sollen uns dabei helfen die Sprachbarrieren zu überwinden.
Wenn wir nun auf das Gebiet der heutigen Europäischen Union zu
sprechen kommen, dann sind hier mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten mit 24
Amtssprachen vertreten. Die Vision dieser Europäischen Union ist ein
barrierefreier Austausch von Informationen, die Sprachbarriere soll uns
also zukünftig nicht mehr im Wege stehen, wenn wir beispielsweise einen
in bulgarischer Sprache verfassten Artikel über noch nicht bekannte Heil-
kräfte des bulgarischen Naturjoghurts im Internet lesen wollen. Die com-
putergestützte, also maschinelle Translation soll das leisten. Dass dies
keine leichte Aufgabe ist, kann sich jeder vorstellen, der schon einmal die
Bekanntschaft mit Texten gemacht hat, die maschinell übersetzt wurden.
Den Grundstein für Übersetzungen mit Hilfe eines Computers legte der
US-amerikanische Mathematiker Warren Weaver (1894–1978). Es gelang
ihm in den 1940er Jahren mit Hilfe statistischer und linguistischer Metho-
den Textbearbeitungen so vorzunehmen, dass ein Erkennen von Wort- und
Satzbausteinen möglich war. Auch die heutige Computertranslation ar-
beitet nach diesem Prinzip. Hierbei wird der Eingangstext zunächst einmal
statistisch und linguistisch analysiert. Die statistische Methode sorgt für
die Analyse von Datenmengen eines bestimmten Sprachpaares, während
die linguistische, regelbasierte Methode mit der Einbeziehung von Wörter-
büchern und Grammatiken arbeitet. Der Text wird mit bestimmten Erken-
nungsprogrammen in seine Einzelteile zerlegt, formatiert und abgeglichen,
nach Morphologie, Syntax und anderen Merkmalen aufgeschlüsselt und
dann beginnt die Suche nach der höchstmöglichen Übereinstimmung mit
205
einer Formulierung in der Zielsprache, und zwar durch Abgleichen mit
dem vorhandenen statistischen Material in der Zielsprache und dem
Einpassen in die Regeln und Strukturen der Zielsprache, also wieder nach
der statistischen und nach der linguistischen Methode. Hier arbeiten
statistische und linguistische Methoden Hand in Hand. Mittlerweile gibt es
schon recht brauchbare Resultate dieser Methode für kurze Hauptsätze.
Doch die Computertranslation ist für eine Sprache wie die bulgarische
eine sehr große Herausforderung. Das liegt ganz einfach an der vielschich-
tigen grammatischen Struktur dieser Sprache. Das Bulgarische ist sowohl
eine Balkansprache als auch eine slavische Sprache. Es vereint viele Merk-
male in seiner Sprachstruktur, die sich teilweise sogar überlagern und
damit ein eindeutiges Erkennen und Übersetzen für die künstliche Intelli-
genz des Übersetzungscomputers sehr schwierig machen. Die Haupt-
probleme dabei sind:
– das Fehlen von Kasusendungen, bedingt durch den Wegfall des Kasussystems
– die verhältnismäßig freie Wortfolge im Satz
– das nicht obligatorisch markierte Subjekt im Satz
– das morphologisch umfangreiche Verbsystem mit zwei Aspekten
Hier ein Beispiel, das die Schwierigkeiten des Erkennens von Wortkate-
gorien und Bedeutungsnuancen für die computergestützte Translation im
Bulgarischen veranschaulichen soll (Blagoeva et al. 2012, 13): Das bulga-
rische Wort ʴʺˏˆ, ein Wort, das als Homonym und eben auch Homograph
in folgenden Bedeutungsvarianten auftritt:
1. Pluralform des Substantivs: ʴʺ'ˏˮ (Unglück, Malheur)
2. Pluralform des Adjektivs: ʴˮˏ – 'ʴeˏˆ (weiß – weiße)
3. Verbform, 3. Person Singular Präsens: 'ʴʺˏˮ – 'ʴeˏˆ (schälen, abpellen)
4. Verbform, 2. oder 3. Person Singular, Aorist: ʴeˏˮ – ʴeˏˆ (du schältest –
er, sie, es schälte)
5. Verbform, 2. Person Singular des Imperativs: ʴʺ'ˏˆ! (Schäle!)
Zur Digitalisierung der bulgarischen Sprache –
heutiger Stand und Ausblick
Doch die Linguistik hat durch ihre akribische Forschungsarbeit alle Bei-
träge geliefert, die eine maschinelle Übersetzung ermöglichen, oder wenig-
stens in naher Zukunft möglich erscheinen lassen. Zunächst einmal wur-
den sehr umfangreiche Wörterbücher, nicht nur für die bulgarische,
sondern für alle europäischen Sprachen geschaffen. Sie dienen als Daten-
banken, auf welche die computergestützten Translationsmechanismen
206
zurückgreifen. Profunde grammatische Forschungen ermöglichten genaue
phonetische, phonologische, morphologische, lexikalische, semantische
und syntaktische Analysen, die alle Eingang in Datenbanken fanden. Neue,
grundlegende Werke auf dem Gebiet der bulgarischen Grammatik, wie
von Ruselina Nicolova (2008), um hier stellvertretend für zahlreiche Neu-
erscheinungen nur eine zu nennen, geben der bulgarischen Computer-
linguistik wieder neue Denkanstöße hinsichtlich der computergesteuerten
Translation des bulgarischen Verbs. Und schließlich fand eine Vernetzung
jener Institutionen statt, die auf dem Gebiet der Computerlinguistik arbei-
ten, auf den Forschungsgebieten der künstlichen Intelligenz. In Bulgarien
stand die Wiege der Computerlinguistik in der Universität Plovdiv und
seit den 90er Jahren entwickelte sie sich stetig.
Am Institut für Bulgarische Sprache „Prof. Ljubomir Andrej²in“ in Sofia,
das zur Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gehört und im Jahre
2012 sein 70jähriges Gründungsjubiläum beging, wurde die Abteilung
Computerlinguistik eingerichtet, deren Aufgaben sich auf Forschung, Ent-
wicklung, Lehre und wissenschaftliche Kooperation erstrecken. Es wird
dort u. a. an Methoden der computergestützten Translation gearbeitet so-
wie an allen sprachver- und bearbeitenden Methoden, an computergestütz-
ten Lernprogrammen und an computergestützten Forschungsassistenz-
programmen. Die Arbeitsresultate verbessern Anwenderprogramme, so
liegt jetzt beispielsweise für die bulgarische Sprache ein Online Translator,
also ein computergestütztes Translationssystem vor, das sich WebTrance
von SkyCode nennt. Es übersetzt Texte und Internetseiten aus dem Bul-
garischen ins Englische, Deutsche, Französische, Spanische, Italienische
und Türkische und umgekehrt.
Die bulgarische Computerlinguistik am Institut für bulgarische Sprache
braucht keinesfalls den Vergleich mit internationalen Partnern zu scheuen.
Die Arbeitsgruppen der BACL (Bulgarian Association for Computational
Linguistics) und der BLA (Bulgarian Lexicographic Association) sind mit-
einander vernetzt und stehen in erfolgreichem Austausch mit dem so
genannten META-NET, das für M – Multilingual; E – Europe; T – Tech-
nology; A – Alliance steht.
Die Organisation META-NET wird von der Europäischen Kommission
gefördert, sie unterhält eine Exzellenzinitiative, an der 54 wissenschaftliche
Organisationen aus 33 europäischen Ländern beteiligt sind. Sie gibt so
genannte Weißbücher für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
heraus, die über den Ist-Bestand an Internetzugängen und -nutzung in den
einzelnen Ländern berichten und über den Forschungsstand auf dem
Gebiet der Sprach-, Textverarbeitungs- und Forschungsprogramme infor-
mieren. Diese Initiative ermöglicht eine intensive Zusammenarbeit von
207
Sprachwissenschaftlern, Computertechnikern, Programmentwicklern und
Mathematikern. META-Net wiederum steht im ständigen Austausch mit
GWA (Global WordNETAssociation) und CLARIN (Common Language
Resources), einer web-und zentrenbasierten Forschungsinfrastruktur für
die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Für Bulgarien wurde 2012 von den renommierten Computerlinguisten
Diana Blagoeva, Svetla Koeva und Vladko Murdarov eine Studie zum
Stand der Digitalisierung der bulgarischen Sprache verfasst (Blagoeva et al.
2012). In Bulgarien ist laut dieser Studie im Jahr 2012 die Anzahl der Inter-
netnutzer auf 50% der Gesamtbevölkerung gestiegen.
Ein Vergleich aus dem Jahre 2010 (Blagoeva et al. 2012, 37f), bei dem mit
einer Bewertungsskala von 1–5 gearbeitet wurde, konnte den Forschungs-
und Entwicklungsstand von 30 europäischen Sprachen im Hinblick auf die
computergestützten Sprach-, Text- und Translationsprogramme aufzeigen:
Computergestützte sprachverarbeitende Technologien:
Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3
Computergestützte Translation:
Bulgarisch Platz 5, Deutsch Platz 4
Textanalyse:
Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3
Computergestützte Sprachressourcen (Textzusammenfassungen, etc.):
Bulgarisch Platz 4, Deutsch Platz 3
Die Erhebungen für die deutsche Sprache sind unter http://www.meta-net
.eu/whitepapers/volumes/german zu finden, die unter der Federführung der
bekannten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz,
Peter Rehm und Hans Uszkoreit und ihrem Forscherteam herausgegeben
und ständig aktualisiert werden. Auf dem Gebiet der Digitalisierung der
Sprache und der Erschließung von computergestützten Translationsmetho-
den kommen den Mitarbeitern des DFKI (Deutsches Forschungszentrum
für Künstliche Intelligenz) an der Universität des Saarlandes und den mit-
wirkenden Forschern auch von österreichischen und schweizerischen Uni-
versitäten in den letzten Jahren besondere Verdienste zu. Die Anstrengun-
gen des META-NET sind auf eine Vision gerichtet: Im Jahr 2020 soll es für
Nutzer von Computern und des Internets möglich sein, Texte aus allen
Sprachen der Europäischen Union durch ein barrierefreies Internet, also
kostenfrei und ohne die hinderliche Sprachbarriere, in ihrer Muttersprache
zu lesen. Dem Zugang zu Wissen und dem Austausch von Informationen
und dem Wissenstransfer sollen dann keine Schranken mehr auferlegt sein.
208
Mit dem wichtigen Hilfsmittel der Computertechnik aus dem 20. und
dem 21. Jahrhundert kommen wir dem eingangs erwähnten Menschheits-
traum, den wir seit der Renaissance kennen, dem freien Zugang zu Wissen
und allseitiger Bildung, ein großes Stück näher.
Literatur
Blagoeva et al. 2012
D. Blagoeva/S. Koeva/V. Murdarov, The Bulgarian language in the digital age/
ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ˘ ʺ˄ˆˊ ʵ ʹˆʶˆ˘ʲˏˑʲ˘ʲ ʺ˔˓ˠʲ. Whitepaper series (Berlin/Heidelberg
2012).
Comati/Vlahova 2003
S. Comati/R. Vlahova, Bulgarische Landeskunde (Hamburg 2003).
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P. Eisenberg, Das Fremdwort im Deutschen (Berlin/New York 2011).
Haspelmath 2005
M. Haspelmath, World Atlas of Language Structures (Oxford 2005).
Mayer 1982
H. Mayer, Martin Luther. Leben und Glaube (Gütersloh 1982).
Pico della Mirandola 1496
G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen.
Latein/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps, herausgegeben und
übersetzt von Gerd von der Gönna. Reclams Universal-Bibliothek 9658 (Ditzin-
gen 2009).
Radeva 2003
V. Radeva (Hrsg.), Bulgarische Grammatik. Morphologisch-syntaktische Grund-
züge (Hamburg 2003).
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ʊ. ɩ˓ˮʹʾˆʺʵ, ɼˑˆʾ˓ʵʺˑ ʺ˄ˆˊ ˆ ʹˆʲˏʺˊ˘ˆ. ɸ˄ʴ˕ʲˑˆ ˘˕˙ʹ˓ʵʺ (ʈ˓˟ˆˮ 2012).
ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ 2008
P. ʃˆˢ˓ˏ˓ʵʲ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ. ʂ˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2008).
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ɯ. ʆʲ˖ˊʲˏʺʵʲ, ɼ˓ː˔˭˘˨˕ˑʲ ː˓˕˟˓ˏ˓ʶˆˮ (ʈ˓˟ˆˮ 2007).
ʈ˘ʲːʴ˓ˏˆʺʵʲ 2012
209
ʂ. ʈ˘ʲːʴ˓ˏˆʺʵʲ (˖˨˖˘ʲʵˆ˘ʺˏ), ɼ˓ː˔˭˘˨˕ˑʲ ˏˆˑʶʵˆ˖˘ˆˊʲ. ʆ˕˓ʴˏʺːˆ ˆ ˔ʺ˕-
˖˔ʺˊ˘ˆʵˆ. ˊˑ. I. ˖˨˖˘. ɸ˄ʹʲˑˆʺ ˑʲ ɧ˖˓ˢˆʲˢˆˮ ˄ʲ ˑʲˢˆ˓ˑʲˏʺˑ ʺˏʺˊ˘˕˓ˑʺˑ ʲ˕ˠˆʵ
ˑʲ ʴ˨ˏʶʲ˕˖ˊˆˮ ʺ˄ˆˊ – ɧʃɧɩɯʁɧ (ʈ˓˟ˆˮ 2012).
http://www.meta-net.eu/whitepapers/volumes/german
210
Deniza Popova
Die „bulgarischen Musiken“ im Spannungsfeld
zwischen Verständnis und Selbstverständnis
In der deutschen und in der bulgarischen Sprache benutzen wir den Singu-
lar von „Musik“ [ː˙˄ˆˊʲ], obwohl wir Musik weder singulär wahrnehmen
noch kommunizieren. Wir verfügen nicht nur über eine musikalische
Vielfalt, sondern auch über vielfältige Möglichkeiten der Wahrnehmungs-,
Umgangs- und Kommunikationsweisen mit, über und durch Musik.
Anhand von Musikgattungen, die historisch gewachsen sind, ist uns das
Klassifizieren und Systematisieren von Musik eine notwendige Selbst-
verständlichkeit geworden.
„Die Gattungen einer Epoche bilden, pointiert ausgedrückt, ein System, das
sowohl hierarchisch als auch durch Ähnlichkeiten und Kontraste gegliedert
ist. ... Charakteristisch für eine Epoche ist also außer dem Bestand an Gat-
tungen, über den sie verfügt, und den Kriterien der Zusammenfassung und
Unterscheidung musikalischer Werke auch die Art und die Dichte der Be-
ziehungen zwischen den Gattungen.“ (Dahlhaus 1973, 850).
Zudem hat jeder Mensch sein eigenes Repertoire an Musik und somit seine
Vorlieben für bestimmte Gattungen. Allein das Zusammendenken von den
Parametern, die nach dem persönlichen oder gesellschaftlich etablierten
Umgang fragen, eröffnet hinreichend viele Möglichkeiten des Umgangs
mit ihr, so dass sich an die als Beispiel angeführten drei Fragen zahlreiche
weitere anschließen lassen:
1. Welche Musik machst Du und welche Musik hörst Du?
2. Welche Musik machst oder rezipierst Du alleine und welche in einer Gruppe?
3. Welche Musik wird subventioniert und welche Musik ist auch ohne Subven-
tionen eine Selbstverständlichkeit?
Die diversen Methoden des wahrnehmenden Hörens offenbaren eine
weitere Form musikalischer Vielfalt. Es existieren zahlreiche Hörstrategien,
die Einfluss auf das allgemeine und individuelle Verständnis von Musik
haben. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass die Verarbeitung
von Musik im Gehirn nicht standardisiert ist, sondern eine enorme inter-
individuelle Variabilität der beteiligten neuronalen Netzwerke vorherrscht,
so dass die Hörstrategien von der Art und Weise, wie sie erlernt wurden,
abhängig sind (Altenmüller 2002, 19). Ableitend können wir davon aus-
211
gehen, dass die tiefgründig gestellte Frage, was unter dem Sammelbegriff
„Musik“ verstanden wird, auch vielfältige Antworten zulässt. Einerseits
gilt es, die Gesamtheit von Sinneseindrücken mitzudenken, die Musik in
jedem von uns auszulösen vermag, aber ebenso wichtig sind auch die
Geschichten.
Die Geschichte einer Musik und die historischen Fundamente ihrer
Rezeption, sind hierbei für die Gegenwart ebenso bedeutungsschwer wie
ihre gegenwartsbezogene Existenz. Der Kontext des Begegnens, des Ken-
nenlernens, des Erlebens und der Verortung einer Musik im Leben jedes
einzelnen Individuums sowie die konkreten gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen sind für das jeweilige Musikverständnis ausschlaggebend.
Was nun sind „bulgarische Musiken“?
Inzwischen gibt es in Bulgarien alle Musikgattungen, die es auch in den
anderen Ländern gibt. Die Betonung liegt allerdings auf dem „inzwi-
schen“. Durch das Streben Bulgariens nach der Zugehörigkeit zu West-
europa fand hauptsächlich im 19. und 20. Jahrhundert eine Anpassung an
die europäischen Werte und ebenso an die dort geschätzte abendländische
Musikkultur statt. Dieser Prozess des kulturellen Nachholens und Nach-
ahmens hält bis heute an.
Das, was von bulgarischer Seite aus als die eigene „bulgarische Musik“
verstanden wird, basiert hauptsächlich auf zwei traditionellen Formen des
funktionalen Musizierens. Die eine Funktion erklärt sich im Kontext byzan-
tinischer Kirchenmusik und der darauf aufbauenden bulgarischen Vari-
ante. Der zweite funktionale Komplex erschließt sich durch die kontextu-
elle Verankerung von Volksmusik in den Alltags- und Festtagsbräuchen
(Folklore).
Von außen betrachtet kann festgestellt werden, dass sowohl die für
Bulgarien typische Volksmusik, als auch die alte Kirchenmusiktradition
kaum dem westeuropäischen musikalischen Schönheitsideal entsprechen.
Somit gilt es, den Prozess der Kultivierung des abendländischen Musik-
geschmacks in Bulgarien zurückzuverfolgen. Die musikhistorische Quel-
lenlage ermöglicht es hierbei recht gut, bulgarische Musikgeschichte, ab
dem 19. Jahrhundert, als Adaption europäischer kultureller Werte und
anhand der verschiedenen Musikpraxen des Abendlandes, einschließlich
ihrer Gattungszugehörigkeiten, zu beschreiben. Es sollte hierbei allerdings
nicht übersehen werden, dass vor allem der Entwicklung der „eigenen“
Musiken und dem Streben nach ihrer musikhistorischen Bestätigung als
„bulgarische Musiken“ viel kulturpolitische Aufmerksamkeit zukam. Dem
ist es zu verdanken, dass die auf dieser Grundlage als „bulgarisch“
212
definierte Musik, wenn auch in unterschiedlichen Formaten, bis heute
existent ist und einen wesentlichen Teil der musikalischen Praxis in Bul-
garien darstellt (Popova 2013).
Die Formate ihrer Existenz lassen sich durch die zahlreichen musi-
kalischen Transformationsprozesse aufarbeiten. Je nach Gattung wurden
einige „bulgarische“ Parameter in den Vordergrund gerückt und andere
„westeuropäische“ in die Peripherie gedrängt – oder umgekehrt. Doch was
sich vor allem im Laufe der Zeit verändert hat, sind die funktionalen Zu-
sammenhänge und Situationen, in denen Musik stattfindet. In der Gegen-
wart bestehen andere konkrete Bedürfnisse für „bulgarische Musiken“ und
diese lassen sich an ihrer veränderten Funktion ablesen. Die Bedürfnisse
der Menschen und die Tiefenstrukturen ihres musikalischen Verständ-
nisses geben Aufschluss über die funktionalen Zusammenhänge, in denen
Musik heute steht. Doch nur unter der Voraussetzung, dass „bulgarische
Musik“ tatsächlich auch eine wichtige Funktion einnimmt, bleibt ihre
praktische Existenz garantiert.
Auf der Metaebene der Wissenschaft kommt es mitunter vor, dass
neben der Analyse verschiedener Musiken in Geschichte und Gegenwart,
mit den Bedürfnissen der musikalischen Praxis gehadert wird. Gemeint
sind beispielsweise die Bemühungen, die mit dem Erhalt von Volksmusik
durch deren technische Konservierung zusammenhängen. Ein weiteres
Beispiel sind die als höchst problematisch einzuschätzenden nationalisti-
schen Beweggründe, die auf dem Fundament einer musikalischen „Rassen-
reinheit“ basieren (Bartók 1942). Doch gerade diese Prämisse betont die
wissenschaftlich zu reflektierende Bedeutung, musikalischen und kulturel-
len Vergleichens und ohne sie wäre jegliche vergleichende Forschung
problematisch. Immerhin liegen die Wurzeln der ethnologischen Musik-
forschung im Vergleichen und in dem nach dem Zweiten Weltkrieg aus
der Mode geratenen komparatistischen Ansatz, der die Bezeichnung „Ver-
gleichende Musikwissenschaft“ wählte.
Die zwei gewählten Musikgattungen „Kirchenmusik“ und „Volks-
musik“ können als besonders markante Beispiele dienen. Es könnten je-
doch noch viele weitere Musiken, die im Musikleben Bulgariens existieren
und präsent sind, als Beispiele aufgearbeitet werden. Die Voraussetzung
wäre, dass es sich um aktive Gattungen handelt, durch die eine bestimmte
Art von Musik tradiert, reproduziert und weiterentwickelt wird. Zusätz-
lich zur aktiv-realen Existenz dieser musikalischen Gattungen haben sie
ihren spezifischen Platz in den Speicher- und Übertragungsmedien besetzt.
Diese umfassen individuelle und kollektive Gedächtnisse, Schrift und
Notation, Instrumente, Aufnahmetechniken, aber auch ganze Institutionen,
welche die Funktionen des Speicherns und Übertragens erfüllen, wie z. B.
213
Archive, Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche Institute, Konzert- oder
Opernhäuser, Festivals aber auch die Massenmedien und nicht zuletzt das
Internet (vgl. Assmann 1997; Assmann 1999; Foucault 1997).
Beispiele: Bulgarische Kirchenmusik und Bulgarische Volksmusik
1. Bulgarische Kirchenmusik
Die alte Art des orthodoxen Kirchengesangs, die Psaltike, hat seit der
Christianisierung Bulgariens (864) ihre Vorbilder in der byzantinisch-
orthodoxen Kirchenmusiktradition (cf. Hannick et al. 1997).
• Die alte Kirchenmusik – Psaltike: Der Begriff trifft vor allem auf die von den
Kirchenvätern autorisierte und kanonisierte orthodoxe Kirchenmusik zu. Das
ist die Psaltike, die Art des orthodoxen Gesangs nach byzantinisch-ortho-
doxem Vorbild. In der Umgangssprache wird sie häufig auch Popengesang
(popsko peene) genannt.1
Eine Besonderheit sind die hauptsächlich oral tradierten bulgarischen
Varianten orthodoxer Kirchenmusik, die den Kanon – im Sinne einer folk-
loristischen Prägung – verändern. Gemeint ist eine Form der musikalischen
Praxis, die als „folkloristische bulgarisch-orthodoxe Kirchenmusik“ be-
zeichnet werden kann und durch die gläubigen Menschen, einschließlich
der Kleriker, praktiziert wurde. Sie hatte eine enge Beziehung zur Volks-
musik und zum religiösen Brauchtum. Auch wenn ab Mitte des 19. Jahr-
hunderts bulgarische Kirchengesangsbücher (Neumenbücher) gedruckt
wurden, können diese Bücher kaum Auskunft über das damalige Reper-
toire und die Gesangspraxis in Bulgarien geben.2 Für die religiöse Praxis
war und ist das Erlernen und Weitergeben von Wissen und musikalischem
Können auf oralem Weg von zentraler Bedeutung (Popova/Gerlach 2013).
Lokale Traditionen spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Sie hatten,
auf Grund der schlechten Infrastruktur und trotz des Auftauchens standar-
disierter Regelwerke, besonders gute Chancen, über lange Zeit hinweg
tradiert zu werden. Dies geschah weniger aus Missachtung des Kanons, als
auf Grund der relativ schlechten Ausbildung der Gottesdiener. Einige
wenige späte Aufnahmen folkloristischer Varianten des bulgarisch-ortho-
doxen Kirchengesangs befinden sich im Musikfolkloristischen Archiv der
1 In Bulgarien läuft die Erforschung der Kirchenmusiktradition, unabhängig davon,
dass sie fast bis in die Gegenwart reicht, unter der Bezeichnung „Mediävistik“. Zu-
sammenfassende Literaturangaben siehe bei ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2007.
2 ɯrstmalig wurden für Bulgarien in Bukarest 1846 die Psaltike von Pavel Kurtovi°
Caloglu und 1847 die Psaltike von Nikolaj Trindafilov, mit einer theoretischen Ein-
führung in die östliche Kirchenmusik, gedruckt.
214
Bulgarischen Akademie der Wissenschaften.3 Als Beispiel erwähnt seien
die 1965 entstandenen Aufzeichnungen von Sveštennik Stefan Stoev
Todorov aus Petri², der während des Gottesdienstes in Begleitung einer
Tambura4 singt, oder ein 1963 in Jambol aufgezeichnetes „Dostojno est“,
das den Titel „˕˓ʹ˓˔˖ˊ˓˘˓“ („auf die Gesangsart in den Rhodopen“) trägt
und von Protopsalt Damjan Karov gesungen wurde (ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2005, 197f./
Nr. 198, Nr. 200 und Nr. 210; 216 / Nr. 65).
• Folkloristische Kirchenmusik: Bezeichnet werden oral tradierte bulgarische Vari-
anten orthodoxer Kirchenmusik, die den Kanon im Sinne einer folkloristischen
Prägung verändern. Die musikalische Praxis von folkloristischer Kirchenmusik
geht hier durch die praktizierenden Menschen, einschließlich der Kleriker,
eine enge Beziehung zur Volksmusik ein. Sie könnte als religiöses Brauchtum
sogar in die folkloristischen Traditionen des agrarischen Jahres- und Lebens-
kreises formal eingefügt werden.
1.1 Polyphone „bulgarische“ Kirchenmusik
Die „neue Kirchenmusik“, die Ende des 19. Jahrhunderts in Bulgarien Ein-
zug hielt, orientierte sich am mehrstimmigen Chorgesang der Russischen
Orthodoxen Kirche und somit auch an der abendländischen Chormusik.
Durch die russische Armee, die während der Befreiung Bulgariens von
türkischer Vormundschaft ihre Armee-Kirchenchöre mitführte (seit 1876),
hatten die Bulgaren ein Vorbild für das mehrstimmige chorische Singen bei
der Liturgie im eigenen Land vor Augen und Ohren.5 Die Polyphonie
gewann, zusammen mit den russischen Befreiern auch an politischer Rele-
vanz. Zahlreiche bulgarische Kirchenchöre und Gesangsvereine wurden
gegründet. Diese mussten mit Chorwerken ausgestattet werden. Dem-
entsprechend wurden bulgarische Versionen von mehrstimmigen litur-
gischen Werken einerseits aus der russisch-orthodoxen Tradition adaptiert,
aber auch neu komponiert.6
Auf Grund dieser Neuorientierung entwickelte sich ein sowohl auf wis-
senschaftlicher, als auch auf ideologischer Basis geführter öffentlicher Streit
in Bulgarien, wobei sich die Spannung zwischen Traditionsbestrebungen
und Modernisierungstendenzen aufbaute. Es ging um die Frage: „Welches
3 In diesem Archiv lagern Audio-Aufzeichnungen bulgarischer Kirchenmusik aus den
Jahren 1956 bis 1987.
4 Ein traditionelles Zupfinstrument mit vier bis sechs Saiten.
5 Der polyphone Chorgesang wurde seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Russland
nach westeuropäischem Vorbild eingeführt.
6 Die vielen russischen Komponisten, die Kirchenmusik in ihre Oeuvres einschlossen,
galten den Bulgaren als Vorbilder.
215
ist der echte (ˆ˖˘ˆˑ˖ˊ˓˘˓) bulgarische Kirchengesang?“7 Die Suche nach
dem typisch Bulgarischen innerhalb der Kirchenmusik hat vor allem die
erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt.
Damals wurde die Hypothese aufgestellt, dass die im 14./15. Jahr-
hundert vor den Osmanen aus Bulgarien nach Russland (hauptsächlich
nach Kiew) geflohenen Kleriker die Gesänge des „Bolgarski rozpev“
dorthin exportiert hätten und es sich somit um die eigentliche, ureigene
Tradition der bulgarischen Kirchenmusik handeln könnte (ʊ˓ˑˣʺʵʲ 2005).
Diese sei dank der russisch-orthodoxen Tradierung bis in die Gegenwart
lebendig geblieben.8 Somit konnte selbst im Angesicht russischer Poly-
phonie traditionalistisch argumentiert werden. Der „Bolgarski rozpev“
wurde nicht nur als „volks-bulgarischer Kirchengesang“ (ˑʲ˕˓ʹˑ˓ ʴ˨ˏʶʲ˕-
˖ˊ˓ ˣʺ˕ˊ˓ʵˑ˓ ˔ʺˑˆʺ) bezeichnet, sondern auch als das Fundament für die
Entstehung einer neuen polyphonen bulgarischen Kirchenmusik betrach-
tet. Er diente als Grundlage für die zur selben Zeit aktuelle komposi-
torische Auseinandersetzung mit Kirchenmusik.
1.2 Komposition als Transformation
Die Modernisierung der bulgarischen Kirchenmusik vollzog sich, Anfang
des 20. Jahrhunderts, durch die Komposition neuer Liturgien. Bei der
Realisierung der bulgarischen Kirchenkompositionen waren die zwei
verschiedenen Positionen bezüglich der Herkunft „des Eigenen“, bzw.
„des Bulgarischen“ leitend. Die eine Richtung beharrte auf der Bedeutung
der byzantinisch geprägten Psaltike und versuchte, ihre musikalischen
Besonderheiten mit der europäischen Mehrstimmigkeit zu verbinden. Ihr
wichtigster Vertreter war Petӽr Dinev. Mit seinen liturgischen Komposi-
tionen versucht er, die byzantinische Kirchenmusiktradition einschließlich
der Tonskalen des Oktoechos an die abendländische Harmonik anzupas-
sen. Die andere Richtung wurde hauptsächlich von Dobri Christov ver-
treten, der im Repertoire des „Bolgarski rozpev“ das Urbulgarische heraus-
zuarbeiten suchte und dieses kompositorisch umsetzte.
Die erste bulgarische Komponistengeneration versuchte Kirchenmusik
zu schaffen, die nicht nur den Ansprüchen der Gottesdienste genügen sollte,
sondern die künstlerischen Fähigkeiten der einzelnen Komponisten in den
Vordergrund rückte (vgl. ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ 2011, 21). Die zweite Generation
bulgarischer Komponisten (ab ca. 1935), denen es hauptsächlich um künst-
7 ɼ˙˭ːʹʾˆʺʵ 2011. Dieses Buch bietet ein Reprint von 140 Publikationen zu dieser
Thematik, die zwischen 1890 und 1940 erschienen sind.
8 Es waren vor allem die Altgläubigen, die diese Tradition bewahrt haben. Ca. 1666
lösten sich die Altgläubigen von der russisch orthodoxen Großkirche ab. Vgl. Haupt-
mann 2005.
216
lerische Potenz und individuelle Anerkennung ging, begriff das Kom-
ponieren von Kirchenmusik nicht mehr als Teil ihrer Aufgabe. Die wichtig-
sten liturgischen Werke entstanden 1929 von P. Dinev und 1934 von D.
Christov. Danach riss die Tradition des Komponierens von Kirchenmusik
ab und wurde natürlich auch während der sozialistischen Zeit nicht wie-
derbelebt. Auch gegenwärtig hält das Desinteresse der bulgarischen Kom-
ponisten an Kirchenmusik an.
• Neue Kirchenmusik: Die Erneuerungen der bulgarischen Kirchenmusik fanden
durch die Komposition von Liturgien, die sich am mehrstimmigen russischen
und abendländischen Chorgesang orientierten, statt. Die eine Richtung basiert
auf der alten Art orthodoxer Kirchenmusik (Psaltike), die andere auf den in
der Ukraine und Russland als „Bolgarski rozpev“ bezeichneten Gesängen. Die
Kompositionen „neuer bulgarischer Kirchenmusik“ erfüllen alle zeitgemäßen
Kriterien der hohen abendländischen Musikkunst.
1.2.1 Petr Dinev (1889-1980)
Der bulgarische Musikwissenschaftler und Komponist Petӽr Dinev lernte
am Seminarium in Istanbul, studierte am Konservatorium in St. Petersburg
Komposition und die Musik der Ostkirche und gleichzeitig an der Uni-
versität Recht. 1922 kam er zurück nach Bulgarien, arbeitete zunächst als
Gymnasiallehrer für Musik, unterrichtete später Kirchenmusik an der
Staatlichen Musikakademie in Sofia (1925–1936), am Geistlichen Semina-
rium (Duchovna Seminarija) (1926–1944) und an der Geistlichen Akademie
(Duchovna Akademija) (1926–1934). Er leitet verschiedene Chöre, so den
Chor der Theologischen Fakultät und über 40 Jahre lang den Chor der
Kirche „Hl. Kyrill und Hl. Method“ in Sofia. Nach 1944 arbeitete er an der
Hl. Synode u. a. als Inspektor für Musik. Dinev gilt als der erste bulgari-
sche Musikwissenschaftler, der sich mit Kirchenmusik und deren Verbin-
dung zur Volksmusik beschäftigte (Ⱦɢɧɟɜ 1955; Ⱦɢɧɟɜ 1959). Er transkri-
bierte zahlreiche Kirchengesänge von Neumen in Noten und schrieb eine
Anleitung zum Erlernen der byzantinischen Neumennotation, indem er die
Terminologie der abendländischen Musiktheorie darauf ansetzte. Dinev
verfasste zahlreiche musikwissenschaftliche Publikationen zur Musiktheo-
rie der orthodoxen Kirchenmusik, zur musikalischen Praxis und zu Fragen
der Komposition. Er bearbeitete Volkslieder. Berühmt wurde seine bis heute
im Gottesdienst häufig zu hörende „Göttliche Liturgie des heiligen Johan-
nes Chrysostomos“, die er 1926 komponierte und mehrfach überarbeitete.9
9 Kirchenmusik von Petӽr Dinev: Für gemischten Chor: ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓˙˖˘
ʵ ˆ˄˘˓ˣʺˑ ˖˘ˆˏ ʵ˨˕ˠ˙ ˆ˄˘˓ˣˑ˓ˢ˨˕ˊ˓ʵˑˆ ˑʲ˔ʺʵˆ (1926); ɪʺˏˆˊ˓˔˓˖˘ʺˑ ˊ˓ˑˢʺ˕˘ „ʃʲ
˕ʺˊʲˠ ɪʲʵˆˏ˓ˑ˖ˊˆˠ“ (1927). Für zwei- und dreistimmigen Chor: ʃʲ˕˓ʹˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ
217
1.2.2 Dobri Christov (1875-1941)
Dobri Chrristov gilt als einer der wichtigsten bulgarischen Komponisten,
Lehrer, Musiktheoretiker, Chordirigenten und Wissenschaftler. Er stu-
dierte Komposition in Prag bei Antonin Dvoìák. In Bulgarien leitete er
zahlreiche Chöre, sowohl Kirchenchöre als auch Laien- und Opernchöre.
1918 wurde er zum Direktor der Staatlichen Musikschule ernannt und 1922
zum Professor für Musiktheorie an die neu gegründete Staatliche Musik-
akademie berufen. Zahlreiche wichtige musiktheoretische Studien stam-
men aus seiner Feder. Seine kompositorischen Werke erfreuen sich bis
heute großer Beliebtheit. Einige im volksliedhaften Stil komponierten Lie-
der (über 400 Kinderlieder und 60 Chorwerke) sind so berühmt geworden,
dass sie kaum noch als Kompositionen, sondern als Volkslieder gelten.10
Besondere Verdienste hat D. Christov bei der Bereitstellung von Lehr-
materialien für den Musikunterricht. Insgesamt 16 Schulbücher wurden
durch ihn zusammengestellt und herausgegeben. Als Theoretiker beschäf-
tigte er sich ausführlich mit dem Bolgarski rozpev und komponierte 1934
seine auf dieser Tradition basierende Chrysostomos-Liturgie für den Got-
tesdienst in der Bulgarischen Orthodoxen Kirche.11
1.3 Kirchenmusikalische Praxis
Die drei verschiedenen Arten der Kirchenmusik existieren bis heute gleich-
zeitig. Die Liturgie mit dem Abendmahl wird dort, wo es Chöre mit Diri-
genten gibt, von ihnen übernommen.
Morgen- und Abendgottesdienst, Stundengebete, Weihen, Taufe, usw.
werden hauptsächlich nach psaltikischer Tradition gesungen. Vor allem in
den Klöstern wird an der Psaltike festgehalten. Diese alte Tradition der
Kirchenmusik ist inzwischen der bulgarischen Gemeinde ebenso rätselhaft
wie auch jedem ausschließlich klassisch ausgebildeten Musiker. Die Situ-
ation des Musikverständnisses ist mit dem Sprachverständnis vergleichbar.
Kaum ein Bulgare beherrscht heute noch die in den Gottesdiensten be-
ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓˙˖˘ (1929); ʅʴ˧˓ʹ˓˖˘˨˔ˑʲ ˑʲ˕˓ʹˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑˑʲ
ɶˏʲ˘˓˙˖˘ʲ (1929, 36, 74). Sammelbände: ʆʺ˖ˑˆ ˆ ː˓ˏˆ˘ʵˆ ˄ʲ ˔˕ʲʵ˓˖ˏʲʵˑˆ˘ʺ ˠ˕ˆ˖-
˘ˆˮˑ˖ˊˆ ʴ˕ʲ˘˖˘ʵʲ (1933); ʔ˨˕ˊ˓ʵˑ˓-˔ʺʵˣʺ˖ˊˆ ˖ʴ˓˕ˑˆˊ ˖ ˔ʺ˖ˑ˓˔ʺˑˆˮ ˄ʲ ʵ˖ʺˑ˓˧ˑ˓
ʴʹʺˑˆʺ ˆ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ (1941); ʈʴ˓˕ˑˆˊ, ˖˨ʹ˨˕ʾʲ˧ ˖ʵ. ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ˖ʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓-
˙˖˘ ˆ 50 ˔˓ʹʴ˕ʲˑˆ ˕ʺˏˆʶˆ˓˄ˑˆ ˔ʺ˖ˑˆ (1947).
10 Beispielsweise glaubte D. Christovs Schüler, Pan²o Vladigerov, für seine Symphonie
„Vardar“ die Melodie eines bulgarischen Volksliedes zu benutzen, welches er von
Freunden gehört hatte. Später musste er erfahren, dass er aus Versehen ein „im Volks-
ton“ komponiertes Lied seines Lehrers verwendet hatte. Siehe Popova 2006, 95–96.
11 Kirchenmusik von Dobri Christov: ɪ˖ʺˑ˓˧ˑ˓ ʴʹʺˑˆʺ; ʁˆ˘˙˕ʶˆˮ ˑʲ ʈʵ. ɹ˓ʲˑ ɶˏʲ˘˓-
˙˖˘; ʅʴ˧˓ʹ˓˖˘˨˔ˑʲ ˏˆ˘˙˕ʶˆˮ.
218
nutzte kirchenslavische Sprache so gut, dass er dem Text folgen könnte.
Ebenso wie beim Spracherwerb wäre eine intensive Auseinandersetzung
mit dem Musikalischen notwendig, um diese Musik verstehen zu können.
Für ein anhand abendländischer Musik geschultes Ohr ist es erforderlich,
alternative Hörstrategien für die Schönheit und Komplexität der alten
orthodoxen Kirchenmusik zu entwickeln. Weder das Kirchenslavische
noch die Psaltike zählen gegenwärtig in Bulgarien zum allgemeinen
Wissensstandard. So bleibt der Gemeinde nur die Möglichkeit, sich dem
Ritual, der Sprache und der Musik auf geheimnisvolle, traditionelle Weise
anzuschließen.
1.4 Die Metaebene der Wissenschaft
Von musikwissenschaftlicher Seite wurde dem „Großen Meister“ und mit-
telalterlichen Reformator der byzantinischen Kirchenmusik Joan Kukuzel
(ca. 1280–1360) besondere Aufmerksamkeit zu Teil (Hannick 1984). Es
wurde versucht, anhand seiner Person den Anteil Bulgariens an der byzan-
tinischen Kirchenmusiktradition nachzuweisen. Daher beschäftigte man
sich ausführlich mit dem ethnischen Ursprung Kukuzels. Einerseits durch
die auf seine bulgarische Abstammung orientierte Rezeption seiner Viten
(Thomas/Hero 2000, 507–563). Andererseits wurde in den Werken Kuku-
zels nach musikalischen Merkmalen gesucht, die auch in der bulgarischen
Volksmusik zu finden sind. Die innermusikalischen Ähnlichkeiten von
Psaltike und bulgarischer Folklore bleiben äußerst vage (vgl. Brascho-
wanowa 1984).
1.5 Zusammenfassung: Bulgarische Kirchenmusik
Es gibt nicht nur eine, sondern mindestens drei verschiedene Arten von
Musiken, die in den bulgarisch-orthodoxen Kirchen erlebt werden können.
Die „alte“ fußt, auch wenn hier bulgarische Kleriker als Komponisten und
Musiker tätig wurden, vor allem auf den Adaptionen der byzantinischen
Tradition. Die spätere, „neue“ Form adaptiert die russische Kirchenmusik-
tradition und mit ihr die abendländische Chormusik. Der dritten, aber
wohl in Bulgarien über Jahrhunderte und übers ganze Land verbreiteten
Art von Kirchenmusik, lässt sich nur mit ethnologischen Methoden und
unter musikethnologischen Prämissen näher kommen, wie beispielsweise
die regionalen Besonderheiten, der Variantenreichtum oder der fehlenden
Verschriftlichung. Jedoch kann auf Grund der fehlenden musikhistorischen
Quellen nur die These aufgestellt werden, dass der innerhalb der kirchen-
musikalischen Praxis übliche Umgang mit liturgischer Musik in Bulgarien,
aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Vermischung von Volks- und Kir-
chenmusik (Psaltike) beruhte. Auf Grund der nur marginal vorhandenen
219
und recht späten Aufnahmen von Kirchenmusik in Bulgarien, werden uns
die Besonderheiten dieser musikalischen Praxis ein Geheimnis bleiben.12
Doch die damit verbundenen Fragen führen uns zu einer anderen,
besser dokumentierten, musikalischen Tradition Bulgariens, ihr kann (und
soll?) keine unmittelbare Adaption aus anderen Kulturen und Traditionen
nachgewiesen werden – „authentische bulgarische Volksmusik“.
2. Bulgarische Volksmusik
Wenn hier nun von „bulgarischer Volksmusik“ die Rede ist, so muss zu
Anfang unterstrichen werden, dass Volksmusik kein nationales Phänomen
ist. Sie ist vor allem regional, sogar lokal spezifisch. In Anlehnung an die
linguistische Dialektologie könnte der Hypothese einer „Hoch-Musik“
ähnlich einer „Hoch- oder Amtssprache“ nachgegangen werden. Wie be-
reits erwähnt, wären die Wurzeln in Bulgarien hier allerdings nicht sehr
tief und alt. Von der Gegenwart aus betrachtet sind die politischen, infra-
strukturellen, technischen, ökonomischen und folglich auch die kulturellen
Umbrüche prägend und daher musikhistorisch mitzudenken.
Für Volksmusik stehen uns, dank der ethnologischen Sammlungen,
zahlreiche Quellen zur Verfügung, die bis ins 18. Jahrhundert zurück-
reichen. Bezeichnend ist, dass die ersten Anregungen und Aktivitäten zum
Sammeln von Volksmusik aus Westeuropa und Russland kamen.13 Ähnlich
wie Käfer, Schmetterlinge oder Pflanzen wird seitdem auch Volksmusik
gesammelt. Entsprechend der medialen Möglichkeiten und der Speicher-
medien konnte sie immer zahlreicher und detaillierter aufgezeichnet wer-
den. Sie wurde von Wissenschaftlern analysiert und zahlreiche Merkmale
wurden bestimmt und beschrieben. So konnten ihr bestimmte Eigen-
schaften zugeordnet werden: Oralität, Wiederholbarkeit, Improvisations-
praktiken, Ritualisierung, Anonymität in der Urheberschaft, aber Individu-
alität in der Reproduktion … Vor allem war im kulturpolitischen Kontext
der Verweis auf ein kollektives Gedächtnis wichtig. Die musikalischen
Klassifikationsmerkmale wurden innerhalb einer „Musikalischen Dialekto-
logie“ – der Begriff wurde aus der Sprachwissenschaft übernommen –
12 Im Musikfolkloristischen Archiv der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gibt
es einige kirchenmusikalische Aufzeichnungen aus dem Zeitraum zwischen 1956 bis
1987, s. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ 2005.
13 Die ersten drei bulgarischen Volkslieder wurden bereits 1720 von einem unbekann-
ten deutschen Sammler neben anderen südslavischen Liedern aufgezeichnet (vgl.
ɪʲˊʲ˕ʺˏ˖ˊˆ 1822, 29). Besonders wichtig für die Geschichte der folkloristischen Sam-
meltätigkeit in Bulgarien war die Arbeit des serbischen Literaten Vuk Karadži°, der
1815 und 1822 Textbücher mit bulgarischen Volksliedern veröffentlichte (Vgl. Kara-
dži° 1822).
220
formuliert (ʈ˘˓ˆˑ 1981). Volksmusik wird weiterhin anhand konkreter
Eigenschaften analysiert, die sich auf einen vorab erarbeiteten Merkmals-
katalog ihrer Zuordnung und Klassifizierbarkeit beziehen.
Dabei gerät jedoch ihr Lebensernst – das wichtigste Merkmal – in den
Hintergrund. In allen Lebenslagen und zu jeder Zeit fügt sich Musik in
soziale Gemeinschaft ein und prägt diese. Volksmusik war niemals zweck-
frei, bzw. autonom, denn sie beruhte auf der traditionellen Form des funk-
tionalen Musizierens der vorindustriellen Dorfbevölkerung und ihrer An-
bindung an den Jahres-, Tages- und Lebenskreis. Hierbei bildeten das
Singen, das Instrumentalspiel und der Tanz eine Einheit. Im Vergleich zu
unserer Zeit, in der nicht nur das Hören und das Selbermachen von Musik,
sondern vor allem die medialen Vermittlungstechniken völlig andere
Rahmenbedingungen für die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Musi-
ken schaffen, ist auch die Funktion von (bulgarischer) Volksmusik neu zu
durchdenken. Dennoch sollte auch unter diesen Bedingungen Volksmusik
nicht als autonome Kunst (als Werk) sondern unter dem Aspekt der
Lebensweise hinterfragt werden (Kaden 1993, 37–46).
Die wissenschaftliche Metaebene
Auf der Metaebene der Wissenschaft sind zahlreiche klassifikatorische
Eigenschaften und Kontexte von „bulgarischer Volksmusik“ extrahiert
worden. Diese wissenschaftlichen Extraktionen beruhen jedoch auf der in
Westeuropa gängigen Verdinglichung von Musik. Erst das Denken in
Objekten macht die Lieder und Weisen, die dem Volksmund zugeschrie-
ben werden, zu autonomen Werken oder, wie es in den Archiven heißt, zur
„Lied-Einheit“. Aus der Menge von allgemeingültigen musikalischen
(abendländischen) Werkkonventionen wurden die Spezifika bulgarischer
Volksmusik extrahiert. Einzigartiges und Unverwechselbares wird dem
Allgemeinen gegenübergestellt. Dieses Allgemeine bezieht sich jedoch
ausschließlich auf die abendländischen Merkmale von Musik als Kunst.
Daher erfahren in dieser formalisierten Form vor allem die unverwechsel-
baren (scheinbar spezifisch bulgarischen) Eigenschaften eine Förderung
und Tradierung innerhalb anderer Musiken.
Ein Beispiel wäre die Schwebungsdiaphonie. Bezeichnet wird damit
eine spezifische Form der Mehrstimmigkeit, die, obwohl der Großteil bul-
garischer Volksmusik einstimmig ist, enorme Verbreitung erfahren hat.14
14 Schwebungsdiaphonie findet man nur in der Region Pirin, in der Šopen-Gegend und
als Sonderfall in drei Unterregionen (Velingrad, Pazardžik und Ichtiman). Als weitere
Ausnahme gelten die zweistimmigen Gesänge in einigen wenigen Dörfern Nordwest-
bulgariens und in den Ostrhodopen (z. B. im Dorf Nedelino). Die erste Stimme wird
221
Ein weiteres Beispiel sind die sogenannten unregelmäßigen Rhythmen.
Obwohl die ungeraden Rhythmen häufig als „typisch bulgarische Rhyth-
men“ (Bartók 1942) bezeichnet werden, steht der Großteil der in Bulgarien
verbreiteten Lieder in geraden Rhythmen – notiert im 2/4 Takt – oder in so
genannten mensurlosen Formen.
Vor allem bei der Transformation „authentischer bulgarischer Volks-
musik“, beispielsweise in bearbeitete „nationale Volksmusik“, in klassische
bulgarische Musik (Ernste Musik), populäre Musik oder auch Filmmusik
ist die Präferenz der musikethnologisch herausgearbeiteten Spezifika gegen-
über den allgemeinen musikalischen Merkmalen bereits nachweisbar.
Die Rezeption bulgarischer Volksmusik im Ausland
Im Ausland verbinden sich mit der Vorstellung von bulgarischer Musik
bestimmte Assoziationen, Eigenschaften und Emotionen. Sie gilt als Mar-
ker für naturverbundene Wildheit und wird als kraftvoll, archaisch, frei,
stark, leidenschaftlich, mutig, magisch, mystisch, kosmisch, weiblich, aus
einer anderen Welt kommend, etc. bezeichnet (Buchanan 1995, 381–416;
Buchanan 2006, 360–371).
Bulgarische Volksmusik wird in Verbindung mit diesen Inhalten häufig
durch die weltweite Filmindustrie benutzt. Dabei werden vor allem jene
bereits in den Vordergrund gerückten Spezifika entnommen, um innerhalb
von Filmmusiken programmatisch die oben beschriebenen Assoziationen
zu erzeugen. Ein Beispiel wären der Titelsong aus der amerikanischen TV
Serie „Xena – die Kriegerprinzessin“, produziert zwischen 1995–2001 (vgl.
Rice 1994, 75–79). Während des Vortrags wurde ein weiteres Beispiel aus
Tokio vorgestellt, das enormen Einfluss auf die Popkultur hatte. Es handelt
sich um die Filmmusik zum Zeichentrickfilm „Ghost in the Shell“ (1991)
von Mamoru Oshii, entstanden nach den Comics von Masamune Shirow.15
Er gilt als klassisches Beispiel für die populären japanischen Science-
Fiction-Anime.16
von einer Sängerin solistisch ausgeführt. Sie „verdreht“ (ˆ˄ʵˆʵʲ), „führt“ (ʵ˓ʹˆ) und
„okt“ (˓ˊʲ). Die zweite Stimme „schüttelt“ (˘˕ʺ˖ʺ), „schleppt“ (ʵˏʲˣˆ) oder „brummt“
(ʴ˙ˣˆ) und wird von zwei oder mehreren Sängerinnen übernommen. Selbst in den
Regionen und Orten, in denen Mehrstimmigkeit existiert, überwiegt prozentual der
einstimmige Volksgesang. Popova 2013, 276–278.
15 Es sind die von den Musikethnologen extrahierten musikalischen Spezifika, die hier
von Bedeutung sind, die Stimmgebung einschließlich der spezifischen Verzierungs-
technik der Melodie, das ˘˕ʺ˖ʺˑʺ (schütteln) in der Oberstimme, der Bordun in der
Unterstimme.
16 Die musikalisch prägende Techno-Variante: http://www.youtube.com/watch?v=IsII
kcpI4yQ (13.09.2013). Trailer, Abspann und Quelle: http://www.youtube.com/watch?
v=ed0_QuZJjS4 (13.09.2013).
222
Aus dem Blickwinkel der Bulgaren/innen sind die im Ausland vor-
herrschenden Vorstellungen zu ihrer Volksmusik kaum nachvollziehbar.
Das liegt daran, dass die exotischen und traumfördernden Attribute, die
ihr im Ausland zugeschrieben werden und die Teil des Marketings „bul-
garischer Volksmusik“ sind, in Bulgarien keine Gültigkeit haben, da sie
hier auf Wissen und Realitäten stoßen, die das Archaische, Wilde und
Leidenschaftliche als unrealistische und romantische Vorstellung ent-
larven. Die Nähe zur agrarischen Lebenswirklichkeit und zur Volksmusik
kann in Bulgarien durch die doppelte Verankerung eines Großteils der
Bevölkerung im Dörflichen und im Urbanen kulturhistorisch und gegen-
wartsbezogen erlebt werden.
„Bulgarische Volksmusik“
Die Beispiele für die Transformation „bulgarischer Volksmusik“ durch die
weltweite Filmindustrie führen eine weitere „bulgarische“ Traditionslinie
fort. Es handelt sich um die Professionalisierung bulgarischer Volksmusik,
die im Ausland meist unter dem Namen „Die Mysterien der bulgarischen
Stimmen“ bekannt ist und in Bulgarien mit dem Namen Filip Kutev ver-
bunden wird.
Der Komponist und Dirigent Filip Kutev17 (1903–1982) bekam als erster
innerhalb der sozialistischen kulturpolitischen Verhältnisse die Möglich-
keit, seine spezifischen musikalischen Ideen in großem Maßstab in die
Realität umzusetzen. Er gründete 1951 in der Hauptstadt Sofia einen Chor
singender Bäuerinnen aus verschiedenen Regionen Bulgariens. Die kon-
kreten Fähigkeiten der musizierenden Traditionsträgerinnen und die musi-
kalischen Eigenschaften der regionalen Traditionen stimmte er so auf-
einander ab, dass etwas Neues – eine Komposition aus Menschen und ihrer
Musik – entstand. Er wählte ein spezifisches Repertoire aus und bearbeitete
dieses musikalisch sowie textlich. Kutev war die Ableitung seiner Arbeit
aus der Quelle „authentischer Volksmusik“ wichtig. Er bestimmte die
spezifischen Eigenschaften, einschließlich des Maßes an Übertragung von
„authentischer Folklore“ zu „nationaler Folklore“, bemühte sich um die
Verbreitung dieser Regeln unter den bulgarischen Komponisten. Bereits
ein Jahr später (1952) wurde in Sofia nach demselben Muster das „Ensemble
für Volkslieder des bulgarischen Rundfunks und Fernsehens“ gegründet,
aus dem die „Mysterien“ hervorgingen. Das Radioensemble war neben
dem „Kutev-Ensemble“ vor allem nötig, um die neuen Bearbeitungen über
die Massenmedien zu popularisieren. Allmählich wurden in allen großen
Städten ähnliche Chöre gegründet, so dass bis 1988 vierzehn vom Staat
17 Sein Name wird häufig so geschrieben: Philip Kutev.
223
bezahlte professionelle Ensembles existierten und zudem hunderte von
Amateurensembles durch staatliche Mittel unterstützt wurden.18
Die Transformation bulgarischer Folklore in nationale Musik fand seit
1951 als kulturelle sozialistische Reformation gleichzeitig mit der Urbani-
sierung des Landes statt. Das musikalische Phänomen, welches als „myste-
riös“ bezeichnet wird, kennzeichnet die Erfolgsgeschichte von bulgarischer
Volksmusik, die durch ihre weniger mysteriöse musikalische Bearbeitung
und durch eine ausgefeilte Marketingstrategie zum nationalen Aushänge-
schild wurde (Popova 2012, 225–236). Die bereits 1942 von Bartók gegebene
Prognose scheint äußerst aktuell:
„Wenn für die nähere oder fernere Zukunft ein Überleben der Volksmusik er-
hofft werden darf (eine ziemlich zweifelhafte Aussicht angesichts des rapiden
Eindringens höherer Kultur in die entferntesten Weltgegenden), dann ist offen-
sichtlich die künstliche Errichtung von chinesischen Mauern zur Trennung
eines Volkes vom anderen für die Entwicklung der Volksmusik sehr ungün-
stig. Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Nieder-
gang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten“
(Bartók 1942, 127).
Aus gesellschaftspolitischem Blickwinkel bleiben in Bulgarien vergleichende
Studien, die verschiedenartige Volksmusik im Hinblick auf ihre gegen-
seitige Beeinflussung untersuchen, weiterhin problematisch. Beispielsweise
gehören die Forschungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden
zwischen bulgarischer und türkischer Volksmusik nicht zu den Schwer-
punkten musikwissenschaftlicher Arbeiten, obwohl sowohl historisch,
soziologisch als auch musikalisch zahlreiche gemeinsame Parameter her-
vortreten.
3. „Die ‚rassische Unreinheit’ ist entschieden zuträglich“
(Bartók 1942, 126)
Diese Feststellung Bartóks zur Assimilation, die auf fast alle als „bul-
garisch“ bezeichnete Musik zutrifft, wird dadurch unterstrichen, dass diese
Musiken als Mittel zur Transformation, zur weiteren Reproduktion und
Distribution benutzt wurden und werden. Beispielsweise zeigt die sog.
+alga sowohl Anknüpfungspunkte an den euro-amerikanischen Pop, als
auch orientalische Einflüsse und es werden auch bulgarische Volkslieder
als Fundament der neuen +alga-Hits (Pop-Folk) benutzt. Ähnlich ist es bei
18 Beispielsweise: 1954 Blagoevgrad – Ensemble-Pirin; 1960 Smoljan – Ensemble-
Rodopa; 1970 Tolbuhin – Ensemble-Dobrudža; 1970 Pleven – Severnjaški-Ensemble;
1974 Plovdiv – Ensemble-Trakija.
224
der Musik der Hochzeitsorchester oder bei einigen Volksliedbearbeitun-
gen, die stark mit dem Jazz sympathisieren können. Auch in der bulga-
rischen Ernsten Musik sind zahlreiche Zeichen für „das Bulgarische“ dieser
Klassik zu finden. Die „Alten Stadtlieder“ (ʈ˘ʲ˕ˆ ʶ˕ʲʹ˖ˊˆ ˔ʺ˖ˑˆ) oder der
bulgarische Blues und noch einige Gattungen mehr würden sicherlich
aufgrund der Frage nach der Herkunft und des Charakters „des Bulga-
rischen“ in ihnen, sowohl die Hörstrategien auf der Rezeptionsseite aber
vielleicht sogar die Entstehungsgeschichten verändern.
Der Bestand an moderneren musikalischen Gattungen in Bulgarien, in
denen die vorab spezifizierten „bulgarischen“ Merkmale gerne benutzt
werden und mitunter als semiotische Inhaltsträger gelten, ist charakte-
ristisch für die Gegenwart. Doch dieses Bedingungsgefüge zwischen den
musikalischen Merkmalen und qualitativen, ästhetischen aber auch sozi-
alen, ökonomischen, politischen und ideologischen Merkmalen bleibt dy-
namisch, samt all seinem Lebensernst.
In diesem Sinne sind auch alle möglichen Richtungen der populären
Musik in Bulgarien sozial verankert: Rock, Rap, Punk, Elektronik, Jazz,
Blues, usw. Sie sind in bulgarischer Version und durch bulgarische
Menschen – Musizierende und Rezipienten – vertreten.
Ein Musikbeispiel, das durch das Genre des „Remix“ umso offensiver mit
der dynamischen Vermischung spielt und dieses Mischmasch durchaus
überzeugend in das gegenwärtige Leben zu transformieren vermag,
stammt von der RAP-Band „Explosion“ von ihrer CD (2002): „Die Hyste-
rien ... der bulgarischen Stimmen“. Der Text des „Megamix“ lautet:
Jetzt werde ich Euch meine Geschichte erzählen,
Von einem weißen Neger, der in Europa lebt,
Etwas schlechter als ein australischer Aborigine.
Was soll man machen, Gene!
Und in diesem Augenblick zeige ich mit der Hand im Kreis,
einen großen und langen, geraden und steifen sehr sehr fetten Mittelfinger (4x)
Was soll man machen, Gene!
Tor ma lele! Tor ma lele! Tor, das hast du ihnen reingedonnert, Sugar Baby!
Gib mir Knoblauch! Gib mir zu trinken!
Hej, Bruder Gonzo, nimm wieder den Ball und bring ihn wieder ins Tor.
Nimm Anlauf auf dem Rasen und steck ihn ihnen direkt in die Mitte.
Upsa, ²akaraka, hey, dreh das Fleisch, scharf, schneidend!
Pop-Folk, kulturelles Eigentum,
Pop-Folk, für das ganze Volk,
Pop-Folk, ein ästhetischer Schock, für das ganze Volk.
225
Pop-Folk, Sauerkrautsaft,
Pop-Folk, für das ganze Volk,
Pop-Folk, elektrischer Strom, für das ganze Volk.
„Da, Da, Da“19 …
Wenn wir bereit sind, Musik nicht nur anhand der Merkmale und Gat-
tungen zu fassen, sondern ihr mit Neugier auf die Lebensweise, der sie
zugehören mag, begegnen, so gibt es nicht nur vieles zu HÖREN sondern
auch zu ERLEBEN.
Wie nun sind „bulgarische Musiken“ zu erleben?
Aus den bisherigen Ausführungen ist zu schließen, dass einzig die Volks-
kultur – die Folklore – als kulturpolitischer Indikator für nationale Identität
dienten konnte. Und zwar unter der Prämisse, dass sie zur Kunst erklärt
und mit romantischem Pathos und emanzipatorischen sowie nationalisti-
schen Aufklärungsgedanken angereichert wurde. Auch hierfür fanden sich
Vorbilder in Europa. Der Einfluss Herders, sowohl für das Sammeln als
auch für die Begrifflichkeiten (z. B. „Volkslied“), reichte bis nach Bulgarien
(Siuts 2002, 229–241). Aus Russland kamen im Rahmen der Erforschung
der slavischen Völker die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der
historischen, charakterlichen und folkloristischen Entwicklung der Süd-
slaven.
Es war eine politische Entscheidung, die nationale Kultur Bulgariens
unter Einbezug der folkloristischen Traditionen in Geschichte und Gegen-
wart zu definieren. Das war der Moment, in dem die ethnologische For-
schung an nationaler, politischer und kultureller Bedeutung gewann.
Folklore wurde als nationales Kulturgut zur Beobachtungsformel und zum
Selbstbeschreibungsmodus innerhalb des gesellschaftlichen Systems.
Im Grunde werden in Bulgarien die philosophischen Ideen Herders und
Schillers verwirklicht. Beide gehen davon aus, dass die Transformation von
Individualität in Volks- und Nationalkultur in der Regel über die Eta-
blierung staatlicher Instanzen vollzogen wird. Herder übertrug diese Vor-
stellung einer spezifischen „Authentizität“ der Individuen auf Völker und
Nationen und erklärte das Volkslied zum Fundament der nationalen
Kultur (Herder 1887, 342–383). Doch erst als authentifiziertes musikalisches
Kunstwerk können Volkslieder einen nationalen Ursprung beanspruchen.
Und nur die Nation, der Staat, darf dieses „Siegel der Authentizität“ ver-
geben (Noetzel 1999). Folklore ist hier nicht mehr lokaler Alltag und
19 Musikalisches und wörtliches Zitat der Band Trio (1982), die während der Neuen
Deutschen Welle berühmt wurde.
226
Lebensweise, sondern das „Werk“ aus dem Volk und nur in dieser Form
ein Bestandteil der offiziellen nationalen bulgarischen Kultur. Doch gleich-
zeitig erklingt neben dem offiziell Bulgarischen das Populäre in den
bunten Gewändern seiner Transformationen.
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Archäologische Beiträge
233
Jonas Abele
Oberflächenbegehungen und Geländemodellierung
des prähistorischen Fundplatzes Džuljunica-Sm©rdeš
bei Veliko T©rnovo
Die Fundstelle liegt in der Flur Sm©rdeš, etwa 2 km nordwestlich des epo-
nymen Dorfes Džuljunica und ungefähr 26 km östlich von Veliko T©rnovo.
Das unmittelbare Landschaftsbild ist durch die Lage am Rande der sich
nach Norden erstreckenden geografischen Region der Donau-Tiefebene
charakterisiert. Im Süden erheben sich die Ausläufer des Balkangebirges.
Der heutige Verlauf der landschaftsprägenden Jantra befindet sich etwa
3,5 km nordwestlich der Fundstelle. Östlich von Džuljunica, in einer Ent-
fernung von etwa 4 km, verläuft der Džuljunica-Bach, welcher mit dem
Levedzha-Bach zusammenfließt und ungefähr 8,5 km nördlich der Fund-
stelle in die Jantra mündet.
Eine entscheidende Rolle kommt der Fundstelle bei der Beurteilung der
Entwicklungen des frühesten Neolithikums zu. Am Beginn des Neolithi-
kums steht der Übergang von einer aneignenden hin zu einer produzieren-
den Lebensweise, die etwa mit der Domestikation von Schaf, Ziege, Rind
und Schwein sowie der Züchtung von Getreidepflanzen und Hülsenfrüch-
ten wie Emmer, Einkorn, Erbsen und Linsen als grundlegender Wandel in
der Subsistenzstrategie verbunden ist (Lichardus-Itten/Lichardus 2003, 61).
Mit diesen Änderungen in der Wirtschaftsweise gehen wesentliche neo-
lithische Prozesse wie etwa Ackerbau, Sesshaftigkeit und die Produktion
geeigneter Keramikgefäße für eine Vorratshaltung einher.
Die früheste Ausprägung des Neolithikums (der sogenannte vor-Kara-
novo-zeitliche Horizont) ist in Džuljunica in der ältesten Schicht repräsen-
tiert. Die gesamte frühneolithische Kulturabfolge (vor-Karanovo- bis Kara-
novo II-zeitlich) konnte durch die langjährigen Ausgrabungen in Džuljunica
durch Nedko Elenski festgestellt werden.
Die neuesten 14C Daten bestätigen eine intensive erste Besiedlungsphase
noch vor dem Karanovo I-Horizont (um 6050 calBC) und auch naturwis-
senschaftliche Analysen, beispielsweise zu den Steinartefakten, unter-
streichen den besonderen Stellenwert der Fundstelle während des frühen
Neolithikums.
234
Forschungsgeschichte
Erstmals am Ende des 19. Jh. rückte Džuljunica in den Fokus der For-
schung. Durch zwei tschechische Antiquariaten, den Škorpil-Brüdern, er-
folgte 1898 eine erste Nennung des kupferzeitlichen Tells1 (Krauß et al. im
Druck; ʘˊ˓˕˔ˆˏ/ʘˊ˓˕˔ˆˏ 1898, 99). In den 30er Jahren des 20. Jh. fer-
tigte Vasil Mikov ein Register archäologischer Fundstellen an, in welches
auch Džuljunica aufgenommen wurde (ʂˆˊ˓ʵ 1933, 58).
Infolge des Ausbaus der Verkehrsverbindung Sofia-Varna wurden die
nördliche Peripherie des Tells sowie der nordöstliche Teil der Fundstelle
durch Baumaßnahmen angeschnitten, sodass erste archäologische Unter-
suchungen erforderlich waren. In den Jahren 1983 und 1984 konnten daher
kleinere Sondageschnitte angelegt werden, wobei besonders die durch die
Baumaßnahmen betroffenen nordöstlichen Teile des Siedlungshügels
untersucht wurden (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96). Der dadurch erwirkte Querschnitt
durch den nordöstlichen Bereich des Tells spiegelt eine Schichtenabfolge
durch die gesamte bulgarische Kupferzeit wider (Krauß et al. im Druck).
Darüber hinaus waren vereinzelt frühbronzezeitliche Keramikfragmente
an der Oberfläche des Schnittes zu verzeichnen (ʈ˘ʲˑʺʵ 1984, 28; ʈ˘ʲˑʺʵ
1985, 35). Durch den Ausgräber P. Stanev wurden zudem in den tieferen
Schichten frühneolithische Funde erkannt (in einer Tiefe von 4,10 bis
6,10 m), wodurch von Stanev eine unter dem Tell liegende frühneolithische
Siedlungsschicht angenommen wurde (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96).
In den Jahren zwischen 2001 und 2005 erfolgten durch Nedko Elenski
eingehende Ausgrabungstätigkeiten südwestlich und südlich des Tells
(Ebd. 96). Weitere Untersuchungen wurden ab 2008 durchgeführt, wobei
der Schwerpunkt hierbei die frühneolithische Besiedlung im westlichen
Bereich der Fundstelle darstellte. Punktuell wurden zusätzlich im Bereich
des Tells weitere Sondagegrabungen durchgeführt.
Neuere Untersuchungen
Anlässlich eines Kooperationsvorhabens des Instituts für Ur- und Früh-
geschichte der Universität Tübingen und des Teilprojektes F1, „Setting the
Time Frame – Application of Radiocarbondating in the Construction of
High-Resolution Chronologies“ des an der Universität zu Köln veranker-
ten DFG-Sonderforschungsbereichs 806 „Our Way to Europe“ erfolgte im
Jahre 2010 eine erste Datenerhebung an der Fundstelle Džuljunica. Ein
1 Aus dem Arabischen für einen Siedlungshügel. Alternative Bezeichnungen sind Mo-
gila oder Höyük.
235
kurzer Bericht zu den dabei erfolgten Arbeitsschritten wurde bereits durch
R. Krauß angefertigt (Krauß 2011, 149–151), zudem ist eine umfassende
Darlegung der Ergebnisse im Druck (Krauß et al. im Druck). Darüber
hinaus wird das Projekt auch auf der Webseite des Instituts für Ur- und
Frühgeschichte der Universität Tübingen präsentiert.2
Neben dem Kernziel dieser ersten Kampagne, der Erhebung sicher
stratifizierter 14-C Daten durch B. Weninger und L. Clare, galt es zudem,
die bisher eher peripher dargelegte topografische Situation näher zu skiz-
zieren. Vorrangig wurde dafür eine, als Ergänzung zu den bereits vor-
liegenden einfachen Höhenlinienplänen zu verstehende, dreidimensionale
Visualisierung der Geländesituation durchgeführt (Krauß et al. im Druck,
Abb. 3). Darüber hinaus ließen sich potenzielle ehemalige Wasserläufe,
beziehungsweise fluviale Erosionsrinnen sowie die rezenten Wasserwege
und Quellen erfassen. Die Messungen der Kampagne 2010 konnten im
Rahmen von mehrtägigen Feldbegehungen in den Jahren 2011 und 2013
punktuell ergänzt und erweitert werden. Ein entscheidendes Ziel der Ar-
beiten im Jahr 2013 war es zudem, durch systematische Oberflächen-
begehungen die Siedlungsausdehnung und Fundstreuung zu erfassen, um
so die durch die Grabungsflächen bislang eher punktuell untersuchten
Siedlungsreste in ihrer räumlichen Ausdehnung näher zu beleuchten.
Darüber hinaus sollten eventuelle Be- und Endsiedlungsvorgänge inner-
halb der Fundstelle während ihrer gesamten Belegungsphase erkannt
werden. Sowohl die Surveytätigkeiten als auch die topografischen Unter-
suchungen wurden durch den Autor im Rahmen einer Magisterarbeit
aufgearbeitet.3 Die Zusammenfassung an dieser Stelle soll einen Einblick in
die angewendeten Methoden und die erzielten Ergebnisse geben, wobei
eine umfassendere Vorlage der Resultate zu einem späteren Zeitpunkt an-
gestrebt wird.
Topografie
Signifikant für die topografische Situation ist besonders der im nordöst-
lichen Bereich der Siedlung gelegene kupferzeitliche Tell. Mit einer Höhe
2 <http://www.ufg.uni-tuebingen.de/juengere-urgeschichte/forschungsprojekte/aktuelle-
forschungsprojekte/dzuljunica.html> (10.11.2014).
3 Für die vielfältigen Anregungen und kritischen Anmerkungen bedanke ich mich bei
meinen Betreuern Prof. Dr. M. Bartelheim und Dr. R. Krauß. Ein besonderer Dank ge-
bührt Dr. R. Krauß, der mir die Bearbeitung dieses spannenden Themas ermöglicht
hat und mir darüber hinaus während vieler Diskussionen gewinnbringende Verbes-
serungsvorschläge gemacht hat. Weiterhin gilt mein Dank N. Elenski, der während
der Datenerhebung im Gelände eine unverzichtbare Hilfe war.
236
von knapp 10 m und einem Durchmesser von maximal etwa 70 m handelt
es sich um eine exponierte und markante Erhebung. Der höchste Punkt des
Tells liegt annähernd 77 m über NN (Ergebnisse Geländemodell). Von dem
Tell ausgehend Richtung Westen steigt das Gelände kontinuierlich an und
erreicht nach etwa 300 m seine höchste Erhebung mit knappen 78 m
(Abbildung 1).
Abbildung 1: Profil der Geländesituation der Fundstelle von SW nach NO. Rechts
befindet sich der Tell, links hebt sich die Terrasse ab (erstellt mit ArcGIS).
Im Bereich dieser höchsten Erhebung im westlichen Teil der Fundstelle
befindet sich der Kernbereich der frühneolithischen Ansiedlung, welche
einen flachen, nach Süden hin leicht abfallenden Siedlungshügel heraus-
gebildet hat (Abbildung 2).
Abbildung 2: Geländemodell der Fundstelle aus nordöstlicher Sicht.
Im Vordergrund ist der kupferzeitliche Tell sichtbar, von dessen Fuß aus sich die
Terrasse mit der frühneolithischen Kernsiedlung im Zentrum anhebt.
(Gestrichelt: Oberflächenbegehung; Schwarz: Grabungsschnitte).
Nördlich dieser Erhebung fällt das Gelände ab, wodurch ein terrassen-
förmiger Geländesporn gebildet wird. An dessen niedrigsten Ausläufern in
237
nördlicher Richtung sind mehrere Quellschüttungen festzustellen. Es han-
delt sich dabei, zumindest bei dem westlichsten Wasseraustritt, um peren-
nierende Quellschüttungen. Die in Richtung der Jantra weiterführende
oberirdische Fließrichtung der Quellen konnte durch N. Elenski bereits
festgestellt werden (ɯˏʺˑ˖ˊˆ 2006, 96).
Die unmittelbare Verfügbarkeit von Wasser ist sicherlich ein ent-
scheidender Faktor für die Wahl eines Siedlungsplatzes. Tatsächlich lassen
sich das Auftreten und der exakte Verlauf der Quellenaustritte zeitlich nur
schwerlich zurückverfolgen, allerdings bieten Berechnungen zur Abfluss-
akkumulation auf Grundlage des Geländemodells dafür einige Hinweise.
Bei der Verwendung des Analysewerkzeugs ‚Flow Accumulation‘ in Arc-
GIS wird ein Raster ermittelt, welches die plausibelste Gewässerfließ-
richtung in jeder Zelle veranschaulicht. Es lässt sich demnach anhand der
Höhen- und Neigungsinformation berechnen, an welcher Stelle das Auf-
treten von Gewässern zu vermuten ist. Bei der Anwendung der Analyse
zeigt sich, dass die berechneten Ergebnisse mit den rezenten Austritts-
positionen der Quellen übereinstimmen. Die topografische Situation lässt
demnach das Austreten der Quellen genau in diesem Bereich auch über
längere Zeiträume als anzunehmende Hypothese zu.
Survey
Für die systematische Oberflächenbegehung wurde das zu untersuchende
Gebiet in rasterförmige Untersuchungseinheiten aufgeteilt, in welchen die
Funde von der Oberfläche aufgelesen werden konnten. Das Abstecken von
Surveyflächen in Quadranten ist eine geeignete Methode, um großflächige
Begehungen zu realisieren, wobei der Einsatz von präzisen, differenziellen
GPS-Geräten (Genauigkeit um 20 cm) ein zügiges Einrichten des Mess-
netzes gewährleistete. Als Größeneinheit wurden 10x10 m-Flächen ver-
wendet.
Im Gesamten wurden 306 Quadranten (3,06 ha) untersucht (Abbildung
3). Die bisherigen Surveyergebnisse sowie undokumentierte Oberflächen-
begehungen lassen allerdings eine Fundstreuung von mindestens 10 ha
vermuten.
Für sämtliche mit dem Survey verbundenen Geländearbeiten (Einrich-
tung des Messnetzes, Auflesen der Funde, Dokumentation und Klassifi-
kation) wurden neun Arbeitstage aufgewendet.
Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Abschnitt der Terrasse und der
an dieser Stelle bereits durch die Grabungsaktivität erfassten zentralen,
frühneolithischen Siedlung gewidmet.
238
Von den Oberflächenbegehungen in diesem Bereich war zunächst eine
Erfassung der südlichen Grenzen der neolithischen Siedlung zu erhoffen.
Darüber hinaus sollte der eventuelle Zusammenhang zu den späteren
Perioden geklärt werden.
Bei der Auswahl der Begehungseinheiten wurden gezielt Bereiche aus-
gewählt, welche bislang nicht durch die Grabungsaktivitäten untersucht
werden konnten.
Abbildung 3: Untersuchungsfläche der Oberflächenbegehung (gestrichelt)
und die Grabungsschnitte von Nedko Elenski.
Im östlichen Bereich der Untersuchungsfläche war eine großräumige
Begehung aus Zeitgründen nicht zu bewältigen. Dieser Umstand spiegelt
sich in der stegartigen Anordnung der Quadranten wider. Das dort an-
gestrebte Ziel war gewissermaßen, einen horizontalen Querschnitt durch
den Siedlungsbereich vorzunehmen, um zumindest stellenweise die Sied-
lungsgrenzen erfassen zu können.
Sämtliche Daten wurden zunächst in einer MS Excel Tabelle erfasst und
anschließend in eine Geodatenbank überführt, um somit die Anbindung an
ein Geografisches Informationssystem (GIS) zu gewährleisten. Innerhalb
des GIS ist dadurch eine Bezugnahme der Oberflächenfunde zu anderen
239
Daten, wie etwa den Ergebnissen des Geländemodels, den Grabungs-
schnitten, Luftbildern und sonstigen Geodaten möglich.
Funde
Im Arbeitsgebiet des Surveys wurden nahezu 12 000 Funde geborgen,
wobei damit lediglich die sicher als Artefakte anzusprechenden Objekte
angegeben sind.
Den größten Anteil im Fundmaterial stellen die 4473 Hüttenlehm- und
7038 Keramikfragmente. Von den 7038 Keramikfragmenten konnten 1719
bestimmt und klassifiziert werden (24,4 % des Gesamtaufkommens).
Eine Übersicht der sonstigen Artefakttypen und deren Quantität ist Ab-
bildung 4 zu entnehmen.
Abbildung 4: Einzelfunde der Oberflächenbegehung.
Sämtliche Gewichtsfragmente, Schleif- und Mahlsteine, Schlacken und Silex-
funde wurden mit einem differenziellen GPS-Gerät einzeln eingemessen.4
Dadurch kann das Verteilungsmuster dieser Fundgruppen sehr detailliert
und exakt wiedergegeben werden.
4 Überprüfungen der GPS-Messungen mit der Totalstation zeigen eine Messgenauig-
keit der GPS-Punkte im Submeterbereich. In wenigen Fällen lag die Abweichung der
GPS-Punkte von den tatsächlichen Punkten über 30 cm.
14 5910
90
97
81
157
Fundgruppen Džuljunica Survey 2013
Fundanzahl in allen Quadranten
240
Mit einer Anzahl von 28 Stück bei den klassifizierten Artefakten sind bei
den Silexfunden Klingenfragmente am stärksten vertreten (Abbildung 5a).
Daneben treten Abschläge, Kratzer, Kernfragmente und Trümmer auf.
Abbildung 5: a) Steinartefakttypen b) Rohmaterial der Klingen (erstellt in Excel).
Für nahezu 70 % der Klingen wurde das Rohmaterial von Typ 1 verwendet
(Abbildung 5b). Die charakteristische, honiggelbe Farbgebung sowie
versprenkelten weißen Flecken zeichnen Typ 1 aus.
Dem Rohmaterial von Typ 1 kommt bedingt durch das hohe Fund-
aufkommen in der Fundstelle eine herausragende Rolle zu. Tatsächlich hat
eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Rohmaterial, welches im
Allgemeinen als „Balkan Flint“ bezeichnet wird, auch an Funden aus
Džuljunica an unterschiedlicher Stelle bereits stattgefunden (Gurova 2008,
15–26). Eine enge Verknüpfung dieses Rohmaterials mit der frühesten
neolithischen Kulturentwicklung ist festzustellen (Gurova 2012, 15). Der
wechselhafte und intensiv geführte Fachdiskurs zur Ansprache dieses
Rohmaterials soll hier nicht wiedergegeben werden. Stattdessen findet eine
Fokussierung auf die synthetisierenden Ergebnisse von M. Gurova statt
(Gurova 2012, 15–26). Die Ergebnisse zu den petrografischen Analysen
zeigen dabei Erkenntnisse zur Herkunft und spezifischen Verarbeitung des
Rohmaterials.
Bislang konnte keine definitive Ursprungsregion des Rohmaterials auf-
gezeigt werden, allerdings zeichnen sich die (historischen) Regionen von
Moesien (Nikopol) und/oder Ludogorie (Bez. Razgrad) als Herkunfts-
bezirke ab (Gurova 2012, 40).
Prinzipiell sind die Lagerstätten dieser Gebiete nicht unerheblich weit
entfernt von der Fundstelle, sodass M. Gurova auch die Verwendung von
Rohmaterialien aus Sekundärlagerstätten, wie etwa den Flusstälern und
Flussterrassen der Donau-Tiefebene, in Betracht zieht (Gurova 2012, 37).
0
5
10
15
20
25
30
RM1
68%
RM2
3%
RM3
14%
RM4
4%
RM5
11% Klingen Rohmaterial
241
Auch wenn umfassende Ansätze wie die Rekonstruktion der Produktions-
mechanismen im Sinne einer chaîne opératoire ohne spezifische Informa-
tionen zur Herkunft des Rohmaterials vorerst erschwert sind, bleibt fest-
zustellen, dass der Fundstelle Džuljunica eine hohe Bedeutung bei der
frühen Verarbeitung des ‚Balkan-Flints‘ zukommt (Gurova 2012, 40). Dafür
spricht einerseits die sehr früh zu datierende Verwendung dieses Roh-
materials in Džuljunica. Andererseits ist die geografische Situation der
Fundstelle unmittelbar zwischen den großen Produktionszentren mit
Ludogorie im Nordosten und den thrakischen Gebieten hervorzuheben.
Es zeigt sich, dass dieses spezifische Rohmaterial dabei mit ganz charak-
teristischen Artefakttypen der vor-karanovo- bis karanovo I und II-zeit-
lichen Phase verbunden ist (Gurova 2012, 23). Dabei sind regelmäßig ge-
formte Klingen von mittlerer Größe (max. 12-15 cm) mit bilateraler Retu-
schierung besonders hervorzuheben (Gurova 2012, Fig. 2–4).
Fundverteilung und Siedlungsausdehnung
Das Hüttenlehm-Fundaufkommen der einzelnen Quadranten ist stellen-
weise sehr hoch (Abbildung 6). Da selbst fingernagelgroße Fragmente
aufgelesen wurden, ist diese hohe Anzahl teilweise etwas zu relativieren.
Die Fragmente sind überwiegend stark erodiert, wobei dennoch gelegent-
lich Abdrücke der Holzkonstruktion zu erkennen sind.
Abbildung 6: Fundverteilung Hüttenlehm.
242
Auffällig ist die hohe Konzentration im Bereich der Terrasse, wobei
insbesondere der nördliche Teil der Surveyfläche in diesem Gebiet eine
sehr hohe Funddichte an Hüttenlehm aufweist (Abbildung 6). Ausgehend
von den Hüttenlehmfragmenten ist daher ein Siedlungsschwerpunkt im
zentralen Bereich der Terrasse deutlich erkennbar, wobei eine zeitliche
Differenzierung der Siedlungsprozesse mittels der nicht näher datierbaren
Hüttenlehmfragmente selbstverständlich nicht erwirkt werden kann. Von
der räumlichen Verteilung der chronologisch bestimmbaren Keramik-
scherben ist hinsichtlich der Frage nach den einzelnen Siedlungsphasen ein
ungleich höherer Erkenntnisgewinn zu erwarten.
Der Keramikfundstoff der Lesefunde bildet eine große Zeitspanne ab.
Vom Frühneolithikum bis zum Mittelalter sind Scherben vertreten. Bei der
Beurteilung der horizontalen Siedlungsprozesse bildet der keramische
Fundstoff zweifelsohne ein zentrales Element.
Keine andere Fundgruppe weist eine vergleichbare, durch die Klassifi-
zierung erwirkte, chronologische und funktionale Untergliederung auf.
Die Untersuchungen zur räumlichen Verteilung der einzelnen Warengrup-
pen bilden daher den Schwerpunkt der Analysen zu Siedlungsausdehnung
und -prozessen. Bei der Auswertung der Survey-Ergebnisse hinsichtlich der
Siedlungsprozesse wurde grundlegend folgendes Vorgehen angewendet:
1) Kartierung der Fundverteilung (quantitatives Erscheinungsbild der unter-
schiedlichen Fundgattungen und Keramikwaren in den einzelnen Quadranten)
2) Überprüfung der Fundverteilung auf statistisch signifikante Muster (unter
Verwendung der Anselin-Local-Morans I Methode)
3) Visualisierung der Verteilungstendenz (Streuellipsen)
4) Punktuelle Interpolation der Zwischenbereiche in den östlichen Quadranten
5) Verknüpfung mit den Grabungsergebnissen und abschließende Feststellung
der Tendenz der Siedlungsausdehnung in den unterschiedlichen Perioden
Exemplarisch lässt sich dies an dem frühneolithischen Keramikmaterial
nachvollziehen (Abbildung 7). Erkennbar ist eine Konzentration der Scher-
ben dieser frühesten Besiedlungsphase auf den zentralen Teil der Terrasse,
wobei allerdings auch im südwestlichsten Bereich der Surveyfläche eine
Akkumulierung von Funden auszumachen ist.
Diese Verdichtung an Funden liegt etwa 25 m südlich von den Schnitten
12, 13, 18 und 21, welche als zentrales Areal der frühneolithischen Siedlung
angesehen werden können (Abbildung 7). Die Funde im zentralen Ter-
rassenbereich unterliegen einer statistisch signifikanten Musterbildung.
Meines Erachtens konnten hier mittels des Surveys die südlichen Grenzen
der vor-karanovo- und karanovo I-zeitlichen Besiedlung erfasst werden.
243
Das Auftreten dieser Siedlungsphase im Grabungskontext südöstlich
des Tells (Schnitte 4, 8 und 17) konnte durch den Survey nicht erfasst
werden.
Abbildung 7: Verteilung der frühneolithischen Scherben (Dž I-IV).
Vereinzelt konnten im Fundaufkommen der Quadranten in den südlichen
und westlichen Bereichen der Terrasse ein, maximal zwei Fragmente früh-
neolithischer Keramik festgestellt werden. Zu beurteilen sind diese Funde
eher im Kontext von menschlichen Aktivitäten außerhalb der eigentlichen
Siedlung, wie beispielsweise Weidewirtschaft oder Ackerbau. Rückschlüsse
auf Befunde im Boden sind im Zusammenhang mit diesen Einzelfunden
nicht zu erbringen.
Unter Anwendung der einzelnen statistischen Verfahren lässt sich für
den frühneolithischen Zeitabschnitt eine deutliche Siedlungstendenz her-
ausarbeiten, welche in Abbildung 8 visualisiert ist.
244
Abbildung 8: Frühneolithische Siedlungsausdehnung (1,2 und 3: Dž I und II; 4: Dž IV),
hinterlegt mit einem interpoliertem Höhenmodell.
Im Keramikmaterial lässt sich der vor-karanovo-zeitliche Horizont (Džul-
junica I und II, kurz Dž I und II, in der internen Terminologie) im Unter-
suchungsgebiet an den Stellen 1, 2 und 3 (Abbildung 9) nachweisen. Mit-
tels des statistischen Verfahrens der Standardellipsen und verschiedener
Interpolationsmethoden (vorrangig Krigging) sowie der Hinzuziehung der
Grabungsergebnisse, konnte die hier vorgelegte Siedlungsausdehnung
festgestellt werden.
Mit der darauf folgenden Karanovo-I-zeitlichen Phase geht offensicht-
lich eine Verkleinerung der Siedlungsausdehnung sowie eine Akkumu-
lierung auf den zentralen Bereich der Terrasse einher (Abbildung 9,
Bereich 4). Dieser Befund steht im Einklang mit den bislang erzielten
Grabungsergebnissen, sodass durch die neuen Erkenntnisse eine wichtige
Ergänzung hinsichtlich der Siedlungsausdehnung gegeben ist.
Bedingt durch die aus Zeitgründen nicht flächendeckend erfolgte Ober-
flächenbegehung, könnten zukünftige Untersuchungen im nördlichen und
nordöstlichen Bereich der Fundstelle allerdings durchaus noch Daten lie-
fern, die eine größere Siedlungsausdehnung aufzeigen. Die hier vorgestell-
ten Ergebnisse stellen die auf der bislang erarbeiteten Datengrundlage
erzielten Siedlungstendenzen dar, sodass es sich gewissermaßen um die
minimalste bislang bestätigte Siedlungsgröße handelt.
245
Schluss
Für die frühneolithische Ansiedlung konnte der Siedlungsstandort eines
Geländesporns, welchem eine durch häufig verlagerte Gewässerläufe ge-
prägte Niederung vorgelagert ist, mithilfe der dreidimensionalen Erfassung
der topografischen Situation visualisiert werden. Diese Geländesituation
kann durchaus als ein beliebter Siedlungsstandort des frühneolithischen
Siedlungsbildes der Region gelten. Darüber hinaus sind zweifelsohne auch
die landschaftlichen Gegebenheiten, wie etwa die fruchtbaren Böden oder
besonders die Quellen am Fuße der Terrasse, entscheidende Kriterien, die
eine Besiedlung in Džuljunica möglich gemacht haben. Insbesondere die
Quellsituation und damit einhergehende Verfügbarkeit von Wasser in
unmittelbarer Nähe der Siedlungsflächen ist als ein entscheidender Faktor
für die ausgeprägte Siedlungskonstanz in Džuljunica hervorzuheben.
Die Untersuchung der Siedlungsprozesse innerhalb der Fundstelle ist
für die einzelnen Perioden in unterschiedlicher Qualität gelungen. Her-
vorzuheben ist insgesamt die ausgesprochen lange Siedlungskontinuität,
welche durch die Surveyergebnisse nahegelegt wird. Bei der Betrachtung
der Fundstreuung des Keramikmaterials werden darüber hinaus konkrete
Be- und Entsiedlungsprozesse ersichtlich. Die bereits durch die Grabungs-
ergebnisse erfasste, intensive Siedlungsaktivität in den zentralen Bereichen
der Terrasse während des Frühneolithikums kann durch die Survey-
ergebnisse bestätigt werden. Besonders hinsichtlich der südlichen Sied-
lungsgrenze können die mittels der Oberflächenfunde erfassten Grenzen
den bisherigen Forschungsstand ergänzen. Sehr gut erfasst ist auch die
Verkleinerung des Siedlungsareals während des ausgehenden Frühneo-
lithikums. Während des Chalkolithikums und der Bronzezeit bildet sich
der Tell heraus und abgesehen von der längeren Übergangszeit zwischen
Chalkolithikum und Bronzezeit ist in diesem Areal auch im unmittelbaren
Umfeld des Tells eine konzentrierte Besiedlung festzustellen. Die Gebiete
der Terrasse wurden während dieser Zeit offensichtlich nicht als primärer
Siedlungsstandort wahrgenommen. Lediglich der mit dem Cernavod©-
Keramikmaterial verknüpften Übergangszeit kommt hierbei eine beson-
dere Bedeutung zu. Möglicherweise ist die für diesen Zeitraum zumeist
angenommene Siedlungsunterbrechung für Džuljunica nicht festzustellen.
Das geringe Fundaufkommen dieser Periode im westlichen Teil der Unter-
suchungsfläche ist nicht zwingend im Kontext einer umfangreichen An-
siedlung zu beurteilen, allerdings existiert hier ein Faktor, den es im Rah-
men zukünftiger Untersuchungen näher zu charakterisieren gilt. Eventuell
ist hier die Möglichkeit gegeben, das bislang generell kaum erfasste
Siedlungsbild dieses Zeitabschnittes näher zu definieren. Insgesamt sind
246
die Siedlungsausdehnung und die Siedlungsprozesse der neolithischen bis
bronzezeitlichen Entwicklung im Surveymaterial verhältnismäßig gut ab-
gebildet. Ausgehend vom Survey-Fundmaterial ist darüber hinaus eine
rege Siedlungsaktivität während der Eisenzeit, den römischen Epochen
und des bulgarischen Mittelalters an der Fundstelle anzunehmen. Das
Verteilungsmuster der Funde der nach-bronzezeitlichen Perioden ist aller-
dings weniger deutlichen Mustern unterworfen und spiegelt eine kom-
plexe Siedlungsstruktur wider, deren exakte Abgrenzungen und Ausdeh-
nung über die Methodik des Surveys nicht abschließend geklärt werden
kann. Festzustellen ist allerdings eine erneute Siedlungsaktivität auf der
Terrasse während der Eisenzeit und der nachfolgenden Perioden.
Selbstverständlich kann die Untersuchung einer einzelnen Fundstelle nur
als erster Schritt für eine eingehendere Betrachtung einer Siedlungsregion
gelten. Punktuell kann beispielsweise über die Analyse der Steinartefakte
oder auch einer näheren Untersuchung der Rohstoffgewinnung eine Ein-
bindung der Fundstelle Džuljunica in das weitere Landschaftsbild erfol-
gen. Allerdings ist m. E. eine vielschichtigere Herangehensweise nötig, die
sich im Sinne einer landschaftsarchäologischen Diskussion systematisch
mit Džuljunica und ihrem Umland beschäftigt. Als Grundlage einer
solchen Betrachtungsweise muss allerdings ein präziseres Bild der Besied-
lung im unmittelbaren Umland der Fundstelle gewonnen werden. Bei-
spielsweise sind mir aus der bislang publizierten Literatur keine früh-
neolithischen Fundstellen innerhalb des geografischen Raumes der drei
Gemeinden um Džuljunica herum bekannt. Eine Erhebung potenzieller
Siedlungsgebiete und bevorzugter Standortfaktoren oder auch die Er-
fassung des menschlichen Einflusses auf die Landschaftssituation, wie dies
in jüngerer Zeit beispielsweise für den Bereich der unteren Jantra vorgelegt
wurde, können daher kaum fundiert erfolgen (Verhasselt 2013).
Die hohe Siedlungskontinuität und auch die vorliegenden umfang-
reichen Geodaten zu den naturräumlichen Voraussetzungen bieten m. E.
für zukünftige Untersuchungen dennoch eine gute Ausgangslage, um aus-
gehend von Džuljunica das Siedlungsbild der Region näher zu charak-
terisieren. Diesen noch zu erfolgenden Forschungen bleibt es überlassen, in
systematischer Reflexion landschaftsarchäologischer Fragestellungen ein
zusammenhängendes Bild der archäologischen Entwicklung dieser Region
zu erwirken.
247
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249
Marion Etzel
Tönerne Gesichter aus Varna. Aktuelle Forschungen zu den
Komplexen 2, 3 und 15 aus dem kupferzeitlichen Gräberfeld
in Bulgarien
Im Herbst 1972 führten Baggerarbeiten an einem Kabelkanal zur zufälligen
Entdeckung des spätkupferzeitlichen Gräberfeldes von Varna I am West-
ufer des Schwarzen Meeres. In mehreren Kampagnen konnte das Gräber-
feld unter der Leitung von Ivan Ivanov (Archäologisches Museum Varna)
nahezu vollständig ergraben werden (siehe: Fol/Lichardus 1988; Ivanov
1991; Slavchev 2010). Die dabei aufgefunden Gräber waren überdurch-
schnittlich reich mit Beigaben – auch aus Gold und Kupfer – ausgestattet.
Neben diesen Körpergräbern fanden sich auch einige symbolische De-
ponierungen. Eine besondere Bedeutung nimmt dabei die Bestattung von
drei halblebensgroßen, tönernen Gesichtern in den Komplexen 2, 3 und 15
ein. Die Gesichtsdarstellungen weckten, durch ihren einmaligen Fund-
kontext sowie ihren in der zeitgleichen Idolplastik hundertfach wiederhol-
ten Darstellungstypus, oft das Interesse der Forschung. Zwei Aspekte, die
Geschlechtlichkeit der Figuren sowie die Frage ob es sich um göttliche oder
menschliche Darstellungen handelt, sollen hier näher beleuchtet werden.1
Dabei spielt einerseits der Vergleich mit kupferzeitlichen Figuren gleicher
Ikonographie eine große Rolle. Andererseits eröffnete die erstmalige com-
putertomographische Untersuchung im Frühjahr 2011 der en bloc gebor-
genen Darstellungen neue Einblicke in den Aufbau der Gesichter.
Auffindungsgeschichte
Das Gräberfeld liegt auf einer leicht erhöhten und nach Süden geneigten
Terrasse am Varna-See. Anzeichen einer oberflächlichen Bebauung – wie
Stelen, Grabhügel oder sonstige Monumente – konnten während der Feld-
untersuchungen nicht nachgewiesen werden (Ivanov 1991, 125). Trotz der
1 Dieser Artikel beruht auf meiner Magister-Arbeit mit dem Titel: „Götter – Kulte –
Ahnen. Die Komplexe 2, 3 und 15 im spätkupferzeitlichen Gräberfeld von Varna I in
Bulgarien“. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Martin Bartelheim und Dr. Raiko
Krauß, beide Universität Tübingen. Dr. Kalin Dimitrov (Bulgarisches Archäologi-
sches Institut, Sofia) und Dr. Vladimir Slav²ev (Kustos für Prähistorie, Historisches
Regionalmuseum Varna) danke ich ganz herzlich für die Unterstützung und den
uneingeschränkten Zugang zu den Funden.
250
langjährigen Grabungstätigkeiten Ivanovs sind die Grenzen des Bestat-
tungsplatzes nicht vollständig erfasst worden. Zwar deutet die ausdün-
nende Belegung im Süden und Nordwesten darauf hin, dass hier die Gren-
zen erreicht sind, ansonsten zeichnet sich dagegen kein Ende der räum-
lichen Belegung ab (Abb. 1).
Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Gräberfeldplan von Varna I.
Die drei Komplexe mit Gesichtsdarstellungen sind durch schwarze Punkte markiert
(nach Slavchev 2010, 199, fig. 9–10).
Die Ausgräber konnten 310 Grabkomplexe sowie nahezu 80 Einzelfunde
aus der Kupferzeit bergen und dokumentieren (Ivanov et al. in Vor-
bereitung
2
). Der Bestattungsplatz besitzt besondere Bedeutung durch die
Masse an nicht lokalen Rohstoffen, die sich in über 80 % der Gräber fan-
den. Die Beigaben, bestehend aus Gold, Kupfer, verschiedenen Mineralien,
Spondylus und Dentalium-Muscheln, mussten sehr wahrscheinlich aus
großer Entfernung herbeigeschafft werden und bezeugen so die hohe
Bedeutung des Varna-Gräberfeldes (s. Krauß/Leusch/Zäuner 2012, 64–82).
Innerhalb der Gräber lassen sich zudem deutliche Unterschiede in der Bei-
gabenausstattung feststellen, was als ein Hinweis auf die Bedeutungs-
2
Das Manuskript wurde von Raiko Krauß aus dem Bulgarischen übersetzt.
251
unterschiede der Bestatteten gesehen werden kann (Slavchev 2010, 198;
Krauß/Slav²ev 2012, 238). Unter den besonders reich ausgestatteten Kom-
plexen finden sich nicht nur Körpergräber, sondern auch Deponierungen
ohne menschliche Skelettreste. I. Ivanov (1986, 30–31) stellte als erster die
besondere Bedeutung dieser Komplexe für die Interpretation von Varna
heraus. Er zählte 41 von damals 252 ergrabenen Komplexen zu den sog.
symbolischen Gräbern. Diese Komplexe unterteilte Ivanov in vier Grup-
pen: A) Reiche Gräber, die Komplexe 1, 4 und 36; B) Die Komplexe 2, 3 und
15 mit Gesichtsdarstellungen; C) Symbolische Gräber mit gewöhnlichem
Inventar zu denen er 28 Komplexe zählte; D) Gräber mit menschlichen
Skeletten, wobei es sich hier eher um gestörte Bestattungen und nicht um
symbolische Bestattungen zu handeln scheint (Ivanov 1986, 31). Im Fol-
genden soll die von Ivanov definierte Gruppe B) mit tönernen Masken –
oder vielmehr Gesichtsdarstellungen – im Mittelpunkt stehen (für die
übrigen Gruppen vgl. Ivanov 1986; Lichardus 1991; Krauß/Slav²ev 2012;
Ivanov et al. in Vorbereitung).
Befundbeschreibung
Die drei Komplexe mit Gesichtsdarstellungen liegen in einer Reihe am
südöstlichen Rand des ergrabenen Gräberfeldes (siehe Abb. 1). Durch ihre
direkte Nachbarschaft mit weiteren reich ausgestatteten Gräbern und
symbolischen Deponierungen, wie Komplex 36 und Grab 43, wird dieser
Teil gemeinhin als ein „Kern des Gräberfeldes“ (Lichardus 1991, 167) be-
zeichnet. Alle drei Darstellungen wurden in Grabgruben niedergelegt, die
in ihren Ausmaßen denjenigen der normalen Körperbestattungen ent-
sprechen. Auch die NO-SW orientierte Ausrichtung der rechteckigen bis
ovalen Gruben findet sich genauso in den Körpergräbern wieder. Die
Gruben der Gesichtskomplexe sind etwa 1,95–2,25 m lang bei einer Breite
von 0,85–1,00 m (Ivanov et al. in Vorbereitung). Durch die Größe und Form
der Grabgruben ist es durchaus möglich, darin einen etwa lebensgroßen
Körper beizusetzen.
Nicht nur die Anlage der Gruben selbst, auch die Deponierung der
Beigaben entspricht derjenigen bei den tatsächlichen Körperbestattungen.
Neben der für die Mitte des 5. Jahrtausends typischen Keramik, die in
Varna speziell für die Deponierung im Gräberfeld hergestellt wurde,
fanden sich zahlreiche weitere Beigaben aus unterschiedlichen Rohstoffen.
Alle drei Komplexe enthielten Spondylus-Perlen in hoher Anzahl, je eine
Feuersteinklinge, eine kupferne Nadel sowie mehrere Beigaben aus Gold,
so z. B. stark stilisierte weibliche Amulette. In Komplex 15 fand sich zudem
noch eine Nadel aus Gold. Ebenfalls aus Komplex 15 stammt das Fragment
252
einer durchbohrten Knochenscheibe, aus Komplex 2 eine durchbohrte
flache Scheibe aus Spondylus. Beide Scheiben werden in der Literatur als
„Spinnwirtel“ angesprochen (siehe Lichardus 1991, 177; Hansen 2007, 263).
Wiederum in den Komplexen 2 und 15 fand sich je ein gewölbtes Knochen-
idol, in Komplex 3 ist ein derartiges Idol aus Marmor mit fünf goldenen
Besatzstücken belegt.
Die Gesichtsdarstellungen selbst sind aus ungebranntem Ton modelliert
und liegen direkt auf der Grabsohle auf. Nur die Gesichter aus den Kom-
plexen 2 und 3 konnten en bloc geborgen werden, dasjenige aus Komplex
15 war so schlecht erhalten, dass eine Bergung des tönernen Kopfes nicht
mehr möglich war (Abb. 2).
Abbildung 2: Die en bloc geborgenen Gesichtsdarstellungen aus Ton.
A) Komplex 2; B) Komplex 3
(Fotos K. Dimitrov).
In der archäologischen Literatur sind die Gesichtsdarstellungen bislang
meist als Masken, die direkt auf der Grubensohle ausmodelliert wurden,
angesprochen worden. Damit folgten die Autoren der Meinung des Aus-
gräbers Ivanov. Mithilfe moderner Technik bestand nun erstmals die
Möglichkeit, die Struktur der en bloc geborgenen Darstellungen aus den
Komplexen 2 und 3 genau zu betrachten. Ursprünglich wurde diese Unter-
suchung vorgenommen, um in den Körpern enthaltene, nicht an der Ober-
fläche sichtbare Goldgegenstände zu identifizieren. Zu diesem Zweck
wurden die beiden erhaltenen Gesichter am 23. März 2011 im Universitäts-
klinikum „Sv. Marina“ in Varna computertomographisch untersucht. Die
253
Analyse wurde mit einem 128 Kanal Dual Source Tomographen der Firma
Siemens Healthcarevon Doz. B. Balev und Dr. T. Velinov durchgeführt.3
Dadurch konnte erstmals nachgewiesen werden, dass es sich tatsächlich
um etwa halblebensgroße, hohle Köpfe und nicht um Masken handelt, die
direkt in der Grube gearbeitet und mit feuchtem Ton übermodelliert
wurden. Ein ganz ähnlicher Tonkopf stammt aus der Uferrandsiedlung
„Arsenal“, ebenfalls am Varna-See gelegen. Die Ergebnisse der Tomo-
graphiebilder bestätigen eine Hypothese, die vor über 20 Jahren von
Henrieta Todorova vorgestellt wurde. Damals äußerte Todorova die An-
sicht, dass in den Komplexen 2, 3 und 15 vollplastisch modellierte tönerne
Köpfe von halblebensgroßen, anthropomorphen Figuren eingebracht wur-
den (ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ 1992; Todorova 1992).
Die Köpfe sind aus nur leicht gebranntem Lehm gefertigt und reich mit
goldenen Applikationen, Ketten und wahrscheinlich auch organischen
Materialien – wie Pflanzenbestandteile, Textilien und Holzgegenständen –
geschmückt. Darauf deuten die Überreste roten Ockershin, die sich bei der
Freilegung um die Gesichtsdarstellungen herumfanden. DieKöpfe selbst
waren vermutlich Teil von anthropomorphen Statuetten, was der Vergleich
mit der zeitgleichen Figuralplastik nahelegt.
In den neuen CT-Aufnahmen wurden außerdem Schmuckgegenstände
sichtbar, die in den Ton hinein gesunken sind. Das ist nur möglich, wenn
die Applikationen auf den noch feuchten Ton gelegt wurden. Durch die
CT-Aufnahmen konnte die These, dass es sich um lebensgroße Skulpturen
gehandelt haben könnte, deren Körper so schlecht erhalten war, dass er
nicht erkannt wurde (Todorova 1992, 259) widerlegt werden. Viel wahr-
scheinlich war der zugehörige Körper aus organischem Material gearbeitet
(Krauß/Slav²ev 2012). Spuren dieses Materials haben sich als braunes
Sediment am Boden der drei Gruben erhalten (Ivanov 1991, 132–133, 138).
Analyse der Figuren
Während die einzelnen Trachtbestandteile an den Gesichtern im Fund-
material des südosteuropäischen Chalkolithikums des Öfteren auftreten,
sind die Ausführung der Applikationen und die Auffindung der Köpfe
innerhalb eines Gräberfeldes singulär. Einzigartig ist insbesondere deren
Bedeutung als tatsächliche ‚Bestattung‘ und nicht als bloße Beigabe.
3 Für die Genehmigung und Hilfe möchte ich meinen herzlichen Dank an die dama-
lige Rektorin der Medizinischen Universität Varna „Prof. Dr. Paraskev Stojanov“, Frau
Prof. Anelija Klisarova, aussprechen sowie an Dr. K. Dimitrov und Dr. V. Slav²ev für
das Zurverfügungstellen der Ergebnisse.
254
Gerade diese Niederlegung in einem Grab wirft viele Fragen über
Funktion und Intention der Varna-Köpfe auf.
Die vollständig erhaltenen Köpfe aus Komplex 2 und 3 sind etwa 20 cm,
bzw. 21 cm lang und 19,5 cm, bzw. 21 cm breit. Auf ihrer ‘Stirn’ fand sich je
ein T-förmiger Kopfschmuck aus Goldblech. Die Augen wurden durch
zwei runde Goldbleche wiedergegeben. Beide Köpfe besaßen jeweils noch
acht goldene Ohrringe, fünf am linken Ohr und drei am rechten. Der Mund
wurde durch ein rechteckiges Blech, ebenfalls aus Gold, angedeutet.
Unterhalb des ‘Mundes’ fanden sich bei dem Kopf aus Komplex 2 sieben
goldene Lippenpflöcke, an demjenigen aus Komplex 3 sechs. Diese spezi-
fische Form des Gesichtsschmuckes, bestehend aus mehreren Ohrringen
und Lippenpflöcken, wiederholt sich an den kupferzeitlichen Figurinen.
Geschlechtlichkeit der Figurinen
Ein wichtiger Aspekt bei der Erforschung der tönernen Gesichter ist die
Frage nach der Geschlechtlichkeit der Figuren aus Varna. Als Darstellung
zeitgenössischer männlicher Individuen werden die Gesichter von V. Niko-
lov (1991) interpretiert. Er sieht den Gesichtsschmuck zwar als ikono-
graphisches Element der weiblichen Göttin ‘Mutter Erde’, dieser könne
aber ebenso bei Männern vorkommen (Nikolov 1991, 159). In diesen Fällen
diene der Schmuck aus Lippenpflöcken und Ohrringen – beziehungsweise
die Durchbohrungen an Mund und Ohr – als Symbol für die dominierende
Rolle der Männer innerhalb der rituellen Verehrung der Muttergöttin. Als
weiteren Hinweis sieht Nikolov die goldenen Diademe, die sich im Stirn-
bereich der drei Gesichter fanden und ein Charakteristikum des Herrschers
darstellen sollen (Nikolov 1991, 159). Auch die als stark stilisierte Frauen-
darstellungen gedeuteten goldenen Amulette im Halsbereich sprechen laut
Nikolov gegen eine weibliche Interpretation der Komplexe. Da sie eben-
falls mit dem Göttinnenkult in Verbindung gebracht würden (Nikolov
1991, 159), bestehe keine Notwendigkeit, diese an einem Abbild der Mutter-
göttin anzubringen, sondern sie würden vielmehr von den Gläubigen
getragen. Nikolov unterstützt seine Darlegungen durch den Verweis auf
ähnliche kupferzeitliche Gesichtsdarstellungen, welche von ihm alle als
männlich angesprochen werden. Neben Funden aus Dinja (vgl. u. a. ʊ˓-
ʹ˓˕˓ʵʲ 1979, Taf. 73; Fol/Lichardus 1988, 239, Nr. 99, Abb. 178; ɼʲˏˣʺʵ
2005, 43), Kubrat (siehe u. a. Fol/Lichardus 1988, 239, Nr. 100, Abb. 220;
Hansen 2007, Taf. 366), Ruse (vgl. Hansen 2007, Taf. 381), Ormurtag
(Fol/Lichardus 1988, 238, Nr. 97) und Vetren (siehe u. a. Fol/Lichardus
1988, 239–240, Abb. 180, Nr. 102; Raduncheva 1976, Fig. 77), verweist
Nikolov besonders auf den bereits angesprochenen hohlen Kopf aus
255
Ezerovo am Varna-See, den auch er als Parallele anführt (Nikolov 1991,
159).
Die oben angeführten Aspekte, zusammen mit dem Verweis auf die
Rückenlage4 der ‘bestatteten’ Figuren in Varna, führen Nikolov zu dem
Schluss, dass wir es hier mit der symbolischen Deponierung der Attribute
von männlichen Individuen zu tun hätten.
Die überwiegende Mehrheit der Forscher spricht die Gesichtsdarstel-
lungen dagegen als weibliche Abbilder an. Bereits der Ausgräber Ivanov
erkannte den ikonographischen Zusammenhang zwischen dem Gesichts-
schmuck der Varna-Köpfe und der zeitgleichen Figuralplastik (Ivanov
1986, 38). Er sah in den Darstellungen Abbildungen der „göttlichen Erd-
mutter, der Göttin der Fruchtbarkeit“ (Ivanov 1986, 38–39). Später relati-
vierte er seine Aussagen dahingehend, dass es sich zwar um weibliche,
aber nicht notwendigerweise um göttliche Bildnisse handle. Viel wahr-
scheinlicher erscheint ihm die Interpretation als Symbol des Ahnenkultes
(Ivanov 1988, 20; Ivanov 1991, 127). Auch Jan Lichardus erkennt in den
Komplexen 2, 3 und 15 Frauendarstellungen (Lichardus 1991, 177). Be-
sonders die Lippenpflöcke, die sich nicht nur bei den Gesichtern aus Varna
finden, sondern häufig bei der Idolplastik zu beobachten sind, würden auf
die Bestattung von Göttern hinweisen (Lichardus 1991, 184). Dem schlie-
ßen sich auch Krauß (Krauß/Slav²ev 2012) sowie Marazov (1988) an. Die
Schmuckausstattung sehen auch sie eher mit als weiblich gekennzeich-
neten Statuetten und einem Göttinnen-Kult verbunden. Neben dem Ver-
gleich mit der spätkupferzeitlichen Figuralplastik, verweist Lichardus auf
die von ihm als weibliche Beigaben definierten ‘Wirtel’ aus den Komplexen
2 und 15. Ebenfalls aus den Komplexen 2, 3 und 15 stammt je eine kupferne
Nadel, welche er als weitere weibliche Attribute deutet. Hansen (2007, 263)
macht zusätzlich noch auf das Fehlen von Schwergeräten aus Kupfer in
allen drei Komplexen aufmerksam, die sonst regelhaft in den reichen Grä-
bern auftreten. Zusätzlich weist er jedoch auf die Problematik der Wirtel
als Symbole des Weiblichen hin. Dass diese Beigaben tatsächlichen Frauen-
bestattungen vorbehalten waren, ist keineswegs gesichert. Dagegen spricht
der Fund eines ähnlichen Wirtels in dem als Kenotaph anzusprechenden
Komplex 41, wo er mit einem Meißel vergesellschaftet ist. In dem Fall
müsste auch der Meißel als weibliches Attribut angesprochen werden.
4 In der älteren Literatur wird die gestreckte Rückenlage gemeinhin mit der Bestattung
von männlichen Individuen gleichgesetzt. Neuere Forschungen weisen aber eher auf
einen chronologischen Zusammenhang bei der Bevorzugung von Rückenstreckern
anstelle von seitlichen Hockern hin (Todorova 2002, 46–47; Lichardus 1988, 126–129;
Lichardus 1991, 189–191; Rassamakin 2004, 204–206; Krauß/Slav²ev 2012; Zäuner in
Vorbereitung).
256
Das Geschlecht einer Figur lässt sich schwerlich an ihrem Gesicht ab-
lesen, da wir nicht davon ausgehen können, dass es sich um Portraits von
Personen handelt. Selbst Ritzlinien am Kinn, wie wir sie von einem Beispiel
aus Drama kennen (Fol/Lichardus 1988, 251, Kat.-Nr. 162, Abb. 194), die als
Bartdarstellung angesprochen werden, sind m. E. kein sicheres Merkmal
zur Bestimmung der Geschlechtlichkeit einer Figur. Ebenso könnte es sich
um eine Tätowierung, Bemalung oder Schmuckapplikationen handeln.
Auch die Grübchen im Gesicht anderer chalkolithischer Figurinen wurden
lange Zeit als abstrakte Darstellung des Mundes gedeutet. Erst die Ent-
deckung der Varna-Köpfe machte deutlich, dass es sich um Grübchen zur
Aufnahme der Lippenpflöcke handelt. Ob es sich bei einem Kopf um eine
männliche oder weibliche Darstellung handelt, beruht meist auf dem sub-
jektiven Eindruck des Betrachters. Unsere heutige Wahrnehmung ge-
schlechtlicher Attribute (z. B. Haartracht, Betonung bestimmter Gesichts-
partien durch Bemalung) ist fast ausschließlich durch den jeweiligen sozi-
alen Kontext geprägt. Geschlechtliche Wahrnehmung bleibt sogar heute
deutungsabhängig und kann noch schwieriger für prähistorische Gesell-
schaften erschlossen werden (ausführlicher dazu: Hansen 2007, 344).
Ähnlich verhält es sich mit applizierten Brüsten. Sie werden meist als
Indiz für eine weibliche Darstellung herangezogen. Allerdings führt Han-
sen Beispiele von eindeutig als männlich gekennzeichneten Figuren an, die
ebenfalls plastische Brüste aufweisen (Hansen 2007, 341–345). Zu sehen
sind die Brüste auch an beiden Statuetten der singulären Figurengruppe
aus Gumelniôa (Hansen 2007, Taf. 425).
Definitive Aussagen zur Geschlechtlichkeit einer Figur lassen sich also
nur bei einer eindeutig zu identifizierenden Darstellung von Schamdreieck
oder Penis treffen. Der Kopf allein liefert keine ausreichenden Anhalts-
punkte für die Geschlechtlichkeit. Eine Annäherung an die Fragestellung
ist allerdings über den Vergleich mit der chalkolithischen Kleinplastik
möglich. Wie bereits erwähnt, ist der Darstellungstypus der Varna-Gesich-
ter in der kupferzeitlichen Figuralplastik des Ostbalkans weit verbreitet.
Umgesetzt wurden die ikonographischen Merkmale allerdings nicht nur
in Ton, sondern auch in verschiedenen anderen Materialien wie Marmor,
vereinzelt in Gold und sehr häufig in Knochen.
Unterschiedlich ist auch die Art der Darstellung. So wurden nicht nur
Figurinen damit ausgestattet, auch auf Gefäßen, Gefäßträgern und Deckeln
finden sich die typischen Grübchen für Lippenpflöcke sowie Ohrlöcher in
unterschiedlicher Zahl.
Um der Frage nach der Geschlechtlichkeit der Varna-Gesichter genauer
nachzugehen, wurden etwa 370 chalkolithische Figurinen aus unterschied-
lichen Materialien und mit verschiedener Funktion in eine Datenbank
257
aufgenommen und ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass die Darstellung des
weiblichen Geschlechts nur bei den flachen Knochenfigurinen üblich ist.
Diese weisen fast durchgängig ein eingeritztes Schamdreieck auf. Weit
weniger häufig findet sich die Angabe des Schamdreiecks oder eines Penis
bei den tönernen Exemplaren. Dies liegt sicherlich auch am schlechteren
Erhaltungszustand der meist nur gering oder gar nicht gebrannten Ton-
plastik. Ein weiterer Aspekt ist die willentliche Fragmentierung der
Figuren (vertiefend hierzu: Chapman 1996; Chapman 2000, 55–57; Hansen
2007, 351–354). Diese intentionelle Zerstörung der Figuren scheint im ge-
samten Neolithikum sowie Chalkolithikum Südosteuropas gängig ge-
wesen zu sein. So ist beispielsweise in Drama von über 300 anthropo-
morphen Statuetten nur knapp ein Drittel vollständig erhalten. Die übrigen
zwei Drittel sind laut dem Ausgräber Lichardus „offensichtlich nach einem
vorgeschriebenen Prinzip zerbrochen worden.“ (Lichardus et al. 1996). Die
fehlenden Teile waren in der gesamten Grabungsfläche nicht auffindbar.
Ähnliches wird auch von der vollständig ergrabenen Tellsiedlung Goljamo
Del²evo berichtet (Chapman 1996, 225), wo in den Perioden 2 und 3 sogar
bis zu 92 % aller Figurinen fragmentiert sind. Eine intentionelle Zerstörung
sei nach Biehl (2003, 332) besonders dann wahrscheinlich, wenn die Figu-
ren nicht an ihren ‘Sollbruchstellen’ abgebrochen sind, sondern vielmehr
an ihren stabilsten Stellen wie z. B. entlang der Körperachse.
Durch die bewusste Fragmentierung und herstellungsbedingte schlechte
Erhaltung sind von den Statuetten oftmals nur Bruchstücke erhalten. Die
Untersuchung der Figuralplastik zielt allerdings auf einen Vergleich der
Ikonographie mit den Varna-Gesichtern ab. Somit können Bruchstücke, die
nur aus einem Torso bestehen, nicht mit berücksichtigt werden, auch wenn
diese ein eindeutiges Geschlechtsmerkmal aufweisen. Dass uns trotz dieser
Fundumstände einige Tonfiguren mit geschlechtlicher Kennzeichnung er-
halten geblieben sind, zeigen u. a. die Beispiele aus Gabarevo (vgl. eben-
falls: Hansen 2007, Taf. 348.1; Todorova/Vajsov 2001, Abb. 607; ʂˆˊ˓ʵ
1926–1931, 105, Abb. 25.), Gumelniôa (vgl.: Lichardus 1988, 116, Abb. 65.6;
Dumitrescu 1964, 221, fig. 1, pl. XXXVIII; Dumitrescu 1966, 92, fig. 28;
Dumitrescu 1972, Tav. 52.1; Marinescu-Bîlcu/Ionescu 1967, Pl. IV.1a–b)
sowie die Gefäßfigurine aus Sultana (vgl.: Marinescu-Bîlcu/Ionescu 1967,
Pl. IX.a–b, Pl. X; Dumitrescu 1968, Abb. 96; Dumitrescu 1972, Tav. 57.1–3;
Hansen 2007, Taf. 435). Neben den genannten Beispielen konnten noch 132
– von insgesamt 204 bis über die Hüfte erhaltenen Exemplaren – weitere
Statuetten mit eingeritztem oder aufgemaltem Schamdreieck in die Unter-
suchung einfließen. Bereits diese beschränkte Auswahl zeigt, dass nur ein
geringer Anteil der Tonplastiken und Gefäßfigurinen geschlechtlich ge-
kennzeichnet ist. Dies gilt besonders im Vergleich zu den überlieferten
258
Knochenfigurinen. Die Gründe dafür sind uns nicht bekannt, möglicher-
weise war die spezifische Angabe des Geschlechts nicht nötig, da dem
Betrachter dieses durch die sonstigen ikonographischen Hinweise (Ohr-
löcher, Lippenpflöcke) sofort geläufig war. Auch könnte das Geschlecht
der Figuren nicht wichtig, bzw. ausschlaggebend für die gewünschte Funk-
tion gewesen sein. Fehlende gestalterische Fähigkeiten können ausge-
schlossen werden, da wie erwähnt entsprechende Beispiele erhalten sind.
Zu bedenken gilt hier auch der bereits angesprochene schlechte Erhaltungs-
zustand der Tonstatuetten. Das figürliche Gefäß aus Sultana zeigt, dass
Bemalung durchaus gängig war, da auch andere Plastiken und Gefäße eine
ähnliche Dekorierung aufweisen. Bei der Mehrzahl dürfen wir aufgrund
ihrer Lagerung im Boden oder späterer unsachgemäßer Behandlung davon
ausgehen, dass ein aufgemaltes Schamdreieck nicht mehr erhalten ist. War
die Mehrheit der Figuren jedoch von Anfang an nicht geschlechtlich
gekennzeichnet, so haben wir es sicherlich mit einem bewussten Verzicht
zu tun, nicht mit einem Versehen oder mangelnder Kenntnis.
Einen Anhaltspunkt für die tatsächlich intendierte Geschlechtlichkeit
der Varna-Köpfe bietet die singuläre Figurengruppe aus Gumelniôa. Die
linke Figur zeigt einen applizierten Penis und Brüste sowie ein Loch in
jedem Ohr. Durch den Penis ist sie eindeutig als männlich gekennzeichnet.
Dagegen zeigt die rechte Figur ein Schamdreieck. Ihre Ohren sind zweifach
durchbohrt und unterhalb der vorstehenden Nase finden sich drei Grüb-
chen für heute verlorene – oder lediglich angedeutete – Lippenpflöcke. Sie
besitzt ebenfalls Brüste. Die fehlenden Lippenpflöcke bei der männlichen
Figur könnten darauf hinweisen, dass die Kombination aus mehreren
Ohrlöchern zusammen mit den Lippenpflöcken Frauendarstellungen
vorbehalten ist. Die insgesamt sehr seltenen männlichen Figuren besitzen,
soweit nachprüfbar, nur ein Ohrloch und keine Lippenpflöcke.5 An dieser
Stelle muss allerdings vor dem Zirkelschluss gewarnt werden, dass alle
Figuren mit Lippenpflöcken aufgrund einzig dieses Merkmals als weiblich
aufzufassen sind. So finden sich beispielsweise unter den Knochen-
figurinen auch Exemplare mit Schamdreieck, jedoch ohne Lippenpflöcke
(z. B. in der kupferzeitlichen Tellsiedlung von Smjadovo, Bezirk Šumen.
Vgl. u. a. Hansen 2007, Taf. 448). Dies zeigt, dass Lippenpflöcke bei
5 Eine sitzende Figur aus Vidra mit je drei Ohrlöchern wird in der Literatur immer als
männlich angesprochen (vgl. u. a. Hansen 2007, Taf. 398; Rosetti 1938, Taf. 19.2).
Allerdings ist ihr Geschlechtsteil auf keiner der verfügbaren Abbildungen klar zu er-
kennen. Wie das Beispiel aus Gumelniôa zeigt, wird der Penis normalerweise sehr
deutlich durch eine Applikation dargestellt. Bei der Vidra-Figurine könnte es sich
ebenso um ein tief eingeritztes Schamdreieck handeln. Somit bleibt die Ansprache
dieser Statuette als eindeutig männlich fragwürdig.
259
weiblichen Figuren vorkommen können, aber nicht müssen. Somit können
sie auch kein eindeutiger Beweis für das weibliche Geschlecht einer Figur
sein. Zusätzlich erschwert die äußerst geringe Zahl an eindeutig identifi-
zierbaren männlichen Figurinen eine definitive Deutung der Schmuck-
elemente.
Trotz allen Einschränkungen weisen die ausgeführten Vergleiche mit
der kupferzeitlichen Figuralplastik darauf hin, dass wir es in Varna mit
tendenziell eher weiblichen Darstellungen zu tun haben.
Wen stellen die Gesichter dar?
Dass es sich um Kenotaphe für in der Ferne verstorbene hochrangige
Gesellschaftsmitglieder handelt (Marazov 1988, 75), ist bei den Beispielen
aus Varna schon deswegen unwahrscheinlich, da sich ihre Symbolik hun-
dertfach in der Figuralplastik wiederholt. Um auf die Frage nach der mög-
lichen Symbolisierung realer Bestattungen näher einzugehen, bietet sich
der Vergleich mit anderen kupferzeitlichen Gräberfeldern an. Dabei zeigt
sich, dass eine den Komplexen 2, 3 und 15 vergleichbare Schmuckausstat-
tung nicht in Körpergräbern auftritt. Im Gräberfeld von Durankulak (To-
dorova 2002) finden sich zwar zahlreiche Schmuckgegenstände (in Form
von rekonstruierten ‘Diademen’ aus Spondylus sowie Kupferringen um
die Zähne), sie wiederholen jedoch nicht die Ikonographie der Varna-
Funde. Gerade von den ‘Diademen’ könnte man eine Verbindung zu den
goldenen Stirnblechen der Varna-Köpfe ziehen. Die Figuralplastik hat
gezeigt, dass zumindest die goldenen Ohrringe auch in kupferner Ausfüh-
rung vorkommen (z. B. bei einer Knochenstatuette aus Pietrele. Vgl.
Hansen 2007, Abb. 136; Hansen/Toderaó 2009, 111, Abb. 27). Entsprechend
könnte es sich auch mit anderen Schmuckelementen verhalten. In den
Gräbern tauchen zwar vereinzelte Ringe sowie Metallstifte aus Gold oder
Kupfer auf, jedoch nicht in einer Fundlage, die sich mit den Varna-Köpfen
verbinden ließe (vgl. hierzu auch Krauß/Slav²ev 2012).
Auch der Vergleich mit den Bestattungen des Gräberfeldes von Varna
selbst zeigt keine klaren Parallelen. Ebenso wie in Durankulak, findet sich
eine ähnliche Schmuckausstattung bei keinem anderen Komplex. Auch
wenn die Niederlegung und Anordnung der Figurinen innerhalb der
Grube nahezu identisch mit derjenigen der Körperbestattungen ist, zeigt
der Vergleich zwischen der Figuralplastik sowie zeitgleichen Bestattungen,
dass es sich nicht um symbolische Deponierungen realer Personen handeln
kann.
Dies führt uns zur von Marazov vertretenen Ausgangsthese zurück, der
in den Köpfen Symbolisierungen göttlicher Wesen sehen möchte. Aller-
260
dings widerspricht er der Deutung als Inkarnation der Mutter- oder
Fruchtbarkeitsgöttin (Marazov 1988, 75–76). Vielmehr steht für Marazov
die Verbindung der Köpfe mit dem Handwerk des Töpfers (tönerne Ge-
sichter selbst) – oder eher noch der Töpferin – sowie dem des Schmieds
durch die applizierten, kunstvoll gearbeiteten Goldartefakte, im Vorder-
grund. Er verbindet die Komplexe 2, 3 und 15 mit den benachbarten
Komplexen 16, 4 und 5, in denen er symbolische Bestattungen göttlicher
Metallhandwerker sieht. In diesem Teil des Gräberfeldes fand demnach
eine Vereinigung göttlicher Handwerkerfiguren – Schmied und Töpferin –
statt. Ihre Niederlegung im Gräberfeld diente der Sakralisierung des Be-
stattungsplatzes. Somit haben wir es nach Marazov zwar ebenfalls mit
Göttinnendarstellungen zu tun, er liefert uns jedoch zugleich die Begrün-
dung für ihre Bestattung im Gräberfeld: Die Sakralisierung und gleich-
zeitige Vereinnahmung des Areals. Die Deponierung der Varna-Köpfe
würde bei dieser Interpretation am Anfang der Gräberfeldbelegung stehen.
Neuere statistische Untersuchungen an der Universität Tübingen ver-
weisen viel eher auf eine späte Deponierung der Gesichtsdarstellungen am
Ende der Belegungszeit.7
Wie bereits festgestellt wurde, haben wir es weder in der Figuralplastik
noch bei den Varna-Funden mit Portraits von Personen zu tun. Damit ist
auch eine symbolische Bestattung ausgeschlossen. Bleibt die Idee, dass die
Köpfe göttliche Wesen darstellen. Diese Interpretation wird durch die
Figuralplastik zum Teil bestärkt. Als ein Hinweis auf eine übernatürliche
Funktion kann die Verdoppelung von Körperteilen gesehen werden. Sie
deuten auf potenzierte Fähigkeiten hin, die weit über das natürliche hin-
ausgehen (vertiefend hierzu Krauß/Slav²ev 2012, 248–250). Im südost-
6 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Komplex 1 mit-
nichten um einen eigenständigen Grabkomplex oder Kenotaphen handelt. Unter
Komplex 1 werden alle diejenigen Funde geführt, welche 1972 zur zufälligen Ent-
deckung des Gräberfeldes geführt haben. Bei Baggerarbeiten an einem Kanal traten
mehrere Gold-, Feuerstein- und Kupferartefakte auf. Weitere Funde konnten beim
anschließenden Sieben und Durchsuchen des umliegenden Sediments in einem Um-
kreis von ca. 50 m gemacht werden. Unter diesen gesammelten Artefakten fanden
sich auch vereinzelte Menschenknochen. Dies lässt darauf schließen, dass Komplex 1
vermutlich mehr als eine Bestattung – darunter möglicherweise auch Kenotaphe –
umfasst (siehe Ivanov et al. in Vorbereitung; Krauß/Leusch/Zäuner in BJ 2012).
7 Die statistische Auswertung der chronologischen Belegung des Gräberfeldes wird
von einer Arbeitsgruppe um Raiko Krauß vorgenommen. Ich möchte mich bei den
Beteiligten herzlich für die Informationen bedanken. Nähere Ausführungen zu den
laufenden Arbeiten finden sich auf der Webseite des Instituts:
<http://www.ufg.uni-tuebingen.de/juengere-urgeschichte/forschungsprojekte/aktuelle-
forschungsprojekte/varna/kulturhistorische-auswertung.html> (letzter Zugriff: 07.12.
2014).
261
europäischen Chalkolithikum finden sich Figuren, die neben der Ver-
vielfältigung von Körperteilen auch die ikonographischen Elemente der
Varna-Köpfe tragen. So ist beispielsweise bei einem figuralen Gefäß aus
Sultana das Augenpaar verdoppelt. Gleiches findet sich bei einer Statuette
aus G©barevo (Hansen 2007, Taf. 359). Zusätzlich ist bei dieser Figur noch
das Schamdreieck verdoppelt, was auf eine besondere Betonung ihrer
Weiblichkeit deutet. Auch die Verdoppelung des ganzen Kopfes, wie z. B.
bei einer Statuette aus Stara Zagora (Fol/Lichardus 1988, Kat. Nr. 81, Abb.
3) oder dem Fragment aus C©scioarele (Hansen 2007, Taf. 414.2) sind
belegt. Damit wird deutlich, dass die Gesichtsdarstellungen aus Varna
durchaus in einem rituellen Kontext betrachtet werden können. Für die
Interpretation als Abbild der ‘Muttergöttin’ oder als Symbolisierung eines
Fruchtbarkeitskultes, bieten die bisherigen Vergleiche und Überlegungen
jedoch keine Hinweise.
Schlussfolgerung
Die Auswertung und der Vergleich von insgesamt 370 Figurinen, Gefäßen,
Gefäßträgern sowie anthropomorphen Deckeln mit dem Gesichtsschmuck
der Varna-Köpfe zeigt eine klare Präferenz von eindeutig weiblichen Dar-
stellungen. Bei 118 Figurinen, die durch die Angabe des Schamdreiecks
eindeutig weiblich sind, fanden sich Lippenpflöcke, bzw. Grübchen zur
Aufnahme von Lippenpflöcken. Zusätzlich wiesen viele figürliche Darstel-
lungen mit Schamdreieck auch mehrfache Durchbohrungen an den Ohren
auf, was der Aufnahme von Ohrringen diente. Männliche Figurinen mit
Lippenpflöcken sind nicht bekannt. Die wenigen bekannten männlichen
Beispiele haben meist auch nur ein einzelnes Ohrloch je Seite. Dies liegt mit
Sicherheit auch daran, dass eindeutig männliche Darstellungen in der ge-
samten Prähistorie die Ausnahme darstellen. Auch wenn das Vorhanden-
sein von Lippenpflöcken kein sicherer Beweis für eine weibliche Dar-
stellung ist, zeigen sowohl die Bestattungen wie auch die Kleinplastik, dass
Lippenpflöcke wenn dann nur an Frauen gefunden wurden und nie an
Männern, bzw. eindeutig männlich gekennzeichneten Figurinen. Dagegen
liegen allerdings auch zahlreiche Beispiele vor, bei denen weiblichen
Individuen keine Lippenpflöcke mitgegeben oder sie damit geschmückt
wurden. Trotz aller Einschränkungen kann festgehalten werden, dass alle
angestellten Vergleiche darauf hindeuten, dass es sich auch bei den Varna-
Köpfen um weibliche Darstellungen handelt.
Damit ist allerdings noch nicht die Frage geklärt, ob die Varna-Köpfe
göttliche oder irdische Darstellungen sind. Diese Frage lässt sich allerdings
auch kaum beantworten. Die vielfach postulierte Theorie, dass die Statu-
262
etten – und somit auch die Varna-Köpfe – Abbilder der ‚Großen Göttin‘
seien, lässt sich kaum anhand von materiellen Überresten bestätigen oder
widerlegen. Fest steht, dass sich die Reduzierung der figürlichen Klein-
plastik auf einen einzigen Aspekt, den einer etwaigen Göttlichkeit, nicht
mit der Vielfalt der Darstellungsweisen in Einklang bringen lässt. Archäo-
logische Hinweise auf eine kultische Funktion der Figurinen im All-
gemeinen liegen bisher nicht aus der südosteuropäischen Kupferzeit vor.
Schriftliche Hinterlassenschaften sind aus dieser Zeit ebenfalls nicht be-
kannt. Somit können anhand der bekannten Funde keine direkten Hin-
weise auf die Religion der kupferzeitlichen Gesellschaft aufgezeigt werden.
Ob die Figurinen selbst tatsächlich Abbilder von Göttern – oder gar der
Hauptgöttin der Kupferzeit – darstellen, ist eine Frage der Interpretation,
die nicht anhand empirischer Daten untermauert werden kann. Ähnlich
verhält es sich bei den tönernen Köpfen aus Varna I. Sie zeigen keine
direkten Hinweise auf eine göttliche Darstellung. Ebenso wenig kann die
postulierte Weiblichkeit anhand von Köpfen mit Sicherheit benannt
werden. Allerdings ist die Vergleichsbasis bei der Frage nach dem vermut-
lichen Geschlecht der Varna-Köpfe um ein Vielfaches höher als die Hin-
weise auf eine etwaige Göttlichkeit. Eine eindeutige Zuordnung der Köpfe
zu einem bestimmten Geschlecht wäre nur durch den zugehörigen Körper,
zu einer göttlichen Darstellung nur durch eine eindeutige Bezeichnung der
Köpfe als Abbild eines Gottes möglich. Beides ist im Fall von Varna nicht
gegeben. Der Körper der Köpfe ist vergangen, falls er überhaupt jemals
existiert hat oder mit ins Grab gegeben wurde. Eine genaue Bezeichnung
eines Gottes ist uns erst ab historischer Zeit überliefert und wird sich für
die Frühgeschichte auch kaum jemals sicher nachweisen lassen. Damit
müssen wir uns mit Tendenzen oder Vermutungen begnügen, die aller-
dings anhand der genauen Untersuchung von Fundkontext und archäo-
logischen Vergleichen eingegrenzt werden können
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ʒ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ, ʝˑʺ˓ˏˆ˘ ɩ˓ˏʶʲ˕ˆˆ (Sofia 1979).
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ʒ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ, ɼ˨ː ˔˕˓ʴˏʺːʲ ˄ʲ ˘. ʃʲ˕. «˖ˆːʵ˓ˏˆˣˑˆ ˔˓ʶ˕ʺʴʺˑˆˮ» ˓˘ ʺˑʺ˓-
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267
Raiko Krauß
Archäologische Forschungen in Bulgarien 2013
Auch für den Laien werden archäologische Forschungen in Bulgarien immer
mehr offensichtlich, denn die stadtplanerische Neugestaltung der Stadtzen-
tren von Sofia und Plovdiv bindet die bei Bauarbeiten entdeckten Ruinen
in die Neugestaltung mit ein. Gute Beispiele für die Integration archäo-
logischer Befunde in Neubauten bieten etwa die zentrale Sofioter U-Bahn-
Station „Serdica“ und die erneuerte Fußgängerpassage entlang der Rajko
Daskalov Straße in Plovdiv. Auch spielt die Archäologie des Landes eine
prominente Rolle bei der Außendarstellung Bulgariens. So setzen touristi-
sche Reiseführer einen klaren Akzent auf die reiche Landesgeschichte mit
den im internationalen Maßstab herausragenden archäologischen Fundplät-
zen und spektakulären Funden in den bulgarischen Museen. Die archäologi-
schen Ausstellungen setzen jedoch fast immer auf Altbewährtes, wie etwa
die reichen Edelmetallfunde und die wichtigsten Orte der bulgarischen
Geschichte (Pliska, Preslav, Veliko T©rnovo) und neuere, durchaus auch
spektakuläre Funde werden kaum von einer breiteren Öffentlichkeit wahr-
genommen. Versuche zur Präsentation auch der aktuellen Ergebnisse sind
allenfalls in Ansätzen zu erkennen. So präsentiert das Archäologische Mu-
seum im Sofioter Stadtzentrum in einer kleinen Sonderausstellung im Ober-
geschoss seit einigen Jahren regelmäßig einige der besonders interessanten
Neufunde aus dem Vorjahr und archäologische Funde schaffen es immer
wieder auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Hauptnachrichten im
Fernsehen, solange sie sich nur mit einer spektakulären Geschichte verbin-
den lassen. Beispiele dafür sind die vermeintlichen Reliquien von Johannes
dem Täufer von der Insel Sveti Ivan vor Sozopol oder die wissenschaftlich
nicht belegbare Verbindung eines thrakischen Kultes für Dionysos oder
Orpheus mit dem Felsplateau von Perperikon in den östlichen Rhodopen.
Wirkliche Sensationen, wie etwa die Funde von menschlichen Skelettresten
aus der Zeit von 39.000 bis 25.000 Jahren vor heute aus der Redaka II-Höhle
in Nordwestbulgarien (ɫ˙ʲʹʺˏˆ et al. 2014) und die Neudatierung der Be-
stattungen von Varna, die damit zweifellos die ältesten Metallfunde der
Welt bergen (vgl. Bulgarien-Jahrbuch 2012, 64–82) und der Nachweis eines
quasi industriellen Salzabbaues beim Tell von Provadija bereits im 5. Jahr-
tausend v. Chr. (ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ 2008) oder der Nachweis von steinernen Befesti-
gungsmauern an einer ganzen Reihe von Tellsiedlungen aus dem gleichen
Zeithorizont (Boyadžiev 2004; ʈˏʲʵˣʺʵ 2014) fallen dabei fast nicht mehr auf.
268
Die archäologischen Grabungen entlang von linearen Bauprojekten hat-
ten in Bulgarien im Jahr 2013 nicht mehr die Ausmaße der vergangenen
Jahre (vgl. Bulgarien Jahrbuch 2012, 180). Größere Prospektionen fanden
nur noch entlang der geplanten Autobahnstrecken „Struma“ zwischen Dup-
nica und Blagoevgrad (ɼ˙ˏ˓ʵ 2014) und „Hemus“ durch Nordbulgarien
(ɸʵʲˑ˓ʵ et al. 2014; ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ˘˓ˇˣʺʵ 2014) sowie entlang der Eisenbahn-
strecke von Plovdiv über Harmanli nach Svilengrad (ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2014;
ɮˆˑˣʺʵ 2014; ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ 2014) statt. Nachdem dort in den vergangenen
zwei Jahren zahlreiche neue Fundplätze erfasst wurden, konnten nun an
ausgewählten Siedlungen größere Flächen auch außerhalb der eigentlichen
Streckenführung freigelegt werden. Darunter ein größerer frühneolithi-
scher Siedlungsplatz bei der Ortschaft Nova Nadežda im Kreis Haskovo
(ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2014). Ganz ungewöhnliche und spektakuläre Funde er-
brachten die baubegleitenden Untersuchungen an der Erweiterung des
Grenzüberganges Kapitan Andreevo zur Türkei (ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ et al. 2014). Aus
Gruben einer spätneolithischen Siedlung konnten eine Reihe von plastisch
modellierten und mit feinen Ritzlinien verzierten Gefäßmündungen in
Form von menschlichen Köpfen geborgen werden. Diese Gefäßköpfe waren
in allen Fällen mit mehreren gezielten Schlägen sehr sauber von ihren Kör-
pern abgeschlagen und anschließend sorgfältig in den Gruben deponiert
worden. Ganz außergewöhnlich ist die Figur eines Stieres, auf der sich der
Unterkörper eines Reiters erhalten hat (Abb. 1). Dabei dürfte es sich auch
im globalen Maßstab um die älteste bekannte Darstellung einer reitenden
Person handeln. Im Zusammenhang mit den Arbeiten entlang der geplan-
ten „Southstream“-Trasse wurde schließlich auch der Küstenbereich süd-
lich von Varna sondiert, wo die Erdgasleitung zukünftig an Land stoßen
soll (ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ/ɮ˕ʲʶʲˑ˓ʵ/ʆ˕ʲˠ˓ʵ 2014). Die beginnenden archäologischen
Untersuchungen in diesem Bereich versprechen weiterführende Aussagen
zum Siedlungsumfeld des wegen seines Reichtums an Gold- und Kupfer-
gegenständen bekannten Gräberfeldes von Varna (vgl. Bulgarien Jahrbuch
2012, 64–82).
Die unter indirekter finanzieller oder direkter, auch personeller Betei-
ligung von deutscher Seite durchgeführten Untersuchungen in Bulgarien
betrafen im Jahr 2013 die Untersuchungen in altsteinzeitlichen Höhlen in
Nordwestbulgarien, ein neues Forschungsprojekt zur spätbronzezeitlichen
Besiedlung in Südwestbulgarien, die nunmehr abgeschlossenen Unter-
suchungen zum Goldbergbau am Ada Tepe und die ebenfalls neu auf-
genommenen Geländebegehungen zum prähistorischen Kupferbergbau
am Medni Rid an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste.
269
Abb. 1. Spätneolithische Darstellung eines Reiters aus Kapitan Andreevo.
Höhe der Figur ca. 12cm.
Die unter indirekter finanzieller oder direkter, auch personeller Beteiligung
von deutscher Seite durchgeführten Untersuchungen in Bulgarien betrafen
im Jahr 2013 die Untersuchungen in altsteinzeitlichen Höhlen in Nordwest-
bulgarien, ein neues Forschungsprojekt zur spätbronzezeitlichen Besied-
lung in Südwestbulgarien, die nunmehr abgeschlossenen Untersuchungen
zum Goldbergbau am Ada Tepe und die ebenfalls neu aufgenommenen
Geländebegehungen zum prähistorischen Kupferbergbau am Medni Rid
an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste.
Untersuchungen in paläolithischen Höhlen Nordwestbulgariens
Seit bereits mehreren Jahrzehnten werden fortlaufende Untersuchungen
zur frühen menschlichen Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Bulga-
rien von einem französisch-bulgarischen Team durchgeführt. Ein aktuelles
Grabungsprojekt im Jahr 2013 wurde nun zum Teil co-finanziert durch die
„Leipzig School of Human Origins“, einem gemeinsamen Ausbildungs-
projekt des Max Planck Institut für Evolutionäre Anthropologie und der
Leipziger Universität. Es betrifft die Forschungen in der Kozarnika-Höhle,
einer Karsthöhle in der malerischen Felslandschaft unmittelbar nordöstlich
von Belograd²ik. Die Grabungen des letzten Jahres erbrachten ein ganzes
Ensemble aus durchbohrten kleinen Schneckenschalen, die als Schmuck-
perlen gedient haben und einen kleinen Anhänger aus Serpentinit. Der
Fund ist für das Balkangebiet aufgrund seines hohen Alters bislang einzig-
artig, lässt sich aber mit ähnlichen Fundensembles aus der Zeit zwischen
ca. 41.000-29.000 Jahren vor heute in Griechenland und in der südlichen
Türkei vergleichen (ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014a; ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014b).
270
Ausgrabungen in Bresto
Bereits im Sommer 2012 begann ein neues Ausgrabungsprojekt auf einem
erst im Jahr 2008 von Ilija Kulov bei Feldbegehungen entdeckten Sied-
lungsplatz der Spätbronze- und Frühen Eisenzeit im Flußtal der Mesta
zwischen Rhodopen und dem Pirin-Gebirge bei Bansko. Die Grabungen
wurden im Jahr 2013 nochmals intensiviert und mit einem international
besetzten Team fortgeführt. Das Grabungsprojekt auf der Anhöhe „Bresto“
bei der Ortschaft Banja findet in Kooperation des Cornell Institute of
Archaeology and Material Studies (Ithaka, State of New York, USA) mit
der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia, dem Museum Blagoevgrad
und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg statt. Maßgeblich finan-
ziert werden die Arbeiten seit 2013 durch eine Forschungsförderung des
American Research Center in Sofia. Es handelt sich um einen klein-
flächigen Siedlungsplatz, der sich allerdings durch seine Steinarchitektur
von der übrigen Besiedlung abhebt (ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ et al. 2014). Freigelegt
wurden gerade Mauern aus Bruchsteinen, die in Trockenmauertechnik
aufeinandergeschichtet wurden. Unter den keramischen Siedlungsfunden
finden sich für diese Region und Zeitstellung charakteristische stempel-
und ritzverzierte Keramikfragmente. Die Zeitstellung des Platzes ist mit
einem Datierungsrahmen von etwa 1200–700 v. Chr. noch recht grob an-
gegeben. Über die zukünftigen Grabungen wird man hier sicherlich zu
einer genaueren Eingrenzung der Siedlungsaktivität kommen. Von beson-
derem Interesse ist auch die Frage, ob sich über das Fundmaterial von
Bresto auch Kontakte nach Süden bis in die mykenische Welt nachweisen
lassen.
Forschungen zum prähistorischen Goldabbau am Ada Tepe
Die deutsch-bulgarischen montanarchäologischen Forschungen am Ada
Tepe (vgl. Bulgarien Jahrbuch 2009/2010, 134f; Bulgarien Jahrbuch 2011,
155 und Bulgarien Jahrbuch 2012, 181) konnten im Jahr 2013 zu einem vor-
läufigen Abschluss gebracht werden. Finanziert wurden die Freilegungs-
arbeiten nunmehr vollständig von der Bolkan Mineral and Mining Com-
pany, die an dem Platz bis heute im Tagebau Gold abbaut. Die archäo-
logischen Arbeiten betrafen die eigentliche Hügelkuppe des Ada Tepe, die
hohen nördlichen und nordöstlichen Abhänge sowie die östlichen Ab-
hänge (ʆ˓˔˓ʵ/ʃˆˊ˓ʵ 2014). Zu den wichtigsten Ergebnissen der Forschun-
gen im Jahre 2013 gehörte der Nachweis von weiteren Siedlungsspuren der
Spätbronzezeit in unmittelbarer Nachbarschaft der Hinterlassenschaften
des prähistorischen Bergbaus. Von besonderer Bedeutung sind neben den
271
verschiedenen bergmännischen Arbeitsgeräten auch Funde von zerschla-
genen Gussformen, welche belegen, dass das gewonnene Erz bereits vor
Ort weiterverarbeitet wurde. Auch an diesem Platz sind die vermuteten
Südkontakte von besonderer Bedeutung, da sie Aufschluss über die Frage
geben könnten, ob das in den Zentren der mykenischen Welt im Süden
verarbeitete Gold aus Thrakien stammt, wie verschiedene Forscher in der
Vergangenheit vermutet haben (Hartmann 1978, 42). Mit dem Ende der
Grabungsarbeiten tritt dieses bedeutende bulgarisch-deutsche Forschungs-
projekt nun in die Phase der abschließenden Veröffentlichung ein, worauf
man gespannt sein kann.
Untersuchungen zum Kupferabbau am Medni Rid
Im Jahr 2013 konnte ein neues Projekt zur Erforschung des prähistorischen
Kupferabbaus in Kooperation des Bulgarischen Archäologischen Instituts
mit dem Museum in Sofia sowie mit der Eberhard Karls Universität Tü-
bingen begonnen werden. Gegenstand der Forschungen sind alte Spuren
von Tagebauen im Kupfererzrevier Medni Rid, südlich von Burgas, die
zum Teil bereits von dem russischen Archäometallurgen Jevgenij N. +er-
nyh entdeckt worden waren. In den letzten Jahren konnte Petar Leštakov
vom Institut in Sofia die bereits von +ernyh entdeckten Bergbauspuren
identifizieren aber auch weitere, bislang vollkommen unbekannte Fund-
plätze aufdecken (ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ 2014). Im Zusammenhang mit einem neuen, an
der Universität Tübingen angesiedelten Sonderforschungsbereich (SFB)
konnte zur Untersuchung dieser Region eine eigene Fallstudie innerhalb
des Teilprojektes A01 „Ressourcen und die Herausbildung von Ungleich-
heit. Rohstoffe und Kommunikationssysteme im prähistorischen Südost-
europa” initiiert werden. Einbezogen in die Untersuchungen sind ein
deutscher Post-Doktorand und mehrere Studierende aus Tübingen. Von
bulgarischer Seite sind neben den Projektleitern P. Leštakov und Dr. Kalin
Dimitrov ebenfalls Studierende aus Sofia beteiligt. Die Untersuchungen
versprechen Aussagen zur Versorgung der kupferzeitlichen Siedlungen
mit dem Rohmaterial Kupfer, das in dieser Zeit auch prominent in den
Gräbern als Beigaben in Form von Waffen, Werkzeugen und Schmuck-
gegenständen auftritt. Eine besondere Herausforderung stellt allerdings
die Datierung der Bergbauspuren dar, denn vor dem bis in die sozia-
listische Zeit vollzogenen industriellen, untertägigen Bergbau muss mit
intensiven Bergbauaktivitäten bereits ab der Zeit der Griechischen Schwarz-
meerkolonien gerechnet werden. Im günstigsten Falle geben archäo-
logische Funde unmittelbar an den Überresten der Tagebaue Hinweise auf
die Zeit ihrer Anlage.
272
3. Bulgaristik-Kongress
Im Rahmen des 3. Internationalen Kongresses zur Bulgaristik in Sofia
wurde eine eigene Sektion „Geschichte und Archäologie“ organisiert. Ein-
zelne Vorträge der Untersektion „Die bulgarischen Gebiete während der
Antike“ beschäftigten sich allerdings schon mit den Zeiten weit vor der
Entwicklung der bulgarischen Sprache, namentlich während der thraki-
schen Eisenzeit und in der Periode der klassischen Antike. Weitere Unter-
sektionen beschäftigten sich mit den „Bulgarischen Gebieten während des
Mittelalters“, den „Bulgarischen Gebieten und den Bulgaren vom 15.–19.
Jahrhundert“ sowie mit der neueren und modernen bulgarischen Ge-
schichte. Im Vergleich zu den anderen Sektionen kam bei den archäo-
logischen Beiträgen allerdings der internationale Charakter der Zusam-
menkunft nicht so recht zur Geltung. Bis auf ein paar wenige Beiträge von
Forschern aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in russischer Sprache
wurden die überaus meisten Vorträge von Bulgaren in bulgarischer Sprache
vorgetragen.
Examensarbeiten und neu erschienene Literatur
Im Jahr 2013 konnte Marion Etzel an der Eberhard Karls Universität Tü-
bingen eine Magisterarbeit über die symbolischen Gräber 2, 3 und 15 des
Gräberfeldes von Varna abschließen (s. Beitrag Etzel in diesem Band).
Ebenfalls in diesem Jahr legte Jonas Abele an der Tübinger Universität
seine Magisterarbeit über systematische Geländeprospektionen am mehr-
periodigen Fundplatz Džuljunica bei Veliko T©rnovo vor (s. Beitrag Abele
in diesem Band).
Das dreizehner Jahr schreckte offenbar viele bulgarische Autoren, so-
dass wichtige Publikationen noch mit dem Veröffentlichungsdatum 2012
und dann erst wieder mit dem dieses Jahres in den Druck gingen. In die-
sem Zusammenhang muss allerdings noch einmal die Rolle der Deutsch-
Bulgarischen Gesellschaft herausgestellt werden, denn im Gegensatz zur
allgemeinen Tendenz gehörte das Publikationsjahr 2013 zu den produktiv-
sten der gesamten Vereinsgeschichte. Die Namen der in diesem Jahr von
der DBG herausgegebenen Bände brauchen an dieser Stelle nicht noch ein-
mal wiederholt zu werden. In Bulgarien erschienen ist dann aber doch
noch in 2013 eine Einführung zu den geophysikalischen Methoden in der
Archäologie von Nikola Tonkov (ʊ˓ˑˊ˓ʵ 2013). Das bereits im Jahr 2011
eingerichtete „Bulgarian e-Journal of Archaeology“ sei an dieser Stelle erst-
mals erwähnt und sehr empfohlen. Diese Internetplattform bietet vor allem
jungen, im Fach noch nicht gut etablierten Wissenschaftlern die Möglichkeit
273
zur schnellen und unkomplizierten Veröffentlichung ihrer Forschungs-
ergebnisse. So findet man auf den Seiten des Journals einen ausführlichen
Bericht mit den zur Veröffentlichung eingereichten Beiträgen von der zwei-
ten archäologischen Doktorandenkonferenz, die vom 28.–29. November in
Sofia durchgeführt wurde (http://be-ja.org/supplementa/3-2014/Be-JA_supp_3
_2014.pdf).
Abschließend seien noch zwei zwar nicht-archäologische aber kultur-
historisch Bulgarien betreffende Werke empfohlen, die im Jahr 2013 in
deutscher Sprache erschienen sind. Das ist zum einen Ilija Trojanows Buch
„Wo Orpheus begraben liegt“ mit eindrucksvollen Bildern des Photo-
graphen Christian Muhrbeck (Trojanow/Muhrbeck 2013) und eine von
Christo Kju²ukov herausgegebene Anthologie zur Folklore der Gagausen
aus Bulgarien (Kju²ukov 2013).
Literatur
Boyadžiev 2004
Y. Boyadžiev, Chalcolithic Stone Architecture from Bulgaria. Archaeologia Bul-
garica 8, 2004, 1–12.
Hartmann 1978
A. Hartmann, Ergebnisse der spektralanalytischen Untersuchungen äneolithischer
Goldfunde aus Bulgarien. Studia Praehistorica 1–2, 1978, 27–45.
Kju²ukov 2013
Ch. S. Kju²ukov (Hrsg.), Die Folklore der Gagausen aus Bulgarien (München
2013).
Trojanow/Muhrbeck 2013
I. Trojanow/Ch. Muhrbeck, Wo Orpheus begraben liegt (München 2013).
ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ et al. 2013
ʒ. ɧˑʶʺˏ˓ʵʲ/ɪ. ɮ˕ʲʶʲˑ˓ʵ/ʃ. ʆ˕ʲˠ˓ʵ, ʃʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˑʲ ː˓˕˖ˊˆ ʶʺ˓˘ʺˠˑˆˣʺ˖ˊˆ
(GTBH) ˖˓ˑʹʲʾˆ ʵ ˔˕ˆˏʺʾʲ˧ʲ˘ʲ ʲˊʵʲ˘˓˕ˆˮ ˑʲ ː. ʆʲ˦ʲ ʹʺ˕ʺ, ˭ʾˑ˓ ˓˘ ɪʲ˕ˑʲ,
˓˖˨˧ʺ˖˘ʵʺˑˆ ʵ˨ʵ ʵ˕˨˄ˊʲ ˖ ˔˕ʺʹ˖˘˓ˮ˧˓ ˆ˄ʶ˕ʲʾʹʲˑʺ ˑʲ ʶʲ˄˓˔˕˓ʵ˓ʹ „ʟʾʺˑ
˔˓˘˓ˊ“. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ
˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 663–665.
ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ˘˓ˇˣʺʵ 2014
ɧ. ɧˏʲʹʾ˓ʵ/ʈ. ʈ˘˓ˇˣʺʵ, ɸ˄ʹˆ˕ʵʲˑˆˮ ˑʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓
ˑʲ ʲʵ˘˓ːʲʶˆ˖˘˕ʲˏʲ ʒʺː˙˖, ˙ˣʲ˖˘˨ˊ ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓-ɼʲ˖˔ˆˣʲˑ, ɼʂ 338+500 –
342+200 ˆ ˔˨˘ʺˑ ʵ˨˄ʺˏ „ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓“ ʵ ˄ʺːˏˆ˧ʲ˘ʲ ˑʲ ˖ʺˏʲ˘ʲ ʆʲˑʲˇ˓˘
274
ɪ˓ˏ˓ʵ˓ ˆ ɩʺˏ˓ˊ˓˔ˆ˘˓ʵ˓, ˓ʴ˧ˆˑʲ ʘ˙ːʺˑ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓-
ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 602.
ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ et al. 2014
ɩ. ɧ˘ʲˑʲ˖˓ʵ/ɸ. ɼ˙ˏ˓ʵ/ɮ. ɫ˓˕ˣˆˊ/ɪ. ɩˆˑʺʵʲ/ɮ. ɯ˘ˆʺ/ɼ. ɪʺˏˊ˓ʵ˖ˊˆ/ʃ. ɮˆːˆ-
˘˕˓ʵʲ/ʂ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵ/ɫ. ɮʾ˙˕ˊ˓ʵ˖ˊʲ/ʈ. ɸʵʲˑ˓ʵ/ɯ. ɸˏˆʺʵʲ/ɮ. ɼ˓˔/M. ʁʺ˔ʺˊ/ɯ.
ʂʲ˕ˆˑ˓ʵʲ/ʃ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ/ɮ. ʈ˘˓ʺʵ/ɳ. ʍ˄˙ˑ˓ʵ/ɹ. ʔʵʺ˘ʲˑ˓ʵ/ʑ. ʙ˓ˊˠʲːʺ˕,
ʆ˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ʵ ɩ˕ʺ˖˘˓, ˄ʺːˏˆ˧ʺ ˑʲ ˖. ɩʲˑˮ, ˓ʴ˧ˆˑʲ ʇʲ˄ˏ˓ʶ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et
al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014)
115–118.
ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ et al. 2013
ɼ. ɩ˨ˣʵʲ˕˓ʵ/ʃ. ʊ˓ʹ˓˕˓ʵʲ/ɪ. ʆʺ˘˕˓ʵʲ/ɫ. ɼʲˢʲ˕˓ʵ/ɮ. ɸˏˆʺʵʲ/ʃ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵʲ/ʔ.
ʆ˓˔˓ʵʲ/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ʈ. ɪˆ˘ʺ˄˓ʵˆˣ/ɼ. ʂʲˊ˖˙ˆˑˆ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ ˔˕ˆ ˖.
ʃ˓ʵʲ ʃʲʹʺʾʹʲ, ˓ʴ˧. ʒʲ˖ˊ˓ʵ˓ (˓˘ ˊː 245+280 ʹ˓ ˊː 245+420 ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ʾ˔
ˏˆˑˆˮ ʆˏ˓ʵʹˆʵ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ). In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ
˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 57–60.
ɫ˙ʲʹʺˏˆ et al. 2014
ɧ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɼ. ʂˆ˘˓ʵ, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ
ʆʲˏʺ˓ˏˆ˘ʲ ʵ ˔ʺ˧ʺ˕ʲ ʇʺʹʲˊʲ II, ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊ˓. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.),
ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 26–29.
ɮˆˑˣʺʵ 2014
ɪ. ɮˆˑˣʺʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ɳʆ ˏˆˑˆˮ˘ʲ
ʆˏ˓ʵʹˆʵ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ ʵ ˙ˣʲ˖˘˨ˊʲ ɮˆːˆ˘˕˓ʵʶ˕ʲʹ/ʒʲ˕ːʲˑˏˆ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et
al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014)
675–678.
ɸʵʲˑ˓ʵ et al. 2014
ʈ. ɸʵʲˑ˓ʵ/ɯ. ɪʲ˖ˆˏʺʵʲ/ʒ. ʈ˘˓ˮˑ˓ʵʲ/ʈ. ʈ˘˓ˇˣʺʵ, ʈ˔ʲ˖ˆ˘ʺˏˑ˓ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓
˔˕˓˙ˣʵʲˑʺ ˑʲ ˓ʴʺˊ˘ ́6, ɧʂ „ʒʺː˙˖“, ɼʂ 347+395 – ɼʂ 347+500. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ
et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014)
580–582.
ɼ˙ˏ˓ʵ 2014
ɸ. ɼ˙ˏ˓ʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˓ ˘˕ʲ˖ʺ˘˓ ˑʲ ɧʂ „ʈ˘˕˙ːʲ“, ʁʅʊ 2, ʵ
˙ˣʲ˖˘˨ˊʲ ɮ˙˔ˑˆˢʲ-ɩˏʲʶ˓ʺʵʶ˕ʲʹ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ
˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 669–670.
ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ 2014
ʆ. ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ, ɸ˄ʹˆ˕ʵʲˑˆˮ ˑʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ ʵ ʂʺʹˑˆ ˕ˆʹ. In: ʂ.
ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ
2014) 653–655.
275
ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ 2008
ɪ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ (Hrsg.), ʆ˕ʲˆ˖˘˓˕ˆˣʺ˖ˊˆ ˖˓ˏ˓ʹ˓ʴˆʵʺˑ ˢʺˑ˘˨˕ ʆ˕˓ʵʲʹˆˮ-ʈ˓ˏˑˆ-
ˢʲ˘ʲ. ʇʲ˄ˊ˓˔ˊˆ 2005–2007 ʶ (ʈ˓˟ˆˮ 2008).
ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ et al. 2014
ɪ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/ɪ. ʆʺ˘˕˓ʵʲ/ʊ. ʒ˕ˆ˖˘˓ʵʲ/ʆ. ʁʺ˧ʲˊ˓ʵ, ʆ˕ʲ- ˆ ˔˕˓˘˓ˆ˖˘˓˕ˆˣʺ˖ˊˆ
˓ʴ˕ʺʹʺˑ ˊ˓ː˔ˏʺˊ˖ ʵ ː. ʒʲ˙˄ʲ ˊ˕ʲˇ ɼʲ˔ˆ˘ʲˑ ɧˑʹ˕ʺʺʵ˓, ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ˖ˊ˓. ʊ˕ʲ˖ʺ
ˑʲ Via Diagonalis. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ
˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 68–70.
ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ 2014
ɫ. ʃʺˠ˕ˆ˄˓ʵ, ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊ˓ ˑʲʴˏ˭ʹʺˑˆʺ ˔˕ˆ ˕ʺˊ˓ˑ˖˘˕˙ˊˢˆˮ ˑʲ ɳʆ ˏˆˑˆ-
ˮ˘ʲ ʒʲ˕ːʲˑˏˆ-ʈʵˆˏʺˑʶ˕ʲʹ ˆ ˓ʴʺˊ˘ˆ 22 ˆ 33. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.),
ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 678–679.
ʆ˓˔˓ʵ/ɼ. ʃˆˊ˓ʵ 2014
ʒ. ʆ˓˔˓ʵ/ɼ. ʃˆˊ˓ʵ, ʈ˔ʲ˖ˆ˘ʺˏˑˆ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˔˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˄ˏʲ˘˓-
ʹ˓ʴˆʵʺˑ ˕˙ʹˑˆˊ ˓˘ ɼ˨˖ˑʲ˘ʲ ɩ˕˓ˑ˄˓ʵʲ ɯ˔˓ˠʲ, ɧʹʲ ʊʺ˔ʺ, ˓ʴ˧ˆˑʲ ɼ˕˙ː˓ʵʶ˕ʲʹ.
In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013
(ʈ˓˟ˆˮ 2014) 118–121.
ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014a
ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʈ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵʲ/ʑ. ʑʺ˕ˑʲˑʹʺ˄/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ɪ. ʂˆ˘ʺʵʲ/
ɧ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɸ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵʲ/ʇ. ʈ˔ʲ˖˓ʵ/ʆ. ʆ˙˦ʺʵʲ/ʆ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/
ɶ. ʒ˙ʴʺˑ˓ʵ/ɳ. ʠˑʲˊˆʺʵʲ, ʊʺ˕ʺˑˑˆ ˔˕˓˙ˣʵʲˑˆˮ ˑʲ ˓ʴʺˊ˘ ɼ˓˄ʲ˕ˑˆˊʲ: ɼ˨˖ˑ˓-
˔ʲˏʺ˓ˏˆ˘ˑˆ ˔ʺ˧ʺ˕ˑˆ ˓ʴˆ˘ʲˏˆ˧ʲ ʵ ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊˆˮ ˊʲ˕˖˘. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et
al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014a)
23–25.
ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ et al. 2014b
ʃ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵ/ɳ.-ʁ. ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ʈ. ʈˆ˕ʲˊ˓ʵʲ/ʑ. ʑʺ˕ˑʲˑʹʺ˄/ʈ. ʊʲˑʺʵʲ/ɪ. ʂˆ˘ʺʵʲ/ɧ.
ɫ˙ʲʹʺˏˆ/ɸ. ɼ˕˙ː˓ʵ/ɸ. ɮˆːˆ˘˕˓ʵʲ/ʇ. ʈ˔ʲ˖˓ʵ/ʆ. ʆ˙˦ʺʵʲ/ʆ. ʃˆˊ˓ˏ˓ʵ/ɶ. ʒ˙-
ʴʺˑ˓ʵ/ɳ. ʠˑʲˊˆʺʵʲ, ɼ˓˄ʲ˕ˑˆˊʲ: ɼ˨˖ˑ˓˔ʲˏʺ˓ˏˆ˘ˑˆ ˔ʺ˧ʺ˕ˑˆ ˓ʴˆ˘ʲˏˆ˧ʲ ʵ
ɩʺˏ˓ʶ˕ʲʹˣˆ˦ˊˆˮ ˊʲ˕˖˘. In: ʁ. ɪʲʶʲˏˆˑ˖ˊˆ, ɩ˨ˏʶʲ˕˖ˊʲ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˮ 2013. ɼʲ˘ʲ-
ˏ˓ʶ ˊ˨ː ˆ˄ˏ˓ʾʴʲ˘ʲ (ʈ˓˟ˆˮ 2014b) 4–5.
ʈˏʲʵˣʺʵ 2014
ɪ. ʈˏʲʵˣʺʵ, ʆ˕˓˙ˣʵʲˑʺ ˑʲ ˠʲˏˊ˓ˏˆ˘ˑ˓ ˖ʺˏˆ˧ʺ ʵ ː. ɼ˓˕ˆˮ˘ʲ ˊ˕ʲˇ ʶ˕. ʈ˙-
ʵ˓˕˓ʵ˓, ˓ʴˏʲ˖˘ ɪʲ˕ˑʲ. In: ʂ. ɫ˭˕˓ʵʲ et al. (Hrsg.), ɧ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˣʺ˖ˊˆ ˓˘ˊ˕ˆ˘ˆˮ
ˆ ˕ʲ˄ˊ˓˔ˊˆ ˔˕ʺ˄ 2013 (ʈ˓˟ˆˮ 2014) 76–79.
ʊ˓ˑˊ˓ʵ 2013
ʃ. ʊ˓ˑˊ˓ʵ, ɫʺ˓˟ˆ˄ˆˣˑˆ ːʺ˘˓ʹˆ ʵ ʲ˕ˠʺ˓ˏ˓ʶˆˮ˘ʲ (ʈ˓˟ˆˮ 2013).
Personalia und Aktuelles
279
Dietmar Endler
Norbert Randow zum Gedächtnis
Am 1. Oktober 2013 verstarb in Berlin der Slavist Norbert Randow, einer
der besten Kenner und bedeutendsten Vermittler bulgarischer Literatur im
deutschen Sprachraum.
Norbert Randow wurde am 27. November 1929 in Strelitz-Alt geboren.
Er studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Slavistik und absol-
vierte einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Bulgarien. Als wissen-
schaftlicher Assistent am Slavischen Institut der Humboldt-Universität galt
eine seiner ersten Forschungsarbeiten – programmatisch für das eigene
spätere Wirken – dem Slavenfreund Georg Adam (1874–1948), dem ersten
wichtigen Mittler slavischer Literaturen und besonders der bulgarischen
Literatur in Deutschland. Problemen der Rezeption sind auch spätere wis-
senschaftliche Untersuchungen gewidmet. Im Jahre 1962 wurde Randow
wegen „Beihilfe zur Republikflucht“ für drei Jahre inhaftiert. Seit Mitte der
1970er Jahre weilte er fast jährlich zu Studienaufenthalten in Bulgarien,
die ihm die Bulgarische Akademie der Wissenschaften ermöglichte. 1993
wurde er als Gastprofessor an die Humboldt-Universität berufen.
Den Goetheschen Begriff der Weltliteratur als Aufforderung an die
Übersetzer begreifend, ließ sich der Herausgeber und Übersetzer Randow
von dem Bestreben leiten, dem deutschsprachigen Leser alles Gute aus der
bulgarischen Literatur zu erschließen. Er brachte mehr als 20 bulgarische
Titel heraus, zugleich regte er zu Übersetzungen an, stand im Gedanken-
austausch mit anderen „Brückenbauern“ seiner Generation, mit Hartmuth
Herboth und Egon Hartmann, denen er in seiner Dankesrede anlässlich der
Auszeichnung mit dem Leipziger Buchpreis 2001 gedachte.
Die von Randow aus dem Altbulgarischen übertragenen und 1972 edier-
ten Pannonischen Legenden, die auf das 10. Jahrhundert zurückgehen, sowie
die für Bulgarien kulturhistorisch wegweisenden Werke Slawobulgarische
Geschichte (dt. 1984) von Paissi von Chilendar aus dem 18. Jahrhundert und
Leben und Leiden des sündigen Sofroni von Wraza (dt. 1972) aus dem beginnen-
den 19. Jahrhundert, beeindrucken mit einer beispielhaft sorgfältigen Über-
setzung sowie mit fundierten und auch sprachlich exzellenten wissenschaf-
tlichen Nachworten und Kommentaren. Norbert Randow ist die sprach-
liche Gestaltung der deutschen Ausgabe des Romans Unter dem Joch (1957)
zu danken, zu dessen zweiter Ausgabe 1967 er zudem ein Nachwort bei-
trug. Zum Bleibenden gehört die deutschsprachige Ausgabe der Fragmente
280
von Atanas Daltschew, der Gedichte von Pejo Jaworow. Norbert Randow
verdanken wir gediegene Anthologien, die Eckpfeiler in der Rezeptions-
geschichte bilden – Bulgarische Erzähler (1961), Bulgarische Erzählungen des
20. Jahrhunderts (1996) und Eurydike singt. Neue Bulgarische Lyrik (1999).
Nicht zu vergessen ist der Spruchbeutel Mach dich nicht zum Gürtel fremder
Hosen (1978).
Neben seinen bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiete der bul-
garischen Literatur und ihrer Erschließung für den deutschsprachigen
Leser, war und bleibt überaus verdienstvoll auch Randows Wirken für die
Vermittlung der weißrussischen Literatur in Deutschland, so mit der Über-
setzung und Herausgabe der Anthologie Störche über den Sümpfen (1971)
und Die junge Eiche (1987).
Norbert Randow wurde mit mehreren hohen Auszeichnungen in Bul-
garien und mit dem Bundesverdienstkreuz in Deutschland geehrt. Die
„Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Bulgarien“, deren Präsidiums- und Ehrenmitglied
er viele Jahre war, widmete ihm anlässlich seines 80. Geburtstages den
Band Kontinuität gegen Widerwärtigkeit. Gerne und dankbar erinnert sich die
Deutsch-Bulgarische Gesellschaft an viele anregende Begegnungen mit
Norbert Randow, der wiederholt seine Forschungsergebnisse und neuen
Veröffentlichungen in Berlin vorstellte.
281
Sigrun Comati
In memoriam Dr. Kiril Kostov
22. Februar 1921 – 17. September 2013
Kiril Kostov wurde am 22. Februar 1921 in Sofia geboren. Bereits während
seiner Schulzeit wurde sein Interesse am Erlernen von Fremdsprachen
geweckt, wobei ihm seine außergewöhnliche Sprachbegabung von großem
Nutzen war. In seiner Schulzeit am Gymnasium in Sofia reifte sein Ent-
schluss, sich dem Studium der Sprachen zu widmen. Ihn faszinierten
Sprachen, und zwar in all ihren Facetten, nicht nur die Literatursprache,
sondern er betrachtete alle Dialekte und regionalen Besonderheiten einer
Sprache, ihre Berufs- und Geheimsprachen mit der gleichen Akribie. Er
studierte Klassische und Deutsche Philologie an der Universität „Sv. Kli-
ment Ohridski“ in Sofia. Dabei erwarb er fundierte Kenntnisse auf dem
Gebiet der lateinischen, altbulgarischen, altgriechischen, neugriechischen,
und selbstverständlich der deutschen Sprache, und widmete sich auch
intensiv der Erforschung von bulgarischen Dialekten und dem Studium
der Balkansprachen. Er besuchte die Vorlesungen der bekannten bulgari-
schen Geisteswissenschaftler M. Arnaudov, V. Georgiev, D. De²ev und St.
Mladenov. Während des Studiums hatte er im Jahr 1943 die Möglichkeit,
für ein Semester die ungarische Sprache in Budapest zu erlernen. Im Jahr
1946 schloss er sein Studium in Sofia ab. Seine berufliche Tätigkeit begann
1946 in der Nationalbibliothek „Sv.sv. Kiril i Metodij“ in Sofia, wo er bis
1953 als Bibliothekar tätig war. Während dieser Zeit hatte Kiril Kostov
unter anderem die Möglichkeit, alte Handschriften und Schriftdenkmäler
der Balkansprachen zu sichten und darüber erste wissenschaftliche Mit-
teilungen zu verfassen.1
Danach schlug Kiril Kostov die wissenschaftliche Laufbahn als Sprach-
wissenschaftler ein. Im Jahre 1953 nahm er seine Arbeit am Institut für bul-
garische Sprache an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften auf.
Dort begann er als Dialektologe an der Sektion für bulgarische Dialekto-
logie unter der Leitung von Professor Stojko Stojkov (1912 – 1969), dessen
erster und engster Mitarbeiter er wurde.
Ab 1960 wirkte Kostov in der Sektion für indoeuropäische und Balkan-
sprachen an diesem Institut. Von dieser Zeit an beschäftigte er sich ein-
1 Die Verfasserin dankt der Ehefrau Kiril Kostovs, Frau Marta Kostov, für die freund-
liche Unterstützung bei den Recherchearbeiten und Nachfragen zu diesem Beitrag.
282
gehend mit Berufs- und Geheimsprachen im Bulgarischen (Kostov 1961)
und interessierte sich besonders für die Sprache der Roma in Bulgarien
(Kostov 1962). Über die „Zigeunersprache“ gab es in Bulgarien bis dahin
noch keine umfassende wissenschaftliche Betrachtung. Es waren nur einige
Erwähnungen dieser Sprache(n) in der wissenschaftlichen Literatur vor-
handen. Doch seine Publikationen zu diesem Thema brachten Licht in
dieses Gebiet. Kiril Kostov war ein Sprachwissenschaftler, den die Sprache
als Gesamterscheinung interessierte. Seine humanistische Bildung, auf der
er seine Studien aufbauen konnte, und sein hohes Interesse an allen
Sprachen und Dialekten, die in Bulgarien von den verschiedenen Be-
völkerungsgruppen gesprochen wurden und werden, von den kleinsten,
akribisch untersuchten Lautverschiebungen in Dialekten bis hin zu den
größeren Resultaten dieser Prozesse, die sich sprachgeschichtlich beson-
ders im Analytismus des Bulgarischen niederschlugen, all das waren seine
Interessengebiete, diejenigen Felder, auf denen er beispielgebend tätig war.
Er war ein Geisteswissenschaftler, der für eine ganzheitliche Betrachtung
der Sprachen eintrat. Durch seine Kenntnisse der deutschen Sprache und
Literatur eröffneten sich ihm Möglichkeiten, seine Forschungsergebnisse
über die Balkansprachen hinaus auch deutschen Wissenschaftlern vorzu-
stellen und vor allen Dingen, mit ihnen in regen Austausch zu treten und
eine intensive Zusammenarbeit zu beginnen, wie zahlreiche seiner Publi-
kationen belegen.
Seine Dissertation über die Grammatik der Zigeunersprache Bulgariens
verteidigte er im Jahre 1963 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Diese
Arbeit beleuchtet sowohl die Phonetik, als auch die Morphologie dieser
Sprache und gilt bis heute als wichtiges Nachschlagewerk für die Sprache
der bulgarischen Roma. Allein zu diesem Thema verfasste Kostov fünfzehn
Beiträge, die in sprachwissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen sind.
Eine hervorzuhebende Publikation auf diesem Gebiet ist das 2004 er-
schienene Werk ʇ˓ː˖ˊʲ ʶ˕ʲːʲ˘ˆˊʲ ʵ˨˄ ˓˖ˑ˓ʵʲ ˑʲ ʺ˕ˏˆˇ˖ˊˆˮ ˕˓ː˖ˊˆ ʶ˓ʵ˓˕ ʵ
ʈ˓˟ˆˮ, welches er gemeinsam mit Dimit©r Iliev verfasste.
Kiril Kostov vertiefte seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Balkanologie
und seine Publikationen brachten dank seiner scharfsinnigen Beobach-
tungsgabe viele neue, verblüffende Denkanstöße in manch festgefahrene
Anschauungen der Sprachwissenschaft.
Auch in der Lehre war Kiril Kostov erfolgreich tätig, so wirkte er 1965
und 1968 als Gastdozent an der Universität in Erlangen.
Seine wissenschaftliche Laufbahn führte ihn ab 1969 in das Zentral-
institut für Sprachwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der
DDR in Berlin, wo er bis zu seiner Pensionierung tätig war. Seinen For-
schungsschwerpunkten zur grammatischen Struktur der Balkansprachen
283
auf den Gebieten der Morphologie und Syntax im historischen Aspekt
unter Berücksichtigung regionaler Varianten der bulgarischen Sprache,
konnte er weiterhin größte Aufmerksamkeit schenken. Die Liste der Publi-
kationen von Kiril Kostov, der auch nach seiner Pensionierung weiter
sprachwissenschaftlich tätig war und publizierte, ist eindrucksvoll, weil er
wichtige linguistische Beobachtungen zum sprachlichen Analytismus zu
Papier brachte. Auch die Anzahl der über sechzig von ihm verfassten
Rezensionen zu wissenschaftlichen Werken wirft ein weiteres Schlaglicht
auf seine Tätigkeit.
Ein anderes Lebenswerk Kiril Kostovs, das in diesem Zusammenhang
erwähnt werden sollte, ist die Bearbeitung und Herausgabe der Brevis
Grammatica Bulgarica von Andreas Pásztory aus dem Jahre 1856 (Pásztory
2013). In seiner Zeit als Bibliothekar an der Nationalbibliothek in Sofia stieß
er auf diese in lateinischer Sprache geschriebene, handschriftlich verfasste
Grammatik. Dieses Werk interessierte ihn ganz besonders. Bemerkenswert
ist hierbei, dass die bulgarische Sprache in lateinischer Schrift wieder-
gegeben ist, und zwar so, wie Pásztory sie in den 50er Jahren des 19. Jahr-
hunderts im Dialekt der Region um Plovdiv gehört und erlernt hatte.
Gemeinsam mit dem kenntnisreichen Slavisten und Germanisten Prof. Dr.
Dr. h.c. Klaus Steinke nahm Kiril Kostov die Arbeit an diesem Werk auf.
Sie übersetzten die Grammatik ins Bulgarische und ins Deutsche und ver-
sahen den Text mit zahlreichen Kommentaren, die dem heutigen Leser Zu-
gang und Verständnis ermöglichten. Damit wurde er auch Sprachwissen-
schaftlern außerhalb Bulgariens zugänglich gemacht. Die Verfasserin die-
ses Beitrags konnte einen Anteil an diesem Werk leisten und dabei einen
weiteren Einblick in Kiril Kostovs und Klaus Steinkes interessante For-
schungsarbeit gewinnen. Dass die Herausgabe dieses Werkes als Faksimile
mit Übersetzung und Kommentaren erst im Jahre 2013 in der Reihe „Bul-
garischen Bibliothek begründet von Gustav Weigand“ erfolgte, lag an den
vielen Unterbrechungen der gemeinsamen Arbeit, die unter anderem auch
von zahlreichen technischen Schwierigkeiten begleitet war, die es zu mei-
stern galt.
Die Bulgarische Akademie der Wissenschaften ehrte Kiril Kostov im
Jahr 2002 mit dem Orden „Marin Drinov“, der ihm aufgrund seiner außer-
ordentlichen Verdienste auf dem Gebiet der bulgarischen Sprachwissen-
schaft und für die Popularisierung der bulgarischen Wissenschaft im Aus-
land verliehen wurde.
Im Kollegenkreis war Kiril Kostov als äußerst belesener und kenntnis-
reicher, dabei aber bescheidener Wissenschaftler bekannt. Seine Hilfs-
bereitschaft, seine lehrreichen Konsultationen zu linguistischen Themen
und seine interessante Art, Diskussionen zu beleben, bleiben der Ver-
284
fasserin in dankbarer Erinnerung. Die Mitglieder der Deutsch-Bulgarischen
Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und
Bulgarien e.V., deren aktives und geschätztes Mitglied Kiril Kostov lange
Jahre war, werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Literatur
Kostov 1961
K. Kostov, Deutsche Lehnwörter in der Berufssprache der bulgarischen Tischler.
Zeitschrift für Slawistik 6.1, 1961, 61–68.
Kostov 1962
K. Kostov, Aus der Syntax der Zigeunersprache Bulgariens. Linguistique Balka-
nique/ɩʲˏˊʲˑ˖ˊ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 4.2, 1962, 131–146.
Pásztory 2013
A. Pásztory, Brevis Grammatica Bulgarica. Herausgegeben von K. Kostov/K.
Steinke mit einem Nachwort von Sigrun Comati. Bulgarische Bibliothek begründet
von Gustav Weigand 19 (München 2013).
Vel²eva/Choliol²ev 2006
B. Vel²eva/Ch. Choliol²ev, Dr. Kiril Kostov – 55 Jahre im Dienste der Sprachwis-
senschaft, Linguistique Balkanique/ɩʲˏˊʲˑ˖ˊ˓ ʺ˄ˆˊ˓˄ˑʲˑˆʺ 45.2, 2006, 195–202.
285
Sigrun Comati
Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress
vom 23. – 26. Mai 2013 in Sofia
Ein I. Internationaler Bulgaristik-Kongress fand vom 23. Mai – 06. Juni 1981
in Sofia anlässlich der groß angelegten Feierlichkeiten zum 1300-jährigen
Jubiläum der Gründung des bulgarischen Staates im Jahre 681 statt. Dieser
Kongress stand damals unter der Schirmherrschaft der bulgarischen
Regierung und ganz besonders unter der Obhut von Ljudmila Živkova
(1942–1981), der Tochter Todor Živkovs (1911–1998), dem damaligen Vor-
sitzenden der Bulgarischen Kommunistischen Partei, dem auch gleichzeitig
die Funktion des Staatsoberhauptes oblag. Ljudmila Živkova war Histori-
kerin, ihre Arbeiten beleuchteten besonders die Thrakologie und das thra-
kische Erbe auf dem Territorium Bulgariens. Sie war als Regierungs-
mitglied Bulgariens für die Kulturpolitik zuständig. Ihre Bestrebungen
waren darauf gerichtet, Bulgariens reiches Kulturerbe international be-
kannt zu machen. Dieser Kongress fand weltweite Beachtung und wurde
von der UNESCO unterstützt.
Bulgarien lud zu diesem I. Internationalen Bulgaristik-Kongress nam-
hafte Wissenschaftler nach Sofia ein, die Bulgarien, seine Geschichte, Kul-
tur, Sprache, Literatur und seine Traditionen erforschten. In der Sofioter
Universität „St. Kliment Ohridski“ fanden die Vorträge und Diskussionen
statt, während das Rahmenprogramm dieses Kongresses, bis hin zum
Empfang in der Regierungsresidenz im Sofioter Stadtteil Bojana, allen
Teilnehmenden auf Exkursionen die Möglichkeit bot, vor allen Dingen
Bulgariens Geschichte zu begegnen. Der Lehrstuhl für Bulgarische Philo-
logie der Sofioter Universität trug neben der Präsentation der wissen-
schaftlichen Vorträge auch sehr viel zum organisatorischen Gelingen
dieses Ereignisses bei. Die Beiträge dieses Kongresses umfassten fünfund-
zwanzig Bände, sie wurden vom Verlag der Bulgarischen Akademie der
Wissenschaften herausgegeben. Dass dieser Kongress für den bulgarischen
Staat ein großer Erfolg war, ist unzweifelhaft. Doch mit diesem Ereignis
waren natürlich auch hohe Kosten für das Gastgeberland verbunden.
Fünf Jahre später, im Mai 1986, lud Bulgarien zum II. Internationalen
Bulgaristik-Kongress ein, der allerdings nicht ganz so groß wie der I.
Internationale Bulgaristik-Kongress angelegt war. Die Beiträge dieses Kon-
gresses erschienen wiederum in Bulgarien, ein kleiner Teil davon aber auch
286
in Deutschland.1 In den Jahren nach 1986 traten große Veränderungen in
Bulgariens Politik und Wirtschaft ein, die Ende 1989 in der „Wende“
gipfelten.
Bulgariens demokratischer Neubeginn hinterließ auf allen Ebenen der
bulgarischen Gesellschaft spürbare Veränderungen. Ein Neuanfang in
Politik, Wirtschaft, Recht und Bildung erforderte Reformen, deren Durch-
führung von zahlreichen Problemen begleitet war. Wirtschafts- und Finanz-
krisen erschwerten sowohl dem bulgarischen Staat als auch dem bulga-
rischen Bildungssystem in den Jahren nach der Wende die stringente
Durchführung größerer Vorhaben. Deshalb ist es nicht verwunderlich,
dass Bulgarien über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten nicht in der
Lage war, zu einem weiteren Internationalen Bulgaristik-Kongress ein-
zuladen.
Der III. Internationale Bulgaristik-Kongress
Umso größer war die Freude unter allen ausländischen Wissenschaftlern,
die den bulgarischen Kolleginnen und Kollegen auch in den schwierigen
Zeiten nach der Wende zugetan waren und die Kooperation mit ihnen
nicht vernachlässigten, als im Jahr 2012 dann die Einladung zum III. Inter-
nationalen Bulgaristik-Kongress in Sofia erging.
Dieser Kongress stand unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der
Republik Bulgarien und wurde, wie die beiden ersten Kongresse, ebenfalls
von der UNESCO unterstützt. Auch der III. Internationale Bulgaristik-Kon-
gress tagte wieder in den Sälen der Sofioter Universität, die 2013 außerdem
ihr 125-jähriges Gründungsjubiläum feierte. Die Historische Fakultät der
Sofioter Universität war mit den organisatorischen Aufgaben und der
Programmgestaltung betraut, dafür sei ihr großer Dank ausgesprochen.
Vom 23. – 26. Mai 2013 tagten rund 500 Wissenschaftler, unter ihnen 100
ausländische Teilnehmende, die aus 34 Staaten angereist waren und ins-
gesamt 130 Universitäten oder Institutionen vertraten. Die feierliche Eröff-
nung des Kongresses fand im Foyer der Sofioter Universität statt, begleitet
von einer interessanten Ausstellung zur bulgarischen Geschichte und
Kulturgeschichte, dargeboten von Professor Anna-Maria Totomanova und
Gergina Ton²eva.
In vier großen Sektionen wurden auf den Fachgebieten: I. Geschichte und
Archäologie, II. Sprache, III. Literatur und IV. Gesellschaft und Kultur rund 500
Vorträge gehalten und rege diskutiert. Auch die Kulturwissenschaften, wie
Ethnologie, Folklore, Kunstwissenschaften, Anthropologie und Soziologie,
1 Gesemann/Haralampieff/Schaller 1986.
287
waren facettenreich vertreten. All diese Vorträge behandelten originäre
bulgaristische Themen, stellten die neuesten Forschungsergebnisse auf den
genannten Gebieten dar oder präsentierten interessante vergleichende Stu-
dien. Außerdem fanden sechs Rundtischgespräche zu folgenden Themen
statt: Vergangenheit und Gegenwart der Bulgaristik, Wissenschaft und Bildung
in Bulgarien, Die Bulgaren und die Globalisierung, Bulgarien und die UNESCO,
Kyrillo-Methodiävistik, und ein Exkurs zur Digitalisierung des bulgarischen
Kulturerbes, wobei besonders auf die neuen multimedialen Möglichkeiten
eingegangen wurde.
Natürlich ist es in dieser kurzen Schilderung nicht möglich, alle wirklich
interessanten und sehenswerten Fotoausstellungen, Gemäldeausstellungen
und Präsentationen zeitgenössischer bulgarischer Künstler zu nennen, die
das Begleitprogramm des III. Internationalen Bulgaristik-Kongresses um
eine Reihe kultureller Höhepunkte bereicherten. Erinnert sei in diesem Zu-
sammenhang an die feierliche Zeremonie am 24. Mai, dem Tag des slavi-
schen Schrifttums, in der Aula der Sofioter Universität, als die Kandidatur
Sofias für die „Kulturhauptstadt Europas 2019“ vorgestellt wurde.
Buchvorstellungen herausragender Neuerscheinungen fanden während
des Kongresses täglich statt. Die Deutsch-BulgarischeGesellschaft zur För-
derung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Deutschland e.V. hatte
im Vorfeld des III. Internationalen Bulgaristik-Kongresses beschlossen, die-
sem Kongress einen Band zu widmen, um dem internationalen Publikum
dieses Kongresses sowohl Berichte und aktuelle Einblicke zum Forschungs-
stand der Bulgaristik in Deutschland als auch Bibliographien auf diesem
Gebiet zu vermitteln. Aus diesem Anlass wurde von drei Mitgliedern der
Gesellschaft, Helmut Schaller, Thede Kahl und Sigrun Comati, die neue
wissenschaftliche Reihe Forum: Bulgarien im Verlag Frank & Timme in
Berlin gegründet (Schaller/Zlatanova 2013). Ein besonderer Dank geht an
dieses Verlagshaus für die zügige Umsetzung des Vorhabens. Der erste
Band dieser Reihe wurde am 23. Mai 2013 anlässlich eines Empfangs der
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland zum III. Internationalen Bulga-
ristik-Kongress von Sigrun Comati vorgestellt und an den Wissenschafts-
referenten der Deutschen Botschaft Sofia, Herrn Jörg Schenk, überreicht.
Am 25. Mai 2013 wurde dieser Band in der Aula der Sofioter Universität
von Rumjana Zlatanova und Helmut Schaller vorgestellt. Die Kongresstage
boten auch außerhalb der Auditorien viele Möglichkeiten für einen regen
Dialog aller Teilnehmenden, der auch an den gut organisierten Abend-
veranstaltungen fortgesetzt wurde.
Weitere Informationen zu diesem wichtigen Ereignis für Bulgarien und
die Bulgaristik stellten die Veranstalter unter http://bulgarianstudies.org/ zur
Verfügung. Die Publikation der mehr als 500 Beiträge soll nicht in der
288
traditionellen Buchform erfolgen, sondern auf multimediale Weise zugäng-
lich gemacht werden. Den Organisatoren und Veranstaltern gebührt ein
großes Lob und natürlich der aufrichtige Dank, besonders aller ausländi-
schen Teilnehmenden. Sie nehmen diesen III. Internationalen Bulgaristik-
Kongress als Ansporn für ihre weiteren Studien und die Zusammenarbeit
mit bulgarischen Kolleginnen und Kollegen. Das Organisationskomitee trat
auf der Abschlussveranstaltung dafür ein, die internationalen Bulgaristik-
Kongresse nun wieder regelmäßig stattfinden zu lassen.
Literatur
Gesemann/Haralampieff 1986
W. Gesemann/K. Haralampieff/H. Schaller, Einundzwanzig Beiträge zum II. Inter-
nationalen Bulgaristik-Kongress in Sofia 1986 (Neuried 1986).
Schaller/Zlatanova 2013
H. Schaller/R. Zlatanova (Hrsg.), Deutsch-Bulgarischer Kultur- und Wissenschafts-
transfer. Mit Bibliographien zur „Bulgaristik in Deutschland“ und zur „Glagolica
des Slavenlehrers Konstantin-Kyrill“. Forum Bulgarien 1 (Berlin 2013).
Serving libraries since 1947
KUBON & SAGNER
ISBN: 978-3-86688-540-0
ISBN (eBook): 978-3-86688-541-7
Verlag Otto Sagner
Worldwide Distributor:
Verlag Otto Sagner Digital