Studiert die Kybernetik!« Mit diesem Appell hob 1977 eine Einführung in die Kyber-netik für junge Leser an. 1 Es sollte einer der letzten emphatischen Aufrufe bleiben, denn Mitte der 70er Jahre war, nach gut 25 Jahren, die erste Begeisterungswelle der Kybernetik zum Erliegen gekommen. Was immer die unterschiedlichen Gründe gewesen sein mögen (politische Mißliebigkeit oder ausbleibende Institutionalisierung, Selbstüberschätzung oder schlichte Ausdifferenzierung): Die Zeit, in der Kybernetik noch mit »K« geschrieben wurde, war zu Ende gegangen. 2 Mit »C« geschrieben kehrte sie in den 80er und frühen 90er Jahren in der allfälligen Rede von Cyborgs und Cyberpunk, Cyberspace oder Cyberculture zurück – nicht zuletzt in der Populärkul-tur, deren Sache sie teilweise schon immer war. Heute erscheint der Cyber-Hype jener Zeit wie ein modisches Kleidungsstück von gestern, und die Schamschwelle, es zu tragen, liegt allemal niedrig. Im Kontrast zu den Wiedergängern (oder der Farce) des ›Cyber« gewinnt jedoch zugleich die frühe Zeit der Kybernetik wieder an Glanz und Größe. Nach 50 Jahren wird nicht nur die Radikalität einer epistemischen Erschütterung in ihren historischen Bedingungen prägnanter, sondern ist auch jene Schwelle erreicht, an der sich üblicherweise der Sprung vom ›kommunikativen‹ ins ›kollektive‹ Gedächtnis ereignet. Kein Wunder also, daß die Erinnerung der Kyberne-tik derzeit Konjunktur hat. Es ist an der Zeit, ihre Archive zu rekonstruieren und ihre Geschichte(n) zu schreiben, und man wird sich fragen müssen, wie sie zu schreiben sein könnten. * Gleichwohl die historischen Stränge der Kybernetik unterschiedlich tief in die Ge-schichte zurückreichen, 3 sind die hier vorliegenden ›Macy-Konferenzen‹ ihr modernes Gründungsdokument. Zwischen 1946 und 1948 noch unter dem umständlichen Titel Circular Causal, and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems abgehalten, heißen sie ab 1949 nur noch programmatisch Cybernetics . Gefördert von der eher auf medizinische Fragestellungen ausgerichteten Josiah Macy, Jr. Foundation , betreut von Frank Fremont-Smith (der nicht umsonst den Spitznamen ›Mr. Interdisciplinary Con-ference‹ trug) und wissenschaftlich beraten und moderiert von Warren S. McCulloch verlängerten sie die während des Zweiten Weltkriegs gesetzten Standards interdiszipli-närer Forschergruppen in die beginnende Epoche des Kalten Krieges. So sehr man am Erfolg dieses Dialogs im Detail zweifeln mag, dessen Möglichkeiten und Grenzen – etwa in der Frage der Gruppenkommunikation, im Verhältnis zwischen europäischen und amerikanischen Wissenschaftstraditionen oder anhand der To Whom It May Con-cern -Messages 4 – auf den Konferenzen selbst immer wieder problematisiert werden, so 1 Viktor Pekelis, Kleine Enzyklopädie von der großen Kybernetik , Berlin (Ost) 1977, S. 10 (russische Erstaus-gabe 1973). 2 Die folgenden Ausführungen beziehen sich – dem Erscheinungsort dieser Ausgabe angemessen – stark auf die deutschsprachige Rezeption. Vgl. zur Periodisierung auch N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics , Chicago/London 1999, S. 15ff. und S. 50-83. W.A. Rosenblith berichtete dem erstaunten Auditorium des »Brennpunkt Kybernetik« an der TU Berlin schon 1965, daß sich in den USA niemand mehr »Cyberneticist« nennen möge, seit zu Viele auf den »cybernetic bandwagon« aufgesprungen seien (vgl. Hans Lenk, Philosophie im technologischen Zeit-alter , Stuttgart 1971, S. 72). 3 Vgl. den Beitrag von Joseph Vogl in diesem Band. 4 Vgl. den Beitrag von Erhard Schüttpelz in diesem Band.