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Abstract

In diesem Werkstattbericht beschreiben wir die Hintergründe und die Erfahrungen mit einem inter- disziplinären Forschungsseminar an der Technischen Universität München (TUM). In diesem überfachlichen Seminar haben wir eine interdisziplinäre Lern- und Forschungsumgebung für Studierende unterschiedlicher Fakultäten geschaffen, innerhalb der sie gegebene Projekte in interdisziplinären Teams bearbeiten. In mehreren Phasen haben die Studierenden Problemstellung und Lösungskonzepte selbstständig herausgearbeitet und diese prototypisch umgesetzt. Begleitet wurden die Studieren- den durch Lehrende aus unterschiedlichen Fakultäten und externe Trainern. Statt Interdisziplinarität in eigens dafür entwickelten Seminaren zu thematisieren, haben wir Interdisziplinarität im Kontext realistischer Forschungsprojekte vorgelebt und erleben lassen. Durch dieses Erleben und die professionell unterstützte Reflexion auf Metaebene werden den Studierenden wertvolle Schlüsselkompetenzen für ihr zukünftiges Berufsleben in einer Intensität vermittelt, die konventionelle Seminare so nicht erzeugen können.
E 1.11
Einordnung des Beitrags auf der Webseite und für die weitere Nutzung des Loseblattwerks
Signatur: E 1.11
Hauptkapitel E: Veranstaltungsformen / Unterkapitel E 1: Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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Das interdisziplinäre Forschungsseminar
Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt INDISNET
Thomas Clavel Daniel Mendez Jochen Schmid Silvia Kolossa Linda Matzke
In diesem Werkstattbericht beschreiben wir die Hintergründe und die Erfahrungen mit einem inter-
disziplinären Forschungsseminar an der Technischen Universität München (TUM). In diesem über-
fachlichen Seminar haben wir eine interdisziplinäre Lern- und Forschungsumgebung für Studierende
unterschiedlicher Fakultäten geschaffen, innerhalb der sie gegebene Projekte in interdisziplinären
Teams bearbeiten. In mehreren Phasen haben die Studierenden Problemstellung und Lösungskonzep-
te selbstständig herausgearbeitet und diese prototypisch umgesetzt. Begleitet wurden die Studieren-
den durch Lehrende aus unterschiedlichen Fakultäten und externe Trainern. Statt Interdisziplinarität
in eigens dafür entwickelten Seminaren zu thematisieren, haben wir Interdisziplinarität im Kontext
realistischer Forschungsprojekte vorgelebt und erleben lassen. Durch dieses Erleben und die professi-
onell unterstützte Reflexion auf Metaebene werden den Studierenden wertvolle Schlüsselkompeten-
zen für ihr zukünftiges Berufsleben in einer Intensität vermittelt, die konventionelle Seminare so nicht
erzeugen können.
Gliederung Seite
1. Hintergrund und Motivation 84
2. Das INDISNET-Seminarkonzept 85
3. Auswertung und Erfahrung 89
3.1 Auswahl der Seminarinhalte 89
3.2 Einbettung in die Curricula 89
3.3 Zusammensetzung der Teams 91
3.4 Feedback der Studierenden 91
4. Zusammenfassung und Ausblick 93
E 1.11 Veranstaltungsformen
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
84 NHHL 3 72 15 10
1. Hintergrund und Motivation
Wenn man heutige Studierende fragt, wo Sie sich in zehn Jahren se-
hen, bekommt man meist sehr unterschiedliche Antworten, die ein
breites Spektrum an Tätigkeiten umfassen. Die meisten Antworten
aber sind geprägt durch ein idealisiertes Tätigkeitsbild der eigenen
Disziplin, das schon längst veraltet ist. Informatiker z.B. sehen sich oft
als klassische Softwareentwickler mit Herausforderungen in der Ent-
wicklung neuer Technologien, viele Ernährungswissenschaftler sehen
sich selbst als Mitarbeiter internationaler Lebensmittelkonzerne und
das Tätigkeitsfeld im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe wird mit
aktivem Umweltschutz gleichgesetzt. Die Realität hingegen sieht
längst ganz anders aus. Industrielle Arbeitsumgebungen wie auch ak-
tuelle Forschungsverbünde sind durchzogen von interdisziplinären
Facetten. Das klassische Bild eines z.B. Naturwissenschaftlers ist so-
mit fast vom Aussterben bedroht. Die Ingenieurs- und Naturwissen-
schaften verschmelzen zunehmend miteinander und auch die Sozial-
wissenschaften nehmen verdienterweise verstärkt Einzug in aktuelle
Forschungsfelder. Was in der heutigen Forschung und Praxis Alltag
ist, erscheint in der Lehre als absolutes Neuland: Dort wird weiterhin
strikt in den Grenzen der einzelnen Disziplinen gelehrt. Interdiszipli-
narität wird bestenfalls als Zusatzkompetenz in eigens dafür entwi-
ckelten Seminaren vermittelt, die an die Curricula angehängt werden.
Was sind die Gründe für diese Handlungsweise? Zum einen stehen wir
als Lehrende in der Pflicht, die Kernkompetenzen der eigenen Diszip-
linen in der Lehre zu vermitteln. Der Anspruch, einem ausgewogenen
Lehrportfolio nachzukommen, erscheint durch den Facettenreichtum
der eigenen Disziplin oft schon schwierig genug. Die Integration der
Interdisziplinarität hinsichtlich Facettenreichtum in Verbindung mit
einem schlüssigen Praxisbezug in die Lehre ist umso schwerer.
Die Abstraktion der Details der einzelnen Disziplinen lässt allerdings
schnell erkennen, dass sich Forscher unterschiedlicher Disziplinen
meist gleicher wissenschaftstheoretischer Methoden bedienen. Infor-
matiker und Naturwissenschaftler anderer Disziplinen führen gleich-
ermaßen kontrollierte Experimente durch und wenden dafür gleiche
oder vergleichbare Methoden an. Die unterschiedlichen Disziplinen
haben damit eine gemeinsame Basis in ihren Forschungsmethoden zur
Problemlösung und unterscheiden sich zudem auch immer weniger in
den zu lösenden Problemen selbst.
Vor diesem Hintergrund haben wir, d.h. lehrende Forscher, die sich
den drei Masterprogrammen der TUM Informatics, Nutritional and
Biomedicine und Renewable Resources widmen, uns im Rahmen des
Multiplikatorenprogramms der ProLehre der Carl von Linde-
Akademie zusammengefunden.
Interdisziplinarität in der
Lehre noch unterreprä-
sentiert
Disziplinen haben oft
eine gemeinsame Basis
Veranstaltungsformen E 1.11
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
NHHL 3 72 15 10 85
Hintergrund
Das Multiplikatorenprogramm an der TUM hat zum Ziel, die Qualität
der Lehre in den Fakultäten bedarfsorientiert zu fördern, indem be-
sonders engagierte Lehrende zu MultiplikatorInnen fortgebildet wer-
den. Im Rahmen des Programms setzen die MultiplikatorInnen Lehr-
projekte um, bei denen sie von der hochschuldidaktischen Abteilung
ProLehre begleitet und unterstützt werden. Aktuell gibt es 31 Multipli-
katorInnen an 12 der 13 Fakultäten der TUM.
Im Zuge der fakultätsübergreifenden Zusammenarbeit in diesem Pro-
gramm ist eher beiläufig ein „Aha-Effekt“ entstanden, als wir uns über
unsere aktuellen Forschungsprojekte unterhielten und erkannt haben,
welche Ähnlichkeiten unsere Tätigkeiten in ihrer Essenz eigentlich
haben. Der Bedarf, diese Erkenntnisse frühzeitig in die Ausbildung
unseres Nachwuchses zu verankern, wurde für uns schnell deutlich
und ebenfalls der Wunsch, dies unmittelbar als Lehrprojekt umzuset-
zen. Im Folgenden möchten wir die Hintergründe, Organisation und
Durchführung dieses Projekts im Detail vorstellen und vor allem auf
die Ergebnisse und Erfahrung eingehen, um zur Etablierung ähnlicher
Projekte in anderen Hochschulen zu ermutigen.
2. Das INDISNET-Seminarkonzept
Um die oben genannte Ziele am besten umzusetzen, haben wir ein
neues Seminar entwickelt, das Platz für die eigene fakultätsspezifische
Identität lässt, gleichzeitig aber die Interdisziplinarität und Interaktio-
nen mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fakultäten hervorhebt.
Unsere Anforderungen waren, dass Studierende die Interdisziplinarität
in den Inhalten mit Bezug zu relevanten Forschungsinhalten erleben,
und eine Umgebung zu schaffen, die eigenständiges Arbeiten in
selbstorganisierenden Teams fördert. Ziel für die Studierenden war,
gemeinsam ein Problem zu bearbeiten, d.h. Anforderungen zu definie-
ren, eine Lösung vorzuschlagen und diese prototypisch umzusetzen.
Eine Hauptherausforderung war es, geeignete Projekte zu finden, die
von den Studierenden in interdisziplinären Teams bearbeitet werden
konnten, während gleichzeitig sichergestellt ist, dass alle Disziplinen
inhaltlich zur Geltung kommen. Nach einer längeren Findungsphase
haben wir uns dazu entschieden, die Projekte in laufende Forschungs-
vorhaben zu integrieren. Die Gründe waren insbesondere, dass die
notwendige Expertise bei den Betreuern sichergestellt war, während
der Zugang zum entsprechenden akademischen Fachbereich ermög-
licht wurde – was wiederum durch die Realitätsnähe die Studierenden
motivieren sollte.
Interdisziplinarität und
relevante Forschungs-
inhalte
Das Projektthema bildet
den Kern des Seminars
E 1.11 Veranstaltungsformen
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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In unserem Fall erschien der Bereich der personalisierten Ernährung
als gut geeignet: Fachliche Expertise von Studierenden der Ernäh-
rungswissenschaften war hier gegeben, Informatiker konnten sich
durch ihre Kenntnisse bei Prozessentwicklung und Programmierung
leicht einbringen und die Studierenden des Studiengangs Nachwach-
sende Rohstoffe trugen mit ihrem Wissen zur Nachhaltigkeitsbetrach-
tung bei. Als Projekte für die Teams wurden gewählt:
NuPix: Konzeptualisierung einer Smartphone-App zur ernährungs-
basierten und umweltbewussten Bewertung von selbstgekochten
Speisen durch die Nutzer auf der Basis von freigestellten Bildern
der Speisen.
NuTure: Entwicklung umweltbewusster und ernährungsrelevanter
Alternativen zu aktuellen bzw. zukünftigen Engpässen in der Le-
bensmittelproduktion (z.B. Fleisch).
NuTree: Gestaltung eines automatisierten Prozesses für individuel-
le Ernährungsempfehlungen auf der Basis von Entscheidungsbäu-
men.
Wichtig war uns insbesondere, dass die Studierende einen klare und
definierte Projektstruktur erkennen, die genug Spielraum lässt zur
Reflektion, für eigene „Aha-Effekte“ und um letztendlich sich selbst
und eigene Ideen weiterzuentwickeln. Dieses Ziel haben wir dadurch
verwirklicht, dass wir eine Lehrveranstaltung durchgeführt haben, die
aus drei ganztätigen Workshops bestand, welche durch zwei Bera-
tungssessions, in denen Studierende ihr Konzept mit uns detailliert
besprechen konnten, ergänzt wurden. Zusätzlich hatten die Studieren-
den die Möglichkeit, sich zwischenzeitlich jederzeit Hilfe bei uns zu
holen. Einen schematischen Überblick über die Struktur des Seminars
zeigt Abbildung 1.
Bereich „personalisierte
Ernährung“
Seminarstruktur
Veranstaltungsformen E 1.11
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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Abb. E 1.11-1 Der „Interdisziplinäre Trichter“ von INDISNET
Rechts: Die Denkweise skizziert die Intention des Konzepts: 1) eigene
fachspezifische Kultur erkennen und heterogenes Reservoir an Exper-
tisen wahrnehmen (oberer Teil), 2) gemeinsame fachübergreifende
Herangehensweise identifizieren (mittlerer Durchgang) 3) Potenzial
inklusive assoziierter Limitierungen von interdisziplinärer Arbeit erle-
ben (unterer Teil). Links: Struktur des Seminars mit zeitlicher Abfolge
der Betreuungs- und Organisationsrahmenbedingungen für die Studie-
renden.
Die Workshops und Beratungssessions wurden wie folgt durchgeführt.
Die erste Veranstaltung diente primär dem Kennenlernen und der Ori-
entierung. In unseren Augen war der Erfolg des gesamten Seminars
von diesem ersten Workshop abhängig. Workshop 1 sollte die Studie-
renden motivieren und sensibilisieren. Daher bedurfte dieser einer
besonders guten Vorbereitung. Zur Schaffung einer angenehmen Ar-
beitsatmosphäre bedienten wir uns unterschiedlicher didaktischer
Werkzeuge. So haben sich beispielsweise anfangs alle Teilnehmer
anhand der Schlüssel an ihrem Schlüsselbund vorgestellt und be-
schrieben. Im Anschluss wurden der Kontext, Zweck und die Lernzie-
le des Seminars kurz präsentiert. Drei kurze Impulsvorträge der ein-
zelnen Dozenten zu ihren Lehrstühlen dienten anschließend als Einlei-
tung für die erste Gruppenarbeit, die Identifikation und Präsentation
der eigenen fachspezifischen Identität in Form eines zu erstellenden
Posters. Im Anschluss daran wurde das wissenschaftliche Hauptthema
Workshop 1:
Auftaktveranstaltung
E 1.11 Veranstaltungsformen
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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der Gruppenarbeiten (die personalisierte Ernährung) durch einen
Gastvortrag eingeleitet und die drei Themenfelder für die Teamarbeit,
NuPix, NuTure und NuTree, detailliert erklärt. Bei diesem Schritt war
es uns wichtig, die Studierenden spüren zu lassen, dass die Themen
für sie als Orientierungspunkte angedacht waren und dass sie Spiel-
raum haben, eigene Ideen einfließen zu lassen. Nach einem Mit-
tagsimbiss wurden zunächst interdisziplinäre Teams zufällig gebildet
und einem der drei Themenbereiche willkürlich zugeordnet. Dabei
haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass dies nicht die endgülti-
gen Teams sind, da die Motivation, sich an einem Projekt zu beteili-
gen, von den Studierenden selbst kommen sollte. Jedes Team wurde
gebeten, über den möglichen Beitrag der jeweiligen Studiengänge für
das entsprechende Projekt zu reflektieren. Die Ergebnisse wurden
wiederum in Form eines Posters durch die Gruppen vorgestellt. An-
schließend fand der wichtigste Teil des Workshop statt: die Teambil-
dung (siehe Abschnitt 3.3 für weitere Details). Nach erfolgreicher
Teambildung, in der jedes Team einen Vorsitzenden bestimmen und
ein Zielvereinbarung verfassen sollte, wurden die nächste Schritte des
Seminars erläutert und ein kurzer inhaltsrelevanter Vortrag zur ersten
Phase der Teamarbeit (Anforderungen der Projekte definieren) gehal-
ten. Zuletzt wurde das Ende des langen Arbeitstages mit bayerischen
Erfrischungsgetränken gefeiert.
Im zweiten Workshop wurde den Studierenden bewusst mehr Raum
gegeben. Am Vormittag wurden zuerst die selbsterarbeiteten Anforde-
rungsdefinitionen (Phase 1) durch die Studierenden vorgestellt und
Feedback durch die anderen Teams eingeholt. Der Nachmittag bestand
darin, die zweite Phase der Projekte (Lösungsentwicklung) einzuläu-
ten und durch projektbezogene Arbeitssitzungen vorzubereiten.
Über den fachlichen Inhalt der Arbeit hinaus war es uns sehr wichtig,
dass die Studierenden sich parallel mit den Möglichkeiten und Gren-
zen der interdisziplinären Zusammenarbeit auseinandersetzen. Basie-
rend auf den ersten eigens gesammelten Erfahrungen vertiefte ein
professioneller Trainer in der zweiten Hälfte des Nachmittags diese
Erfahrungen. Mittels greifbaren „realer“ und „spielerisch“ dargestell-
ten Reflexionen der Erfahrungen des ersten Workshops wurden die
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beteiligten Disziplinen hin-
sichtlich der eigenen fachspezifischen Identität explizit vertieft.
Diese finale Veranstaltung diente hauptsächlich der Vorstellung der
Ergebnisse der einzelnen Teams aus inhaltlicher, aber auch organisato-
rischer Sicht. Dazu wurde zuerst anhand erstellter Poster die Dynamik
der Teamarbeit präsentiert. Die Studierenden teilten uns und ihren
Kommilitonen mit, welche Elemente ihrer Meinung nach positiv oder
negativ zur Gruppenarbeit beigetragen haben. Anschließend wurden
durch Vorträge die Ergebnisse zu den drei Projekten vorgestellt und
diskutiert. Zuletzt wurde sowohl in Form einer offenen Rückmel-
dungsrunde als auch mittels eines Formulars Feedback eingeholt.
Workshop 2: Projektpla-
nung und Teamarbeit
Workshop 3: Präsentati-
onen und Auswertung
Veranstaltungsformen E 1.11
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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Jeweils zwischen Workshop 1 und 2 sowie zwischen 2 und 3 fanden
Betreuungsgespräche statt: Ziel dieser Treffen war es, den Studierenden
eine Plattform zwischen den Workshops anzubieten, um aktuelle Fragen
zu beantworten und eine Rückkopplung zu den laufenden Projekten zu
ermöglichen. Alle Gespräche erfolgten unter Anwesenheit aller Betreu-
er, weswegen die Termine auch für die weitere Planung des Seminars
genutzt wurden.
3. Auswertung und Erfahrung
3.1 Auswahl der Seminarinhalte
Die Wahl des richtigen Themas ist essenziell für den Erfolg eines sol-
chen Seminars. Wir haben lange nach einem geeigneten Themengebiet
gesucht, welches für alle drei Fachbereiche relevant ist und einen
gleichwertigen Anteil an Gestaltungsraum durch die drei Disziplinen
bietet. Während der Planungsphase des Seminars haben wir mehrfach
das Thema gewechselt. Zunächst strebten wir ein Projekt mit Indust-
riepartnern an, um eine hohe Praxisrelevanz zu erreichen; es zeigte
sich allerdings schnell, dass die Mitwirkungsbereitschaft seitens der
Industrieunternehmen nicht besonders groß ist, wenn sie dabei nicht
einen für sich unmittelbar verwertbaren Beitrag sehen. Dies hätte aber
zur Folge gehabt, dass ein konkretes Produkt zu sehr in den Fokus des
Seminars gerückt wäre, und wir befürchteten, dass unter diesem
Druck die Reflexion von Interdisziplinarität auf der Metaebene zu
kurz kommen könnte. Daher beschlossen wir, kein Industrieprojekt,
sondern ein laufendes Forschungsprojekt zu wählen. Mit dem aktuell
laufenden EU-Projekt food4me bot sich die Gelegenheit, interdiszipli-
näre Projekte zu definieren, die gut in den Kontext des Gesamtprojek-
tes eingegliedert werden konnten. Durch den einführenden Vortrag der
Projektkoordinatorin wurde bereits am ersten Termin klar, dass die
Studierenden hier direkt an etwas Aktuellem und Wichtigem mitarbei-
ten, was in einer deutlich spürbaren Begeisterung resultierte. Dies
bestärkt uns, dass ein greifbares, aktuelles und praxisrelevantes Pro-
jekt gewählt werden sollte.
3.2 Einbettung in die Curricula
Aufgrund seiner Interdisziplinarität muss das Seminar in die Modulka-
taloge unterschiedlicher Studiengänge (und die Lehr- und Prüfungs-
vorschriften unterschiedlicher Fakultäten) integriert werden.
Insbesondere gilt es für alle beteiligten Studiengänge abzuklären:
Betreuungssessions
Kriterien für die Wahl
eines Projektthemas
E 1.11 Veranstaltungsformen
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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als welche Form der Lehrveranstaltung (fachlich, überfachlich,
Wahlveranstaltung etc.) das Seminar an den jeweiligen Fakultäten
angeboten werden kann und
welche Anrechnung der erbrachten Leistung erfolgt (wenn auf-
grund der Eingruppierung unterschiedliche ECTS-Punkte ange-
rechnet werden).
Eine Ungleichverteilung in einbringbaren ECTS-Punkten sollte ver-
mieden werden und das bedarf eines guten Abgleichs mit den jeweili-
gen Prüfungsordnungen. Wir haben dies aufgrund der jeweiligen Stu-
dien- und Prüfungsordnungen für den ersten Lauf der Veranstaltung
leider nicht erreicht, was zu verständlichen Diskussionen mit den Stu-
dierenden geführt hat.
Der Eintrag in die Modulkataloge gestaltete sich bei interfakultativen
Veranstaltungen ebenfalls schwierig, da bei den Fakultäten teils unter-
schiedliche Strukturvorgaben vorliegen, unterschiedliche Ansprech-
partner rechtzeitig kontaktiert und unterschiedliche Kommunikations-
pfade eingehalten werden müssen etc. Daher ist oft eine mehrfache
Anlegung notwendig und sollte im Vorfeld mit den Studienkoordinato-
ren abgesprochen werden. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt
werden, dass ohne die Unterstützung der Studiendekane die formale
Integration des neuen Lehrformats in das Modulhandbuch nicht mög-
lich gewesen wäre.
Neben den formellen Vorbereitungen ist auch die Planung des zeitli-
chen Verlaufes des Seminars von größter Bedeutung. Es ist zu beach-
ten, dass (in unserem Falle) drei verschiedene Studiengänge zeitlich
auf eine gemeinsame Lehrveranstaltung abgestimmt werden mussten.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit lässt sich dies in den seltensten Fällen
an regulären Vorlesungstagen während des Semesters realisieren. Da-
her bietet es sich an, die Termine der drei Workshops auf einen Sams-
tag zu legen, um allen Studierenden und Betreuern die Teilnahme zu
ermöglichen. Dies bedarf natürlich der Bereitschaft der Studierenden,
am Wochenende ein Seminar zu besuchen.
Im Fall von INDISNET galt es neben der zeitlichen Koordination auch
die Herausforderung der räumlichen Distanz der drei Studiengänge zu
meistern. Die Distanz der beiden entferntesten Standorte (Straubing
und Garching) beträgt immerhin 140 km, was eine Eingliederung des
Seminars in den allgemeinen Lehrbetrieb schwierig gestaltet. Diese
räumliche Distanz stellte aber auch einen Anreiz für die Studierenden
dar, da ein Kennenlernen der sonst so weit entfernten Fachbereiche
und Universitätskomplexe zur Motivation beitrug. Im Vorfeld muss
hier geklärt werden, inwieweit Versicherungsschutz für die Studieren-
den besteht, wie die Anreise zu den Workshops gewährleistet wird und
wie die entstehenden Reisekosten abgerechnet werden können.
Credit-Punkte
Modulkataloge
Terminplanung
Verschiedene Standorte
der Universität
Veranstaltungsformen E 1.11
Fachübergreifende Lehr- und Lernformen
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3.3 Zusammensetzung der Teams
Für eine erfolgreiche interdisziplinäre Bearbeitung der Themen sind
gemischte Teams aus den unterschiedlichen Fachrichtungen essenziell.
Die Bildung der Teams zur Bearbeitung der unterschiedlichen Projekte
im ersten Workshop stellte für uns die größte Herausforderung dar. Die
Studierenden sollten bei der Teambildung und der Projektwahl so viel
Freiraum wie möglich haben, gleichzeitig galt es aber auch, alle Projek-
te mit gemischten Teams zu besetzen. Mithilfe von Pinnwänden und
einer Selbsteinschätzung, welchen Beitrag jeder der Studierenden zu
den einzelnen Projekten leisten könnte, entwickelten sich im ersten
Workshop schon früh interdisziplinäre Diskussionen. Nach dem Aufruf,
sich nun seinem Wunschprojekt zuzuordnen, waren alle Projekte mit
interdisziplinären Teams belegt. Wir hatten schlicht Glück. Eine von uns
vorgenommene Eingruppierung hätte allerdings eine Alternative darge-
stellt, auf die wir vorbereitet waren. Für eine erfolgreiche Bearbeitung
war für uns nicht der Ausbildungsgrad der Studierenden (Semester)
ausschlaggebend, sondern das Einbringen ihrer Denkweise.
Weiter zeigte sich im Verlauf des Seminars, dass es wichtig ist, Studie-
rende aus höheren Semestern für das Seminar zu gewinnen. Gerade
vor dem Hintergrund, dass an einem solchen Seminar ganz unter-
schiedliche Studierende – sowohl bezüglich des Faches und der Sozia-
lisation im Fach als auch bezüglich des Alters – teilnehmen, war es
wichtig, sicherzustellen, dass die Studierenden gleichwertig in den
Projekten mitarbeiten, so dass einerseits eine gerechte Verteilung der
Arbeit stattfindet, gleichzeitig aber auch ein Gefühl der Gleichwertig-
keit vermittelt wird.
3.4 Feedback der Studierenden
Um die Qualität des Seminars bewerten zu können, haben wir den
Studierenden die Möglichkeit gegeben, einen anonymen Fragebogen
zur Evaluation des Seminars auszufüllen. Zusätzlich haben wir sie
gebeten, in einer mündlichen Feedbackrunde am Ende des dritten
Workshops ihre Erfahrungen mit INDISNET zu skizzieren. So konnten
wir einerseits feststellen, was die Studierenden durch das Seminar an
Erfahrungen gesammelt haben, sowie andererseits Hinweise zur Ver-
besserung der Lehrveranstaltung erhalten.
Sowohl im Fragebogen als auch in der Feedbackrunde wurde das Se-
minar von den Studierenden insgesamt sehr positiv bewertet, wenn
auch das neue Lehrformat mit den hohen Freiheitsgraden zu Beginn
als gewöhnungsbedürftig empfunden wurde. Vor allem die Möglich-
keit, in einem interdisziplinären und interkulturellen Team zu arbeiten
und die verschiedenen Wissenschaften und Denkweisen zu verstehen,
wurde als große Herausforderung, aber auch als große Bereicherung
gegenüber sonstigen Lehrveranstaltungen wahrgenommen. Zur Ver-
Wer entscheidet übe
r
die Zusammensetzung
der Teams?
Gleichwertige Mitarbeit
sicherstellen
Evaluationsformate
E 1.11 Veranstaltungsformen
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besserung der nächsten Generation des INDISNET-Seminars sollte der
erste Workshop allerdings abgespeckt werden, so dass mehr Platz für
die transparente Kommunikation der Lernziele und die Vermittlung
des Zwecks des Seminars gegeben ist. Auch planen wir, die Vorträge
durch uns Dozierende zu reduzieren, um ein noch interaktiveres Am-
biente entstehen zu lassen.
Die Möglichkeit, aktiv im Seminar teilzunehmen, sowie die Motivati-
on, sich mit dem Seminarinhalt zu beschäftigen, wurden einstimmig
als sehr gut bewertet. Auch die Lernatmosphäre wurde von den Stu-
dierenden besonders geschätzt. Der Einbezug von externen Experten
wurde ebenfalls positiv bewertet, vor allem der zweite Workshop wur-
de immer wieder als außergewöhnlich lehrreich hervorgehoben. Die
Studierenden sehen hier noch größeres Pozenzial und schlagen vor,
mehr Externe einzuladen. Außerdem wurde vorgeschlagen, die ver-
schiedenen Technologien, die in den einzelnen Teams angewandt wur-
den, in kleinen Workshops näher zu beleuchten.
Das Konzept und die Umsetzung des Seminars mit Workshops und
Coaching-Sessions wurden zwar generell positiv bewertet, bedürfen
aber aus Sicht der Studierenden noch einiger Verbesserung. Hier wur-
de vor allem der zeitliche Rahmen genannt und eine eindeutigere Ziel-
setzung des Seminars empfohlen. Vorschläge der Studierenden waren
hierbei, die Workshops kürzer zu gestalten oder die Workshops zu-
sammenzulegen. Auch die Möglichkeit, die Veranstaltung als einwö-
chigen Block zu veranstalten, wurde vereinzelt genannt – auch wenn
dies der Zielsetzung des Seminars widerspricht und damit für folgende
Veranstaltungen nicht angedacht ist.
Nicht zu unterschätzen ist, dass die Gruppen Zeit benötigen, sich ge-
genseitig kennenzulernen und die Denkweisen der verschiedenen Dis-
ziplinen zu verstehen, so dass jedes Teammitglied seine ganz eigene
Rolle findet. Hier waren wir als Seminarleiter gefragt, die verschiede-
nen Gruppen mehr oder weniger stark zu unterstützen, sowohl in der
Umsetzung des Projekts als auch in der Teambildung. Um das zu er-
reichen, sollte auch der Zeitaufwand auf Betreuerseite nicht unter-
schätzt werden. Zwar waren vor allem die festgelegten Coaching-
Sessions hilfreich, in denen nicht nur das Projekt besprochen und hin-
terfragt wurde, sondern auch Probleme innerhalb des Teams angespro-
chen wurden. Aber auch die Möglichkeit, die Seminarleiter per Mail
zwanglos zu kontaktieren und schnelle Antworten zu erhalten, wurde
genutzt und geschätzt.
Letztendlich waren unsere Teilnehmer am Ende des Seminars so be-
geistert von ihrer eigenen Leistung und diesem neuen Lehrkonzept,
dass im letzten Workshop das Vermarktungspotenzial der entwickelten
Produkte diskutiert wurde. Und es wurde vorgeschlagen, weitere Plät-
ze oder Gruppen zu schaffen, um mehr Studierenden die Möglichkei-
ten zu geben, teilnehmen zu können.
Anregungen von
Studierenden
Zeitumfang
Veranstaltungsformen E 1.11
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Insgesamt empfanden die Studierenden die Freiheit zur inhaltlichen
Ausgestaltung und zeitlichen Planung anfangs als große Herausforde-
rung, die gleichermaßen negativ und positiv empfunden wurde. So
sollten die Aufgaben der einzelnen Disziplinen besser dargestellt so-
wie die Gewichtung eines solchen Seminars im Lehrplan überdacht
werden.
Die Kunst besteht unserer Ansicht nach darin, für Studierende klarere
Leitplanken für die Projektinhalte und ihr Vorgehen zu definieren,
gleichzeitig aber die Seele der interdisziplinären Inhalte und der
Selbstorganisation zu wahren. Es gilt, Studierende Neuland betreten
zu lassen und sie aus ihrer Komfortzone zu holen, damit eine Atmo-
sphäre der Kreativität und des Erstaunens entstehen kann.
4. Zusammenfassung und Ausblick
Unsere Idee war es, ein Seminar zu konzipieren, in dem Studierenden
die Möglichkeit gegeben wird, sich in interdisziplinären Projekten
einzubringen und auszutesten. Dies war einerseits herausfordernd, da
die Studierenden an die Arbeit in interdisziplinären Teams erst heran-
geführt werden mussten und einige organisatorische Hürden (bei-
spielsweise Terminfindung, Eintrag in Modulkataloge, Vergabe von
Credit Points) zu meistern waren. Andererseits sind wir überzeugt von
der Tragfähigkeit dieses Konzepts, da Interdisziplinarität, die in der
Forschung und Berufspraxis bereits Alltag ist, auch in der Lehre ein
Thema sein muss, um unseren Nachwuchs auf seine zukünftigen Auf-
gaben in Forschung und Wirtschaft vorzubereiten.
Die positive Rückmeldung der Studierenden hat uns darin bestärkt, das
Konzept beizubehalten und möglicherweise noch auszubauen. Offen ist
für uns noch die Frage, wann ein guter Zeitpunkt im Studium für solch
ein Seminar ist. Sollten die Studierenden schon in den ersten Semestern
mit der Komplexität ihrer zukünftigen Aufgaben konfrontiert werden?
Aus didaktischer Sicht ist dies mit entsprechender Anleitung ein viel-
versprechender Ansatz, da die Studierenden so an der Seite von Exper-
ten anhand realer und komplexer Aufgabenstellungen in die Fachcom-
munity eingeführt werden. Es gibt allerdings auch Argumente für ein
späteres Anbringen dieses Konzepts, z.B. im Rahmen von Masterveran-
staltungen. Hier haben die Studierenden die Grundlagen ihres Faches
bereits erworben und können sich so mit reflektierterem Blick und mehr
Fachwissen in das interdisziplinäre Team einbringen.
Es muss erwähnt werden, dass ein solches interdisziplinäres Seminar
nur zustande kommen kann, wenn motivierte Lehrende zusammenar-
beiten und Aufwände erbringen, die weit über die regulären und
gleichzeitig nicht zu vernachlässigenden Lehrverpflichtungen hinaus-
Freiheitsgrade
Interdisziplinarität
bereits im Bachelor-
studium?
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gehen. Insgesamt aber können wir andere Lehrende nur darin bestär-
ken, mit ihren Studierenden und Kolleginnen und Kollegen anderer
Fachbereiche interdisziplinäre Projekte durchzuführen – sie sind ein
Gewinn für Studierende und Lehrende.
Informationen zu den Autorinnen und Autoren:
Dr. habil. Thomas Clavel ist promovierter Mikrobiologe und Nachwuchsgruppenleiter am
Zentralinstitut für Ernährung- und Lebensmittelforschung der Technischen Universität München.
Darüber hinaus ist er Mitglied im Multiplikatorenprogramm für engagierte Lehrende der Technischen
Universität München.
Dr. habil. Daniel Mendez ist promovierter Informatiker und Leiter des Kompetenzzentrums
„Requirements Engineering“ am Lehrstuhl für Software and Systems Engineering. Darüber hinaus
ist er Mitglied im Multiplikatorenprogramm für engagierte Lehrende der Technischen Universität
München.
Dr.-Ing. Jochen Schmid ist promovierter Biotechnologe und Gruppenleiter am Lehrstuhl für Chemie
Biogener Rohstoffe im Wissenschaftszentrum Straubing an der Technischen Universität München.
Darüber hinaus ist er Mitglied im Multiplikatorenprogramm für engagierte Lehrende der Technischen
Universität München.
Silvia Kolossa ist Ernährungswissenschaftlerin (MSc) an der Technischen Universität München und
promoviert dort am Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie im Rahmen des europäischen Forschungs-
projektes „Food4Me“.
Linda Matzke ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als Hochschuldidaktikerin im Team von ProLehre
an der Technischen Universität München. Dort betreut sie zusammen mit zwei Kollegen das
Multiplikatorenprogramm für engagierte Lehrende.
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