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Die Bromelie 2013 (3)
Christof Nikolaus Schröder
Zusammenfassung Teil 1
Werner Rauh (1913–2000) war einer
der bedeutendsten Feldbotaniker
und Pflanzenjäger im 20. Jahr-
hundert. Geboren in Niemegk bei
Bitterfeld, galt sein erstes Interesse
der Archäologie, doch entschied
er sich nach dem Abitur, Botanik,
Zoologie, Chemie und Geologie zu
studieren. Nach der Dissertation
in Halle (Saale) und der Habilita-
tion in Heidelberg wurde Rauhs
akademische Laufbahn durch einen
fünfjährigen Militärdienst, u.a. als
Marinemeteorologe, unterbrochen.
Nach Kriegsende konnte er seine
Studien wie auch seine Lehrtätig-
keit an der Universität Heidelberg
sofort wieder aufnehmen, wo er
bis zu seiner Emeritierung 1982
und darüber hinaus lehrte. Dabei
war die Morphologie, d.h. die Lehre
vom Bau der Pflanzen, sein erster
Schwerpunkt, den er besonders an
Polsterpflanzen der Hochgebirge
studierte.
Seine mindestens 36 großen
Expeditionen führten ihn am häu-
figsten nach Peru und Madagas-
kar, aber auch in zahlreiche andere
Länder der Alten und Neuen Welt.
Die erste große Reise unternahm
er 1954 für neun Monate in die
Hochanden Perus, wo er sich der
Vegetationskunde der Hochgebirge
widmete. Im „Werner Rauh Heri-
tage Project“ werden seit 2009 die
Feldbücher von Werner Rauh mit
seinen Aufsammlungen lebender
und herbarisierter Pflanzen auf-
gearbeitet, die heute den Grund-
stock von Botanischem Garten und
Herbarium Heidelberg (HEID)
bilden. Alle Feldbuchseiten wur-
den gescannt und sind öffentlich
zugänglich, ferner wurden sie in
einer Datenbank erschlossen, so
dass nun alle Feldnummern sowie
mindestens Sammeldatum und
Herkunftsland recherchierbar sind.
Die Erschließung der sehr wichti-
gen Tagebücher wird in nächster
Zeit erfolgen.
Forschungsschwerpunkte
Die Pflanzen-Morphologie war seit
Beginn seines Botanik-Studiums
Rauhs wesentliches Forschungs-
thema, wie es oben bereits erwähnt
wurde. Ganz gleich ob er im
Feld Pflanzen beobachtete oder
ihr Wachstum im Gewächshaus
verfolgte, ganz gleich ob er neue
Arten beschrieb oder sich mit
altbekannten befasste, stets hatte
er ein Augenmerk auf die Prinzi-
pien der äußeren Gestalt und den
zugrundeliegenden Bauplan, wie
es viele Abbildungen und vor allem
kunstvolle Zeichnungen zeigen.
So findet sich in der „Morpholo-
gie der Nutzpflanzen“ (Rauh 1941)
die erste Beschäftigung mit einer
Bromeliaceae, lange bevor Rauh
zum ersten mal eine Tillandsie am
natürlichen Standort sah. In diesem
Werk nämlich behandelte er auch
die Ananas (Ananas sativus), als
Beispiel für eine Art mit Beeren-
fruchtstand. Hierbei geht er auf den
ährig-kolbigen Bau der Inflores-
zenzen ein, an deren verdickten
P
Von den Mulde-Auen zur Cordillera Blanca –
Zum 100. Geburtstag des Botanikers Werner Rauh
(*16. Mai 1913 †7. April 2000) – Teil 2
Abb. 8: Originalzeichnung einer Ananas aus
Rauhs Hand, vor 1950, möglicherweise bereits
vor 1941. (BG und Herbarium HEID)
Abb. 9: Schematische Darstellung eines Rasen-
polsters. Zeichnung von W. Rauh aus seiner
Habilitationsschrift „über polsterförmigen
Wuchs“.
123
Die Bromelie 2013 (3)
Achsen die unscheinbaren Blüten
in den Brakteen-Achseln sitzen. Er
beschreibt, wie Blüten und Deck-
blätter zusammen das Fruchtfleisch
bilden, und dass die Kulturformen
samenlos sind und deshalb nur
vegetativ vermehrt werden können
(Rauh 1950). Die älteste Abbildung
einer Bromeliaceae, die Rauh selbst
angefertigt hat, illustriert dieses
Phänomen. Die Originalzeichnung,
rückseitig von Rauh signiert, wird
in Heidelberg archiviert und ist mit
seinen handschriftlichen Anmer-
kungen abgebildet (Abb. 8). Sie
entstand wahrscheinlich vor 1940,
sicher jedoch vor 1950, denn in der
zweiten Auflage der Morphologie
der Nutzpflanzen (Rauh 1950) ist
sie auf Seite 271 als Abb. 229 abge-
druckt. Leider hatte ich die erste
Auflage nicht zur Verfügung um
nachzuprüfen, ob sie bereits dort
gedruckt wurde.
Weiter finden sich morpho-
logische Studien stets auch in
Rauhs monographischen Publika-
tionen, wie „Beitrag zur Kenntnis
der peruanischen Kakteenvegeta-
tion“ (Rauh 1958) und „Kakteen
an ihren Standorten“ (Rauh 1979),
oder regelmäßig in Artikeln und
Erstbeschreibungen. In „Brome-
lien“ (Rauh 1990) findet sich z. B.
als Fig. 7 (p.27) die schematische
Darstellung der Wuchsform eines
Abromeitiella-Polsters, welche mit
minimalen Veränderungen dem
Schema eines Rasenpolsters (Rauh
1939, p. 185, Abb. 85 VII bzw. p.
193, Abb. 86 B VII; vgl. Abb.9)
entspricht, wie es bei zahlreichen
Saxifraga- und Androsace-Arten der
Fall ist, dies nur als ein Beispiel.
Ich hatte noch keine Gelegenheit,
Rauhs eigenhändige Zeichnungen
mit morphologischen Darstellungen
auch nur ungefähr zu zählen, aber
ich habe den Eindruck, dass sich
deren Zahl auf 1000 zu bewegt.
Neben der Morphologie hatte
Rauh bestimmte Pflanzengruppen,
denen er besondere Aufmerksam-
keit schenkte. Dies waren zunächst
schon vor dem Krieg Hochgebirgs-
pflanzen (Rauh 1939), was aber
auch noch für seine Peru-Reisen
1954 und 1956 galt, bei denen er
zahlreiche Gentiana sp., montane
Malvaceen (Nototriche sp.), Caryo-
phyllaceen, Asteraceen, Plantago
sp., Saxifragaceen usw. sammelte.
Bis zu seiner letzten Reise suchte
er immer wieder (Hoch-)Gebirge
auf, so z. B. den Mount Kenya, um
die dortige Vegetation zu studieren.
Dies hat seinen Grund sicherlich
darin, dass er in seiner Habilitati-
onsschrift zwar Pflanzen- und Her-
barmaterial solcher Arten bearbei-
tet hatte, die Standorte selbst aber
während der NS-Diktatur nicht
aufsuchen konnte. Nun nutzte er
die Gelegenheit, seine „Laborbeob-
achtungen“ am Standort zu über-
prüfen. Dabei brachte er eine solch
profunde Artenkenntnis mit, dass
er gleich mehrere neue Arten ent-
deckte: Mutisia rauhii (Asteraceae,
Rauh P1451), Senecio rauhii (Astera-
ceae, Rauh P1865), Nototriche ellip-
ticifolia (Malvaceae, Rauh P1694),
Calamagrostis rauhii (Poaceae,
Rauh P1724) usw. Ohnehin lässt
einen Rauhs breite Artenkenntnis
immer wieder staunen. Egal ob im
Regenwald oder in der Wüste, in
den Anden oder in den Trocken-
wäldern Madagaskars: Hunderte
Male kann er bei Pflanzen zwar
die Gattung ansprechen, notiert
im Feldbuch aber „neue Art?“ oder
„nov. spec.?“. Meist bestätigte sich
später seine Intuition, wenn er nach
intensiven Herbarstudien die Funde
selbst als neue Art beschrieb oder
andere dies anhand seines Materials
taten, und das über einen langen
Zeitraum: Mit Eremodraba schulzii
(Brassicaceae) wurde zuletzt 1990
eine Rauh-Aufsammlung von 1954
erstbeschrieben!
Die erste Pflanzenfamilie, die
als Ganzes sein Interesse erweckte,
waren die Cactaceae. Sie kommen
in den Anden mit Vertretern der
Gattung Tephrocactus bis in die
höchsten Höhen vor und werden
dort nicht selten auch von Brome-
liaceen begleitet, wie z. B. Abro-
Abb.10: „Nebelwald. Epiphytenreicher Baum
mit Bromelien. Südperu.“ Foto: W. Rauh 1954
(BG und Herbarium HEID)
Abb. 11: „Nebelwald mit Epiphyten. Südperu.“
Foto: W. Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
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Die Bromelie 2013 (3)
meitiella sp., Puya roezlii oder P.
raimondii (Rauh 1990). Auch wenn
sich in den Feldbüchern von 1954
keine Bromeliacee mit Feldnummer
findet, erwähnt Rauh dort erstmalig
Tillandsien, und zwar in HEID-
RAUHFDD016_00511: „28.1.54 /
tropischer Regenwald bei Buena-
ventura. / Palmen vorherrschend
darunter Ireatea mit schönen Stelz-
wurzeln. / An Epiphyten: Tilland-
sien, Bromelien, sehr viele Moose,
wenig Farne und Orchideen. [...]“
(Abb. 10 & 11) Einige Seiten weiter
finden sich die ersten erwähnten
Bromeliaceen-Arten: „Tillandsia
latifolia [...] Flechtenähnlich, auf
Stein dicke Polster bildend, Pitcair-
nea ferruginea“. Auch wenn Rauh
keine Tillandsien sammelte (und
deshalb den nun immer häufiger
1 Im „Werner Rauh Heritage Project“ (siehe
weiter unten) haben wir einen ein deutigen
Seitenidentifikator für die Seiten von
Rauhs Feld- und Tagebüchern entwickelt:
„HEID“ = BG und Herbarium HEID, „RAUH“ =
Sammlung Werner Rauh, „FDD“ = Fielddiary
(Feldtagebuch), „016“ = Heft 16, „_005“. Mit
diesem Identifikator sind die Seitenscans auf
der Homepage des Projektes abrufbar, z.Zt.
allerdings nur die Feldbücher „FDB“. Wir
hoffen aber, in Kürze über die finanziellen
Mittel zu verfügen, auch die Tagebücher
„FDD“ zu scannen und ins Netz zu stellen.
erwähnten Arten keine Nummer
gab), waren sie nicht zu übersehen,
da sie ein prägendes Element der
Vegetation darstellen und mitunter
sogar eine eigene Pflanzengesell-
schaft bilden, wie z. B. Deuterocoh-
nia longipetala am Westabhang der
Anden in Höhenlagen von 600m
bis 1000m (Rauh 1990). So finden
sich im erwähnten Feldtagebuch
auch Vegetationsprofile, in denen
Bromeliaceen als stufencharakteri-
sierend eingetragen sind (Abb. 12):
ca. 0–800m „wurzellose Tilland-
sien“, ca. 1600–2000m: „Espostoa-
Foucroya-Puya mit Kakteen Ass.“,
ca. 2000–2300m: „Puya in Reinbe-
ständen mit Kakteen“.
Die früheste ausführlichere
Aufzeichnung über Tillandsien,
die ich finden konnte, stammt aus
HEIDRAUHFDD027_005:
„Tillandsien-Vegetation bei Caja-
marquilla nördlich Lima – unteres
Rimactal (15.II.[1954]) / [...] In der
alten Ruinenstadt Cajamarquilla
Tillandsienvegetation von 4 Arten: /
Tillandsia purpurea rosettenbildend
/ Tillandsia latifolia rosettenbildend
/ Tillansia roseetenbildend sehr
variabel / Tillandsia straminea pale-
acea strangbildend. / Alle Tillan-
sia-Arten gehören nach Weberbauer
zu den „grauen-und wurzellosen
Arten. In dichten Polstern, bezw.
dicken Strängen liegen sie dem
Boden auf werden indessen vom
Wind nicht fortbewegt. Sie sind
rein auf Atmosphaärisches Wasser
angewiesen, den der Boden ist bis
bis in 10cm Tiefe hineien staub-
trocken Wurzeln bilden nur jene
Exemplare aus, die epiphytisch an
den alten Hausruinen wachsen. die
dem Boden aufsitzenden Pflanzen
zeigen nur schwache Andeutung
von Wurzeln oder sind vollkom-
men wurzellos. / Vorherrschend ist
T.straminea [...] T. straminea tritt in
langen Strängen auf [...]. Sie sterben
von hinten her ab, wachsen an der
Vorderkante aber lebhaft weiter [...]
Die wachsenden wenden also der
Seite zu, die dem mit Feuchtigkeit
beladenen Seewind ausgesetzt ist.“
(Wortlaut und Rechtschreibung wie
im Original)
Die hier zitierte Stelle ist als
Schreibmaschinenabschrift einer
vermutlich ursprünglich hand-
schriftlichen Aufzeichnung über-
liefert, in der die Art-Epitheta
von Rauh später handschriftlich
ergänzt wurden, nachdem er seine
Aufsammlungen mit Herbarbele-
gen von L. B. Smith im Herbarium
USM (Universidad Nacional Mayor
de San Marcos, Lima, Peru) ver-
glichen hatte. So korrigierte er die
Bestimmung der strangbildenden
Art von T. straminea nach T. palea-
cea. Die Artenkenntnis der Brome-
liaceen im Feld ist noch nicht sehr
ausgeprägt, aber als Morphologe ist
es Rauh ein leichtes, seine Exem-
plare anhand von Herbarbelegen
zu bestimmen. Die Formulierun-
gen, die sich an dieser Stelle finden,
tauchen ähnlich viele Jahre später
in „Bromelien“ (Rauh 1990, p. 16)
wieder auf und werden dort mit Fig.
8 (p. 28) illustriert. Zu diesen ersten
Erwähnungen konnte ich glück-
licherweise vor kurzem passende
Fotografien finden (Abb. 13–16).
Über zehn Jahre lang erheischten
Tillandsien zunächst weniger Rauhs
Abb. 12: Vegetationsprofil des Rimac-Tales (HEIDRAUHFDD027_045). Zeichnung: W.
Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
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Die Bromelie 2013 (3)
Aufmerksamkeit als die Kakteen in
Peru sowie ab 1959 die Xerophyten-
vegetation in Madagaskar.
Soweit ich feststellen konnte,
sammelte Rauh seine erste Bromeli-
acee am 28. August 1966 in Mexico.
Auf Seite HEIDRAUHFDB032_008
heißt es dazu: „28.8.66 Mexico-City
– Cuernavaca. Hartlaub-Nebel-
wald bei 2400m. (Tres Cumberes)
und Lavafeld. Zwischen Cuerna-
vacca u. Mexico, sukkulentenreich.
[...] 15219. Tillandsia atriviridipe-
tala [sic!] Lavafeld“ (siehe http://
scriptorium.hip.uni-heidelberg.de/
entry?7162)
Leider findet sich von Rauh
15219 nur noch ein Alkoholbeleg im
Herbarium HEID, im Botanischen
Garten ist davon lebend nichts
mehr vorhanden. Aber damit war
der Startschuss für die Beschäfti-
gung mit Bromeliaceen gegeben,
danach ging es rasant weiter, das
Ergebnis ist heute in der bekann-
ten Heidelberger Sammlung zu
bewundern, die aktuell (24. März
2013) 7649 Bromeliaceen-Akzes-
sionen enthält. Wie viele Brome-
liaceen Rauh im Feld gesammelt,
beobachtet und/oder fotografiert
hat, ist derzeit noch nicht zu sagen,
denn es sind bei weitem nicht alle
Rauh-Nummern in der WRHP-Pro-
jektdatenbank (siehe unten) mit den
entsprechenden Taxa verknüpft.
Unternahm Werner Rauh anfangs
seine großen Expeditionen nur mit
wissenschaftlichen Kollegen oder
interessierten Hobbybotanikern,
so wurde seine Frau Hilde später
immer häufiger zu seiner Reisebe-
gleiterin. Sie bewies ein gutes Auge
für die Vegetation der Reisegebiete
und entdeckte manche neue Art,
wie z. B. Tillandsia hildae (siehe Abb.
17 & 18).
Es sei hier nur kurz erwähnt,
dass neben der Botanik Rauh
stets ein waches Interesse an der
Archäologie erhalten blieb, wie z. B.
ausführliche Schilderungen von
Ruinenstädten in Süd- und Mittel-
amerika in den Feldbüchern zeigen.
Darüber hinaus zeichnete ihn ein
waches ethnologisches Auge und
ein unverfälschter Blick für Men-
schen aus. Es finden sich in seinem
Nachlass zahlreiche fotografische
Portraits von Menschen, die für
die Länder und Gegenden typisch
waren, die Rauh auf der Jagd nach
Pflanzen besuchte (dies würde
Abb. 13: „Küstenwüste mit Tillandsia paleacea bei Lima, Zentral-
peru.“ Foto: W. Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
Abb. 15: „Tillandsia purpurea. Wüste nördlich Lima/Peru.“ Foto: W.
Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
Abb. 14: „Küstenwüste mit Tillandsia latifolia-Beständen.“
Foto: W. Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
Abb. 16: „Tillandsia purpurea Sandwüste nördl. Lima/Peru.“ Foto: W.
Rauh 1954 (BG und Herbarium HEID)
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Die Bromelie 2013 (3)
eine eigene Publikation lohnen,
einige Beispiele siehe Abb. 19–21).
Dabei ist es nicht zu leugnen, dass
er eine Vorliebe für das weibliche
Geschlecht hatte.
Wie weit sein ethnologisches
Interesse ging, sei durch eine kleine
Episode erläutert, die mir Claudia
Erbar und Rauhs unmittelbarer
Nachfolger Peter Leins vor kurzem
schilderten. Rauh hatte ihnen einen
Super-8-Film dieses Erlebnisses
gezeigt:
Es war vermutlich in den 1980er
Jahren in Ecuador, als sich Werner
Rauh mit seiner Frau Hilde mit
dem Hubschrauber bei einem Ein-
geborenenstamm absetzen ließ, der
von der westlichen Zivilisation noch
gänzlich unberührt war und dessen
Alltagsleben noch niemand doku-
mentiert hatte. Rauh hatte gehört,
dass kurz zuvor ein US-Journalist
mit einem Giftpfeil getötet worden
war, der ebenfalls diesen Stamm
besuchen wollte. Die Eingeborenen
hatten noch nie einen Hubschrau-
ber gesehen, weshalb sie dies als
Bedrohung empfanden und sich
zur Wehr setzten. Das war genau
das Richtige für Rauh: Was dem
Journalisten nicht gelungen war,
müsste sich doch erfolgreich durch-
führen lassen, zumindest für einen
deutschen Professor von nur 1,65m
Körpergröße. Er packte einige
Tauschgegenstände ein und machte
sich auf den Weg. Es gelang ihm,
Freundschaft mit dem Stamm zu
schließen und mit ihnen ein paar
Tage zu leben. Nach einer Woche
holte der Hubschrauber Hilde und
Werner Rauh wieder wohlbehal-
ten ab. Er hatte als erster das Leben
dieses Stammes dokumentiert und
sogar gefilmt.
Dies ist nur eine Anekdote von
vielen, wie sie für Werner Rauh
typisch sind. Jeder, der mit ihm zu
tun hatte, kann manche weitere
Geschichte erzählen.
Als Werner Rauh am 7. April
2000 starb, hinterließ er ein
umfangreiches Erbe: 80.000 Her-
barbelege, von ihm selbst oder
engen Mitarbeitern während der
Expeditionen gesammelt, lie-
gen alleine im Herbarium HEID,
unzählige auch in anderen Herba-
rien wie Antananarivo (TAN), Pre-
toria (PRE), Lima (USM) oder Paris
(P). Daneben wurde der Großteil
der Lebendsammlung des Heidel-
berger Botanischen Gartens (ca.
10.000 Pflanzenarten) von Rauh
zusammengetragen, allein über
2.100 Akzessionen hat er selbst im
Feld gesammelt. Diese repräsentie-
ren etwa 1.200 Pflanzentaxa. Viele
Rauh-Aufsammlungen sind auch in
anderen Botanischen Gärten und
Sammlungen zu finden, so z. B.
in Bonn oder in der Sukkulenten-
sammlung Zürich. Fund-Informa-
tionen dazu hielt Rauh in 97 Feld-
büchern fest, mit Nummern und
Kurzbeschreibungen der gesammel-
ten oder beobachteten Arten (etwa
9.800 handschriftliche Seiten), die
neben Rauhs ca. 91.000 Fotografien
bei Prof. Wilhelm Barthlott in Bonn
aufbewahrt werden. In Heidelberg
werden weitere 94 Tagebücher (ca.
8.000 Seiten) archiviert, die den
detaillierten Tagesablauf enthal-
ten sowie Angaben zur gefahrenen
Strecke und mitunter seitenlange
Beschreibungen gesammelter und/
oder herbarisierter Pflanzen. Rauh
hat fast 700 Pflanzentaxa alleine
oder mit anderen erstbeschrieben.
(Schröder & al. 2011; Koch & al.
2013)
Dieser Schatz wird seit 2009
im „Werner Rauh Heritage Pro-
ject“ (WRHP) erschlossen und der
Öffentlichkeit über eine Datenbank
kostenlos zur Verfügung gestellt:
http://scriptorium.cos.uni-heidel-
berg.de. Aktuell sind über 33.000
Datensätze mit Nummern aus Feld-
büchern erfasst. (Schröder & al.
2011; Koch & al. 2013).
Abb. 17: „Tillandsia hildae
Rauh am Standort.“ Foto:
W. Rauh (BG und Herbarium HEID)
Abb. 18: Tillandsia hildae am Standort mit der Entdeckerin
Hilde Rauh. Foto: W. Rauh (BG und Herbarium HEID)
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Die Bromelie 2013 (3)
Würdigung und Wertung
Werner Rauh erhielt für seine
wissenschaftlichen Leistungen viele
Auszeichnungen und Ehrungen:
die „Willdenow-Medaille“ des
Botanischen Gartens und Botani-
schen Museums Berlin, die „Veitch
Memorial Medal“ der Royal Horti-
cultural Society, den „Cactus d’Or“
aus der Hand von Fürstin Gracia
Patricia von Monaco. Madagaskar
ernannte ihn für seine Verdienste
um Erforschung und Erhalt der ein-
maligen madegassischen Flora zum
„Ritter des Nationalen Ordens“, und
Deutschland verlieh ihm 1999 den
Verdienstorden der Bundesrepublik
Deutschland. In der Welt der Wis-
senschaften fand er Anerkennung
z. B. durch die Mitgliedschaft in
zahlreichen Gesellschaften. Er war
viele Jahre lang Vorstandsmitglied
der Internationalen Organisation
für Sukkulentenforschung (IOS).
Ebenso wurde er zum Mitglied der
Mainzer Akademie der Wissen-
schaften und der Literatur sowie der
Heidelberger Akademie der Wissen-
schaften berufen. (Koch & al. 2013)
Mehr noch war Rauh aber ein
Wissenschaftler zum Anfassen: Er
hielt unzählige Vorträge, weniger
im akademischen Rahmen, wie
eine Vielzahl von in Heidelberg
archivierten Original-Vortragsma-
nuskripten belegen, sondern viel-
mehr vor „botanischen Laien“ sowie
Natur- und Pflanzenliebhabern, wie
z. B. beim Deutschen Alpenverein
oder bei der Deutschen Kakteen-
gesellschaft. Betrachtet man seine
Publikationenliste so fällt auf, dass
er sehr häufig in „Liebhabermaga-
zinen“ publizierte, was ihm von der
Wissenschaft des öfteren angekrei-
det wurde. Heute wäre dies einem
Wissenschaftler von Weltrang nicht
anzuraten, denn wegen der star-
ken Konkurrenz bei Forschungs-
geldern muss man in Organen mit
„hohem Impact-Factor“ publizieren,
da nicht zuletzt die Entscheider in
Politik und geldgebenden Institu-
tionen leider nur noch auf diese
Zahl schauen. Dadurch erhält die
Allgemeinheit deutlich weniger für
ihren finanziellen Einsatz zurück als
dies zu Rauhs Zeiten der Fall war.
Den Wissenschaftlern kann man
dies allerdings nicht zum Vorwurf
machen.
Daneben stand Rauh der Presse,
vor allem der örtlichen, immer gerne
für Berichterstattung zur Verfügung.
Besucher des Botanischen Gar-
tens Heidelberg berichten immer
wieder mit glänzenden Augen, dass
Rauh für jeden ansprechbar war,
stets offen und mit Pflanzen, Steck-
lingen und Samen freigiebig. Letzte-
res ist im Zeichen von CITES
und CBD allerdings kritisch zu se-
hen, haben doch Botanische Gärten
gegenüber den Herkunftsländern
ihrer Pflanzen eine hohe Verant-
wortung, denn sie sind nicht Ei-
gentümer, sondern Verwalter der
genetischen Ressourcen. Das führt
zwangsläufig dazu, dass heute Pflan-
zenwünsche von privaten Sammlern
oder gar kommerziellen Gärtne-
reien sehr viel rigoroser behandelt
werden müssen als früher. Handeln
Botanische Gärten und Institute
hier zu freigiebig, schadet das der
internationalen Forschungszusam-
menarbeit. Schon manches Land hat
Wissenschaftlern aus solchen Grün-
den die Einreise oder das Sammeln
verboten! Das hat auch Rauh selbst
erfahren.
Rauh war ein echter Professor,
aber ohne professorale Allüren. Auf
Exkursion gönnte er sich keinen
Luxus, den er nicht auch den Stu-
denten gewährte. Er schlief ebenso
im Zelt wie sie und schränkte sein
Gepäck gleichermaßen ein, wie er
es von ihnen verlangte. Zahlreich
sind die begeisterten Berichte über
gemeinsame Touren.
Am Ende eines harten Expedi-
tions- oder Arbeitstages feierte, trank
und aß Werner Rauh sehr gerne, wie
aus Erzählungen von Schülern, Kol-
legen und Mitarbeitern hervorgeht,
wie es aber auch in Feldbüchern
dokumentiert ist: „Mittagessen bei
El Colega bei Umuarama
Leberknödelsuppe, Würstchen
gebraten, Schweinerippchen, Hüh-
ner, Beef, grüne Bohnen, Kartoffel-
salat, Tomaten, grüner Salat, Kraut-
salat, Auberginen, Kartoffelgemüse,
Polenta, Pizza, Bier, Coca, Orangen-
saft, Kaffee, 1Flasche Wodka, 6Per-
sonen 175,– Crucados.“ (5. März
1975, Brasilien, HEIDRAUHFDB
050_013)
Es gibt aber auch Dinge, die kri-
tisch zu betrachten sind. Rauh war
mit dem Aufsammeln nicht zimper-
lich: Nicht selten sammelte er ganze
Bäume „epiphytenfrei“ und schickte
durchaus schon mal 100 Exemplare
einer Tillandsienart nach Heidelberg.
Bei manchen Reisen sammelte er
große Mengen Orchideen oder Bro-
meliaceen für Gärtnereien, was er
sogar in den Feldbüchern vermerkte.
Daneben heißt es mehrmals in Feld-
büchern: „Trotz langer Suche nur
einmal gefunden.“ Das eine Exemp-
lar wurde dann aber dennoch gesam-
melt – womit möglicherweise die
gesamte Population heute im Herba-
rium HEID liegt. All das zeugt nicht
von großer Zurückhaltung, anderer-
seits hat er durch seine unermüdli-
che Vortrags- und Publikationstätig-
keit zeitlebens das Ziel verfolgt, eine
möglichst große Öffentlichkeit für
die Gefährdung der Biodiversität in
den Ursprungsländern zu sensibili-
sieren und wachzurütteln. Er selbst
bezeichnete sich gerne als „Land-
streicher der Botanik“ (Rauh 1994).
Hinweise auf weitere geplante
Publikationen
Diese biographische Skizze ist ein
erster Anfang der Berichterstattung
über das Erbe Werner Rauhs. In
verschiedenen Zeitschriften sind Bei-
träge über das „Werner Rauh Heri-
tage Project“ geplant wie auch sys-
tematisch-taxonomische Studien zu
Rauh-Arten und -Aufsammlungen.
Sofern sich ein Verlag findet,
wäre auch die Edition einzelner Tage-
bücher der einen oder anderen Reise
denkbar, ausgestattet mit Stand-
128
Die Bromelie 2013 (3)
ort-Fotos von den Reisen. Zusätz-
lich ist eine ausführliche kritische
Biographie in Arbeit.
Es bleibt zu hoffen, dass sich für
die weitere Aufarbeitung des Nach-
lasses, besonders die ausgesprochen
wertvollen Tagebücher in Heidel-
berg und die vielen Bromelienbilder
in Bonn, ein Geldgeber findet.
Danksagung
Zu allererst danke ich der Klaus-Tschira-Stif-
tung gGmbH in Heidelberg für die Finan-
zierung der ersten Phase des WRHP (2009–
2012). Ohne dieses Engagement würden
die Feldbücher Werner Rauhs noch heute,
nahezu unzugänglich für die Öffentlichkeit,
in Archivkartons schlummern. Mein ganz
besonderer Dank gilt den Kolleginnen und
Kollegen vom Botanischen Garten und Her-
barium Heidelberg, namentlich Marcus A.
Koch, Direktor des BG und Herbarium HEID,
denen ich allen sehr viel verdanke. Weiterhin
danke ich dem Botanischen Garten Halle,
namentlich Ralf Dehn, Axel Fläschendräger
und Fritz Kümmel, für zahlreiche Informati-
onen und die Bereitstellung von Bildmaterial
aus Rauhs Studentenzeit. Dem Kreismuseum
Bitterfeld, besonders dessen Leiter Uwe
Holz, dem Museum Barockschloss Delitzsch
(Mathias Graupner) und dem Landes-
museum für Vorgeschichte Halle (Saale)
danke ich für zahlreiche Informationen zu
Werner Rauhs „archäologischer Jugend“.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Universitätsarchivs Heidelberg, die mich
nach Kräften bei der Recherche unterstütz-
ten, gilt mein aufrichtiger Dank, ebenso wie
dem Universitätsarchiv Leipzig. Zahlreiche
Informationen und lebendige Erlebnisbe-
richte gaben mir Wilhelm Barthlott, Claudia
Erbar, Peter Leins, Daud Rafiqpoor und Peter
Sack, denen ich dafür sehr dankbar bin. Nicht
zuletzt danke ich meiner Frau, die mich viele
Stunden entbehren musste, für ihre Geduld.
Quellen
Backeberg, C. 1957. Descriptiones Cactacea-
rum Novarum.
Drüll, D. 2009. Rauh, Werner. – Heidelberger
Gelehrtenlexikon 1933–1986. pp. 484–485.
Koch, M.A., C.N. Schröder, M. Kiefer & P. Sack.
2013. A treasure of plant biodiversity from
the 20th century: The Werner Rauh Heritage
Project at Heidelberg Botanical Garden and
Herbarium. – Plant Systematics and Evolution
(eingereicht).
Rauh, W. 1937. Die Bildung von Hypocotyl
und Wurzelsprossen und ihre Bedeutung für
die Wuchsformen der Pflanzen. – Nova Acta
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UA Heidelberg: Besoldungsakte UAH PA2921,
Personalakten UAH PA8501 & PA8502.
UA Leipzig: Quästur, Karteikarte 252 32/33 &
Abgangs- und Studienzeugnis-Protokoll (Rep.
01/16/07/C/094 p. 145).
Bemerkung zu den Abbildungen: Leider war
es trotz intensiver Recherchen nicht möglich,
bei allen Fotografien die Bildautoren und
Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte
sich jemand in seinen Rechten verletzt füh-
len, möge er dies dem Autor bitte mitteilen.
Christof Nikolaus Schröder
Botanischer Garten Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 340
69120 Heidelberg
niko.schroeder@
cos.uni-heidelberg.de
Abb. 19: „Auca Mädchen Ecuador 1987.“
Foto: W. Rauh (BG und Herbarium HEID)
Abb. 20: Auca ? Ecuador 1987 ? Foto: W. Rauh
(BG und Herbarium HEID)
Abb. 21: „Cofanes-Indianer“ (Ecuador?)
Foto: W. Rauh (BG und Herbarium HEID)
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