Content uploaded by Josef W Egger
Author content
All content in this area was uploaded by Josef W Egger on Oct 21, 2015
Content may be subject to copyright.
37 PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN
25. Jahrgang 2014, Nummer 1
Biopsychosoziale Medizin in der Lehre der MUG
Panta rhei, alles fließt, auch das Grundverständnis der wis-
senschaftlichen Medizin ändert sich – zwar langsam, aber un-
aufhaltsam. Es sind einerseits gesellschaftliche Entwicklun-
gen, die das Medizinsystem dazu drängen, das „Subjekt in der
Medizin“, d.h. den kranken Menschen mit seinem Leid, den
Ängsten und Sorgen, aber auch seinen Motiven und Potenzia-
len wahrzunehmen und nicht nur sein körperliches Gebrechen.
Andererseits drängt sowohl der Finanzierungsengpass im Ge-
sundheitswesen als auch eine erweiterte Sicht der medizini-
schen Hintergrundtheorie die bisherige Vorrangstellung der
Reparaturmedizin in die Enge und macht den Blick frei auf
eine umfassendere, biopsychosoziale Konzeption von Krank-
heit und Gesundheit.
Abbildung 1: Biopsychosoziale Medizin
Folgerichtig weist die Medizinische Universität Graz das Bio-
psychosoziale Modell als ihr Leitbild für die Ausbildung in
Humanmedizin aus. Diese Orientierung für die wissenschaftli-
che Medizin gewährleistet eine multidimensionale Sicht auf
Diagnostik und Therapie und berücksichtigt neben den biome-
dizinischen Aspekten immer auch die psychologischen und
öko-sozialen Bedingungen für die Entstehung und Aufrechter-
haltung von Krankheiten. Die Grundlage der biopsychosozia-
len Medizin bildet dabei die Theorie der Körper-Seele-Einheit
(body mind unity-theory) – eine Erkenntnis, wonach jedes see-
lische Ereignis immer auch zugleich ein physiologischer Vor-
gang ist. Damit kann die bisherige Psychosomatik mit ihrer
Zwei-Welten-Theorie (dem „Leib-Seele-Dualismus“) über-
wunden und eine integrierte Medizin für das 21. Jhd. entwi-
ckelt werden.
Biopsychosoziale Medizin und Theorie
der Körper-Seele-Einheit
Gelegentlich taucht die Frage auf, ob es sich beim biopsycho-
sozialen Modell um einen weiteren der vielen Definitionsver-
suche zum Thema Krankheit handelt. Die Antwort dazu lautet:
Beim Konzept des Biopsychosozialen Modell handelt es sich
um keine bereichsspezifische Theorie zu Krankheit oder Ge-
sundheit, sondern um eine metatheoretische Position. Diese
Metatheorie basiert u.a. auf der gemeinsamen Nutzung der so
genannten Allgemeinen Systemtheorie und der Leib-Seele-Iden-
titätstheorie von Spinoza. Erst dadurch wurde es möglich, die
alte Dichotomie der Psychosomatik bezüglich Körper und
Seele (oder zwischen krank und gesund bzw. zwischen orga-
nisch und seelisch bedingter Krankheit) aufzulösen bzw. dieser
Zwei-Welten-Theorie zu entgehen.
Abbildung 2: das biopsychosoziale Krankheitsverständnis
Session 1 – Biopsychosoziale Medizin an der Medizinischen Universität Graz –
Weiterentwicklung des Curriculums Humanmedizin
Biopsychosoziale Medizin in der Lehre der MUG – the body mind unity theory
als Grundlage für das BPS-Leitbild der MUG
Josef W. Egger / Graz
'#(()#)#,'!($!$(((#1,.'()#
;8$7<4($#'#1,!,!(#(#")/!()0&(#
#)#(# #(4-!#(,##!#(;8&(0$7<($/
!(#(#")#.,!!#($1!#,#% $!$(#
#(,"/!)#;8($1$7<6
3093("-&&"'$((8.0'0#)-$E-0&(8F
3(-$C&C(100.0#)-$E+$()9F
93--6$(3("-$C&C$#)0)'$>
(„Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“)
$''%'&'9!9#):;!!6<
=$'''#9()9#):;#,'$/((6<
=$'')'9()9#):;/((6)$')6<
!(((9$''$&(0$($1!#1#
Antike Heilkunst (Asklepios=Äskulap): Zuerst heile mit dem Wort, dann mit der Arznei
und zuletzt mit dem Messer.
Wissenschaftliche Heilkunde sensu Biopsychosoziale Medizin: Finde heraus, womit du dem Patienten
in seinem jeweiligen Krankheitsstadium am besten helfen kannst, und unterstütze ihn dabei mit allen gebotenen Mitteln –
mit Wort, Arznei und Messer.
.$)+.8#).)9$&-(%#$0.5-.0(($.&.
AG3&(-$9$(@
„MESSER“
chirurg./technische
Wirkfaktoren
Arzt als
PROBLEMLÖSER
im Krankheitsfall
naturwissenschaftliche
Kompetenz
„ARZNEI“
pharmazeutische
Wirkfaktoren
Arzt als
KATALYSATOR
in der
Krankenbehandlung
Spezialkompetenz:
psychotherapeutische
Kompetenz
„WORT“
kommunikative
Wirkfaktoren
Arzt als
BEGLEITER
des kranken Menschen
kommunikative
(psychosoziale)
Kompetenz
(„psycho“ umschreibt die Gesamtheit aller seelischen Phänomene – auch der spirituellen,
„sozio“ steht für alle sozialen, kulturellen und physiko-chemischen/ökolog. Lebensumwelten)
38
PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN 25. Jahrgang 2014, Nummer 1
Josef W. Egger
Das biopsychosoziale Modell ist also nur eine Rahmentheorie
und hat in der aktuellen Fassung als erweitertes bzw. revidier-
tes biopsychosoziales Modell die sog. Body Mind Unity-Theo-
ry oder Theorie der Körper-Seele-Einheit zur Grundlage (s.
z.B. Egger 2005, 2008a,b, 2012). Dieser theoretische Ansatz
ist weder pathogenetisch noch salutogenetisch ausgerichtet,
sondern hebt auch diese Dichotomie auf – man kann sowohl
gesund als auch krank sein, je nachdem welche Systeme im
Fokus stehen und wie sehr die Ausprägungen von Funktions-
tüchtigkeit oder Funktionseinschränkung auf den unterschied-
lichen Systemebenen wirksam werden.
Abbildung 3: Gesundheit und Krankheit im biopsychosozialen Modell
So hat auch der kranke Mensch gesunde Anteile und der Ge-
sunde kann durchaus pathogene Aspekte aufweisen, die jedoch
das System „Mensch“ bzw. der menschliche Organismus unter
Kontrolle behält. Der Krankheitsbegriff ist in dieser Konzepti-
on ein funktioneller und kein rein materieller bzw. histologisch
begrenzter Begriff.
Es mag sein, dass ein wissenschaftstheoretisch so anspruchs-
volles Konzept wie die Body Mind Unity-Theory für viele Ge-
sundheitsexperten (insbesondere auch für ÄrztInnen und The-
rapeutInnen) eine Herausforderung für das Verstehen und
Akzeptieren bedeutet. Aber dies ist kein redlicher Grund, auf
simplere „Eigenlösungen“ für das zu Recht kritisierte main-
stream Modell der Medizin („der Mensch als komplexe Ma-
schine“, „Reparaturmedizin“) auszuweichen, wie dies immer
wieder versucht wird. Natürlich wird mit solchen begrenzten
(idiosynkratischen) Modellen auch einem Bedürfnis breiter
Schichten in der Bevölkerung nach möglichst einfachen Erklä-
rungen Rechnung getragen - aber wissenschaftlich lauter ist
das nicht. Es ist und bleibt die Bringschuld der aufgeklärten
Experten, den Mitmenschen auch den weniger eingängigen
Sachverhalt zugänglich zu machen. Denn die Wahrheit ist den
Menschen zumutbar. So war es immer in der Menschheitsge-
schichte, z.B. auch mit den Phänomenen der Götterwelt und
Geister, des Magnetismus oder der Relativitätstheorie.
Die hard facts der bisherigen medizinischen Wissenschaften
bleiben zentraler Bestandteil der neuen Orientierung, sie wer-
den aber signifikant erweitert durch die den kranken Menschen
jeweils eigenen psychologischen und umweltbezogenen Wirk-
faktoren. Krankheit entwickelt und ändert sich auf der Basis
der individuellen genetischen Matrix im Kontext von persönli-
chen Eigenheiten des Erlebens und Verhaltens eines Menschen
sowie seiner spezifischen ökologischen und sozialen Lebens-
von psycho-sozialen Störungen und
Auffälligkeiten bedeuten demnach
"
!
„KRANKHEIT“ UND „GESUNDHEIT“ ERSCHEINEN HIER NICHT
ALS EIN ZUSTAND, SONDERN ALS EIN DYNAMISCHES
GESCHEHEN. SO VERSTANDEN MUSS GESUNDHEIT IN JEDER
SEKUNDE DES LEBENS „GESCHAFFEN“ WERDEN.
'$0.$(-$($5$3&&(
'3..$(.$(-+.8#$.#(=)-"($)&)"$.#(3(*%)C
.)9$&($'(.$)(-%((06-(
$-%3("3+.8#$.#=)-"($)&)"$.#3(*%)C.)9$&
$'(.$)(.
$(.$(-$($5$3&&(
#)'*$#''##9#$(*
0($(0"-1)(3-#3093("5)(.0*-3("..+9$.#()&&(4-
$-$(3("96$.#((8.0'((E6$..(.#!&$#%((0
3(5-'300)''3($%1)(.6"96$.#((-&5(0(8.0'(F
",!*"$!'&
-$)+.8#).)9$&$"().1%"-4(0-$(.093())-$(1)(
-(0-5(1)((3(3(0-.#$&$#($( 3..((=
#(&3(".%)(9+0'$0'#-$'(.$)(&($("-$.'*"&$#%$0(
)-"($.#C
$)&)"$.#0(
-&(.C3(
-#&0(.0(
(%(=4#&(=
(&(
*%)C.)9$&0(
E+#8.$%)C#'$.#3(
.)9$&'6&0
",!*"$!
)#'((,#5
0(((=0(,3&&(=
3(%1)(&&-$#
$)+.8#).)9$&$"().1%
@",!)##$(* @=
#-((C$"().1%
(*"")
#)'.#*$##4
.-$&&.)-+-&&&.
-)-
$)+.8#).)9$&#-+$
@",!)#)'&@=
#-((C#-+$
$("-$3
)-"($)&)"?(>
+#-'%)0#-+31.#=
#$-3-"$.#C0#($.#=
+#8.$)0#-+31.#
$("-$3
+.8#)&)"?(>
)"($15C')1)(&3(
#(&3(".)-$(1-0
(0-5(1)((
$("-$3
*%).)9$&-(>
'$&$-.B-3 $#.
096-%=.)9$)C%3&03-&&
..)3-(
Parallele Diagnostik („Simultandiagnostik“) und Parallele Therapie („Simultantherapie“)
im biospsychosozialen Krankheitsmodell
Abbildung 4: parallele Diagnostik
39 PSYCHOLOGISCHE MEDIZIN
25. Jahrgang 2014, Nummer 1
bedingungen. Da diese Wirkebenen parallel verschaltet sind,
macht es Sinn, diese sowohl in Diagnostik als auch Therapie
simultan (parallel) zu nutzen. Um einem solch breiten Ansatz
gerecht zu werden, benötigt die angehende Ärzteschaft nicht
nur Wissen und Fertigkeiten im pharmazeutischen und tech-
nisch-chirurgischen, sondern auch ausreichende Kenntnisse
und Kompetenzen im kommunikativen Bereich der ärztlichen
Tätigkeiten.
Was es in der akademischen Ausbildung nun braucht, ist eine
anhaltende Förderung der sog. soft skills. Eine professionelle
Arzt-Patient-Kommunikation ist in ihren Grundzügen lehr-
und lernbar, sie hilft, die Patienten in ihrem Leid besser zu ver-
stehen und sie fachkundig begleiten zu können, sie aber auch
dort in die Verantwortung zu nehmen, wo dies sinnvoll und
notwendig ist. Die ärztlichen Haltungen (medizinischer Prob-
lemlöser, helfender Förderer des Gesundheitsverhaltens und
frustrationstoleranter Begleiter des Patienten) müssen verstan-
den, eingeübt und erprobt werden – eine echte Herausforde-
rung für alle Lehrenden.
Mit diesem Symposium wollen wir uns diesem vielschichti-
gen Thema stellen, unsere Inhalte, didaktischen Überlegungen
und persönlichen Erfahrungen zur gegenseitigen Bereicherung
austauschen. Die Umsetzung des biopsychosozialen Anspruchs
kann – auch in der Lehre - nur gelingen, wenn sich viele – sehr
viele – von uns dafür engagieren und mit Geduld und Ausdau-
er das Ziel einer effizienten und zugleich humanen Medizin
verfolgen.
Verweise:
EGGER, JW, 2008, Theorie der Körper-Seele-Einheit: Das erweiterte
biopsychosoziale Krankheitsmodell. Integrative Therapie. 2008;
33(4): 497-520.
EGGER, JW, 2010, Gesundheit - Aspekte eines komplexen biopsychosozi-
alen Konstrukts und seine Korrelation zu Optimismus und Glückserle-
ben. Psychologische Medizin. 2010; 21(1): 38-48.
EGGER, JW, 2012, Theorie der Körper-Seele-Einheit. Folgerungen für
die biopsychosozial orientierte Forschung. Psychologische Medizin.
2012; 23(1): 24-30.
EGGER, JW, 2012, Zuerst heile mit dem Wort ... ? Zur Bedeutung der
Kommunikation in der Humanmedizin. Psychologische Medizin.
2012; 23(1): 38-49.
www.bpsmed.net
Autor:
UNIV.-PROF. DR. JOSEF W. E GGER, Professur für Biopsychosoziale
Medizin in der Lehre an der Medizinischen Universität Graz
Josef.egger@medunigraz.at
Historische Aspekte zur Entwicklung des MUG-Leitbildes biopsychosoziale Medizin
Abbildung 5: Venedig-Deklaration der IS-BPS-Med
CCB$)+.8#).)9$&$9$(E666?+.'?(0F
7C-
ECCF
)-0$&-'.093(".$)+.8#).)9$&()&&.>
&)'(&'#(3-#+-&&&E3(($#0.-$&&F
()-'1)(..''&3("E4-$#(&3(".3-"-#(0F
&5-..-0*#)#9$"&!#3-##-(C(.09
E$(93"-$($5$3&&(0?C.+%0!!F
&6($"-((.'()##((E3-#--$0($(.
"'$(.'(-(%#$0.5-.0(($...F
&"-*/-*#)#1,'#)E'$0+).?4%6$-%3("3
-90F
&5-..-0!* )E'$0+).?4%6$-%3("3
.3(#$0..8.0'F
Historische Aspekte zur Entwicklung des MUG-Leitbildes
biopsychosoziale Medizin
Gilbert Reibnegger / Graz
Der im Universitäts-Studiengesetz 1997 erteilte gesetzliche
Auftrag an die damaligen Medizinischen Fakultäten Öster-
reichs, das traditionelle Rigorosenstudium Medizin in ein Di-
plomstudium zu transformieren, wurde aufgrund der schon
sehr lange empfundenen Schwachstellen eben dieses Rigoro-
senstudiums (veraltete Grundstruktur; mangelnde Abstimmung
zwischen den Fächern; „Hürdenlauf“ für die Studierenden auf-
grund mangelnder zentraler Vorgaben für die Lehre; Realität
des Studiums entkoppelt vom Studienplan; erster Kontakt mit
realen PatientInnen erst am Ende des Studiums; Probleme mit
der freien Wahl von Prüferinnen und Prüfern; Kommunikation
und Umgang mit PatientInnen und Angehörigen kein Studien-
gegenstand; u.v.a.m.) als Vehikel für die Entwicklung und Eta-
blierung eines völlig neuen, modernen, studierendenzentrierten
und integrierten Curriculums genutzt, wobei an den drei öffent-
lichen Medizinfakultäten in Wien, Innsbruck und Graz gemäß
dem Profilierungsauftrag des Gesetzgebers in der Substanz
sehr ähnliche, in der Form jedoch durchaus unterschiedliche
Zugänge gefunden wurden. (Erwähnenswert in diesem Zusam-
menhang sind bereits Anfang der 1990er Jahre gemachte analo-
ge Anstrengungen im Rahmen der damaligen Österreichischen
Gesamtstudienkommission für Medizin, die jedoch wegen Fi-
nanzierungsproblemen seitens des zuständigen Ministeriums
nie realisiert worden waren.)