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Aventiuren in Aschkenas. Jüdische Aneignungen nichtjüdischer Texte und Erzählstoffe im vormodernen Europa

Authors:
Aschkenas 2015; 25(1):1–10
Astrid Lembke: astrid.lembke@hu-berlin.de
Astrid Lembke
Aventiuren in Aschkenas. Jüdische
Aneignungen nichtjüdischer Texte und
Erzählstoffe im vormodernen Europa
DOI 10.1515/asch-2015-0001
Zur Einführung
Dass jüdische Rezipientinnen und Rezipienten erzählender Literatur in der asch-
kenasischen Vormoderne an nichtjüdischen Texten und Stoffen – darunter auch
an höfischen Erzählungen – interessiert gewesen sein sollen, wurde in der For-
schung lange bestritten. Moritz Steinschneider spricht davon, dass »das sonder-
bare Gemisch von Standesehre, Blutrache und verhimmelter Unzucht, das man
Chevalerie nennt«¹ von den Juden keinesfalls habe gebilligt werden können. Und
noch mehr als 100Jahre später stellt Daniel Boyarin in seiner Studie ›Unheroic
Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man‹ die
These auf, dass die Themen ritterlicher Kampf und passionierte Liebe für Jüdin-
nen und Juden nicht sonderlich attraktiv gewesen seien: »Traditional Jewish
culture may not have had room for romance (and was cynical about it when
encountered in either its medieval or modern forms), but it was not cynical about
love between married couples.«² Und: »Official Judaism indeed had no room for
such ›refinements‹ (höfischer Liebe, A.L.) – although the story of unofficial inter-
actions of Jews and romance, as a genre and a culture from the Middle Ages on,
remains to be told.«³ Die ›traditionelle jüdische Kultur‹ und das ›offizielle Juden-
tum‹ standen Boyarin zufolge der höfischen Literatur und ihren Konzepten von
1M S: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als
Dolmetscher. Berlin 1893, S.968. Vgl. zu Steinschneiders apodiktischer Aussage M P-
 Rezension zu A J: Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen
›Widuwilt‹ (›Artushof‹) und zum ›Wigalois‹ des Wirnt von Gravenberc. Tübingen 2000 (Conditio
Judaica; 32). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 131 (2002), S.532–539,
hier S.532.
2D B: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Je-
wish Man. Berkeley, Los Angeles, London 1997 (Contraversions; 8), S.48.
3Ebd., S.44.
2 Astrid Lembke
wehrhafter, aggressiver Männlichkeit und von höfischer Liebe skeptisch gegen-
über.
Tatsächlich äußern sich vormoderne jüdische Gelehrte zuweilen sehr konkret
in ihrer normativen Ablehnung christlicher Erzählstoffe und Figuren. Auf beson-
deren Widerstand etwa stoßen zu Beginn der Frühen Neuzeit zwei Figuren aus
der deutschen Heldenepik: 1544 rügt Michael Adam im Vorwort zu seiner Über-
setzung des Pentateuchs all jene, die lügnerische Bücher über Dietrich von Bern
und Hildebrand lesen, statt sich mit der Bibel zu beschäftigen. Ein Jahr später
äußert sich der Verleger und Drucker Cornelius Adelkind im Vorwort zu einer
Übersetzung der Psalmen durch Elia Levita ganz ähnlich – endlich habe er eine
angemessene Lektüre für diejenigen seiner Rezipienten bereitgestellt, die sich
lieber mit frommen Angelegenheiten als mit Dietrich von Bern beschäftigen
wollten. Isaak Sulkes rät im Jahr 1579 in seiner Hoheliedübersetzung vehement
davon ab, Geschichten über Dietrich und Hildebrand zu lesen, und auch das
Mayse-bukh von 1602 schließt sich dieser Meinung an, wenn es Erzählungen über
Dietrich von Bern und Meister Hildebrand streng als Schmutz und unheiligen
Unfug be zeichnet.
Dietrich und Hildebrand scheinen im 16. Jahrhundert in den Augen jener
Gelehrten, die ihren Rezipientinnen und Rezipienten die heiligen Schriften nahe-
bringen wollen, wahre Feindbilder gewesen zu sein. Nun sind solche Klagen
über die Rezeption weltlicher Erzählungen keine ausschließlich jüdische Spezi-
alität. Im 11.Jahrhundert beispielsweise tadelt der Domschulmeister Meginhard
von Bamberg seinen Bischof Gunther und dessen »erbärmliches und klägliches
Leben« scharf, da er sich doch niemals mit Augustinus oder Gregorius beschäf-
tige: »semper ille Attalam, semper Amalungum et cetera id genus portare tractat«
(immerfort beschäftigt er sich mit Attila und dem Amelung [d.h. Dietrich von
Bern ] und mehr von dieser Art). Allerdings verhält es sich mit dem Tadel Megin-
hards und anderer christlicher Autoren ähnlich wie mit dem der jüdischen. Die
oftmals geäußerte Kritik der jüdischen Gelehrten an Erzählungen und Büchern
über Dietrich von Bern und Meister Hildebrand ist mit großer Wahrscheinlichkeit
4Boyarin weist in diesem Zusammenhang auch auf bildliche Darstellungen der vier Söhne in
der Pessach-Haggada hin. Ausgerechnet der ›böse Sohn‹ wird in der Tradition häufig als Krieger
gezeigt. Oft besitzt er Ähnlichkeit mit einem römischen Soldaten, während er in anderen Fällen
wie ein christlicher Ritter aussieht. Vgl. ebd., S.51ff.
5Alle genannten Beispiele finden sich bei J B: Introduction to Old Yiddish Lite-
rature. Ed. and transl. by J C. F. Oxford 2005, S.156f.
6Der lateinische Text des Zitats und die deutsche Übersetzung finden sich in: Norbert Voor-
winden: ›Quid cantus rusticorum cum Ovidio?‹ Über die Nibelungenrezeption um 1200. In: Das
Nibelungenlied. Hg von J G. Porto 2001, S.147170, hier S.155.
7Ebd.
Aventiuren in Aschkenas  3
ein Hinweis darauf, dass diese Geschichten auch unter Juden bekannt und vor
allem beliebt waren – obwohl es sich um definitiv weltliche Erzählungen handelt,
die zudem nicht aus der antiken jüdischen Tradition hergeleitet werden können.
Die Annahme, dass jüdische Leser und Hörer sich wohl durchaus für die glei-
chen literarischen Figuren interessierten wie ihre christlichen Nachbarn, steht im
Einklang mit den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft. Deren Auffassung
davon, wie Juden und Christen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Asch-
kenas zusammenlebten, hat sich in den letzten 150Jahren mehrmals grundle-
gend geändert: Auf das idealisierende Bild einer ›deutsch-jüdischen Symbiose‹
folgte nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust die Vorstellung einer strengen
Scheidung zwischen den Gemeinschaften in allen oder doch in den meisten
Lebensbereichen.¹ In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich der Blickwinkel
nochmals verschoben. Man begann, ein weites Spektrum herausragender, aber
auch alltäglicher Interaktionen zwischen Juden und Christen zu untersuchen,
das von bitterer Polemik bis zu einträchtiger Kooperation reicht.¹¹ Die Studien
8Tatsächlich überliefert sind lediglich zwei Werke, nämlich die jiddische heldenepische Dich-
tung Herr Dietrich (eine jiddische Bearbeitung des Jüngeren Sigenot) sowie eine jiddische Bear-
beitung des Jüngeren Hildebrandslieds. Vgl. Dietrich von Bern (1597). Ed. by J A. H.
Würzburg 1986; W B. L: Die Textgestalt des Jüngeren Hildebrandsliedes in jü-
disch-deutscher Sprache. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 85
(1963), S.433–447.
9»Eine Reihe deutsch-jüdischer Historiker, Volkskundler und Germanisten ließ es sich im 19.
und frühen 20.Jahrhundert angelegentlich sein, durch ihre Forschungen den Nachweis zu er-
bringen, daß sich die Juden des deutschen Sprachraums schon lange vor dem Beginn der recht-
lichen Gleichstellung ebenso als ›Deutsche‹ gefühlt und verstanden hatten wie ihre christlichen
Zeitgenossen.« M P: Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deut-
schen Literatur des Mittelalters. Berlin 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kul-
turgeschichte; 6), S.37. Martin Przybilski zitiert beispielhaft M G: Geschichte des
Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland von der Begründung
der jüdischen Wissenschaft in diesen Ländern bis zur Vertreibung der Juden aus Frankreich (X.–
XIV. Jahrhundert). 3 Bde. Wien 1880–1888.
10Jacob Katz etwa spricht 1958/1961 für das Mittelalter von zwei distinkten Gesellschaften, der
jüdischen und der christlichen, deren konfliktreiches Verhältnis aus ihrer Koexistenz im selben
wirtschaftlichen und politischen Umfeld resultiert habe. Vgl. J K: Exclusiveness and
Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times. London 1961
(Scripta Judaica; 3).
11Zum Zusammenleben von Juden und Christen vgl. beispielsweise, um nur einige wenige
Studien zu nennen, allgemein I M: A Jewish-Christian Symbiosis: The Culture of
Early Ashkenaz. In: Cultures of the Jews. A New History. Ed. by D B. New York 2002,
S.449–516; vgl. auch den Sammelband von C C, A H und I
Y (Hg.): Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichen-
der Betrachtung (5.–18.Jahrhundert). Hannover 2002 (Forschungen zur Geschichte der Juden,
4 Astrid Lembke
bestätigten, dass die zahlreichen blutigen Auseinandersetzungen (wie etwa die
Kreuzzugspogrome im Jahr 1096 oder die Pestpogrome um 1350, aber auch viele
auf ein kleineres geographisches Gebiet beschränkte Ausschreitungen und Ver-
treibungen) die Perspektive der aschkenasischen Juden auf ihre Lebenssituation
entscheidend prägten. Die enge jüdisch-christliche Nachbarschaft ging häufig
mit Konflikten einher, deren negative Folgen für gewöhnlich die jüdische Minder-
heit tragen musste. Hierauf gründete die verbreitete Überzeugung, einer jederzeit
und dauerhaft bedrohten Gemeinschaft anzugehören. Wie heute auf der Basis
verschiedenartiger, teils erst in den letzten Jahren gehobener und erforschter
Quellen festzustellen ist, hinderte dies die west- und mitteleuropäischen Juden
jedoch nicht daran, dennoch auf vielerlei Weise mit ihren christlichen Nachbarn
in Kontakt zu treten. Begegnungen zwischen Juden und Christen waren Bestand-
teil des täglichen Lebens und verliefen nicht zwangsläufig agonal.
Ein Schlagwort, unter dem Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher
wissenschaftlicher Disziplinen die Produkte der engen Nachbarschaft von Juden
und Christen in der Vormoderne in den letzten Jahren untersuchten, ist das des
›Kulturtransfers‹. Gemeint ist in diesem Zusammenhang der Austausch von
materiellen Gegenständen, Dienstleistungen und Wissensbeständen zwischen
Angehörigen jüdischer bzw. christlicher Gemeinschaften.¹² Diese Gemeinschaf-
ten werden nicht als klar voneinander abgrenzbare, über lange Zeiträume stabile
Einheiten angesehen, zwischen denen Güter zirkulieren, sondern als grundsätz-
lich hybride und veränderbare Kollektive, die nicht nur die ausgetauschten Güter
Abteilung A, Abhandlungen; 13) sowie das Themenheft Grenzen und Grenzüberschreitungen:
Kulturelle Kontakte zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Hg. von E W. In:
Aschkenas 14,1 (2004); zum Konzept der ›inward acculturation‹ vgl. I M: Rituals of
Childhood: Jewish Acculturation in Medieval Europe. New Haven 1996; zur polemischen Ausei-
nandersetzung zwischen Judentum und Christentum vgl. I Y: Zwei Völker in deinem
Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Aus dem
Hebräischen von D M. Göttingen 2007 (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; 4); zu
Kontakten zwischen Juden und Christen im familiären Alltagsleben, etwa durch die Beschäfti-
gung christlicher Ammen in jüdischen Haushalten vgl. E B: Jewish Concep-
tions of Motherhood in Medieval Christian Europe: Dialogue and Difference. In: Micrologus 17
(2009), S.149–165; zur Kombination jüdischer und christlicher Zeitmaßstäbe in jüdischen Kalen-
dern vgl. E C: Palaces of Time. Jewish Calendar und Culture in Early Modern
Europe. Cambridge u.a. 2011.
12Der Transfer von konzeptionellen und materiellen Gütern nicht nur zwischen Juden und
Christen, sondern auch zwischen verschiedenen jüdischen Gemeinschaften stand beispielsweise
im Zentrum der interdisziplinären Tagung ›Ashkenaz at the Crossroads of Cultural Transfer‹, die
im November 2012 am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt stattfand. Eine be-
sondere Form des Transfers, nämlich den von jüdischen Motiven und Stoffen in die christliche
Literatur, untersucht P, Kulturtransfer (wie Anm.9).
Aventiuren in Aschkenas  5
im Aneignungsprozess verändern, sondern die sich auch selbst durch solche
Transferprozesse beständig neu konstituieren. Wissenschaftlich erprobt werden
im Zusammenhang mit Phänomenen des Kulturtransfers auch Konzepte wie das
des ›dritten Raums‹ (Homi K. Bhabha ),¹³ in dem Gemeinschaften einander berüh-
ren, aber auch durchdringen und beeinflussen, oder das eines geteilten ›kultu-
rellen Kapitals‹ (Pierre Bourdieu ),¹ an dem Christen wie Juden gleichermaßen
partizipieren. Der Historiker David N. Myers formuliert die Vorteile einer solchen
Perspektive folgendermaßen:
Postkoloniale Theoretiker […] argumentieren, dass die Kultur des Kolonisators von den
Kolonisierten nicht unverändert aufgenommen wird. Sie wird von den Kolonisierten – der
vermeintlich schwachen und machtlosen Seite – adaptiert, modifiziert, ja unwiderruf-
lich transformiert. Diese Sichtweise ist mehr als eine Übung in ›richtigem Bewusstsein‹.
Sie ermöglicht es, den Prozess des kulturellen Austauschs mit seiner nicht stillstellbaren
Dynamik und seinen vielfältigen Richtungen eher als Angelegenheit des Aushandelns denn
der Einflussnahme zu verstehen. Im Bereich der Jüdischen Studien hat dieses Modell viel
zu bieten […].¹
Zu dem Reservoir kultureller Güter, auf das sowohl Juden als auch Christen zugrif-
fen und auf diese Weise beständig daran mitwirkten, das Reservoir wie auch die
Verfassung ihrer eigene Gemeinschaft neu zu definieren, gehört eine Reihe von
Erzählungen, Stoffen und Motiven. Das Vorhandensein einer Vielzahl von jüdi-
schen Aneignungen nichtjüdischer Texte und Erzählstoffe lässt die Schlussfolge-
rung zu, dass jüdische und christliche Autoren und ihre jeweiligen Rezipienten
gleichermaßen an bestimmten Formen des Erzählens wie auch an bestimmten
Inhalten Gefallen fanden. Mittelalterliche und frühneuzeitliche, hebräische und
jiddische literarische Texte bezeugen ein geteiltes Interesse an Romanen und an
epischen Kurzformen, die auch in der höfischen oder städtischen christlichen
Gesellschaft rezipiert wurden, an ernsten und an komischen Texten, an Texten in
Reimpaarversen, in Strophen oder in Prosa, an ganzen Text- und Stoffkomplexen
oder an einzelnen Motiven.¹
13Vgl. H K. B: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000 (Stauffenberg discussion; 5).
14Vgl. P B: »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.« In: So-
ziale Ungleichheiten. Hg. von R K. Göttingen 1983, S.183–198.
15D N. M: Zu ›Diaspora‹ und den ›Segnungen der Assimilation‹ (Interview). In: Kalo-
nymos 4,4 (2001), S.23–27, hier S.23f. Vgl. auch S B: Schreiben ans Stiefvaterland.
Zum Anregungsgehalt postkolonialistischer Begriffsarbeit für die Lektüre deutsch-jüdischer
Literatur. In: Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von E
L und D M. S. Berlin 2009 (minima judaica; 6), S.415–435.
16Von den zahlreichen Forschungsarbeiten zu jüdisch-nichtjüdischen literarischen Beziehun-
gen in der Vormoderne seien an dieser Stelle exemplarisch nur einige wenige genannt. Zu jüdi-
6 Astrid Lembke
All diese Bearbeitungen regen zum Nachdenken darüber an, mit welchen
Absichten sie möglicherweise geschaffen wurden: Thematisieren in ihnen jüdi-
sche Autoren, Bearbeiter und Kompilatoren ihre Ansichten über das häufig pro-
duktive, häufig aber eben auch konfliktreiche Verhältnis zur christlichen Mehr-
heit, und wenn ja – dienen die Texte der Abgrenzung, zielen sie auf Teilhabe oder
können in einem Text auch beide Haltungen zugleich ausgedrückt werden? Sig-
nalisiert andererseits die Fokussierung auf solche Fragestellungen nicht eine den
Erkenntnishorizont einengende Tendenz, jüdische literarische Bearbeitungen
nichtjüdischer Vorlagen ausschließlich als Auseinandersetzung mit dem religiös
und politisch Anderen zu verstehen und somit das Judentum der Vormoderne auf
seine Beziehungen zum Christentum zu reduzieren? Welche anderen Faktoren
müssen wir berücksichtigen, um zu verstehen, wie ein hebräischer oder jiddi-
scher ›Hyptertext‹ funktioniert, wenn wir ihn in seinem Verhältnis zum ›Hypo-
text‹ (Gérard Genette )¹ und zu seinem historisch-kulturellen Kontext betrachten?
Warum wurden bestimmte Texte überhaupt adaptiert, worin bestand ihr Faszina-
tionspotential für die Autoren und für das adressierte Publikum und wie werden
die Texte beim Wiedererzählen verändert?
Auf diese und noch viele andere Fragen geben die Beiträge in diesem The-
menheft einige Antworten. Die Autorinnen und Autoren analysieren und inter-
pretieren beispielhaft Texte aus den wichtigsten literarischen Quellen, Traditi-
onen, Stoffkreisen und Gattungen, mit denen sich christliche, aber eben auch
jüdische Autoren des aschkenasischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit in
hebräischer oder in jiddischer Sprache beschäftigten:
schen Artusromanen vgl. z.B. R G. W: The Arthurian Traditions in Hebrew and
Yiddish. In: King Arthur through the Ages. Ed. by V M. L and M L D.
2 vols. New York, London 1990, I: S.189–208; zur jüdischen Heldenepik vgl. W-O D-
: Hilde, Isolde, Helena. Zum literarischen Horizont deutscher Juden im 14./15.Jahrhundert.
In: Jiddische Philologie. Festschrift für Erika Timm. Hg. von W R und S N.
Tübingen 1999, S.133–155; zu jüdischen Prosaromanen vgl. A P: Yiddish Versions
of Early German Prose Novels. In: The Journal of Jewish Studies 10 (1959), S.151–167; zur Bibel-
dichtung vgl. W-O-D: Midraschepik und Bibelepik. Biblische Stoffe in der volks-
sprachlichen Literatur der Juden und Christen des Mittelalters im deutschen Sprachgebiet. In:
Zeitschrift für deutsche Philologie 100 (1981), S.78–97; zur Historiographie vgl. S D:
Überlieferung und Rezeption des ›Sefer Yosippon‹. Tübingen 2013 (Texts and Studies in Medieval
and Early Modern Judaism; 29).
17Vgl. G G: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993 (Edi-
tion Suhrkamp; 1683).
Aventiuren in Aschkenas  7
Biblische jüdische Quellen (Bearbeitungen von Erzählungen aus der Hebrä-
ischen Bibel bzw. aus dem Alten Testament oder von apokryphen Erzählun-
gen, z.B. Richter, Daniel, Judith)¹
Nachbiblisch-jüdische historiographische Quellen (z.B. die Werke des
Flavius Josephus )¹
Nichtjüdische antike und außereuropäische Quellen (z.B. Tierfabeln und
Alexanderdichtung, Barlaam und Josaphat, Kalila wa-Dimna)²
Nichtjüdische mittelalterliche, europäische Quellen
Mit dem letzten Punkt sind Stoffe gemeint, die in mittelalterlichen mittel- oder
westeuropäischen Kontexten von christlichen Autoren für ein christliches Pub-
likum entwickelt wurden. Legt man inhaltliche Kriterien an, lassen sich die in
diesem Themenheft untersuchten jüdischen Adaptationen aus diesem Bereich
einer von vier literarischen Gattungen zuordnen (wobei Überschneidungen und
Mischformen bedacht werden müssen):
Heldenepische Dichtung (z.B. Dukus Horant, Herr Dietrich, das Jüngere
Hildebrandslied)²¹
Romanhafte Dichtung (Artusromane, z.B. Melekh Artus, Widuwilt; Liebes-
und Abenteuerromane: z.B. Magelene, Paris un’ Wiene, Bovo dAntona)²²
Exempeldichtung (z.B. Binnenerzählungen in den Sieben weisen Meistern
und im Mayse-bukh)²³
Satirische Dichtung und Narrenliteratur (z.B. Mayse-bukh, Ulenspigel,
Schildbürger)²
Den Auftakt zum Themenschwerpunkt ›Aventiuren in Aschkenas‹ bildet M
P Beitrag zu sprachlichen und literarischen Beziehungen zwischen
Juden und Christen in der Vormoderne (›Zwischen den Kulturen? Überle gungen
18Vgl. in diesem Heft den Beitrag von O R.
19Vgl. den Beitrag von S D.
20Vgl. den Beitrag von N B.
21Zu Anleihen jüdischer Autoren bei Strophenformen, wie sie auch im Jüngeren Hildebrandslied
und im Dresdner Heldenbuch verwendet werden, vgl. den Beitrag von O R.
22Vgl. in diesem Heft die Beiträge von A L und A O.
23Vgl. in diesem Heft die Beiträge von C R und W R. Der Un-
tertitel des Beitrags von Wiebke Rasumny (›ein Schwank, aus der Distanz erzählt‹) deutet schon
darauf hin, dass das Mayse-bukh nicht nur exemplarische Erzählungen, sondern auch Schwänke
enthält. Es finden sich darin auch legendarische und märchenhafte Texte. Daher kann die
Sammlung nicht grosso modo als Exempelsammlung bezeichnet werden. Zum Begriff des Exem-
pels in der christlichen und in der jüdischen Literatur vgl. L R: Jüdische Hagiographie
im mittelalterlichen Aschkenas. Tübingen 2006 (Texts and Studies in Medieval and Early Modern
Judaism; 19), bes. S.52ff.
24Vgl. in diesem Heft den Beitrag von R  B.
8 Astrid Lembke
zu von Juden und Christen geteilten literarischen Horizonten in der Vormo-
derne‹). Darin stellt er die Annahme in Frage, dass die Kulturen des vormoder-
nen Judentums und Christentums wie zwei monolithische Blöcke voneinander
abgegrenzt gewesen seien, und schlägt vor, sie vielmehr als veränderbare Größen
zu denken, die sich in ihrer Interaktion im Raum der geteilten Volkssprache und
der volkssprachlichen Literatur permanent neu formiert hätten. Veranschaulicht
wird diese These an der kurzen jiddischen Liebes- und Abenteuererzählung Berio
un Simro, in der Motive aus der jüdischen und aus der christlichen Tradition zu
einem hybriden literarischen Text verflochten werden.
Mit unterschiedlichen Bearbeitungen des gleichen Stoffs beschäftigt sich
N B (›Indien sehen und sterben. Die Indienreisen Alexanders des
Großen in MS London Jews’ College no. 145‹). Ausgehend von der Forschung zum
mittelhochdeutschen Straßburger Alexander zeigt sie, wie in einem hochmittelal-
terlichen hebräischen Alexanderroman die Figur des Protagonisten eine spezifi-
sche Akzentuierung erhält. Die Lehre, die Alexander in diesem Text aus seinen
Erfahrungen im östlichen Teil der Welt zieht, besteht in der Erkenntnis seiner
eigenen Sterblichkeit. Das zentrale Thema, unter dem sich der jüdische Autor
des Romans in die Tradition der Bearbeitungen des antiken Stoffs einreiht, ist
die fundamentale Ohnmacht, mit der sich selbst der mächtigste Mensch der Welt
abfinden muss und die ihn auf eine Stufe mit allen anderen Menschen stellt.
Auch S D widmet sich jüdischen Adaptationen antiker Vorlagen
(›Josephus im jiddischen Gewand – die jiddische Übersetzung des Sefer Yosippon‹).
Gegenstand ihrer Untersuchung ist jedoch keine Romantradition, sondern die
christliche und jüdische Rezeptionsgeschichte des antiken jüdischen Historiogra-
phen Flavius Josephus . Dessen Schriften über die Zeit des zweiten Tempels wurden
zunächst von christlichen Geschichtsschreibern aufgenommen, zum Teil antijü-
disch bearbeitet und ins Lateinische übersetzt. Von dort aus gelangten sie in einem
neuerlichen Adaptationsprozess zurück in die jüdische Tradition und wurden in
Form des hebräischen Sefer Yosippon wiederangeeignet. Die kulturhistorische
Bedeutung dieses Textes erweist sich unter anderem daran, dass er 1546 bereits
als zweites Buch nach der Torah ins Jiddische übersetzt und gedruckt wurde.
Zwei Werke, die einen weitaus geringeren Anspruch auf Faktualität erheben
als das Sefer Yosippon, sind Gegenstand des Beitrags von A L (›Ritter
außer Gefecht. Konzepte passiver Bewährung im Wigalois und im Widuwilt‹).
Darin vergleicht die Autorin einen hochmittelalterlichen Artusroman mit seiner
spätmittelalterlichen jiddischen Bearbeitung unter dem Aspekt der zahlreichen
Ohnmachtszustände der Protagonisten. Während die Hauptfigur von Wirnts von
Grafenberg Wigalois im Verlauf der Handlung zunehmend autonom zu handeln
vermag, verändert der Adaptor die Handlung dahingehend, dass sein Protago-
nist anderen Figuren bis zum Ende ausgeliefert bleibt und auf sie angewiesen ist.
Aventiuren in Aschkenas  9
Diese Transformation lässt Schlussfolgerungen über ein spezifisches Verständnis
der Beziehung zwischen Männern und Frauen, aber auch der Position eines her-
ausragenden jungen Mannes innerhalb seiner Gemeinschaft zu.
Ebenfalls mit der jiddischen Bearbeitung eines Romans, der zuvor in anderen
europäischen Volkssprachen verschriftlicht worden war, befasst sich A
O (›Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Über die Bedeutung von Reflexion
und Kommunikation in der jiddischen Magelone-Adaption‹). Im Vergleich der jid-
dischen Magelene von 1698 mit Georg Spalatins deutscher Magelone von 1535 wird
deutlich, dass der jüdische Bearbeiter durch nur scheinbar geringfügige Eingriffe
ähnliche Annahmen über die Natur der Affekte und menschlicher Kommunika-
tion formuliert wie Spinoza in seiner Ethik: Angemessene Reflexion und Kom-
munikation führen zu angemessenem Verhalten. Ein sich veränderndes Weltbild
an der Schwelle zur Frühaufklärung zeichnet sich in der jiddischen Adaptation
des Stoffs darin ab, dass die Bewertung dargestellten Verhaltens – anders als in
älteren Bearbeitungen–in hohem Ausmaß dem Publikum überlassen wird.
Mit einer ganzen Reihe von jüdischen wie auch nichtjüdischen Versionen
der Geschichte über die ›treulose Witwe‹ von Ephesus setzt sich C R-
 vergleichend auseinander (›The Widow of Ephesus. Yiddish Rewritings and
a hypothesis on Jewish Clandestine Forms of Reading‹). Die Autorin vertritt die
These, dass ein jüdisches Publikum die Erzählung auf eine andere Weise rezipiert
als ein christliches Publikum, selbst wenn der Text im Adaptationsprozess nur
wenig oder gar nicht verändert wurde. Genau wie in der Vorlage werden die han-
delnden Figuren in der Erzählung als Christen gezeichnet. Dadurch aber, dass die
Erzählung im Kontext einer jüdischen Erzählsammlung platziert wird, kann das
verurteilenswerte Handeln der Witwe und ihres Liebhabers aus der Perspektive
jüdischer Autoren und Rezipienten als polemische Kommentierung christlichen
Verhaltens verstanden werden. Es ist somit die Rahmung der Geschichte, die
einen Akt von ›counter-reception‹ ermöglicht.
Den Effekt, den die Rahmung einer Erzählung auf ihre mögliche Rezep-
tion hat, untersucht auch W R in ihrer Untersuchung einer kurzen
Geschichte, die – wie eine der jiddischen Versionen der Geschichte der Witwe von
Ephesus – im Mayse-bukh von 1602 erschien (›Vom Königssohn aus Pommern,
der nicht Tarbes gelernt hatte – ein Schwank, aus der Distanz erzählt‹). Der Held
der Erzählung, ein ungehobelter Prinz, der sich durch seine Schlauheit Bei-
schlaf und materielle Reichtümer erschleicht, wird als adliger Christ geschildert.
Dadurch, dass diese Geschichte durch Erzählungen über fromme und rechtschaf-
fene jüdische Protagonisten gerahmt wird, erscheint der höfisch-arthurische
Wertekanon in einem negativen Licht. Kritisiert wird in diesem Text also nicht
nur ein bestimmtes Verhalten, sondern auch das Korpus literarischer Texte, dem
die Propagierung eines solchen Verhaltens unterstellt wird.
10  Astrid Lembke
Einen Einblick in vormoderne jüdische Vorstellungen von Narrheit und ihre
Beziehung zu christlichen Traditionen vermittelt R  B (›Das yishev
fun nar-huzen: Jiddische Narrenliteratur und jüdische Narrenkultur‹). Am Bei-
spiel des deutschen Ulenspiegel- und des Schildbürgerromans sowie der jiddi-
schen Bearbeitungen dieser Texte arbeitet sie die Selbstverständlichkeit heraus,
mit der Juden an einer religiöse Grenzen überschreitenden, gesamteuropäischen
Narrenkultur teilhatten. Anhand eines Textes mit dem Titel Ele divre haberiss,
einer Parodie auf den Vertrag zwischen den Familien zweier ganz besonders
unattraktiver Brautleute, der sich im Frankfurter Teil des sogenannten Wallich-
Manuskripts befindet, zeigt die Autorin, wie auf der Grundlage einer gemeineu-
ropäischen ›närrischen Grammatik‹ nicht nur christliche, sondern auch jüdische
religiöse Rituale lustvoll verspottet wurden.
Einen weiteren Aspekt des Themas jüdisch-nichtjüdischer Literaturbezie-
hungen in der Vormoderne beleuchtet O R zuletzt in seinem Beitrag zur
metrischen Gestalt altjiddischer Bibeldichtungen in Strophenform, sowie zu den
Melodien, zu denen diese und andere Texte möglicherweise vorgetragen wurden
(Be-nign Shmuel-bukh: On the Melody (or Melodies) Mentioned in Old-Yiddish
Epics). In einem Vergleich der häufig verwendeten, ›klassischen‹ oder modifi-
zierten Strophenform ›Nign Shmuel-bukh‹ mit dem ›Hildebrandston‹ im Jüngeren
Hildebrandslied, mit der ›Heunenweise‹ im Dresdner Heldenbuch und mit der in
der italienischen Renaissanceliteratur weit verbreiteten ›Ottava Rima-Strophe‹
arbeitet der Autor heraus, dass auch in formaler Hinsicht enge Beziehungen zwi-
schen den Werken jüdischer und christlicher Literaturschaffender bestehen.
All diese komparatistischen Untersuchungen decken zusammen zumindest
einen Teil des weiten Spektrums aschkenasischer Auseinandersetzungen mit
nichtjüdischen Vorlagen ab. Dank gilt den Herausgeberinnen und Herausgebern
der Zeitschrift Aschkenas für ihre Bereitschaft, die Aufsätze in einem Themenheft
zu publizieren. Die meisten Beiträge gehen aus einer Tagung hervor, die unter
dem Titel Aventiuren in Aschkenas. Jüdische Aneignungen nichtjüdischer Texte und
Erzählstoffe im vormodernen Europa am 10.–11.März 2014 am Zentrum Jüdische
Studien Berlin-Brandenburg sowie am Centrum Judaicum (Stiftung Neue Syna-
goge Berlin) stattfand. Organisiert wurde die Tagung – großzügig unterstützt aus
Mitteln der Fakultät II zur Nachwuchsförderung – am Institut für deutsche Litera-
tur der Humboldt-Universität zu Berlin . Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben sowie allen Vortragenden und
Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem Band sei hier gedankt.
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