Unter den Mitarbeitern der Jugend- und Drogen-beratungsstelle Drop-in Zürich und der Methadonberatungsstelle des sozialpsychiatrischen Dienstes der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich hat sich in den vergangenen 10 Jahren eine grosse Erfahrung mit Behandlungen von delinquenten Süchtigen angesammelt. Die Befragung erstreckte sich über 8 Therapeuten in den betreffenden Institutionen. Alle hatten eine psychoanalytische Arbeitsweise und Ausbildung. Die Arbeit stellt einen Versuch dar, deren umfassendes Wissen über die psychoanalytisch orientierte Behandlung von Süchtigen, Delinquenten und andern gesellschaftlich randständigen jungen Leuten auf quantitative und qualitative Weise zu erfassen und darzustellen. Ein zweites Ziel bestand in der Erprobung einer Kombination von empirisch-statistischen mit hermeneutischen Methoden. Theoretischer Hintergrund der Befragung bildete eine moderne psychoanalytische Konzeptualisierung des dissozialen Syndroms und seiner Behandlung auf der Basis der Borderline- und Narzissmustheorien (Rauchfleisch 1981). Im ersten Teil des Fragebogens wurden einfache soziodemographische Merkmale und anamnestische Variablen sowie delinquente und deviante Verhaltensweisen des Patienten erhoben. Der zweite Teil umfasste die psychiatrisch-medizinische Kategorisierung der Symptomatik und die Psychodynamik, wie der Therapeut sie im Laufe der mehrjährigen Behandlung durch die Erzählungen und die Übertragung des Patienten kennenlernt. Die Psychodynamik wurde anhand der neun symptomatischen und psychodynamischen Dimensionen Rauchfleischs operationalisiert: "Frustrations-toleranz", "Beziehungsfähigkeit", "Realitätsprüfung", "Depressivität", "narzisstische Störung", "Überich-Struktur", "Abwehrmechanismen", "Desintegrationstendenz" & "Trieb-struktur". Diese neun Variablen dienten dann als Basis für die Clusteranalyse. Der dritte Teil der Befragung erfasste die Behandlung. Dazu gehörten Motivation, Setting, Übertragung und Widerstand und zuletzt verschiedene Erfolgskriterien. Es muss nochmals angemerkt werden, dass die Therapeuten über ihre Patienten befragt wurden und nicht etwa die Patienten selber.
Die Stichprobe umfasste 40 Probanden, die sich seit mindestens 18 Monaten in Therapie befanden und die eine markante delinquente Symptomatik aufwiesen, die quantitativ über die reine Beschaffungskriminalität von Heroinfixern hinausging. Da am Anfang der Untersuchung über delinquente Patienten noch nicht bekannt war, dass alle in Frage kommenden Probanden auch süchtig waren, geriet die Stichprobe bezüglich Sucht etwas uneinheitlich. So waren 37 Probanden primär heroinabhängig und 3 hatten eine andere Sucht ohne Konsum illegaler Drogen. Der Frauenanteil war mit 52.5% überdurchschnittlich hoch im Vergleich zu andern Stichproben von Heroinabhängigen. Die Frauen wurden in der Beurteilung der Psychodynamik allgemein als schwerer gestört und depressiver als die Männer eingestuft. Dies schlug sich auch in der Clustereinteilung nieder.
Einige psychodynamische und symptomatische Merkmale der Stichprobe waren: eine tiefe Frustrationstoleranz und massive Arbeitsstörungen; Unfähigkeit, Freundschaften zu schliessen; Schwierigkeiten, aus Erfahrungen zu lernen und für die Zukunft zu planen; depressive Grundstimmung; Unfähigkeit, die eigenen Grössenphantasien adäquat zu verwirklichen; einander wider-sprechende Normen im Überich; impulsive Abwehrmechanismen; schwere psychische Krisen mit Suizidversuchen und Minipsychosen; sexuelle Hemmungen. Am Anfang der Behandlungen hatte bei den wenigsten Patienten der Wunsch nach einer Psychotherapie gestanden. Dieser entwickelte sich erst mit dem Vertrauen in den Therapeuten und dem Verständnis für die Funktionsweise der psychologische Gespräche. Die meisten Therapien bestanden aus wöchentlichen Gesprächen und Methadonsubstition. Ein weit verbreiteter Übertragungs-Widerstand war das Schwänzen der Stunden. Trotzdem war die Beziehung zum Therapeuten für die meisten Patienten enorm wichtig und sie waren zu Veränderungen doch motiviert. Bei vielen Probanden bestand eine starke Regressionsneigung. Am Schluss des betrachteten Zeitraumes war bei 30% der Patienten die Delinquenz völlig verschwunden und die Sucht stabil unter Methadon oder geheilt. Weitere 27.5% hatten diese Symptome nur noch in Krisen. 20% waren immerhin gebessert und bei 22.5% war die Behandlung ein Misserfolg. Wichtigstes Ergebnis dieser Arbeit war jedoch gerade die Tatsache, dass sich delinquente Süchtige in Bezug auf Symptomatik, Psychodynamik und Behandlungserfolg sehr wesentlich voneinander unterscheiden. Die Clusteranalyse des Samples aufgrund der 9 Merkmale einer dissozialen Störung (Rauchfleisch 1981) ergab 5 distinkte Cluster. Die erste Gruppe umfasste die am wenigsten gestörten Patienten. Zwei Gruppen (Cl 2 & 3) bestanden aus Personen, die im Urteil ihrer Therapeuten eine mittelschwere und in vielen Dimensionen auch eine schwere Störung hatten. Die nächsten beiden Cluster (Cl 4 & 5) bestanden aus Personen, die fast in jeder Hinsicht schwerst gestört waren.
Das 1. Cluster (n=9), das sich in allen Variablen besonders deutlich vom Rest der Stichprobe abhob, waren Personen mit einer vergleichsweise leichteren psychischen Störung. Die Delikte dieser Gruppe unterschieden sich deutlich von andern, es waren nämlich vor allem Drogenhandel und kaum rohphysische Gewalt. Diese Patienten waren psychodynamisch vor allem von einem strengen Überich gequält. Dieses schränkte die Möglichkeiten zu sexuellen, narzisstischen oder aggressiven Befriedigungen gleichermassen stark ein. Ich-strukturelle Besonderheiten oder Defekte dieser Patienten waren hingegen in der Meinung der Psychotherapeuten nicht ausgeprägter als bei andern neurotischen Menschen. Unter den Abwehrmechanismen fanden sich vor allem zwanghafte und weniger impulsive. Schon zu Anfang der Behandlung zeigten diese Patienten sehr viel intrinsische Motivation zur Psychotherapie. Die Behandlungen liefen im grossen Ganzen ohne grössere Krisen, Regressionen oder selbstschädigendes Agieren als Widerstand. Die Erfolgsquoten waren dementsprechend gut. Am Schluss des betrachteten Zeitraumes war bei fast allen Probanden die Delinquenz verschwunden und die Sucht verschwunden oder zumindest stabil unter Methadon. Gleichzeitig war in psychodynamischer Hinsicht in jeder Dimension einiges in Bewegung geraten. Die Delikte des 2. Clusters (n=8) waren vor allem Eigentumsdelikte wie Diebstahl, Sachbeschädigung und Betrug. Die Patienten wurden Neurotiker mit Desintegrationstendenz genannt, weil sie höchste Rate an psychotischen Episoden und die zweithöchste Rate an Suizidversuche hinter sich hatten. Besonders ausgeprägt waren masochistische Konstellationen und ambivalente Beziehungen. Diese Probanden kamen fast alle anlässlich einer akuten Krise in die Beratungsstelle. In der Übertragungsabwehr zeigten sich viele betont "unabhängig" vom Therapeuten. Die symptomatischen Erfolge dieser Gruppe waren im betrachteten Zeitraum nicht sehr ermutigend. Fast 40% waren unverändert süchtig und delinquent. Prognosen waren daher sehr ungewiss. Im 3. Cluster (depressive Neurotiker n=5) war vor allem der Diebstahl das prominenteste Delikt. Diese Patienten hatten oft eine recht gute Frustrationstoleranz und Realitätsprüfung, litten aber an schweren Depressionen. Die Desintegrationstendenz war hingegen gering. Obwohl das Äussern von Suizidgedanken selten vorkam, war die effektive Rate an Suizidversuchen die Höchste von allen. In der Übertragung entwickelten diese Probanden zwar eine intensive Beziehung, aber in fast allen Fällen hatten die Therapeuten den Eindruck, sie würden auch für behandlungsfremde Zweck missbraucht. Fast alle depressiven Patienten entwickelten eine bösartige Regression, welche die Behandlung gefährdete. Ein deutlicher Misserfolg zeichnete sich dann leider auch bei einer knappen Mehrheit ab. Die schizoiden Patienten des 4. Clusters (n=5) liessen sich vor allem Diebstahl und Körperverletzungsdelikte zu schulden kommen. Sie waren in jeder Hinsicht schwerst gestört aber auffälligerweise nicht depressiv. Aufgrund der detaillierten Untersuchung kam zum Vorschein, dass diese sehr wohl vorhandene depressive Verstimmungen abwehrten, die sich dann in hypomanischer Form oder als "ausgebrannte" Charakterzüge äusserten. Besonders verbreitet waren leichte hirnorganische Beeinträchtigungen und diverse Perversionen unter diesen Probanden. Die Patienten waren sehr motiviert für die Behandlung und kamen ganz regelmässig, waren aber gar nicht mit grosser Introspektion gesegnet. Die Behandlungserfolge waren angesichts der Schwere der Störungen erstaunlich gut in dieser Gruppe. 80% waren recht stabil in der Beherrschung von Sucht und Delinquenz. Die Delikte des 5. Clusters (depressiv-narzisstische Borderline Patienten n=13) umfassten das ganze Spektrum von Eigentumsdelikten und Gewaltanwendung. Diese grösste Gruppe bestand aus Personen, die in jeder Hinsicht das Profil des von Rauchfleisch geschilderten depressiv-narzisstischen Kernkonflikts der dissozialen Persönlichkeit hatten. Neben den typischen Beeinträchtigungen der Borderline- Persönlichkeitsorganisation waren effektive psychotische Episoden eher selten. Ein schwer anzugehender Behandlungswiderstand in Form von ständigen Krisen und chaotischen Situationen entstand leider sehr oft wegen der impulsiv agierenden Abwehrmechanismen. Regressionen waren auch hier häufig und oftmals an die Sucht gebunden. Bezüglich Erfolge teilte sich das Cluster 5 in zwei distinkte Untergruppen, von denen eine in einem sehr traurigen Zustand war und die andere aber sehr gute Erfolge (inklusive 2 vollständige Rehabilitationen) hatten.
In der Diskussion der vorliegenden Arbeit angesichts der kleinen Stichprobe und der Vermischung von empirischer und hermeneutischer Methode muss nochmals ihr phänomenologischer Charakter betont werden. Einmal mehr hatte sich gezeigt, dass es unzulässig ist von einer Suchtpersönlichkeit an sich zu sprechen, sowohl bezüglich psychischer Struktur als auch Prognosen. Vielmehr kann letztlich jede beliebige Neurose in Kombination mit einer Verkettung sozialer oder lebensgeschichtlicher Umstände zu einer Sucht führen. Leider gelten Drogenabhängige zu unrecht immer noch als schwer therapierbar mit psychoanalytischen Ansätzen. Wir hatten jedoch gesehen und dies wurde durchaus von andern Untersuchungen bestätigt, dass Drogensüchtige nicht immer schwer gestört sind und dass die Behandlungserfolge in keiner Weise hinter denjenigen anderer Neurosen zurückstehen.
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