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Musik und Medizin – ein
Überblick
Claudia Spahn, Günther Bernatzky, Gunter Kreutz
3.1 Musik in der Medizin – Musikmedizin – 18
3.2 Musiktherapie – 19
3.3 Musik im Krankenhaus – 20
3.4 Musikermedizin – 20
3.5 Musikphysiologie – 21
3.6 Angrenzende Fachgebiete – 22
Literatur – 23
G. Bernatzky, G. Kreutz (Hrsg.), Musik und Medizin,
DOI ./----_, © Springer-Verlag Wien
Kapitel 3•Musik und Medizin – ein Überblick
Musik und Medizin haben sich in den letzten Jahren aufgrund deutlich zunehmender For-
schungsaktivitäten und Wissensbestände in vielen Teilgebieten einander genähert. Lange Zeit
galt die Musiktherapie als nahezu einzige Verbindung zwischen den beiden Fächern. Diese Ver-
bindung weitet sich gegenwärtig in dynamischer Weise aus und bildet ein innovatives, von ho-
her Interdisziplinarität und gewachsener methodischer Qualität gekennzeichnetes Forschungs-
gebiet, das klinische und nichtklinische Kontexte sowie Gesundheitsvorsorge, Lebensqualität
und Wohlbenden über die Lebensspanne einschließt (z.B. MacDonald et al. ; Richter ).
3.1 Musik in der Medizin – Musikmedizin
Die therapeutischen Wirkungen musikalischer Tätigkeiten wie Musikhören, Singen und Tan-
zen oder des Erlernen und Spielens von Musikinstrumenten alleine oder in Gruppen werden
im Feld Musik in der Medizin erforscht und zur Anwendung gebracht. Der Begri Musikme-
dizin (alternative Schreibweise auch Musik-Medizin) wurde erstmals in der deutschsprachigen
Fachliteratur der 70er-Jahre durch die Mediziner Ralph Spintge und Roland Droh in einschlä-
gigen Publikationen geprägt (z.B. Spintge u. Droh 1992). Der Begri wird heute synonym mit
Musik in der Medizin gebraucht. Im Zuge der Ausweitung von Fragestellungen auf Gesund-
heitsförderung und Prävention wird in der Musikmedizin auch die kürzer- und längerfristig
prophylaktische Wirkung des Musizierens und Musikhörens im Kontext von Gesellscha und
Bildung untersucht und diskutiert. Hierbei ergeben sich Überschneidungen mit unterschied-
lichen Bereichen der angewandten Musikpsychologie innerhalb der systematischen Musikwis-
senscha (MacDonald et al. 2013) und der Prävention und Gesundheitsförderung innerhalb
der Musikermedizin (Spahn 2015a).
Musikalische Interventionen werden vermutlich seit Jahrtausenden und in verschiedenen
menschlichen Kulturen als Heilmittel eingesetzt. Sowohl bei Naturvölkern als auch in den alten
Hochkulturen bis zur griechisch-römischen Antike ist der Gebrauch von Musik in der Heil-
kunde bezeugt (Bernatzky u. Hesse 2013).
Die griechische Mythologie vereint Musik, Schönheit und Heilkra durch die Genealogie
der Götter: So wurde Apollo als Gott der Musik und der Heilkunst verehrt. Er zeugte Orpheus,
den größten Sänger der Antike, dem er das Spiel auf der Lyra bis zur Meisterscha beibrachte,
und Asklepios, den Vater der Medizin, den er in der Heilkunst unterrichtete (Spahn u. Richter
2007). Nach Platon galten Musizieren und Bewegung in der Antike als Grundelemente einer
gesunden und ausgewogenen körperlichen und geistigen Entwicklung (s. Platons »Politeia«,
Platon 1998).
In der christlichen Welt fanden die tradierten Vorstellungen von der Wirkung der Musik
zunächst wenig Beachtung, denn Krankheit galt als göttliche Strafe für sündhaes Verhalten.
Erst das Zeitalter der Aulärung, in dem man sich bemühte, alle Naturerscheinungen nach
dem Kausalitätsprinzip auf Naturgesetze zurückzuführen, brachte einen grundsätzlichen
Wandel. Hatte man die Musik bis dahin überwiegend als Träger des Wortes in religiöser
Funktion erfahren, so wurde sie mit der Emanzipation des Bürgertums auch zu einem Be-
standteil des Lebensgenusses (Bernatzky u. Hesse 2013). Man schätzte das Potenzial musika-
lischer Darbietungen, Menschen zu erfreuen, Aekte auszudrücken und vielfältige Gefühle
zu erregen. Folgerichtig wurde seit Ausgang des 17. Jahrhunderts auch die therapeutische
Verwendung von Musik in der Medizin intensiv diskutiert (ebd.). Athanasius Kircher, Jesui-
tenpater und Universalgelehrter, erörtert in seiner »Phonurgia nova« von 1673 ausführlich
die heilsame Wirkung der Musik:
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3.2• Musiktherapie
»
Die Nerven und musculi in dem menschlichen Leibe werden wie die Saiten eines Instru-
ments durch die Music beweget. (…) Die Lebensgeister, (…) so in dem Herzen sich aufhal-
ten, werden nach der Bewegung des äußerlichen Tones beweget, (…) daher auch ein um
Sorgen abgemattetes und gleichsam welkes Gemüt sich wiederum erholet und erfrischet
wird. (Kirchner , S und )
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die therapeutische Wirkung von Musik verstärkt im Be-
reich seelischer Störungen eingesetzt, woraus sich die heutige Musiktherapie entwickelte.
Weitreichende Forschung zu Musik in der Medizin wurde in den letzten Jahren im Bereich
der Schmerzbehandlung geleistet (Kullich et al. 2003), sodass an diese weit zurückliegende his-
torische Tradition des therapeutisch motivierten Musikhörens heute wieder angeknüp werden
kann. Bernatzky prägte in jüngerer Zeit den Begri »Musikament«, um auf Musikhören als
nichtpharmakologisches Medikament hinzuweisen. Speziell produzierte Musik kann als Medi-
kament stressgefährdeten und erkrankten Personengruppen die Möglichkeit zur Entspannung
und Ablenkung bieten (Bernatzky 2013).
Dem Paradigma »Musikhören als Medikament« folgen auch neuere Forschungen zur Wir-
kung bei Depression und Angst (DeMarco et al. 2012; Jarzok et al 2013; MacDonald et al. 2013).
Die anxiolytische (angstlösende) Wirkung von Musik vor und während diagnostischer Unter-
suchungen und medizinischer Eingrie konnte in wissenschalichen Studien nachgewiesen
werden. Das Einspielen von Musik bei Herzkatheteruntersuchungen (Chang et al. 2011), kern-
spintomographischer Diagnostik (Walworth 2010) sowie bei Zahnarztbehandlungen (oma et
al. 2014) und im Wartebereich für Patienten (Hamel 2001) ist heute weit verbreitet (zusammen-
fassend in Bernatzky u. Hesse 2006). Weiterhin zeigte das Hören von Musik sowie die Anlei-
tung zur aktiven Ausübung musikalischer Rhythmen positive Wirkungen in der neurologischen
Rehabilitation bei Schlaganfallpatienten (Särkämö u. Soto 2012). Aufgrund dieser und weiterer
einschlägiger Forschungsergebnisse konnte sich die Neurologische Musiktherapie (NMT) in
der Musikmedizin im Laufe der letzten Jahre etablieren (
7Kap.). Die neurowissenschaliche
Grundlagenforschung zur zerebralen Verarbeitung bei Musikhören und Musizieren sowie deren
Einuss auf die Hirnplastizität begründet eine stetig wachsende Zahl von Anwendungsbereichen
(Panksepp u. Bernatzky 2002; MacDonald et al. 2012). In diesem Zusammenhang spielt auch die
Erforschung der Wirkung von Musik zur Erhaltung der mentalen Leistungsfähigkeit im Alter
und zur Vorbeugung bei Demenz eine wichtige Rolle (Presch et al. 2011).
3.2 Musiktherapie
Die Musiktherapie bildet eine eigenständige Heilmethode im Bereich der Psychologie und
Psychotherapie. Historisch grei sie ebenfalls auf die Jahrhunderte alte Erfahrung zurück, dass
Musik die Psyche des Menschen in positiver Weise beeinussen kann (Panksepp u. Bernatzky
2002). Im Zuge der historischen Veränderungen in der Medizin – je nachdem, welche Bedeu-
tung der Psyche im Krankheits- und Gesundheitsverständnis zugemessen wurde – wechselte
auch die Akzeptanz der Anwendung von Musik als Psychotherapeutikum (
7Kap.).
Als eigene erapieform zur Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankun-
gen etablierte sich die Musiktherapie nach dem Zweiten Weltkrieg.
> Grundsätzlich ist zwischen der rezeptiven Musiktherapie, bei der die therapeutische
Wirkung durch das Hören von Musik erzielt wird, und der aktiven Musiktherapie, bei wel-
cher der Patient selbst musikalische Klänge und Rhythmen produziert, zu unterscheiden.
Kapitel 3•Musik und Medizin – ein Überblick
Heute ist die Musiktherapie im medizinischen Bereich fester Bestandteil der stationären Be-
handlung bei psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen. Hinsichtlich der zugrun-
deliegenden psychotherapeutischen Herangehensweise haben sich innerhalb der Musiktherapie
unterschiedliche Ausprägungen und eigenständige Verfahren entwickelt, die tiefenpsycholo-
gischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und
ganzheitlich-humanistischen Psychotherapiekonzepten unterschiedlich nahestehen.
Darüber hinaus erstreckt sich Musiktherapie traditionell auch auf den Bereich der Persön-
lichkeitsförderung bei Kindern und Jugendlichen, etwa im Kontext der sogenannten Or-
Musiktherapie (Decker-Voigt 2001), und erobert zunehmend neue soziale und medizinische
Tätigkeitsfelder (Keller u. Wolfram 2013; Bosse et al. 2013). Diese Ausweitung auf medizinische
Bereiche außerhalb der Psychotherapie führt zu einer zunehmenden Annäherung und Über-
lappung von Musiktherapie und Musikmedizin. Dies ist begriich logisch, da Musiktherapie
ihrem Namen nach nicht auf psychische Erkrankungen begrenzt ist, sondern grundsätzlich
den Einsatz von Musizieren und Musikhören als erapieform bei unterschiedlichen Krank-
heitsbildern beinhalten kann. Ein Beispiel hierfür stellt die bereits erwähnte Neurologische
Musiktherapie dar (aut 2007;
7Kap.).
Seit 2009 gibt es in Österreich das sogenannte Musiktherapiegesetz, in dem geregelt ist,
in welchen Feldern Musik als therapeutische Form Anwendung ndet. Hierin ist festgelegt,
dass Musiktherapie nachweisbare Hilfe u.a. für Menschen mit Psychosen, für Koma-Patienten,
Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata oder auch krebskranke Kinder und Jugendliche bietet.
In Deutschland wird die Musiktherapie in den Behandlungsleitlinien der Arbeitsgemeinscha
der Wissenschalichen Medizinischen Fachgesellschaen (AWMF) als erapieform in der
Frührehabilitation von Schlaganfall-Patienten und bei Demenzkranken empfohlen und ndet
in den Leitlinien der AWMF zunehmend einen festen Platz im Bereich psychosomatischer und
psychiatrischer Erkrankungen sowie in der Psychoonkologie.
3.3 Musik im Krankenhaus
Ein eigenes Konzept der Präsenz von Musik im medizinischen Bereich stellt das maßgeblich
von Victor Flusser in Straßburg entwickelte Konzept des Interaktiven Musizierens in Kranken-
häusern und Pegeeinrichtungen dar. Hierbei musizieren speziell hierfür ausgebildete Musiker
mit Patienten, Angehörigen und Ärzten im Krankenhaus zur Belebung des emotionalen Milieus
(Grosse u. Vogels 2007). Die Ausbildung zum »musicien intervenant« wird in Frankreich an neun
französischen Universitäten mit besonderen Ausbildungszentren – den »Centres de Formation
de Musiciens Intervenants« (CFMI) – angeboten. Ein weiteres, mit Frankreich eng kooperieren-
des Ausbildungszentrum für professionelle Musiker in klinischen Einrichtungen unterhält das
Royal Northern College of Music in Manchester, UK. Außerdem ist hier die seit einigen Jahren
vor allem an psychiatrischen Kliniken wachsende Zahl von Singgruppen zu nennen, die dem
internationalen Netzwerk »Singende Krankenhäuser e.V.« angeschlossen sind (
7Kap.).
3.4 Musikermedizin
Im Unterschied zur therapeutischen Anwendung von Musik umfasst Musikermedizin als
Fachgebiet die Prävention, Diagnostik und erapie von gesundheitlichen Schwierigkeiten,
die durch das Musizieren entstehen können oder entstanden sind oder die sich auf das Musi-
zieren auswirken. Musikermedizin befasst sich gleichermaßen mit professionellen Musikern
und Freizeitmusikern.
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3.5• Musikphysiologie
Von Musikermedizin als ärztlicher Disziplin, die sich mit der Entstehung und Behandlung
von spezischen Krankheitsbildern bei Musikern beschäigt, zeugen erste Quellen bereits im
15. Jahrhundert. Der in Padua lehrende Mediziner Giovanni Michele Savonarola widmet sich
1486 in einem Traktat den möglichen Ursachen von Leistenbrüchen speziell bei »Trompetern
und Flötenspielern«, die aus seiner Sicht eine gefährdete Berufsgruppe darstellen (zit. nach
Breuer 1982, S. 4). Im Jahre 1675 beschreibt der niederländische Anatom Ysbrand van Diemer-
broeck Krankheitsbilder, die aus dem hohen Anblasdruck der damaligen Blasinstrumente re-
sultieren können (Breuer 1982). Ein erstes großes arbeitsmedizinisches Werk, in dem ein ganzes
Kapitel
den »Kranckheiten der Redner, Sänger und anderer dergleichen Leute« – mit Letzteren
waren die Instrumentalisten gemeint – gewidmet ist, erscheint im Jahr 1700 von Bernardino
Ramazzini unter dem Titel »De morbis atricum diatriba« (ebd.).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewinnen musikermedizinische Fragestellungen weiter an
Bedeutung, da gesundheitliche Beschwerden bei Musikern durch das auommende Virtuo-
sentum und die Intensivierung der Übezeiten zunehmen. Hier sind uns Berichte prominenter
Musiker überliefert, wie von Robert Schumann, der 1831 nach intensivem Klavierstudium eine
Bewegungsstörung der rechten Hand entwickelte, oder von Alexander Skrjabin, der 1890 über
Jahre hinweg das Klavierspiel mit der rechten Hand wegen einer Überlastungsverletzung einstel-
len musste (Otte u. Wink 2008). Auch Sänger waren größeren Belastungen ausgesetzt – wie der
Wagnertenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld 1856, dessen früher und plötzlicher Tod von man-
chen Zeitgenossen den Anstrengungen in der Titelpartie des »Tristan« zugeschrieben wurde.
Eine erste umfassende Publikation zur Musikermedizin erschien 1831 mit dem Titel Ȁrzt-
licher Ratgeber für Musiktreibende« von Karl Sundelin. 1925 folgte das Buch »Berufskrank-
heiten des Musikers« des Mediziners Julius Flesch.
In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts unternahm der Berliner Neurologe, Musikwis-
senschaler und Musikkritiker Kurt Singer erstmals den Versuch, das Fach Musikermedizin
in die Hochschulausbildung von Musikstudierenden zu integrieren. Seit 1923 hatte er hierfür
einen Lehraurag an der »Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik« in Berlin inne.
1926 publizierte Singer seine Monographie »Die Berufskrankheiten der Musiker«. Diese An-
sätze einer inhaltlichen und institutionellen Etablierung der Musikermedizin als Lehrfach und
medizinisches Fachgebiet wurden durch die Nationalsozialisten wegen der jüdischen Abstam-
mung Kurt Singers wieder zerstört.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Musikermedizin in der DDR fortgeführt. Ein Beispiel
hierfür ist das »Bühnenambulatorium« zur Behandlung von Künstlern in Ostberlin.
3.5 Musikphysiologie
In der DDR wird 1959 durch Harry Schwickardi an der Hochschule für Musik in Dresden das
»Studio für Stimmforschung« gegründet, welches die Verbindung von gesangspädagogischer
Lehre und wissenschalicher Forschung auf dem Gebiet der Sängerstimme herstellt.
In Westdeutschland beschäigt sich der Arzt und Dirigent Christoph Wagner (1931–2013)
seit den 1960er-Jahren mit den gesunden physiologischen Abläufen beim Musizieren aus me-
dizinischer und wissenschalicher Perspektive und prägt damit den Begri Musikphysiologie.
Im Jahr 1974 wird Christoph Wagner auf den ersten Lehrstuhl für »Musikphysiologie« an der
Hochschule für Musik und eater Hannover berufen. 1994 gründet er gemeinsam mit Jochen
Blum die »Deutsche Gesellscha für Musikphysiologie und Musikermedizin« (DGfMM), in
der die Aspekte der Musikphysiologie denen der Musikermedizin gleichberechtigt zur Seite
gestellt wurden. Die DGfMM besteht bis heute und ist eine der international größten und ak-
tivsten Gesellschaen im Bereich der Musikphysiologie und Musikermedizin.
Kapitel 3•Musik und Medizin – ein Überblick
Seit etwa zehn Jahren vollzieht sich an den Musikhochschulen in Deutschland und Öster-
reich eine zunehmende Integration musikphysiologischer Inhalte in die Hochschulausbildung
von Musikern. Hier werden sowohl physiologische Grundlagen des Singens und Musizierens
und unterstützende Methoden zur Leistungsverbesserung vermittelt als auch die Studierenden
auf die gesundheitlichen Anforderungen des späteren Berufs vorbereitet. Dies führte innerhalb
des Fachs der Musikphysiologie und Musikermedizin zu einer Schwerpunktbildung im Be-
reich der Prävention und Gesundheitsförderung. In diesem Rahmen beinhaltet das Fachgebiet
auch Forschung zur Gesundheitsförderung durch Musizieren (
7Kap.) und setzt sich für den
Erhalt der Musikkultur in der Gesellscha ein.
Das Fach Musikphysiologie umfasst die Vermittlung der gesunden Abläufe des Musizierens,
d.h. die Grundlagen der funktionellen Anatomie und Bewegungslehre sowie ihre Anwendung
auf den Gesang und das jeweilige Instrument (Wasmer u. Eickho 2011; Spahn et al. 2013). Die
Stimmphysiologie und Stimmwissenscha bilden innerhalb der Musikphysiologie eine eigene,
hochspezialisierte Disziplin (Richter 2014;
7Kap.). Im Fach Musikphysiologie werden neben
theoretischem Wissen auch unterschiedliche Körpermethoden zur Leistungsverbesserung
praktisch vermittelt (Steinmüller 2008; Spahn 2015b). Lehrinhalte sind außerdem Prävention
von Hörschäden bei Musikern durch Gehörschutz (Richter et al. 2007) sowie Prävention von
Hörschädigungen bei Freizeitlärm (
7Kap.), Kommunikations- und Führungskompetenz
im Orchesterberuf sowie gesundes Musizieren und Singen in der Instrumental- und Gesangs-
pädagogik (
7Kap. und7Kap.).
Obwohl der Begri Physiologie im medizinischen Sprachgebrauch Funktionsweisen des
menschlichen Körpers beschreibt, werden unter der Disziplin Musikphysiologie auch psycho-
logische Inhalte, welche die Persönlichkeit des Musikers und den Vorgang des Musizierens
betreen, subsumiert. Im Zentrum steht hier der Umgang mit Lampeneber bei Auritten
sowie bei Prüfungen und Probespielen, wofür Studierenden heute entsprechende Maßnahmen
vermittelt werden (Spahn 2012). Insgesamt ließ sich nachweisen, dass die Durchführung von
präventiv ausgerichteten Lehrprogrammen bereits im Musikstudium einen positiven Eekt auf
die Leistungsfähigkeit der Studierenden hat (Spahn 2006; Zander 2006).
In den USA entsteht in den 1980er-Jahren die »Performing Arts Medicine«, welche sich
die medizinische Betreuung aller auretenden Künstler – neben Instrumentalisten und Sän-
gern auch Tänzern und Schauspielern – zur Aufgabe macht. In Europa wurden bis heute in
Deutschland, England, den Niederlanden, Frankreich und Österreich ebenfalls musikermedi-
zinische Gesellschaen ins Leben gerufen, die regelmäßig Symposien und Kongresse zu musik-
physiologischen und musikermedizinischen emen durchführen.
In der Behandlung von Musikern innerhalb der Musikermedizin konnten in den letzten
zehn Jahren spezische Behandlungsmodelle, beispielsweise bei Aurittsangst (Spahn et al.
2011) und bei Stimmstörungen von Sängern (Richter 2014) entwickelt sowie neue Erkenntnisse
über spezische Krankheitsbilder wie z.B. die fokale Musikerdystonie (Altenmüller u. Jabusch
2011) gewonnen werden. Den aktuellen Stand zu Diagnostik, Prävention und Behandlung mu-
sikerspezischer Erkrankungen gibt das von Spahn, Richter und Altenmüller herausgegebene
Lehrbuch »Musikermedizin« wieder (2011).
3.6 Angrenzende Fachgebiete
Die Musikpsychologie als Teilgebiet der Systematischen Musikwissenscha stellt in ihrer an-
gewandten Forschung einen Zusammenhang zu Fragen musikalischer Bildung und zur Wir-
kung von Musik her. Ihre Forschungsthemen schließen die Wirkungen und Bedeutungen des
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Literatur
Musizierens in der Lebenszeitperspektive, die Entwicklung musikalischer Karrieren und mu-
sikalischen Geschmacks sowie Untersuchungen zur Frage nach pädagogischen und soziokul-
turellen Grundlagen und Implikationen musikalischer Aktivitäten ein. In diesem Zusammen-
hang erfolgt die kritische Auseinandersetzung damit, ob die zur Verfügung stehenden Mittel
zur Ausstattung des Musiklebens in ausreichendem Maße alle Mitglieder der Gesellscha er-
reichen – ungeachtet einer vorhandenen oder nicht vorhandenen besonderen musikalischen
Begabung oder angesichts vorliegender individueller seelischer, körperlicher oder mentaler
Einschränkungen (
7Kap.).
Eine Reihe wissenschalicher Untersuchungen ergaben, dass Musik allgemein und insbe-
sondere aktives Musizieren gesundheitsfördernde Wirkungen haben (Bygren et al. 1996; Kreutz
et al. 2004; Biegl 2006). Insbesondere hinsichtlich des Chorsingens konnten positive psycho-
soziale Wirkfaktoren nachgewiesen werden (Cli u. Hancox 2001;
7Kap. und7Kap.).
Die wissenschalichen Forschungsaktivitäten im Bereich der Musikpsychologie werden
u.a. durch die Deutsche Gesellscha für Musikpsychologie (DGM) und die im Jahr 2009 ge-
gründete Österreichische Gesellscha für Musik und Medizin (OeGvMM) repräsentiert. Die
DGM besteht seit 1983, sie repräsentiert die größte nationale Gesellscha auf diesem Gebiet
und ist eng assoziiert mit der European Society for Music Perception and Cognition (ESCOM).
Fazit
Die dierenzierte Betrachtung der thematisch unterschiedlichen Bereiche zwischen Musik und
Medizin veranschaulicht die Vielfalt und Dynamik des Forschungsfeldes. Die Musik in ihrer histo-
risch angelegten Rolle für das Wohlbenden des Menschen gewinnt hierbei aus unterschiedlichen
Perspektiven an Bedeutung. Möge dies dazu beitragen, die der Musik innewohnenden Potenziale
lebendig zu halten.
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