ArticlePDF Available

Prinzipien erfolgreicher Sozialisierung Jugendlicher zu Beginn der neuro-psychologischen Revolution in der Wissenschaft

Authors:

Abstract

Die Revolution der Neurowissenschaften lässt uns nun die altbekannten Prinzipien der Erziehung neu deklinieren. Die neuen Methoden offerieren den Eltern, Lehrern und Therapeuten ungleich wirksamere Instrumente für die Erziehung der gefährdeten Kinder liefern, als man sie noch vor zehn Jahren hatte. Die Prinzipien 1. Affektive Bindungen aufbauen, erhalten und stärken 2. Das Kind explorieren und frei spielen lassen 3. Regeln und Ziele setzen, Kontrollen durchführen und Belohnungen geben 4. Geeignete Sanktionen durchsetzen 5. Kindern mit spezielle Bedürfnissen massgeschneiderte Therapien zukommen lassen Seit vielen Jahrzehnten wissen Fachleute, dass sich gerade die Familien mit den schwierigsten Kindern den Intervention zu entziehen versuchen. Man kommt also um einen gewissen Zwang nicht herum, wenn ein Kind gefährdet ist. Hier zeigt sich die Schwierigkeit, wie man vom wissenschaftlich veralteten und breit widerlegten Dogma «man darf nichts diagnostizieren und gesondert behandeln, um jegliche Ausgrenzung zu verhindern» wegkommt, damit in Zukunft weder die «Opfer-» noch die «Täterkinder» von ihrer Familie und der Gesellschaft im Stich gelassen werden.
Prinzipien erfolgreicher Sozialisierung Jugendlicher zu Beginn
der neuro-psychologischen Revolution in der Wissenschaft
Abstract
Die Revolution der Neurowissenschaften lässt uns nun die altbekannten Prinzipien der Erziehung neu
deklinieren. Die neuen Methoden offerieren den Eltern, Lehrern und Therapeuten ungleich wirksamere
Instrumente für die Erziehung der gefährdeten Kinder liefern, als man sie noch vor zehn Jahren hatte.
Die Prinzipien 1. Affektive Bindungen aufbauen, erhalten und stärken 2. Das Kind explorieren und frei
spielen lassen 3. Regeln und Ziele setzen, Kontrollen durchführen und Belohnungen geben 4. Geeignete
Sanktionen durchsetzen 5. Kindern mit spezielle Bedürfnissen massgeschneiderte Therapien zukommen
lassen
Seit vielen Jahrzehnten wissen Fachleute, dass sich gerade die Familien mit den schwierigsten Kindern
den Intervention zu entziehen versuchen. Man kommt also um einen gewissen Zwang nicht herum,
wenn ein Kind gefährdet ist. Hier zeigt sich die Schwierigkeit, wie man vom wissenschaftlich veralteten
und breit widerlegten Dogma «man darf nichts diagnostizieren und gesondert behandeln, um jegliche
Ausgrenzung zu verhindern» wegkommt, damit in Zukunft weder die «Opfer-» noch die «Täterkinder»
von ihrer Familie und der Gesellschaft im Stich gelassen werden.
Reader zum
7. Schweizer Kongress gegen Gewalt und Machtmissbrauch
21./22. November 2008
Jugendgewalt – Was ist mit
den Jugendlichen?
Veranstaltet in Kooperation mit der
IST Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt
des Kantons Zürich und
a+w Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer
Referate der Fachtagung
Herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft gegen die Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen
AGAVA
www.agava.ch
29
Prinzipien erfolgreicher Sozialisierung Jugendlicher
zu Beginn der neuro-psychologischen Revolution
in der Wissenschaft
Henriette Haas
Prof. Dr., Privatdozentin in forensischer Psychologie an der Universität Zürich, eigene Praxis als Psychotherapeutin FSP:
henriette.haas@access.uzh.ch
Stadien wissenschaftlicher Erkenntnis
im Lichte der Demokratisierung
Mein diesjähriger Vortrag handelt von der wissenschaft-
lichen Revolution, die sich derzeit in der sozialwissenschaft-
lichen Forschung zum Phänomen der (Jugend-) Gewalt ab-
zeichnet.
Das Ausüben von Gewalt in eigener Legitimation gegen so-
zial tiefer gestellte Menschen, besonders gegen Frauen und
Kinder ist ein archaisches Relikt aus Feudal- und Klassenge-
sellschaften. In solchen Gesellschaften konnte jeder seine
aggressiven Triebe gegenüber Menschen mit niedrigerem
Status relativ ungehemmt ausleben: Herren schlugen ihre
Knechte, Männer schlugen ihre Frauen, Frauen ihre Kinder
und die Kinder konnten ihre Wut an jüngeren Kindern und
an Tieren ausleben.
Mit der französischen Revolution begann ein Prozess, der
solchem Treiben ein Ende setzen will. «Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit» sind die zentralen und einzigartigen
Merkmale des zivilisatorischen Fortschritts in der demokra-
tischen Gesellschaft. Die Würde des Menschen und seine
Grundrechte auf körperliche und psychische Integrität sind
ein universeller moralischer Imperativ geworden. Obwohl
die Grundrechte noch bei weitem nicht überall verwirklicht
sind, werden sie tendenziell ständig weiter ausgebaut. Um-
gekehrt werden diejenigen sozialen Orte, wo Gewalt und
Unterdrückung irgendwelcher Art erlaubt wären, (glückli-
cherweise) immer weniger. Die Abkehr von der ungehemm-
ten Aggressionsabfuhr hat aber ihren Preis, indem von den
Bürgerinnen und Bürgern der modernen Gesellschaft starke
psychische Funktionen verlangt werden (in der Arbeitswelt
spricht man von sozialen und organisatorischen Kompe-
tenzen). Ohne eine angemessene Triebkontrolle und eine
hohe Frustrationstoleranz, ohne eine gute Beziehungsfähig-
keit und ohne intakte Realitätsprüfung, kann man den Alltag
in einer immer komplexeren Welt gar nicht bewältigen.
Die Philosophen der Aufklärung realisierten, dass demo-
kratische Gesellschaften nur dann funktionieren können,
wenn alle Kinder ohne Ausnahme zu urteilsfähigen Bürgern
sozialisiert werden, die Lesen. Schreiben und Rechnen kön-
nen. Denn nicht bloss das Regieren, auch die Arbeit in Ge-
werbe, Handel und Industrie erfordern eine gute Schulbil-
dung. Solcherart autonome Individuen entstehen aber erst
nach zwanzigjähriger sorgfältiger und liebevoller Erziehung
durch ihre Familie (und andere nahe Bezugspersonen) und
den demokratischen Staat. Die demokratischen Erziehungs-
Bestrebungen wurden in den Jahrhunderten nach der fran-
zösischen Revolution mit dem Aufbau vielfältiger pädago-
gischer, psychologischer und medizinischer Institutionen
umgesetzt. In den freisinnig regierten Kantonen wurde um
1830 die obligatorische Schuldpflicht eingeführt. Heinrich
Zschockke (zit. aus Geschichte der Volksschule, Stadt Zürich
2009) formulierte es 1836 so: Die Volksschule soll den Men-
schen bilden und zu eigenständigem Denken erziehen:
«Volksbildung ist Volksbefreiung!» Gegen den erbitterten
Wi derstand der katholischen Kantone wurde 1874 die obli-
gatorische Schulpflicht gesamtschweizerisch eingeführt.
Der zweite Pfeiler der Demokratie war und ist die Volks-
gesundheit. So forderte man etwa um die gleiche Zeit die
Einführung von Schulärzten (Cohn 1886). Aber auch die
psychische Gesundheit als wesentliche Anforderung an ein
modernes Leben wurde damals von den neuen Wissenschaf-
ten Psychologie und Psychiatrie entdeckt. Alkoholismus und
Betäubungsmittelabhängigkeit schufen in der Zeit der Indus-
trialisierung ein riesiges soziales Elend, das gesetzlich und
therapeutisch bekämpft werden musste. So engagierten sich
die ersten Psychiater wie Auguste Forel und Eugen Bleuler
stark für die Suchtprävention. Forel, damals Chefarzt des
Burghölzli, gründete 1889 die Trinkerheilstätte Ellikon, um
den Alkoholismus erstmals ausserhalb der Mauern der Psy-
chiatrie zu behandeln.
Bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bestanden
Erziehungsmethoden noch vornehmlich aus körperlichen
Strafen bis hin zu harter Gewalt, nach dem Motto «wer sein
Kind liebt, der züchtige es». Der Wille des Kindes sollte ge-
brochen werden. Viele Kinder der benachteiligten Schichten
wurden zudem massiv ausgebeutet und misshandelt. Doch
zunehmend wurden die Erziehungsmethoden wissenschaft-
lich überprüft und sinnvoller gestaltet.
Seit ungefähr 1930 entdeckten die Entwicklungspsycholo-
gen die zentrale Bedeutung der emotionalen Bindung an
enge Bezugspersonen für die Autonomieentwicklung und die
moralische Entwicklung der Kinder (Tress 1986, Dornes
1997, Spitz 1965). Aus den frühen Verhaltenswissenschaften
stammt die Erkenntnis, dass Belohnen v iel mehr nützt als das
Bestrafen (Baade, Borck, Koebe & Zumvenne 1984). Die Ver-
haltenspsychologen entdeckten weiter, dass Erziehung rela-
tiv konsequent und damit für das Kind in vorhersehbaren
Bahnen erfolgen muss, wenn sie erfolgreich sein will. Sie be-
schrieben den verheerenden Effekt der so genannt intermit-
tierenden Verstärkung eines unerwünschten Verhaltens. In-
30
termittierende Verstärkung findet dann statt, wenn ein uner-
wünschtes Verhalten, zum Beispiel die Trotzreaktion eines
Kindes, das nicht zu seiner gewohnten Zeit ins Bett gehen
will, zeitweise durch «Ausnahmen» belohnt wird. Durch das
erratische Nachgeben der Eltern lernt ein Kind, dass es nur
genügend lange und intensiv quengeln muss, um seine Wün-
sche durchzusetzen. Zudem entdeckte man, dass gewisse
Kinder, die zuwenig positive Zuwendung bekommen, sich die
notwendige Aufmerksamkeit und Betreuung durch die Er-
wachsenen selber holen, indem sie «schwierig» werden. Dies
erklärte die Wirkungslosigkeit von ständigem Schimpfen
und Strafen gegenüber auffälligen Kindern. Allerdings hat
die Verschiebung des Akzents auf das Belohnen als Neben-
effekt eine Doktrin des ständigen Lobens hervorgebracht.
Durch eine Lob-Inflation können Kinder den Realitätsbezug
zu ihrer tatsächlichen Leistung verlieren, wenn niemand
ihnen je ein Feedback gibt, ob ihre Leistung nach objektiven
Mass stäben genügt und ob sie in der Konkurrenz mit Gleich-
altrigen einen Ort finden, wo sie bestehen können.
Im Laufe der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde
dann die Schulpsychologie als Institution gegründet. Einer-
seits ging es darum, Kinder mit Lern- und Verhaltensschwie-
rigkeiten abzuklären und in den (aus damaliger Sicht) am
besten geeigneten Schultyp zu plazieren, andererseits will
man den Eltern in Not bei der Erziehung ihrer Kinder bera-
tend zur Seite stehen.
Viele dieser Errungenschaften wurden in den 1970er Jah-
ren durch die sogenannte «kritische» Kriminologie und die
Labelling Theorie in Frage gestellt, die sich gegen gesell-
schaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung der Täter
wandten. Diese soziologischen Theorien behaupteten mit ei-
ner kühnen Umkehrung von Ursache und Wirkung, Delin-
quenz sei die sekundäre Folge von Ausgrenzung durch die
Institutionen (Jugendstrafrechtspflege, Sonderpädagogik,
Psychologie und Psychiatrie). Diese Theorien wurden aber
unterdessen widerlegt (z. B. Gottfredson & Hirschi 1990,
S. 160). Auch in der Jugend- und Rekrutenbefragung (ch- x)
1997 zeigte sich, dass die Hypothese, dass Ausgrenzung eine
Ursache von Gewalt sei, auf einer statistischen Fehlleistung
beruhte (Haas 2001). Wer mehr zum Thema «Dominanz und
Niedergang soziologischer Erklärungsmodelle seit 1970»
wissen möchte, sei auf den Anhang verwiesen.
Die Wirksamkeit der Kriminalitäts-
prävention bei gefährdeten Kindern
Die erwähnten Massnahmen der westlichen demokratischen
Staaten zur Verbesserung der Volkserziehung und Volks-
gesundheit haben über die Generationen hinweg vielfältige
positive Wirkungen gezeigt. Der Fortschritt schlägt sich sta-
tistisch im Vergleich zwischen Kindern, die aus einem
schweizerischen Elternhaus stammen und Einwanderer-
Kindern aus den südost-europäischen, vor-demokratischen
Gesellschaften, nieder, denen diese umfassende und jahr-
hunderte lange Förderung nicht zu gute kam. Zum Beispiel
zeigte sich in der eidgenössischen Jugend- und Rekruten-
befragung ch-x 1997 (Haas 2001, S. 64), dass Knaben, deren
Familie aus dem Balkan, der Türkei, dem Maghreb oder dem
nahen Osten eingewandert waren, dreimal so häufig Opfer
von körperlichen Züchtigungen wurden wie Knaben aus
Schweizer Elternhaus (16,5% versus 5,4%). Die Knaben mit
Migrationshintergrund aus den genannten Regionen wurden
zudem doppelt so häufig schwer sexuell missbraucht (7,9%
versus 3,8% der geborenen Schweizer). Auf Hintergrund
dieser Erkenntnisse erstaunt nun die höhere Zahl an schwie-
rigen und gewalttätigen Jugendlichen und jungen Erwachse-
nen mit Migrationshintergrund aus den genannten Krisen-
regionen nicht mehr so sehr. Gemäss Selbstangaben (über
entsprechende Verhaltensweisen und Ereignisse) hatten
doppelt so viele von ihnen eine schwere Verhaltensstörung in
der Jugend (Haas 2001, S. 75) und mehr als dreimal so viele
hatten als junge Erwachsene ein oder mehrere schwere Ge-
waltverbrechen begangen (4,8% versus 1,4% der aus reinen
Schweizer Familien stammenden Rekruten), (Haas 2001,
S. 286).
Die Frage, warum diese zweite Generation männlicher
Migranten aus Ländern mit fehlender demokratischer Kultur
gewaltbereiter sind als die Schweizer Knaben ist ganz einfach
falsch gestellt. In der multivariaten Analyse aller sozialen
und psychologischen Risikofaktoren1 hatte sich nämlich ge-
zeigt, dass die Herkunft der Eltern als solche nicht die Ursa-
che des Gewaltproblems ist, sondern dass es die Kumulation
von psychologischen und erzieherischen Risikofaktoren ist,
die in den Familien dieser Jungen massiv gehäuft auftreten.
Wenn man sie umgekehrt formuliert als «warum sind die
Schweizer Männer im statistischen Durchschnitt weniger
gewaltbereit als gleichaltrige Einwanderer aus Krisenregio-
nen», liegt die Antwort nahe: weil die Schweizer Familien be-
reits über vier Generationen hinweg in ihrer Erziehung und
ihrer psychischen Gesundheit gefördert wurden!
Dieses Resultat aus der Rekrutenstudie wird zudem von
einer ganz anderen, unabhängigen und prospektiv angeleg-
ten Longitudinal-Studie von Adrian Raine, einem Neuro-
psychologen bestätigt (Raine, Mellingen, Liu, Venables &
Mednick 2003), die weiter unten noch ausführlicher dar-
gestellt wird.
Paradigmenwechsel in der Wissenschaft
Die soziologisch-kriminologische Zugang zum Phänomen
der Gewalt, der jahrzehntelang einen starken Einfluss auf
Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik ausübte, tritt nun
immer mehr in den Hintergrund, nicht zuletzt, weil er wenig
wirksame Lösungen bereithielt. Seine Lösungsvorschläge
mündeten meistens in gesetzliche und präventive Massnah-
men, die nach dem Giesskannenprinzip für die gesamte Be-
völkerung gelten sollten und dadurch einen bürokratischen
Grossaufwand nach sich zogen, ohne damit nur im Gerings-
ten das illegale Tun der kleinen Minderheit von Intensivtä-
tern zu verhindern. Mit dem Zitieren der Studie von Raine et
al. wollen wir hier den Übergang zu den neuen, innovativen
Forschungsarbeiten der Neuro- und Psychowissenschaften
des letzten Jahrzehnts markieren. Nach den Thesen des His-
torikers Thomas Kuhn (1962) über den wissenschaftlichen
31
Paradigmenwechsel, läuft eine solche Veränderung nie rei-
bungslos ab. Wirklich neue Erkenntnisse werden gerade von
den etablierten Forschern eines Fachs «wegerklärt» und die-
jenigen Kollegen vehement bekämpft, die den Mut haben, sie
zu vertreten. Der Verdacht, es könnte es sich um etwas Neues
handeln, oder die bestehenden Theorien bedürften einer
Modifizierung, wird daher vom wissenschaftlichen Main-
stream oft schon im Keim erstickt, d. h. diese Kreise suchen
als Reviewer und Herausgeber zu verhindern, dass wissen-
schaftliche A rbeiten, die neue Resultate aufzeigen, überhaupt
erst in die grossen Journals gelangen.
Zeitgleich kann man auch im Strafrecht einen Paradig-
menwechsel beobachten, der ebenfalls weg führt von der
früheren Identifizierung mit dem Aggressor und hin zu einer
viel wirksameren Spezialprävention. Durch den Einfluss der
Frauenbewegung und der Einführung des Opferhilfegesetzes
1993 (ein weiterer zentraler Demokratisierungsschritt) und
mit einer neuen Generation von Strafrechtlern wird eine sehr
berechtigte Kritik an Missständen in Gesetzgebung und im
Justizwesen laut. Kritisiert wird ein Laissez-faire gegenüber
den Tätern und die damit einhergehende Gleichgültigkeit
gegenüber der Würde und den Grundrechten der Opfer. Im
positiven Sinn hat sich dadurch verändert, dass häusliche
Gewalt und sexuelle Ausbeutung als Ursprung vieler Fehlent-
wicklungen endlich ernsthaft strafverfolgt und z. T. über-
haupt erst pönalisiert werden (Steiner 2004).
Die Prinzipien der Erziehung
neuropsychologisch deklinieren
Die Revolution der Neurowissenschaften lässt uns nun die
altbekannten Prinzipien der Erziehung neu deklinieren. Die
neuen Methoden offerieren den Eltern, Lehrern und Thera-
peuten ungleich wirksamere Instrumente für die Erziehung
der gefährdeten Kinder liefern, als man sie noch vor zehn
Jahren hatte.
Prinzipien
1. Affektive Bindungen aufbauen, erhalten und stärken
2. Das Kind explorieren und frei spielen lassen
3. Regeln und Ziele setzen, Kontrollen durchführen und Be-
lohnungen geben
4. Geeignete Sanktionen durchsetzen
5. Kindern mit spezielle Bedürfnissen massgeschneiderte
Therapien zukommen lassen
Richard Tremblay, ein kanadischer Aggressionsforscher, hat
durch Beobachtung der Entwicklung von Kleinkindern viele
bedeutende Erkenntnisse für die Gewaltprävention geliefert.
Viele seiner empirisch gewonnenen Ergebnisse passen aller-
dings nicht in das Rousseau’sche Weltbild des «unschuldigen
Kindes», das «im Kern gut» geboren und danach durch die
Gesellschaft sukzessive «verdorben» würde. Im Gegenteil,
Tremblay hat beobachtet, dass physische Aggressionen gera-
de im Kleinkindalter am häufigsten vorkommen und danach
unter dem Einfluss langjähriger liebevolle Erziehung in zivi-
lisierte Formen der Kommunikation umgewandelt wird. Der
ganze – seit Jahrtausenden dauernde – Prozess der mensch-
lichen Zivilisation muss also von jedem einzelnen Kind sel-
ber neu durchlaufen werden. Tremblays Ergebnisse lassen
sich folgendermassen zusammenfassen (Tremblay 2006):
fast alle Menschen zeigen irgendwann physische Aggressio-
nen, wobei diese generell vor dem Alter von 2 Jahren erst-
mals auftreten. Das k leine Kind schreit, beisst, kratzt, schlägt
relativ hemmungslos alle die in seine Reichweite kommen,
kann damit glücklicherweise aber keinen grösseren Scha-
den anrichten. Nach dem Alter von 24 Monaten nimmt die
Häufigkeit solchen Verhaltens bei den allermeisten Kindern
stetig ab. Nur kleiner Teil der Kinder (3–5 Prozent) bleibt auf
dem hohen Level physischer Aggression stehen. Menschen,
die in der Kindheit oder Adoleszenz delinquent werden, rek-
rutieren sich nahezu immer aus dieser entwicklungsbehin-
derten Kern-Gruppe. Deshalb muss Gewaltprävention unbe-
dingt möglichst früh, mit Sicherheit aber schon im Vorschul-
alter ansetzen! Die Ergebnisse Tremblays decken sich im üb-
rigen mit denen von Loeber, Lacourse and Homish (2005)
aus der berühmten Pittsburgh Youth Longitudinal-Studie,
eine der weltweit besten Untersuchungen zum Langzeitver-
lauf von Delinquenz überhaupt, wo eine Gruppe von 1517
Kindern aus den Ghettos der Innenstadt von Pittsburgh seit
1987 prospektiv beobachtet und laufend erforscht wird 2.
Prinzip 1: Bindungen stärken und erhalten
Kommen wir also zurück zum ersten Prinzip der Erziehung.
Was kann getan werden, um die so zentrale affektive Bin-
dung an Vater und Mutter zu verbessern?
Erinnern wir uns an die auch nicht mehr so neuen Er-
kenntnisse des Schweizer Biologen Adolf Portmann, dass der
Mensch eine physiologische Frühgeburt ist, der wegen der
Grösse seine Kopfes in einem viel früheren Entwicklungssta-
dium geboren wird als die anderen grossen Säugetiere. Auf-
bauend auf dieser neuro-biologischen Theorie hat der Kin-
derarzt Harvey Karp nun eine Methode entwickelt, um
schreiende Säuglinge effektiver zu beruhigen, indem man ih-
nen die Bedingungen der Gebärmutter wiederherstellt. Man
wickelt sie mit einem Tuch in ein enges Päcklein, das verhin-
dert, dass die Ärmchen und Beinchen hilflos herumflattern,
wiegelt sie auf eine spezielle Art, und flüstert ihnen eine Art
Rauschen ins Ohr. Diese Methode soll besonders auch die so
genannten Schreibabies (auch 3-Monatskoliken genannt, ob-
wohl die Ursache des ständigen Schreiens nicht wirklich ge-
klärt ist) viel besser zum Einschlafen bringen können als
Wiegeln und Herumtragen alleine.
Dr. Karp hat einen wenige
Sekunden zuvor laut
schreienden Säugling
eingewickelt und wiegelt
ihn, so dass er sofort ein-
schläft.
Aus dem Film auf: http://
thehappiestbaby.com/ex-
cerpts_video.html
32
Die Methode von Karp ist insofern ein Instrument, das die
affektive Beziehung zwischen Eltern und ihrem Kind verbes-
sern und bewahren hilft, als man weiss, dass das permanen-
te Schreien mancher Säuglinge zu Misshandlungen durch die
erschöpften Eltern führen kann. Auch bei Eltern, die sich
trotz Schlaflosigkeit und Verzweiflung zu beherrschen wis-
sen, erfährt die Beziehung zu ihrem ständig «unzufrieden»
wirkenden Baby eine einschneidende Beeinträchtigung.
Säuglinge wirksam zum Schlafen zu bringen ist daher prä-
ventiv sehr wichtig.
Der gleiche Kinderarzt hat eine andere Methode entwi-
ckelt, um 2–3 jährige Krabbelkinder im Trotzalter zu beru-
higen. In diesem Alter sind die Strukturen des limbischen
Systems, die den Triebaufschub ermöglichen, noch nicht voll
ausgebildet und das Kind ist von seinen Stammhirn-Impul-
sen beherrscht. Das heisst, wenn es etwas Verlockendes
sieht, will es das unbedingt haben, «grabscht» sich das Er-
wünschte (wenn nötig mit Gewalt) und wird wütend, wenn
man es ihm verbietet oder wieder wegnimmt.
Aufgeklärte Eltern bemühen sich nun in solchen Situationen,
das Kind mit ruhigen Worten und viel Geduld zu trösten und
ihm zu erklären, warum die Welt nicht immer nach seinem
Willen funktionieren kann. Eltern, die aber mit ihren Nerven
selber am Ende sind, beginnen mit dem Kind zu schimpfen
oder bestrafen es. Beide Reaktionsweisen sind nun nach
Karp der kindlichen Hirnentwicklung nicht angepasst. Der
Appell an die Vernunft richtet sich an den Neokortex und ver-
mag deshalb die tieferen Hirnschichten (Stammhirn und
limbisches System) gar nicht zu erreichen, d. h. das Kind ver-
steht gar nicht, was man von ihm will! Es fühlt sich bei soviel
Vernunft, die ihm völlig fremd erscheint, erst recht unver-
standen und hört oft gar nicht richtig zu. Das elterliche
Schimpfen und Strafen hingegen ist ebenfalls oft unange-
bracht, weil das Krabbelkind (im Gegensatz zu älteren Kin-
dern, die nicht gehorchen wollen), sich aufgrund seiner Un-
reife gar nicht beherrschen kann, selbst wenn es dies wollte.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier sofort ange-
fügt, dass damit nicht impliziert sein soll, dass jegliche Sank-
tion durch Eltern oder Lehrer als blosses Ausagieren eigener
Aggressionen zu betrachten sei. Mehr zum Thema «wie man
sinnvoll sanktionieren soll» kommt in den späteren Ab-
schnitten.
Karp schlägt den Eltern eine neue Kommunikationsform vor,
die dem unreifen Hirn des Krabbelkindes besser angepasst
ist. Er begibt sich dazu auf Augenhöhe zum Kind und spiegelt
ihm seine Wünsche und Frustrationen in einer ähnlichen
emotionalen Form. Er sagt zum Beispiel: «Du wotsch jetzt
einfach das ha, Du wotsch, wotsch, wotsch! Aber du dörfsch
nöd und das isch so grässli! Du wotsch doch, Du wotsch,
wotsch wotsch jetzt eifach, gäll!» Erst wenn das Kind wieder
bereit ist, zuzuhören, kann man ihm dann vernünftig erklä-
ren, wie es weiter geht und mit Vorteil lenk t man das Kind ab,
indem man ihm etwas anderes Erfreuliches präsentiert.
Wenn Karp sein Verständnis für das Kind kund tut, sieht man
plötzlich einen ziemlich erstaunten Ausdruck auf dem klei-
nen tränenüberströmten Gesicht erscheinen und das Kind
beruhigt sich langsam. Es fühlt sich nämlich verstanden. Erst
durch das Spiegeln seiner Bedürfnisse im emotionalen Ton
und Gesichtsausdruck weiss es, dass die Eltern wirklich ver-
standen haben, was es möchte, auch wenn sie ihm den
Wunsch nicht erfüllen können. Dieses Vorgehen leitet dann
Entwicklungsschritte zur weiteren Differenzierung des lim-
bischen Systems in die Wege.
Etwas ähnliches geschieht übrigens, indem Eltern die Emoti-
onen ihrer kleinen Kindern benennen und erklären. Zum
Beispiel: «Du hast jetzt plötzlich Bauchweh bekommen und
willst nicht in den Kindergarten gehen. Könnte es sein, dass
Du Dich da vor etwas fürchtest?» So lernen Kinder ihre
Emotionen zu erkennen, zu benennen und dadurch zu be-
herrschen. Bei kulturell oder emotional deprivierten Kin-
dern, deren Bezugspersonen keinerlei Übersetzung des
kindlichen Körper-Erlebens in die gesprochene Sprache
machen, kommt es später oft zu einer Unfähigkeit, die Emo-
tionen als Signale überhaupt wahrzunehmen. Statt dessen
Krabbelkind, das gerade
von seinen Stamm-
hirnimpulsen
überwältigt wird.
Bild aus dem Film von
Harvey Karp auf: http://
thehappiestbaby.com/vi-
deo/happiesttoddler/clip2/
clip2_large.html
Mutter, die mit Geduld
und Vernunft erfolglos
versucht, ihrem
täubelnden Bub
zuzureden.
Aus dem Film von Karp
auf: http://thehappiest-
baby.com/video/hap-
piesttoddl er/clip2/clip2_
large.html
Karp in Aktion beim Be-
ruhigen eines Krabbel-
kindes (nicht im Bild).
Das Kind im Hinter-
grund zeigt aber eben-
falls sein Staunen.
aus dem Film: http://
thehappiestbaby.com/vi-
deo/happiesttoddler/
clip2/clip2_large.html
33
werden Wut, Scham und Angst von den Betroffenen als un-
beherrschbare Überwältigung erlebt, die sie entweder mit
psychoaktiven Substanzen unterdrücken oder direkt mit im-
pulsiven Handlungen ausagieren.
Anzumerken wäre noch, dass die Wirksamkeit von Karps
Methoden in Zukunft noch besser experimentell überprüft
und mit anderen Ansätzen verglichen werden muss. Sie wur-
den hier pars pro toto für einige der viel versprechenden
neuen Ideen im Bereich Neuropsychologie angeführt. Um
dennoch ein bisschen Aufschluss über deren Erfolgschancen
aus erster Hand zu gewinnen, habe ich das Beruhigen von
Krabbelkindern gestestet. Eine Gelegenheit hierfür bot sich
an einem Samstagmorgen im Supermarkt vor den ausladen-
den Regalen mit Süssigkeiten, die in den meisten Lebens-
mittelgeschäften wie per Zufall genau auf Augenhöhe der
2–5-jährigen Kinder angebracht sind. Es ging nicht lange,
entdeckte ich einen schreienden Bub, der sich an einem
Schoggistängeli festgekrallt hatte mit seinen Eltern, die ver-
suchten, es ihm wegzunehmen. So sah die Situation aus:
Ich fragte die Eltern, ob Sie Lust hätten, eine neue Beruhi-
gungsmethode kennen zu lernen, und ob ich sie vielleicht
gerade mal ausprobieren dürfte. Diese waren einverstanden
und interessiert. Ich begab mich also auf Augenhöhe mit dem
weinenden Bub, kurz nachdem die Eltern ihm die Schokola-
de weggenommen hatten, begrüsste ihn, stellte mich ihm vor
und sprach ihn in der Karp'schen Art an. Tatsächlich be-
ruhigte er sich schnell und sah mich staunend an. Dann
schweifte sein Blick herum und er versuchte, sich neu zu ori-
entieren. Da passierte etwas, woran ich leider vorher nicht
gedacht hatte: er entdeckte nämlich ein neues Objekt seiner
Begierde, eine andere Süssigkeit, die seine heissen Händ-
chen alsbald an sich rissen. Das Spiel begann also von neu-
em. Ich sagte ihm, er solle die Süssigkeit zurücklegen und
schon kamen die Tränen. Er legte sie aber tatsächlich zurück
und ich spiegelte ihm seine Frustration und lobte ihn. Er be-
ruhigte sich wieder einen Moment lang, aber leider dauerte
es nur eine halbe Minute, bis die kleinen Kinderfingerchen
wieder im Regal landeten und er mit schlauem Ausdruck ein
drittes Mal zulangte. Nun griffen die Eltern ein und legten
(leider) die Süssigkeit in den Einkaufswagen. Sie sagten, sie
hätten die Methode begriffen und bedankten sich und gingen
mit dem jetzt ruhigeren Bub weg. So einfach wie in den
Büchern und Filmen von Karp scheint es also doch nicht zu
gehen.
Was war hier schief gelaufen? Das Problem bestand darin,
dass keine wirkliche Neu-Orientierung möglich war. Die na-
türliche Reaktion von Kindern besteht darin, ihre Umwelt
spielerisch zu erkunden und auszuprobieren, was es alles
Interessantes auf der Welt gibt, d. h. etwas anfassen, daran
riechen, es in den Mund nehmen, etwas auseinanderneh-
men, etwas herumwerfen und schauen was dann passiert
usw. Zwischen den Regalen, alle vollgestopft mit Süsswaren,
war es für den armen Bub unmöglich, einen anderen genü-
gend faszinierenden Stimulus zu finden. Man hätte wohl vor
der Aktion mit Karps Methode zuerst einen anderen Rayon
aufsuchen sollen, zum Beispiel die Waschmittel. Beim Krab-
belkind geht dann die Verlockung durch die Süssigkeiten re-
lativ schnell vergessen, nach dem Motto «aus den Augen aus
dem Sin. Solange die Versuchung aber in den Augen bleibt,
bleibt sie auch im Sinn!
Prinzip 2: Gewähren lassen und Ermöglichen
des natürlichen Spiels
Damit kommen wir zum nächsten Abschnitt der Gewaltprä-
vention, dem zweiten Prinzip der Erziehung aus neuro-psy-
chologischer Sicht: dem Gewähren lassen des natürlichen
Spielens. Kinder müssen aus eigenem Antrieb und nach ihren
Bedürfnissen frei spielen können, damit sie sich entwickeln.
Kinder sollen zusammen mit mehr oder minder Gleichaltri-
gen interagieren, ihre Umwelt erkunden und Gruppen bilden
lernen. Zum Spielen gehört natürlich auch, dass die Tätigkei-
ten der Erwachsenen nachgeahmt werden, aber nicht aus-
schliesslich. Ein anderer ganz wichtiger Aspekt des Trainie-
rens und Aufbauens neuropsychologischer Funktionen ist
die Entwicklung der Orientierung in Raum und Zeit. Natürli-
cherweise sind Kinder (beim Menschen und beim höheren
Säugetier gleichermassen) neugierig und haben einen gro-
ssen Bewegungsdrang. Wenn sie diese adäquat ausleben
können, lernen sie nicht bloss Fakten, sie lernen auch das
Lernen selber, d.h. sie erwerben damit eine Metafunktion,
die sie nachher ihr ganzes Leben lang brauchen können.
Leider werden der spielerischen Exploration von der hoch
technisierten Umwelt in Stadt und Wohnsiedlungen extrem
enge Grenzen gesetzt. Es sind arme Kinder, die keinen Garten
haben, die nicht auf der Strasse oder auf dem Schulhof mit
den Nachbarskindern spontan und ohne Anleitung spielen
können, die nicht mehr schwimmen lernen, und die zuhause
keinen geheimnisvollen Estrich mit viel Gerümpel haben.
Allerdings es ist nicht nur der Strassenverkehr, der es für die
Kinder zu gefährlich macht, sich in ihrer Umgebung frei zu
bewegen. Ein freies Spiel der Kinder birgt notwendigerweise
die Gefahr von Unfällen. Kinder, die unter sich frei spielen –
ohne Einmischung und ständige Beobachtung von Erwachse-
nen, was ihrer sozialen und intellektuellen Entfaltung
ausserordentlich förderlich ist – laufen natürlich eine gewis-
se Gefahr, einmal vom Baum zu fallen, sich gegenseitig zu
verletzen oder zu ertrinken. Währenddem solche tragischen
Unfälle früher unausweichlich schienen, bewegt sich der ju-
ristische Trend zu einer immer strengeren Auslegung der
Aufsichtspflicht durch die erziehungsberechtigten Erwachse-
Eines von etwa 10
verschiedenen Ge-
stellen in einem
durchschnittlichen
Supermarkt, die mit
Süssigkeiten über-
laden sind (2008)
34
nen hin. Lehrer und Eltern, die freies unbeobachtetes Spielen
zulassen, riskieren im Falle eines Unfalles straf- und zivil-
rechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. So können
sie gar nicht anders, als es zu verbieten und technisch zu ver-
unmöglichen.
So gut gemeint, sinnvoll und notwendig die organisierten Er-
satzangebote wie Schultheater, Exkursionen etc. sind, so we-
nig können sie die spontane Umsetzung der kindlichen Fan-
tasien im ungeleiteten Spiel mit andern Kindern ersetzen.
Eine Rutschbahn aus Plastik kann niemals das Klettern auf
Bäume und das Bauen einer Baumhütte ersetzen! In den
1970er Jahren gab es beispielsweise im Basler Gymnasium,
das die Autorin damals besuchte, sehr attraktive Treppenge-
länder, auf denen die meisten Schüler in die Pause sausten.
Heute wäre so etwas undenkbar und die Treppengeländer
sind alle mit Knöpfen versehen, die das lässige Hinunter-
rutschen verunmöglichen, obwohl es wohl kaum gefähr-
licher ist als Skifahren. Dabei wären gerade solche nicht-
kommerziellen Aktivitäten, die nicht in eine Konkurrenz-
und Leistungssituation hinein münden, für die emotionale
und soziale Entwicklung (und nicht bloss für die motori-
sche) ausserordentlich wichtig.
Noch schlimmer steht es natürlich mit den unterprivile-
gierten Kindern, deren natürliche Neugier von Beginn an im
Keim erstickt wird, weil die überforderten Eltern sie mit TV,
elektronischen Spielen und Videos in jeder Hinsicht «ruhig»
stellen wollen. Weil die für die Gehirnreifung notwendige na-
türliche Stimulation fehlt, suchen sie sich diese Kinder ihre
Reize im Essen von Junkfood, in elektronischen Games und
in den Gewalt- und Pornofilmen, die ganz im Gegensatz zu
Gärten, Estrichen, Wäldern und «lässigen» Treppengelän-
dern reichlich vorhanden sind. Wenn sie dann in die Puber-
tät kommen, sind solche Jugendliche durch grosse Lange-
weile und eine schreckliche innere Öde geprägt. Das einzige,
was sie dann noch halbwegs zu faszinieren vermag, sind Sex,
Drogen (resp. Alkohol) und Gewalt.
Auch hierz u gibt es faszinierende Ergebnisse aus der neu-
ropsychologischen Forschung, wie man gefährdete Kinder
aus bildungsfernen und deprivierten Familien wirksam för-
dern kann. Auf der Insel Mauritius (Raine, Mellingen, Liu,
Venables & Mednick 2003) wurden 83 dreijährige Kinder
aus bildungsfernen, armen Familien in ein zweijähriges
ganztägiges Förderprogramm aufgenommen. Sie erhielten
dort in Kleingruppen von 5–6 Kindern pro Kindergärtnerin
eine gesunde Ernährung, medizinische Versorgung, Gym-
nastik, Rhythmik- und Musikunterricht, ein reiches Angebot
an Spielen, die kognitive Fähigkeiten fördern, freies Spielen,
Wanderungen und Exkursionen sowie Handarbeiten. Diese
Kinder wurden im Alter von 17 Jahren und später nochmals
mit 23 Jahren mit einer Kontrollgruppe von 355 Gleichaltri-
gen, die den traditionellen staatlichen Kindergarten auf
Mauritius (1 Kindergärtnerin pro 30 Kinder, keine Förder-
massnahmen) besucht hatten, verglichen. Die geförderten
Kinder hatten im Alter von 17 Jahren hochsignifikant we-
niger Verhaltensprobleme. Als junge Erwachsene hatten
von geförderten Kindern nur 3,6% eine gerichtliche Verurtei-
lung wegen irgendeines Delikts hinter sich, während es bei
den nicht geförderten der Kontrollgruppe 9,9% waren! Mit
dieser nur zwei Jahre dauernden Prävention im Kleinkind-
alter konnte man also die spätere Delinquenz signifikant
verringern.
Prinzip 3: Regeln und Ziele setzen, Kontrollen
durchführen und Belohnungen geben
Damit das Kind sich bei seinem Spiel nicht allzu grossen Ge-
fahren aussetzt und um den sozialen Frieden in der Familie
zu erhalten, kann sich Erziehung niemals nur auf den Fokus
eines einzigen Mitgliedes oder des einzigen Kindes begren-
zen. Vielmehr müssen Regeln gesetzt und k lar kommuniziert
werden, die allen Familienmitgliedern einen Raum zur eige-
nen Entfaltung gewähren. Das Erlernen der Regeln im Fami-
lienkreis ist praktisches Demokratietraining. Dazu gehört
zum Beispiel, dass kleine Kinder abends nicht gleich lange
aufbleiben dürfen wie die Erwachsenen.
Wenn Kinder ihre Eltern allzu sehr stressen, haben auch
die Letzteren Rechte. Eltern dürfen und müssen sich vor stän-
diger Überforderung schützen können, nicht zuletzt, um da-
mit ihre Bindung zu den Kindern zu erhalten. Für Kinder ist
es umgekehrt einfacher, eine punktuelle Distanzierung
seitens der Eltern zu erfahren, wenn diese an ihr eigenes ag-
gressives Verhalten gekoppelt ist, und nicht etwa erst dann
erfolgt, wenn ein ganz kleiner Tropfen das randvolle Fass der
überstrapazierten elterlichen Geduld zum Überlaufen bringt.
Ein solcher Vorgang ist für das kleine Kind nämlich nicht
nachvollziehbar und es fühlt sich dann generell abgelehnt.
Das bereits erwähnte Time-out ist eine beim Trötzeln
wirksame und in gewissen Fällen nötige Sanktion. Eine wei-
tere wirksame Methode, die Regeln zu kommunizieren und
durchzusetzen ist die so genannte gewaltfreie Kommunikati-
on nach Rosenberg
3. Aus Platzgründen können wir dieses
spannende Thema nicht weiter ausführen.
Eine der stärksten Belohnungen für gutes Verhalten sind
neue Freiheiten. Gleichzeitig dient diese Belohnungsmethode
dazu, den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwor-
tung fest zu verankern. Es geht darum, dem Kind zu vermit-
teln: wenn es verantwortungsvoll handelt, dann kann man
ihm vertrauen und dadurch wird es Stückchen für Stückchen
erwachsener und freier. Natürlich braucht es dazu gewisse,
teils spontane, teils angekündigte Kontrollen, um die Fort-
Ein so genannter
Spielplatz (etwa 40
Quadratmeter)! Man
vergleiche dazu das
farbenfrohe und
geradezu interes-
sant wirkende Bild
der Süssigkeiten
im Supermarkt.
35
schritte des Kindes zu überprüfen. Beispielsweise, indem
man sagt: «Am Mittwoch kontrolliere ich, ob Dein Zimmer
gut aufgeräumt ist, und je nach dem können wir dann die-
se oder jene kleine Freiheit neu einräumen, z. B. darfst Du
alleine einen Pulli kaufen gehen». Kontrollen geben dem
Kind das Gefühl, dass man sich um es kümmert; dass es ei-
nem nicht egal ist, wie sein Leben einmal herauskommt. Es
wäre ein Irrtum zu glauben, man könne Kinder von Anfang
an als selbstverantwortliche Individuen behandeln, quasi als
kleine Erwachsene, die gleichberechtigt mitreden können.
Damit überforderte man sie, und man simulierte einen un-
natürlichen und unwahren Zustand, denn in Tat und Wahr-
heit sind Kinder und Jugendliche weder materiell noch emo-
tional selbstständig, sondern hängen sehr stark und sehr
lange von der elterlichen Fürsorge ab. Auch Tierkinder wer-
den bekanntlich von ihren Eltern aktiv erzogen und dürfen
sich nicht alles erlauben. Kinder sollen ruhig auch lernen,
dass gewisse Privilegien an die Volljährigkeit und an die Fä-
higkeit, sich selber zu ernähren und einen eigenen Haushalt
zu führen, gebunden sind (z. B. der Besitz eines eigenen Au-
tos oder das Mieten einer eigenen Wohnung).
Prinzip 4: Geeignete Sanktionen durchsetzen
Belohnungen sind sicher das beste Erziehungsmittel, sie rei-
chen allerdings nicht immer aus. In gewissen Situationen
kann die Unreife des Kindes bewirken, dass es einfach nicht
einsieht, warum dieses oder jenes Verhalten verboten ist.
Dann werden Strafen leider unausweichlich. Nur, wie sollen
denn diese sinnvoll gestaltet werden? Viele Fachleute scheu-
en das Thema und möchten sich daran lieber nicht die Finger
verbrennen. Dies hat die ungute Konsequenz, dass die mit
den drängenden Fragen im Stich gelassenen Eltern (und oft
genug die Fachleute selber auch) eine Doppelmoral entwi-
ckeln und heimlich etwas ganz anderes praktizieren als sie
öffentlich predigen.
Das Thema betrifft ganz besonders die schwierigen, ag-
gressiven Kinder, die andere Kinder plagen. Die Integration
aller Kinder in die gleiche Schule ist gut und recht, man muss
aber gleichzeitig sicherstellen, dass psychisch schwache Kin-
der, körperlich behinderte Kinder und Opfer-Kinder vor den
so genannten «Bullies» in- und ausserhalb des Schulhofs ge-
schützt werden und sich ebenfalls frei entfalten können.
Wenn es zur Güterabwägung zwischen den Rechten der Op-
fer und denjenigen der Täter kommt, sollte eigentlich eine
klare Stellungnahme zugunsten der Opfer selbstverständlich
sein. Was für häusliche Gewalt gilt, sollte auch in Schulen
und Heimen eingeführt werden: weggehen muss nicht das
Opfer sondern der Täter.
Als erstes müssen wir nun einen Katalog an Anforderun-
gen an eine Sanktion stellen, denn diese sollen wie gesagt,
einen Sinn haben und keinesfalls ein Ausleben eigener Ag-
gressionen darstellen. Hier also vier zentrale Anforderungen
an eine Sanktion:
1. Die Sanktion muss schnell erfolgen, sie darf nicht erst
Monate oder gar Jahre nach dem unernschten Verhal-
ten ausgesprochen werden.
2. Wenn es sich um wiederholtes Fehlverhalten handelt,
muss die Sanktion das unernschte Verhalten wirksam
verhindern und nicht bloss einen symbolischen Akt dar-
stellen. Nur beim einmaligen und wenig gravierenden
Vorfall sind rein symbolische Strafen angebracht.
3. Die Sanktion soll die psychische Weiterentwicklung, die
Einsicht und die Verantwortungsübernahme fördern.
4. Durch die Sanktion soll eine Neuorientierung auf ent-
wicklungsfördernde Interessen erfolgen.
Aus den Erkenntnissen der Verhaltenspsychologen über die
Unwirksamkeit von ständigem Schimpfen und aggressiven
Strafen resultierte eine weitere wichtige Erkenntnis, wie
Sanktionen gestaltet werden sollen, nämlich als so genann-
tes Time-out. Time-out besteht darin, dass man Kinder mit
unerwünschten Verhalten eine gewisse Zeit lang aussondert
und ignoriert, damit ihre Aggressionen nicht durch vermehr-
te Aufmerksamkeit belohnt werden. Allerdings ist das Time-
out natürlich nur dann sinnvoll, wenn das erwünschte Ver-
halten solcher Kinder regelmässig durch Zuwendung belohnt
wird.
Während eines Time-outs kann zudem weiter gearbeitet
werden. Das sanktionierte Kind soll beispielsweise eine Auf-
gabe erfüllen, um damit die Zeit des Time-out abzukürzen.
Die Aufgabe kann darin bestehen, etwas vom angerichteten
Schaden wieder gut zu machen; oder aber in einer Bewusst-
werdung der inneren Signale, die dem impulsiven, asozialen
oder gefährlichen Verhalten vorausgegangen sind. Die Sank-
tion dient dazu, dem Kind zu helfen für sein Verhalten mehr
Verantwortung zu übernehmen und es besser steuern zu
können. Die kognitive Therapie für jugendliche Straftäter hat
hierfür sehr interessante Lernprogramme entwickelt, mit ei-
nigen Ideen, die man auch ausserhalb einer eigentlichen
Therapie umsetzen kann (zu finden z. B. cognitive life skills
workbooks von American Community Corrections Insti-
tute 4
).
Es würde hier zu weit führen, wollte man detaillierte Vor-
schläge für eine Verbesserung des Jugendstrafrechts unter
neuro-psychologischen Gesichtspunkten unterbreiten. Ich
kann hier nur darauf hinweisen, dass ein Bedarf besteht und
dass das Jugendstrafrecht daran krankt, dass es sich m. E.
noch zu stark an den veralteten kriminologischen Theorien
und an einer Strafrechtsdogmatik, die weitgehend vom Er-
wachsenenstrafrecht übernommen wird, orientiert. Zentral
wichtig dabei ist es, das ganze gewalttätige Verhalten wirk-
sam zu unterbinden, denn nur wenn diese Option überhaupt
nicht mehr zur Verfügung steht, ist es dem betreffenden Ju-
gendlichen möglich, eine echte Neuorientierung zu suchen
(ähnlich wie beim kleinen Bub im Supermarkt, der sofort
neue Süssigkeiten vor der Nase hatte und deshalb nicht zu
beruhigen war).
Prinzip 5: Therapien für Kinder mit speziellen
Bedürfnissen
Für ADHD-Kinder (Aufmerksamkeitsstörung und Hyperakti-
vität), eine Disposition, die man oft im Vorfeld späterer De-
36
linquenz findet, stehen heute verschiedene wirksame Be-
handlungsansätze zur Verfügung, seien es spezielle Un-
terrichtsprogramme und Hilfen für Lehrer
5, sei es medika-
mentös unterstützte Psychotherapie oder sei es durch so ge-
nanntes Neurofeedback, ein computergestütztes Training
der Gehirnwellen.
Im letzten Jahrzehnt haben zudem Traumaforschung und
-therapie entscheidende Fortschritte gemacht. Viele Symp-
tom-Konstellationen, die man früher etwas hilflos unter den
Persönlichkeitsstörungen (z. B. Borderline-Persönlichkeit)
abgehandelt hatte, sind eigentlich die Folgen repetitiver und
schwerer Traumata. Neue Traumatherapien wie Somatic Ex-
periencing vermögen in vielen Fällen Erleichterung zu brin-
gen und stellen damit die psychischen Funktionen, z. B. die
Beziehungsfähigkeit und die Konzentrationsfähigkeit wieder
her (Scaer 2001, Rothschild 2000). Diese Therapien arbeiten
mit dem Körpererleben und zielen darauf hin, das Stamm-
hirn von der Last der aktivierten, biologischen Überlebens-
programme zu befreien (z. B. kumulierte Flucht-Kampfreak-
tionen, die aktiviert aber nicht zu Ende geführt wurden). Das
Trauma steckt also imrper und kann somit auch dann
behandelt werden, wenn der Patient die Ereignisse nicht be-
wusst erinnern kann, weil sie in der frühen Kindheit statt-
gefunden haben.
Im Bereich der medikamentösen Unterstützung von ver-
hinderten Entwicklungsschritten in der affektiven Bindung
gefährdeter Kinder zeichnen sich ebenfalls interessante Ent-
wicklungen ab. Experimentelle Forschungen über das Hor-
mon Oxytocin lassen vermuten, dass dieses das Vertrauen
und die Beziehungsfähigkeit verbessert (Ditzen, Schär, Gab-
riel, Bodenmann, Ehlert & Heinrichs 2008). Zudem vermin-
dert es den Level des Stresshormons Cortisol, dessen Lang-
zeitwirkung nach wiederholten und schweren Traumatisie-
rungen organische Schäden anrichten kann, welche dann ih-
rerseits einer Rehabilitation im Wege stehen (Lopez & Casa-
nova 2001, Rüegg 2001, Bremner et al. 1995). Ob sich die
Oxytocinbehandlung später therapeutisch auch bei Kindern
umsetzen lässt, wissen wir derzeit zwar noch nicht. Auch die
Wirksamkeit der neuen Traumatherapien muss experimen-
tell noch besser untersucht werden. Aber wiederum stehen
diese Beispiele für die Vielfalt an neuen Erkenntnissen und
Methoden aus den Neurowissenschaften, von denen nach
den klinischen Tests die Wirksamsten am Schluss übrig blei-
ben werden und damit vielerlei neue therapeutische Mög-
lichkeiten für Gewalttäter, für diesbezüglich gefährdete Kin-
der und nicht zuletzt für die Opfer von Gewalt eröffnen.
Ausblick
Zum Schluss stellt sich die Frage, wie denn eine neue Kri-
minalpolitik umgesetzt werden kann und wie die neuen Me-
thoden [gekonnter Umgang mit Babys und Kleinkindern,
anregende und kindgerechte Spielumgebung im Vorschulal-
ter, sinnvolle Erziehungsmethoden durch die Eltern und Be-
hörden (Jugendstrafrecht), (Therapien falls nötig)] zu den
Kindern und Jugendlichen gelangen, die ihrer dringend be-
dürfen. Hier sind noch einige Knacknüsse zu lösen.
Damit die genannten neuen Erziehungs- und Therapie-
methoden alle gefährdeten Kinder möglichst früh erreichen,
wäre optimalerweise die Kooperation ihrer Eltern nötig. Seit
vielen Jahrzehnten wissen Lehrer, Kinderärzte, Familienthe-
rapeuten, Kinderpsychiater, Sozialarbeiter und Schulpsycho-
logen, dass sich gerade die Familien mit den schwierigsten
Kindern leider jeglicher Intervention durch Fachleute zu ent-
ziehen versuchen. Sie befürchten nämlich (oft nicht ganz zu
Unrecht), dass innerfamiliäre Missbräuche zum Vorschein
kommen könnten oder dass das archaische Feudalreich ei-
nes Familienclans dadurch ins Wanken geraten könnte. Man
kommt also um einen gewissen Zwang nicht herum, wenn
man erkennt, dass ein Kind gefährdet ist. Wiederum zeigt
sich hier die Schwierigkeit, wie man von der Vogelstrauss-
Politik des wissenschaftlich unhaltbaren Dogmas «man darf
nichts diagnostizieren und gesondert behandeln, um jegli-
che Ausgrenzung zu verhindern» wieder wegkommt, damit
in Zukunft weder die «Opfer-» noch die «Täterkinder» von
ihrer Familie und der Gesellschaft im Stich gelassen werden.
Anhang: Dominanz und Niedergang
soziologischer Erklärungsmodelle
seit 1970
Was anfänglich als berechtigte Kritik an schlecht geführten
Institutionen und brutalen Erziehungsmethoden begonnen
hatte, weitete sich unter dem Titel «gegen die Ausgrenzung»
immer mehr auf jegliche erzieherische und sonderpädagogi-
sche Bemühung aus. Die Labelling-Theorie gleicht ein biss-
chen der lange Zeit verbreiteten falschen Meinung, Spinat
enthalte besonders viel Eisen. Die Labelling-Theoretiker hat-
ten nämlich Korrelation mit Ursache verwechselt und hatten
es verpasst, die Einflüsse der frühen Kindheit und der fami-
liären Erziehung sowie der Ausübung physischer Gewalt in
verschiedenen Lebensaltern mit in ihre Analyse einzubezie-
hen.
Allen Kriminologen sind die Resultate der Forschung der
frühen 1970er Jahren von Wolfgang et al. (1972) und Robins
(1966) wohl bekannt, nämlich dass die Mehrheit aller Straf-
taten und insbesondere fast alle schweren Gewaltverbrechen
durch eine kleine Minderheit von Intensivtätern begangen
wird, die nur etwa 6–8% aller Täter ausmachen. Trotzdem
wurde und wird diese für jegliche Kriminalpolitik zentrale
Erkenntnis von den vielen Kriminologen seit über dreissig
Jahren systematisch ignoriert und wegrationalisiert. Die sim-
plifizierende Doktrin «man darf niemanden ausgrenze
und «Repression nützt nichts» verhinderte und verhindert
teilweise noch heute, dass den besonders belasteten Famili-
en und ihren Sprösslingen die speziellen Stützen, derer sie
dringend bedürfen, zukommen. Für eine deutliche statisti-
sche Abnahme der Anzahl begangener Gewalttaten genügt es
nämlich bereits, wenn es gelingt, die Deliktswahrscheinlich-
keit (für eine mittelschwere bis schwere Tat) der bekannten
Intensiv-Täter innerhalb eines gegebenen Zeitraumes (z. B.
einem Jahr) um mindestens 10–20 Prozent zu senken (Haas
2008). Kriminalpolitische Präventionsprogramme, die es
verpassen, sich auf die besonderen Bedürfnisse dieser Hoch-
37
Risikogruppe zu konzentrieren, scheitern mit grosser Regel-
mässigkeit. Deren Misserfolge sind als solche allerdings ein-
zig und allein für die öffentliche Hand und die Auftraggeber
spürbar, denn die Forscher können die Daten problemlos für
Publikationen in renommierten Journalen ihrer Kreise ver-
wenden. Sie machen daraus dann einfach «Methodenstudi-
en» oder heben selektiv gewisse Aspekte von Teilstichproben
hervor, und können ihre Analysen auf diese Art und Weise in
persönliche «Erfolge» ummünzen.
Die Jugend- und Rekrutenbefragung (ch -x), welche die
Schweizer Verhältnisse sehr gut repräsentiert, und die 1997
eine breite Palette von psychologischen und soziologischen
Variablen erfasste, lieferte mehrere Hinweise auf die Nütz-
lichkeit von Strategien präventiver, repressiver und therapeu-
tischer Art, die eine gesonderte Erfassung und Behandlung
des Kindes beinhalteten. Massnahmen wie Spezialklassen,
Heimplatzierung und auch das Erscheinen vor dem Jugend-
richter (nachdem sie einen Blödsinn angestellt hatten), hat-
ten sich für die betroffenen Rekruten als hilfreich erwiesen
und sie hatten als Erwachsene bessere Chancen, im Leben
ihren Weg zu finden, als wenn die Behörden nicht oder nur
halbherzig eingegriffen hätten (Haas 2001).
Man fragt sich daher, wieso sich das instabile Theorien-
gebäude des Labelling-Approaches so lange halten konnte.
Einerseits hat es wohl damit zu tun, dass diese Dogmen lange
Zeit gewissen Fachleuten und der Politik das Leben erleich-
terten, denn sie entbanden sie in ihrem beruflichen Alltag
von vielerlei unangenehmen Aufgaben und Entscheidungen.
Die politische Akzeptanz dieser Irrlehre war also während
langer Zeit sehr hoch, denn man hörte ihre Botschaften nur
allzu gerne und die langfristigen Konsequenzen zeigten sich
erst Jahrzehnte später. Andererseits konnte das Problem der
steigenden Jugendgewalt nur deshalb auf akademischem
Niveau verleugnet werden, weil die Opfer (ebenso wie die Tä-
ter) oft aus sozial sehr schwachen Schichten stammen und
sich daher an der öffentlichen Meinungsbildung kaum betei-
ligen können. So wurden Studien durchgeführt, die leichte
und schwere Delikte in den selben Topf warfen und damit
behaupteten, Jugendgewalt hätte entgegen der polizeilichen
Kriminalstatistik gar nie zugenommen – zugenommen hätte
angeblich nur die Anzeigebereitschaft. In Wirklichkeit ist
zwar die Gesamtzahl von leichten und schweren Taten
zusammen über die letzten Jahrzehnte hinweg konstant ge-
belieben, aber innerhalb dieser Menge hat der Anteil an be-
sonders schweren Gewalt-Delikten massiv zugenommen.
Dies wurde durch eine sehr zuverlässig erarbeitete und für
die allgemeine Bevölkerung repräsentative Studie aus dem
Inselspital Bern nachgewiesen. Zwischen 2001 und 2006
kam es leider sehr wohl zu einem massiven Anstieg der
schweren Gewalt, es wurde nämlich ein 60-prozentiger An-
stieg der Aufnahmen von Opfern schwerer und schwerster
Gewalt auf die Notfallstation registriert (Exadaktylos, Häu-
selmann & Zimmermann 2007). Die Anzahl der Gesichts-
und Schädelverletzungen stieg von 11 Prozent im Jahr 2001
auf 17 Prozent 2006. Zählt man das erste Halbjahr 2007
dazu, waren es sogar 22 Prozent! Man muss somit leider sehr
wohl von einem massiven Anstieg der Gewalt in der Schweiz
ausgehen und der lässt sich keineswegs bloss auf einen An-
stieg der Anzeigen reduzieren. Weitere Studien zu den Not fall-
aufnahmen in anderen Kantonen (Basel-Stadt, Waadt) sind
bereits im Auftrag und kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
So wurden in den letzten Jahren die Hypothesen der so-
ziologischen Kriminologie vielfach widerlegt, aber es wird
wohl noch einige Zeit dauern, bis das veraltete wissenschaft-
liche Paradigma und die dadurch entstandenen Dogmen
endgültig verschwinden, um den neuropsychologischen An-
sätzen Platz zu machen.
Anmerkungen
1 Multivariat heisst, dass viele verschiedenen Risikofaktoren zu-
sammen analysiert werden, so dass man bestimmen kann, welche
Einflüsse primär als Ursachen in Frage kommen und welche bloss
sekundäre Begleiterscheinungen der primär verantwortlichen Ein-
flüssen sind (sog. confounding co-variates).
2 Siehe Homepage www.wpic.pitt.edu/research/famhist/pys.htm
3 Zentrum für Gewaltfreie Kommunikation: www.cnvc.org/de
4 American Community Corrections Institute www.accilifeskills.com/
introduction.php
5 z. B. Informationsserver zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-
tätsstörung (ADHS) www.adhs.ch/adhs/schule/101.htm
Literatur
Baade, F.-W., Borck, J., Koebe, S., & Zumvenne, G. (1984). Theorien und
Methoden der Verhaltenstherapie. Deutsche Gesellschaft für Verhal-
tenstherapie Tübingen.
Beck, A. (1999). Prisoners of Hate: The Cognitive Basis of A nger, Hosti-
lity, and Violence. New York: Harpercollins Publishers, Inc.
Bremner, J., Randall, P., Scott, T., Bronen, R., Seibyl, J., Southwick, S.,
Delaney, R., McCarthy, G., Charney, D., & Innis, R. (1995). «MRI-
based measurement of hippocapal volume in patients with combat-
related posttraumatic stress disorder.» American Journal of Psy-
chiatry, 152, 973–81.
Catalano, R., Arthur, M., Hawkins, D., Berglund, L. & Olson, J. (1998).
«Comprehensive Community- and School-Based Interventions to Pre-
vent Antisocial Behavior.» In R. Loeber, D. Farrington (Eds.). Serious
and Violent Juvenile Offenders: Risk Factors and Successful Interven-
tions. Thousand Oaks, CA: Sage Publications, Inc.: S. 248–283
Cohn, H. (1886). «Ueber die Nothwendigkeit der Einführung von
Schulärzten». Medical Microbiology and Immunology, Verlag Sprin-
ger Berlin / Heidelberg
Ditzen, B., Schär, M., Gabriel, B., Bodenmann, G., Ehlert, U. & Hein-
richs, M. (2008). Intranasal Oxytocin Increases Positive Communi-
cation a nd Reduces Cortisol Levels during Couple Conf lict. Biological
Psychiatry.
Ditzen, B; Schmidt, S; Strauss, B; Nater, U M; Ehlert, U; Heinrichs, M
(2008). Adult attachment and social support interact to reduce psy-
chologica l but not cortisol responses to stress. Journal of Psycho-
somatic Research, 64(5): 479–486.
Dornes, M. (1997). Die frühe Kindheit. Fischer, Frank furt a.M.
Exadaktylos A.K., Häuselmann S. & Zimmermann H. (2007). Are times
getting tougher? A six-year survey of urban violence-related injuries
in a Swiss university hospital. Swiss Medical Weekly, (37), 525–530.
Forel-Klinik (2009). Geschichte. www.forel-klinik.ch/geschichte.html
(online am 2. Jan. 2009)
Glueck, S. & Glueck, E. (1950). Unraveling Juvenile Delinquency. New
York: The Commonwealth Fund. Oxford University Press.
Gottfredson, M. & Hirschi, T. (1990). A General Theory of Crime. Stan-
ford University Press, Stanford Cal.
Haas, H. (2009). Verlaufsanalysen von häuslicher Gewalt. In: C. Kren
(Ed). Lebensform Familie – Realität und Rechtsordnung. Sammel-
band der Tagung der Österreichischen Richter/innen und Staats-
anwältInnen. Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag.
Haas, H. (2008, 7. Juli). Evaluation der spezialpräventiven Effekte
38
der Stra fverfolgung mit Hil fe der neuen K riminalstatistik. Jusletter.
Online: www.weblaw.ch/de/content_edition/jusletter/jusletter.asp?
JusletterNr=477
Haas, H., Farrington, D., Killias, M., & Sattar, G. (2004). The impact of
different family configurations on delinquency: a detailed examina-
tion. British Journal of Criminology, 44: 1–13. Online reference:
http://bjc.oxfordjournals.org/cgi/content/short/azh023v1
Haas, H. (2004). First Responder’s Assessment of Dangerousness
(FRA D). – Gefährlichkeitsabklä rung in der Notfall situation In (Ed s.):
C. Kranich, F. Greber & H. Strub. Häusliche Gewalt und ausländische
Mitbürgerin nen und Mitbür ger in der Schweiz . AGAVA, Reader zu m 3.
Schweizer Kongress gegen Gewa lt und Missbrauch. Online reference:
http://www.agava.ch/content/e57/e209/index_ger.html
Haas, H. (2004). Ergebnisse aus der Dunkelfeldforschung über sex uel-
le Belästigung und Missbrauch. In (Eds): C. Kranich, I. Hülsmann, F.
Greber & H. Strub. Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen.
(Engl. Exploitation of Professional Relationships.) L'exploitation des
dépendeance Professionnelles. AGAVA, Reader zum 2. Schweizer
Kongress gegen Gewalt und Missbrauch.
Haas, H. (2003). Psychologie de la déposition, victimologie et tech-
niques d’entretien. Recherches juridiques lausannoises, Edition
Schulthess. ISBN 3 7255 4581 2.
Haas, H. & Killias, M. (2003). The Versatility vs. Specialization Debate:
Different Theories of Crime in the Light of a Swiss Birth Cohort. In:
Chester Britt & Michael Gottfredson (2003): Control Theories of
Crime and Delinquency (Advances in Criminological Theory, Vol.
12), New Brunswick: Transaction Publ. Online reference: www.fin-
darticles.com/p/articles/mi_m2248/is_158_40/ai_n14815107
Haas, H. (2001). Agressions et victimisation: une enquête sur les dé-
linquants violents et sexuels non détectés. Sauerländer Verlag Aarau.
ISBN 3-7941-4915-7.
Haas, H. (1996). Gewalt, Geschlecht und Kultur – Ein Beitrag zur
Ethno psychoanalyse von Kriminalität. Psychoanalytische Blätter 4
Geschlecht und Gewalt. Vandenhoeck & Ruprecht: 29–54.
Haas, H. (1995). Ausgebrannte Adoleszenz: Das Negativ bürgerlichen
Lebens in der Moderne. Ethnopsychoanalyse 4: Arbeit, Al ltag, Feste,
Bandes & Apsel: 184–204.
Karp, H. (2003). The Happiest Baby on the Block: T he New Way to Calm
Crying and Help Your Newborn Baby Sleep Longer. Bantahm Dell,
New York.
Karp, H. (2005). The Happiest Toddler on the Block: The New Way to
Stop the Da ily Battle of Wills and Raise a Secure and Well-Behaved
One- to Four-Year-Old. Bantahm Dell, New York.
Kuhn, T. S. (1996). The Structure of Scientific Revolutions. 3rd edition,
Chicago, IL: University of Chicago Press. (Original work published
1962)
Loeber, R., Lacourse, E., & D. L. Homish (2005). Homicide, violence
and developmental trajectories. In R. E. Tremblay, W. W. Hartup, & J.
Archer (Eds.), Developmental Origins of Aggression (pp. 202–220).
New York: Guilford.
Loeber, R., & Stouthamer-Loeber, M. (1998). Development of juvenile
aggression and v iolence. Some common misconceptions and contro-
versies. American Psychologist, 53(2), 242–259.
Kerner, H. J. (2005). The Complex Dynamics of the Onset, the Develop-
ment and the Termination of a Criminal Career: Lessons on Repeat
Offenders Drawn from Recent Longitudinal Studies in Criminology.
In: Robert J. Sampson and John H. Laub (Special Editors): Develop-
mental Criminology and its Discontents: Trajectories of Crime from
Childhood to Old Age. The Annals of the American Academy of Politi-
cal and Social Science, Vol. 602, November 2005: 259–279.
Portmann, A. (1957). Zur Gehirnentwicklung der Säuger und des Men-
schen in der Postembryonalzeit. Bull. Schweiz. Akad. medizin. Wis-
sensch. 13: 489–497.
Portmann, A. (1962). Cerebralisation und Ontogenese. Medizinische
Grundlagenforschung 4: 1–62.
Raine, A ., Melli ngen, K., Liu, J., Venables, P.H., & Mednick, S.A. (2003).
Effects of environmental enrichment at 3-5 years on schizotypal
per sonality and antisocial behavior at ages 17 and 23 years. Ameri-
can Journal of Psychiatry, 160: 1627–1635. Online: www-rcf.usc.
edu/~raine/publications.htm
Robins, L. N. (1966). Deviant Children Grown up: a Sociological and
Psychiatric Study of Sociopathic Persona lity. Williams and Wilk ins,
Baltimore.
Robins, L. N. (1970). «Follow-up studies of childhood conduct disor-
der». In Psychiatric Epidemiology. (eds Hare & Wing) .
Rosenberg, M. (2007). Gewaltfreie Kommunikation: Aufrichtig und
einfühlsam miteinander sprechen. Paderborn, 7. überarb. und erw.
Auflage
Rosenberg, M. (2007). Erziehung, die das Leben bereichert. Gewalt-
freie Kommunikation im Schulalltag. Paderborn: Junfermann, 3.
Auflage.
Rosenberg, M. (2007). Kinder einfühlend ins Leben begleiten. Pader-
born: Junfermann, 2. Auflage.
Rothschild, B. (2000). The Body Remembers: The Psychophysiology of
Trauma and Trauma Treatment. Norton & Co, Inc. New York.
Rüegg, J. C. (2001). Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn. Neu-
ronale Plastizität als Grundlage einer biopsychosozialen Medizin.
Schattauer, Stuttgart
Scaer, R. (2001). The Body Bears the Burden: Trauma, Dissociation,
and Disease. 2nd Edition. The Haworth Medical Press Inc. Bing-
hampton NJ.
Sondheimer, G. War August Forel ein Rassist? w ww.edimuster.ch/absti-
nenz/forelrassist.htm
Spitz, R. (1965). Vom Säugling zum Kleinkind. Klett, Stuttgart.
Stadt Zürich, Schul- und Sportdepartement (2009). Geschichte der
Volksschule. www.stadt-zuerich.ch/content/ssd/de/index/volksschu-
le/schulkreise_kreisschulpflegen/alle_schulkreise/volksschulge-
schichte.html (online am 2. Jan. 2009)
Steiner, S. (2004). Häusliche Gewalt. Erscheinungsformen, Ausmass
und polizeiliche Bewältigungsstrategien in der Stadt Zürich. Zürich:
Rüegger.
Tremblay, R. (2000). L’origine de la violence chez les jeunes. ISUMA.
Tremblay, R., Nagin, D., Séguin, Zoccolillo, M. Zelazo, P., Boivin, M,
Pérusse, D. & Japel, C. (2004). «Physical Aggression During Early
Childhood: Trajectories and Predictors.» Pediatrics 114: 43–50.
Tremblay, R. (2006). Prevention of youth violence: Why not start at the
beginning? Journal of Abnornal Child Psychology 34: 481–487.
Tress, W. (1986). Das Rätsel der seelischen Gesundheit. Vandenhoeck
& Ruprecht, Göttingen
Séguin, J., Nagin, D., Assaad, M. & Tremblay, R. ( 2004). «Cognitive-
neuropsychological function in chronic physical aggression and
hyperactivity.» Journal of Abnormal Psychology, 113: 603–613.
Wolfgang M., Figlio R., Sel lin Th. (1972). Del inquency in a B irth Cohort.
The University of Chicago Press, Studies in Crime and Justice, Chi-
cago
Article
Full-text available
Folge 4 Das «perfekte Verbrechen» gibt es nicht: lasciate ogne speranza, voi ch'intrate! Locard Kriminalistische und psychologische Tipps für den beruflichen Alltag an alle https://www.linkedin.com/pulse/tip-4-das-perfekte-verbrechen-gibt-nicht-lasciate-ogne-haas/?trackingId=UedU9j4MTZWW%2BTa5vohGWA%3D%3D
Chapter
Full-text available
In 1997, Swiss Army recruits were interviewed on the topic of violence. The present study is based on 21,314 anonymous interviews with 20-year-old Swiss men, representing over 70 percent of this birth cohort. After approximately 4 weeks of basic training, the soldiers were asked to complete a questionnaire containing about 900 variables on the biographic and social circumstances of their childhood and adolescence, including violent and other deviant behavior they had either committed or experienced. Apart from those young men whose only offenses are traffic offenses (speeding and drunk driving) or smoking cannabis, we found that most delinquents do not specialize in just one given type of crime. They take whatever is easily available. However, we cannot exclude the possibility of finding clusters of typical forms of delinquency. Among subjects who admitted having perpetrated violent acts towards others, we found 669 who had committed a bodily injury. Among respondents who admitted any sexual harassments or sexual abuse, we found 30 who confessed to having committed rape using threats or violence. Introducing 33 different variables into the models of logistic regression we filtered out those factors, which contribute to the crimes of bodily injury and sexual violence. The crime of bodily injury seems to be most related to three principal causes: lack of self-control, personality disorder, and the access to weapons. Rape seems to be related to some of the same basic factors that influence violence in general. However, sexual victimization during childhood or adolescence is the one most important risk factor in this form of crime. Based on these figures, it seems that empirical evidence supports the following theories on the origins of crime: control theory, psychopathology, situational approach, and biographical trauma theory. On the other hand, we found no support for Sutherland’s theory of differential association, for macro-social theories such as Merton’s functional approach, nor for the labeling approach and critical criminology. The high-quality social welfare, the strong commitment to rehabilitation of the Swiss juvenile justice system, and the relatively fair chances for less privileged juveniles to achieve professional success in a wealthy country may limit the generality of the findings.
Article
Full-text available
Wir haben 21’347 Rekruten des Jahres 1997 mit einem 40-seitigen Fragebogen zu allgemeiner und zu sexueller Gewalt und zu ihrer Biographie befragt. Die Stichprobe umfasst ca. 70 % der Kohorte der 20-jährigen Schweizer Männer. Unter allen Rekruten gibt es 3.7% (n=782) die gemäss Selbstangaben zu den sexuellen Belästigern gehören und zudem allgemein asozial sind, d.h. zu den Intensivtätern im Bezug auf Delinquent ganz allgemein gehören. Wie man aus der Anzahl zugegebener Uebergriffe und Opfer schliessen kann, haben die "hard core-Täter" ihre Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg ausgebeutet. Diese kleine Untergruppe von Tätern ist für 85% aller Uebergriffe gegen sie sexuelle Integrität verantwortlich. Rund die Hälfte von ihen scheut auch vor der Anwendung physischer Gewalt nicht zurück. Ausserdem: Die Sexualtäter im Dunkelfeld gleichen in ihrer Biographie und Psychopathologie den justiziell bekannten aufs Haar.
Article
Full-text available
Die so genannte «First Responders’ Assessment of Dangerousness» (FRAD) ist eine neue Methode zur Lagebeurteilung bei Notfallanrufen, die gewalttätige Vorfälle betreffen. Anhand von fünf zentralen Informationen kann sie das statistische Risiko für gefährliche Attacken von jungen männlichen Tätern berechnen und Hinweise auf Sicherheitsvorkehrungen geben. Als Grundlage der Entwicklung diente die schweizerische Rekrutenbefragung 1997 zum Thema Gewalt mit 21 314 validen Fragebögen. Jeder vierte junge Mann war im Jahr vor der Rekrutenschule schon tätlich geworden (n = 5 113). Darunter waren 341 Männer, die auch schwere und schwerste Delikte zugaben. Von diesen Männern geht ein erhebliches Risiko für die körperliche Integrität ihrer Opfer aus. Die fünf zentralen Risikofaktoren für eine gefährliche Situation werden bei der FRAD mit Hilfe logistischer Regression berechnet. Es sind dies: 1. Vorliebe für Waffen, 2. Demolieren von Gegenständen und Vandalismus, 3. Selbstmordtendenzen (lifetime), 4. Polizeikontakt (wegen irgendeines Delikts), 5. Substanzenmissbrauch. Die Genauigkeit der Vorhersagen mit FRAD entspricht der von vergleichbaren Instrumenten
Article
Full-text available
Der folgende Aufsatz stützt sich auf Erfahrungen mit psychoanalytischer Arbeit im Strafvollzug und in einer Drogenberatungsstelle. Kriminologie scheint lange für die Psychoanalyse kein Thema gewesen zu sein. In Lehrbüchern werden Brandstiftung, Sexual- und Tötungsdelikte unter den Begriffen "Sadismus" oder "antisoziale Persönlichkeitsstörung" abgehandelt, obwohl sie weder psychodynamisch noch phänomenologisch damit identisch wären. Die psychoanalytischen Forschungen beziehen sich mehrheitlich auf die Gesamtheit der Kriminellen, die aber nosologisch keine Einheit bilden. Welche Ursachen vermuten wir hinter der offenkundigen Unerforschtheit dieser Themen? Die "Unreinheit" der stigmatisierten Klientel und deren Tabubrüchen haftet auch an Fachleuten, die versuchen zu verstehen und nicht bloss moralisierend verurteilen. Indessen ist das Gefängnis als Asyl für (temporär) »unerwünschte Existenzen«, der Ort, wo wir die Ergebnisse gesellschaftlicher Verdrängung und Abspaltung am besten beobachten können. Gefängnisse sind multikulturelle, hochverdichtete Zwangsgemeinschaften mit Insassen aller Kontinente. Sehr viele wichtige internationale und regionale Konflikte finden ihren Niederschlag in der Kriminalität. Deshalb bieten Gefängnisse als Projektionen der Welt für die Ethnopsychoanalyse ein ideales Forschungsfeld.
Book
Full-text available
Y a-t-il des criminels qui ne se laissent jamais prendre ? Et si tel était le cas, quelles sont les différences entre ces derniers et les agresseurs connus ? De plus, existe-t-il, dans le chiffre noir, des délinquants de classe moyenne sans troubles psychiques, sachant échapper aux poursuites ? Beaucoup de gens – professionnels et non-professionels – demandent aux criminologues une réponse à ces questions. Un autre sujet entraînant beaucoup de spéculations pourrait se définir comme ceci : pourquoi les délinquants et surtout les grands criminels commettent-ils de tels actes, et pourquoi sont-ils devenus ce qu’ils sont ? Cette question peut être reformulée selon les hypothèses suivantes : Les agresseurs sont-ils des gens « comme vous et moi » ? Est-ce qu’ils ont été impliqués dans une action délinquante plutôt par hasard, ou par des circonstances particulières ? Par exemple, est-ce que c’est la consommation excessive d’alcool, de drogues, ou la vision abusive de vidéos pornographiques ou violentes, qui provoquent des crimes sexuels ou violents ? En outre, on aimerait savoir s’il y a vraiment des « spécialistes » en matière criminelle, par exemple des délinquants sexuels qui commettent principalement des délits dans le domaine de la sexualité, ou si la majorité des criminels sont plutôt des « généralistes » ayant recours à la violence. Enfin, est-ce que les « causes » de la délinquance sont les mêmes pour les agresseurs ayant commis des crimes graves et les adolescents ayant commis quelques bêtises ? Est-ce que ce n’est qu’une question de gravité et de quantité des facteurs de risque présents qui détermine finalement le résultat de l’acte illégal ? Ou est-ce qu’il a une qualité entièrement différente dans les crimes graves ? Est-ce qu’il est vrai que les agresseurs ont eux-mêmes été victimes d’abus dans leur enfance, ou est-ce que ce n’est qu’une défense utilisée comme excuse devant le juge ? Si les agresseurs ont eux-mêmes été victimes d’abus dans leur enfance, leurs délits ressemblent-ils aux abus vécus en tant que victimes ? Est-ce qu’il y a un transfert direct des abus d’une génération à l’autre ? Ensuite, si les criminels ont été eux-mêmes victimes d’abus, est-ce que tous les garçons victimisés deviennent plus tard des délinquants ? Bref la discussion concernant la santé psychique des individus ayant commis des actes si radicalement destructeurs reste un problème scientifique non résolu. Les chercheurs en sciences sociales aimeraient plutôt savoir dans quelle mesure les criminels connus des autorités sont différents de ceux qui ne sont pas (encore) connus. Dans ce livre, nous tenterons de répondre à ces questions, en faisant une comparaison entre les délinquants et les criminels parmi les recrues qui ont avoué leurs actes dans ce sondage anonyme, et le reste des recrues. Dans le présent texte, nous allons aborder le sujet de la violence en général et de la violence sexuelle chez les hommes. Nous allons donc analyser les particularités des deux groupes suivants : • N = 341 recrues extrêmement violentes • N = 30 recrues qui avouent avoir commis un viol À remarquer qu’il y a 13 individus qui se retrouvent dans les deux groupes. C’est-à-dire que 43% des violeurs sont également très violents dans un contexte non sexuel, et que 3.8% des agresseurs violents sont aussi des violeurs. Nous pourrons ainsi répondre à une autre question qui est fréquemment posée aux criminologues, à savoir pourquoi quelqu’un devient-il un criminel violent, et un autre un violeur ?
Book
Scitation is the online home of leading journals and conference proceedings from AIP Publishing and AIP Member Societies