In den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts kommt ein Jude auf seinen Wegen in die Kulturstadt München, in die Stadt expressionistischer Zirkel und antijüdischer Propaganda. Entgegen der Erwartungshaltung meidet er die zahlreichen antisemitischen Stammtische und Gruppierungen nicht, sondern weilt geradezu lustvoll, deren Rhetorik munter weiterspinnend unter ihnen. Was zunächst widersinnig klingt,
... [Show full abstract] folgt einer ganz eigenen Logik, denn der Jude macht von Anbeginn klar, woraus er besteht: Er ist eine Person gewordene „antisemitische Phantasie“,1 eine füchtig vernähte Figur, die dem Antisemitismus ihre Gestalt und Existenz, ihre Vergangenheit und Dauer verdankt:
Mein Zweck ist, nachzuweisen, daß alles Unheil, das jemals in der Welt passiert ist, die Kreuzigung Christi, die Einschleppung der Philosophie und der Syphilis in Europa, die Erfindung der Sozialdemokratie und des Kapitalismus, die Entstehung des Weltkriegs und des Pazifismus, kurz, daß alles Schlechte in der Welt von den Juden angestiftet wurde.2
Die Gestalt gewinnt nur dort an festem Boden, an Aussehen und Kontur, wo der Antisemitismus Konjunktur hat. Ihre Körperfülle steht in direktem Verhältnis zu der Menge judenfeindlicher Aussagen, der Leib wird geradezu genährt durch die gegen ihn vorgebrachten Worte, Übereinkünfte und Topoi. Seine Krawattennadel in Gestalt eines Hakenkreuzes als Kompass nutzend, erscheint er wie aus dem Nichts immer dort, wo judenfeindliche Propaganda hörbar wird und bildhaft gestützt werden muss.