Content uploaded by Malte Brinkmann
Author content
All content in this area was uploaded by Malte Brinkmann on Apr 27, 2018
Content may be subject to copyright.
33
Phänomenologische Methodologie
und Empire in der Pädagogik. Ein
systematischer Entwurf für die
Rekonstruktion pädagogischer
Erfahrungen
Malte Brinkmann
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
M. Brinkmann et al. (Hrsg.), Pädagogische Erfahrung,
Phänomenologische Erziehungswissenschaft, DOI 10.1007/978-3-658-06618-5_3
M. Brinkmann ()
Berlin, Deutschland
E-Mail: malte.brinkmann@hu-berlin.de
Die Phänomenologie als Philosophie und Wissenschaft von der Erfahrung stellt
seit ihren Anfängen das Phänomen der Erfahrung in den Mittelpunkt – und zwar
VRZRKOLQWKHRUHWLVFKHQ$QDO\VHQVHLW+XVVHUOGLHGHQWHPSRUDOHQNRUSRUDOHQXQG
VR]LDOHQ3UR]HVVGHV(UIDKUHQVDQDO\VLHUHQDOVDXFKLQHPSLULVFKHQ6WXGLHQGLHDXI
einen empirisch gehaltvollen Begriff der Erfahrung zielen (vgl. Waldenfels 1992
Lippitz 2003%ULQNPDQQ2010).
Die genuin theoretisch-empirische Doppelung der phänomenologischen For-
VFKXQJVROOLP)ROJHQGHQIUHLQHSlGDJRJLVFKH(PSLULHV\VWHPDWLVFKZHLWHUHQW-
wickelt werden. Ich werde in einem ersten Teil die phänomenologische Losung
Zu den Sachen selbst als eine Haltung und Praxis des Sich-Zeigen-Lassens be-
VWLPPHQ XQG DXVJHKHQG YRQ +XVVHUOV JHQHWLVFKHU$QDO\VH GHU ZDKUQHKPHQGHQ
Erfahrung (1) die phänomenologische Methodologie der Deskription, Reduktion
und Variation (2) sowie die sich daraus ergebende Kritik an den hermeneutischen
und rekonstruktiven Verfahren in den Human- und Sozialwissenschaften (3) vor-
stellen. Dabei werde ich auf der epistemologischen Differenz zwischen einer Ana-
O\VHGHUYHUVWHKHQGHQ:DKUQHKPXQJHLQHV3KlQRPHQVXQGHLQHUDXI(UNHQQWQLV
gerichteten Operation (d. i. die phänomenologische Methodologie) insistieren. Im
zweiten Teil werde ich die methodologischen Vorbemerkungen für den Entwurf ei-
ner pädagogischen Empirie fruchtbar machen. Die phänomenologische Reflexion
des Verhältnisses von Theorie und Empirie nimmt Praxis zunächst als erfahrene
34 M. Brinkmann
Praxis in den Blick. Aufgrund der phänomenologischen Kopplung von Thema und
Operation sowie von Sache und Methode setzt die Frage nach dem, wie Erfahrung
verstanden oder rekonstruiert wird, die Frage nach dem, wie erfahren wird, voraus.
Grundlage einer phänomenologischen und pädagogischen Empirie ist daher eine
Theorie der Erfahrung bzw. eine Theorie der pädagogischen Erfahrung (4). Um pä-
dagogische Erfahrung empirisch zu erfassen und um die theoretischen Einsichten
empirisch operationalisieren zu können, werde ich den Begriff und das Phänomen
der Verkörperung (5.1), dessen kommunikative Relationierung im leiblichen Ant-
wortgeschehen (5.2) und die Praxis und Form des auf Aufmerksamkeit und Auf-
merksamkeitsfokussierung zielenden Zeigens (5.3) als Kategorien pädagogisch-
phänomenologischer Empirie aufweisen und an Beispielen aus der videographi-
schen Übungsforschung veranschaulichen.
1 Wahrnehmen und Erkennen in der Phänomenologie
Seit Husserl gilt ein doppelter thematisch-operationaler Grundsatz in der Phäno-
menologie. Zum einen ist das, worüber gesprochen wird, nicht von dem zu tren-
nen, wie darüber gesprochen wird. Thema und Operation, Sache und Methode sind
zu verschränken, um die Sache selbst, das Phänomen in seiner Eigenlogik und in
seiner Erscheinungsweise erfassen zu können. Um etwas als etwas sehen zu lassen,
soll eine „Rückführung dessen, was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich
zeigt“ stattfinden (Waldenfels 1998, S. 30). Zum anderen wird die Differenz von
Thema, Sache, Phänomen einerseits und Operation, Methode und „Durchgang“
(Heidegger 2001, S. 36) ausdrücklich reflektiert. Die Phänomenologie „operiert
nicht bloß mit dem Unterschied von Thema und Operation, sie ‚thematisiert‘ ihn
auch ausdrücklich“ (Fink 2004b, S. 103). Das Sehen und Wahrnehmen von etwas
als etwas korrespondiert so mit einem Zeigen und Zeigen-Lassen, wobei letzteres
eines bestimmten methodologischen „Zugang(s)“ und „Durchgang(s)“ (Heidegger
2001, S. 36) bedarf. Die Phänomenologie hat dazu eine komplexe Methodologie
entfaltet, das sehen zu lassen, was sich zeigen lässt und was sich zeigt. Denn nicht
alles, was sich sehen lässt, lässt sich zeigen. Ich kann aber ein Phänomen nur se-
hen, in dem es sich mir zeigt. Im Wahrnehmen nehme ich es als etwas wahr. Die
phänomenologische Methodologie expliziert und reflektiert diesen Vorgang, in-
dem sie die Aktivität des Zeigens (von etwas) mit der Passivität des Wahrnehmens
(als etwas) verbindet.
Die thematisch-methodologische Kopplung in der Phänomenologie soll im Fol-
JHQGHQV\VWHPDWLVFKGDVKHLWJOHLFKVDPNQVWOLFKPLWGHP=LHODXIJHIDOWHWZHU-
den, die unterschiedlichen epistemologischen Ordnungen des Wahrnehmens und
35
des Erkennens in ihrer Eigenlogik vorzustellen. Danach sollen die auf Erkennt-
nis gerichteten Operationen der phänomenologischen Methodologie, Reduktion,
Deskription und Variation, als Verfahrensweisen des phänomenologischen Sehen-
lassens herausgestellt werden.
Phänomenologische Untersuchungen rekurrieren auf Husserls genetische Ana-
O\VH GHU ,QWHQWLRQDOLWlW LQ GHU :DKUQHKPXQJ YJO +XD , 'LHVH XQWHUVXFKW GLH
Genese der Sinngebung beziehungsweise die Konstitutionsleistung des Selbst in
Bezug zur Welt, etwas als etwas wahrzunehmen. Husserl kann zeigen, wie sich
subjektive Erfahrungen im Kontext von Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Intersub-
jektivität konstituieren. Erfahrungen als Bewusstseinsakte werden als Sinnphäno-
mene thematisch, und zwar in einem doppelten Sinn. Zum einen werden sie als
LQWHQWLRQDOH6LQQELOGXQJHQGHVDNWLYHQNRQVWLWXLHUHQGHQ6XEMHNWVDQDO\VLHUWGDV
sich Sinn gibt. In Husserls späteren Studien wird deutlich, dass die intentionale
$QDO\VH]XPDQGHUHQDXIGDV3KlQRPHQGHU6LQQJHEXQJVW|WDOVRDXIGDVYRQ
dem aus sich Sinn zeigt und was Sinn gibt: der Andere, das Ding, die Welt. Um
etwas, was sich zeigt, sehen zu können, bedarf es demnach einer Aktivität und Pas-
sivität zugleich, wobei Passivität nicht mit Rezeptivität verwechselt werden darf.
Husserl spricht ausdrücklich von einer „passiven Produktion“, von einer „aktiven
Passivität“ bzw. „passiven Intention“ (Hua XI, S. 69). Im Gerichtetsein auf etwas
zeigt sich etwas als etwas, was in der Intention nicht aufgeht und sie übersteigt.
Heidegger macht in seiner Kritik des Husserl’schen Intentionalitätsbegriffs
deutlich, dass die Intentionalität des Erfahrens auf die Passivität dessen, was er-
fahren wird, stößt. Die intentionale Sinnbildung des aktiven Selbst stößt auf das
Phänomen der Sinngebung, auf das also, was einem vom Anderen oder den Ande-
ren zukommt und über das das Selbst nicht verfügt (vgl. Brinkmann 2010). In der
„signifikativen Differenz“ (Waldenfels 1992) der Erfahrung, etwas als etwas zu
erfahren (vgl. Heidegger 2001, S. 33), kann dem Erfahrenen ein Sinn zukommen.
Dazu differenziert die Phänomenologie den Akt der Wahrnehmung, indem sie zwi-
schen dem Wahrgenommenen und der Wahrgenommenheit, zwischen Vermeintem
und Vermeinen (vgl. Heidegger 1994, S. 61) bzw. zwischen Noesis und Noema
(vgl. Hua IV, S. 179 ff.) unterscheidet. Diese methodologische, noetisch-noemati-
sche Differenz ermöglicht die signifikative Differenz des Etwas-als-etwas-sehens
in der Wahrnehmung. Erst darin kann sich Sinn als Sinn zeigen. Die Betriebsprä-
misse phänomenologischer Forschung lautet: Vor der Tatsache, dass sich etwas als
etwas zeigt, zeigt sich etwas auf dem Boden einer „regionalen Ontologie“ (Hua III,
S. 19), d. h. zunächst innerhalb eines Horizontes.
+XVVHUOV$QDO\VHGHUZDKUQHKPHQGHQ(UIDKUXQJ]HLJWLQ%H]XJDXIGLH6LQQJH-
bung, dass wir „Sachen“ immer im Kontext eines Horizontes wahrnehmen. Wenn
wir Dinge sehen, zum Beispiel einen Tisch, sehen wir im intentionalen Akt real
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
36 M. Brinkmann
nur die Vorderseite. Der Rücken der Dinge und der Rücken unseres Selbst (im
Spiegel) sind für uns stets unsichtbar. Und doch sehen wir nicht nur Kulissen oder
Puppen, hinter denen nichts ist (vgl. Boehm 2007, S. 46). Wir sehen die Dinge
vielmehr im Rahmen eines Horizonts, der nicht jener in der Ferne, sondern der
ganz nahe ist. Jedes Ding schattet sich horizontal ab, sagt Husserl, das heißt, es
baut sich in einem anschaulichen Kontext auf, so dass wir es in der Wahrnehmung
als etwas realisieren können. Dieser unsichtbare Horizont sorgt dafür, dass wir in
einer Sicht andere mögliche Sichtweisen mit vergegenwärtigen können, dass also
die Wahrnehmung nie in nur einer eindeutigen und isolierten Information aufgeht.
Es existiert ein Überschuss von Sinn, der über die Gegenwart des Wahrnehmens
hinausgeht. Subjektiver Sinn erschöpft sich nicht nur in der Leistung des Subjekts,
nicht im Be-deuten. Die Sinngebung verweist auf etwas, das nicht vollständig in
der Hand des Subjekts liegt, auf etwas Anderes, auf die Dinge oder jemand Ande-
ren oder auf eine nicht gegenständliche Erfahrung der „Welt“: die Erfahrung der
Endlichkeit bzw. „Nothaftigkeit“ der Existenz (Fink 1978).
$QGLHVHP3XQNWLVWLQV\VWHPDWLVFKHUXQGPHWKRGRORJLVFKHU3HUVSHNWLYHHLQH
Unterscheidung wichtig: Der Horizont und die Dinge gehören zwei unterschied-
lichen epistemologischen Ordnungen an. Das Ding ist einzeln und gegeben, der
Horizont ist fließend unterbrochen und potenziell – ein Möglichkeitsraum dessen,
was konkret erscheinen kann. Das Interessante dabei ist, dass der Horizont als das
Allgemeine das Besondere präfiguriert (vgl. Buck 1989GHUKRUL]RQWDOH*UXQG
HUP|JOLFKWGDVVVLFKGLH)LJXUDEKHEWYJOGLHJHVWDOWSV\FKRORJLVFKHQ$QDO\VHQ
zur Differenzwahrnehmung, Brinkmann 2012 6 II GDV 8QEHVWLPPWH XQG
Potenzielle ermöglicht das Bestimmte und Spezifische (vgl. Boehm 2007, S. 46).
Um die unbestimmte Bestimmtheit der „Sachen“ erkenntnismäßig erfassen zu
können und sie somit in ihrer Präsenz und Materialität sehen zu lassen, hat die
Phänomenologie eine komplexe Methodologie entwickelt. Der Begriff des Phä-
nomens erhält darin eine besondere Bedeutung. Zunächst ist es wichtig, episte-
mologisch zwischen einer verstehenden Wahrnehmung (eines Phänomens) und
der auf Erkenntnis gerichteten Operation (der phänomenologischen Methodolo-
gie) zu unterscheiden. Mit der Differenz im Etwas-als-etwas-Wahrnehmen kann
nicht nur das WieGHU:DKUQHKPXQJLQGHU$QDO\VHGHU,QWHQWLRQDOLWlWHVN|QQHQ
auch in einer auf Erkenntnis bezogenen Operation Vorurteile, Vormeiningen und
Schemata im Wahrnehmen sowie ihre Bedingungen und Legitimationsstrategien
einer besonderen Reflexion unterzogen werden. Phänomenologische Reduktion,
Deskription und Variation als auf Erkenntnis gerichtete Operationen, wie ich sie
im Folgenden darstellen möchte, werden eingesetzt, um die eigenen Vorverständ-
nisse so zu thematisieren, zu reflektieren und zu variieren, dass das Andere in der
Wahrnehmung sichtbar werden und damit eine Öffnung für die Gegebenheit von
37
Sinn und Welt möglich werden kann. Es geht darum, sich im Sehen etwas auffallen
und etwas zeigen zu lassen, d. h. etwas zu sehen, was vor der phänomenologischen
$QDO\VHQLFKWJHVHKHQZDVYHUVWHOOWYHUVFKDWWHWYJO +HLGHJJHU 2001, S. 35 f.)
oder verdeckt worden war. Die phänomenologische Losung Zu den Sachen selbst
bedeutet daher zunächst einmal, die unwillkürlichen Deutungen und die Setzung
von Urteilen so weit wie möglich auszusetzen und dabei die Grenzen zwischen
dem Sichtbaren und dem Sagbaren auszuloten.
Die phänomenologische Methode hat das Ziel, sich der Welt zu öffnen, die sich
als das Sichtbare zeigt und zugleich verschließt und verschattet. In dieser Doppel-
bewegung zwischen Erscheinung und Verbergung, zwischen Aktivität und Passi-
vität, zwischen Sehen-lassen und Sehen-können, bewegt sich die phänomenologi-
sche Haltung – eine Haltung und ein Stil der Welt und den Anderen gegenüber, die
sich darin übt, die jeweils andere Erfahrungsweise als andere gelten zu lassen und
zugleich diese Geltungsansprüche überprüft.
2 Zur Sache selbst: Phänomenologische Reduktion,
Deskription, Variation
Mit den Operationen der phänomenologische Reduktion, Deskription und Varia-
tion soll das sichtbar werden, was sich zeigt: das Phänomen. Wie Heidegger im
§ 7 von „Sein und Zeit“ zur „phänomenologische(n) Methode“ verdeutlicht (Hei-
degger 2001, S. 27 ff.), bezeichnet ein Phänomen etwas, das sich zeigt (Heidegger
2001 6 'DV 3KlQRPHQ phainomenon) als das Erscheinende verweist im
phänomenologischen Sinn entgegen dem abendländischen onto-theologischen Du-
alismus gerade nicht auf etwas Verborgenes, Eigentliches, Wesenhaftes, Wahres,
/DWHQWHV6\PEROLVFKHVYJO+HLGHJJHU2001, S. 36), sondern es ist eben deshalb
Phänomen, weil es oberflächlich ist. Um sich der „Erscheinung“ (Heidegger 2001)
des Phänomens zu öffnen, bedarf es der Einstellung, dass hinter oder unter der
2EHUIOlFKHQLFKWVLVWNHLQ:HVHQNHLQ6LQQNHLQ,QGLNDWRURGHU6\PSWRPIUHW-
was Latentes.1 Ebenso wie Nietzsches Griechen geht der Phänomenologe von der
Oberflächlichkeit der Phänomene aus – aus „Tiefe“ (vgl. Nietzsche 1988, S. 352
(Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 4)).2 Oberfläche bezeichnet als das Präsente
und Sichtbare den Ort, wo sich die signifikative Differenz manifestiert. Erscheinen
1 Vgl. Eugen Finks Kosmologie des Nichts (Nielsen und Sepp 2011)
2 „Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der
Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an
7|QHDQ:RUWHDQGHQJDQ]HQ2O\PSGHV6FKHLQV]XJODXEHQ'LHVH*ULHFKHQZDUHQREHU-
flächlich – aus Tiefe!“ (Nielsen und Sepp 2011).
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
38 M. Brinkmann
ist so gesehen gerade Nicht-sich-zeigen eines „Sich-nicht-zeigende(n)“ (Heideg-
ger 20016GKHLQHV/DWHQWHQ6\PEROLVFKHQ9HUERUJHQHQYJO/DQGZHHU
20106II:LHVLQJ20136II'LH$QDO\VHULFKWHWVLFKVRQLFKWDXI
einen Wesen, einen Kern oder eine Substanz, die auf einer Oberfläche repräsentiert
werden, sondern die Präsenz der Oberfläche selbst der Ort ist, an dem sich etwas
zeigt. Phänomenologie kann daher als Praxis des Sich-zeigen-lassens (vgl. Nielsen
und Sepp 2011) bestimmt werden: „Das was sich zeigt, so wie es sich zeigt, von
ihm selbst her sehen lassen“ (Heidegger 2001, S. 34). Da sich das Phänomen aber
nicht unverstellt zeigt, fordert der „AusgangGHU$QDO\VHHEHQVRZLHGHU Zugang
zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine
eigene methodische Sicherung“ (Heidegger 2001, S. 36, Herv. im Original).
2.1 Reduktion
Nach dem Grundsatz der noetisch-noematischen Differenz ist der methodische
Zugang und Durchgang nicht technisch vom Thema der Operation zu lösen. Da-
rin liegt die Antwort der Phänomenologie auf die Frage nach dem Horizont bzw.
Entstehungszusammenhang, also auf die Frage, wie der Einbezug der konkreten
HPSLULVFKHQ6LWXDWLRQLQGLHDQDO\WLVFKH2SHUDWLRQVWDWWILQGHQNDQQ'HUSKlQRPH-
nologische Forschungsstil setzt bei der Subjektivität sowohl des Forschenden als
auch des Beforschten an. Für die Forschungspraxis bedeutet das zunächst, dass die
subjektiven Erfahrungen des Forschenden einer gesonderten Reflexion unterzogen
werden. Phänomenologie geht vom intuitiven und naiven Nachvollzug aus (Gene-
ralthesis) (Hua IV, S. 52 ff.). Dann werden im Unterschied zur hermeneutischen
9RUJHKHQVZHLVH VRZRKO GDV HOHPHQWDUH 9HUVWHKHQ 'LOWKH\ DOV DXFK GLH GDPLW
verbundenen Schemata, sowohl die „natürlichen“ Vorurteile als auch die wissen-
VFKDIWOLFKHQ0RGHOOLHUXQJHQHLQJHNODPPHUWYJO0HUOHDX3RQW\1974, S. 5 f.) Die
JHQHWLVFKH$QDO\VHDOVEHVRQGHUHU7HLOGHUSKlQRPHQRORJLVFKHQ5HGXNWLRQYJO
Fink 2004a, S. 87 ff., vgl. Brinkmann 2012, S. 45 ff.) beginnt mit der Frage nach
der Herkunft und trägt die habitualisierten Selbstverständlichkeiten in gleichsam
archäologischer Arbeit Schicht für Schicht ab (vgl. Landweer 2010, S. 50). Die
Reduktion kann sämtliche intentionalen Bewusstseinsakte zum Gegenstand haben.
Ziel dieses Verfahrens ist nicht, eine vermeintliche Neutralität herzustellen, son-
GHUQVLFK HWZDV]HLJHQ]XODVVHQZDVVLFK YRQ GHU6DFKHKHU]HLJW0LWGHU V\V-
tematischen Reflexion der noetisch-noematischen Differenz im Etwas-als-etwas-
Wahrnehmen kann das Wie der Wahrnehmung, kann ihre Genese und können die
‚Vorurteile‘ im Wahrnehmen und ihre Bedingungen einer besonderen Reflexion
unterzogen werden.
39
In diesem Sinne ist die phänomenologische Losung Zu den Sachen selbst zu
verstehen: Ein Wiedergewinnen dessen, was sich zeigt als was und wie es sich
zeigt, diesseits aller Interpretationen, Deutungen und Theorien.
2.2 Deskription
Erst nach der eidetischen Reduktion kann die Deskription als Praxis des Sehen-
ODVVHQVGLH ÄOHLEKDIWH>Q@6HOEVWJHJHEHQKHLW³ +HLGHJJHU1994, S. 54) der Sache
herausarbeiten:
„Ich sehe nicht ‚Vorstellungen‘ von dem Stuhl, erfasse kein Bild von dem Stuhl,
spüre nicht Empfindungen von dem Stuhl, sondern sehe ihn schlicht – ihn selbst.
Das ist der nächstgegebene Sinn des Wahrnehmens“ (Heidegger 1994, S. 48). „An-
schauung besagt: Schlichtes Erfassen des leibhaft Vorgefundenen Selbst, so wie es
sich zeigt“ (Heidegger 1994, S. 57).
Wahrnehmen wird damit zunächst in einen Zusammenhang mit dem Wahrge-
nommenen gestellt. Intentum und Intentio, Thema und Operation gehören zusam-
men. Nur auf dieser Grundlage ist die „oberste methodische Regel“ der phänome-
nologischen Deskription zu verstehen, „sich gerade nicht um Deutungen zu bemü-
hen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es auch noch
so dürftig sein“ (Heidegger 1994, S. 63).
Die phänomenologische Deskription beginnt daher mit einer Reduktion der
Wahrnehmung. Die „natürliche Einstellung“ (so der problematische Titel Husserls)
ist in der Arbeit der Erkenntnis und der Wissenschaft nicht natürlich gegeben. Sie
muss vielmehr in der skeptischen Arbeit der Reduktion gewonnen werden. Auf
dieser Grundlage können nun die zuvor eigeklammerten Deutungen, Interpretatio-
nen und Modelle als Perspektiven auf das sichtbare Phänomen wieder aufgegriffen
werden.
2.3 Ideierende Variation
In einer anschließenden Variation von möglichen anderen Hinsichten, anderen
Schemata und anderen theoretischen Modellen, die gleichsam spielerisch imagi-
nativ angewendet werden, kann Sinn pluralisiert werden. Husserl nennt die Aktivi-
tät in der Variation ein „phantasiemäßiges Umfingieren“ (Husserl und Landgrebe
1999, S. 413) im fiktionalen Modus einer „Quasi-Erfahrung“ (Husserl und Land-
grebe 1999, S. 416).
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
40 M. Brinkmann
Im Unterschied zur Wahrnehmung, Erfahrung und zur Praxis, in der Husserl
zufolge „alles auf Induktion beruht“ (Hua VI, S. 54f.), geht die auf Erkenntnis ge-
richtete Operation der Variation nicht ausschließlich induktiv vor. Husserl insistiert
darauf, dass die „alte Abstraktionslehre“, die aus dem Besonderen das Allgemeine
induktiv abzuleiten versucht, insofern problematisch und falsch ist, als dass sie den
„Zwitterstatus“ der ideierenden Variation verkenne. Voraussetzung der Variation
ist die Haltung, die „Mannigfaltigkeit“ und „Vielheit“ „nie ganz aus dem Griff“
zu lassen (Husserl und Landgrebe 1999, S. 413). Dann erscheint in der Einheit der
„Widerstreit“ der Differenzen, die „konkrete Zwittereinheit sich wechselseitig auf-
hebender, sich koexistential ausschließender Individuen“ (Husserl und Landgrebe
1999). Husserl bezeichnet dieses Phänomen der realen und fiktiven Überkreuzung
mit dem Wort der „Überschiebung“: Das Variierte „streitet als Differierendes in der
Überschiebung“ (Husserl und Landgrebe 1999, S. 418). Die ideierende Variation
operiert daher auf einer „fiktionalen“ Ebene (Husserl und Landgrebe 1999), die
HLQHUJHQDXHUHQ$QDO\VHEHGDUI6LH LVW ZHGHU HLQH DEVWUDNWPHWDSK\VLVFKH QRFK
eine rein empirische Operation. Auf ihr findet vielmehr eine Überkreuzung von
real Wahrgenommenem und fiktiv Variiertem, von empirisch Gegebenem und ima-
ginativ Abstrahiertem statt: gleichsam eine Abduktion, in der neue theoretische
Hinsichten generiert werden können (vgl. Brinkmann 2015b). Die phänomenolo-
gische Methode ist produktiv, indem sie Sinn einlegt (Fink 1978, S. 13 ff.).
'XUFK 9DULDWLRQ N|QQHQ GDQQ LQYDULDQWH 0HUNPDOH 7\SHQ 6FKHPDWD GXUFK
Vergleich ermittelt werden (Heidegger 1994, S. 92). Das zu beschreibende Phä-
nomen ist daher kein Fall einer allgemeinen Regel. Es steht vielmehr als Beispiel
für eine Allgemeinheit mittlerer Reichweite auf dem Boden einer „regionalen On-
tologie“ (Hua IV, S. 413). Mit der Variation anderer Sichtweisen kann schließ-
lich eine Verfremdung und Befremdung des eigenen Blicks folgen. Befremdungen
können nicht ausschließlich aufgrund einer subjektiven Tätigkeit, sondern nur im
Angesicht der und durch Öffnung für die Sache, Welt und den Anderen entstehen.
Aus Sicht der Phänomenologie ist daher eine Selbstbefremdung, wie sie die ethno-
graphischen Forschung forschungsmethodologisch anvisiert (vgl. Kalthoff 2006
Breidenstein 2012), paradox, da Fremdheit und Andersheit nur aus dem emergie-
ren kann, was man nicht selbst ist.
Mit den Operationen der kritisch-skeptischen Reduktion (als Einklammerung),
der Deskription und Variation (von theoretischen und subjektiven Perspektiven)
und der Ideation (als phantasieförmiges Umfingieren) ist die Phänomenologie in
der Lage, eine produktive Antwort auf das problematische Dual von Induktion und
Reduktion und eine neue Perspektive auf die Operation der Abduktion (vgl. Rei-
chertz 2013) zu geben. Die freigesetzte doppelte Distanz sowohl zum Feld und den
Beobachtungen als auch zu den eigenen theoretischen Modellierungen ermöglicht
41
HVLQGHUVR]LDOZLVVHQVFKDIWOLFKHQ)RUVFKXQJ7\SHQXQG.DWHJRULHQELOGXQJUH-
IOH[LY]XJHVWDOWHQ6LQQYROOH7\SHQXQG.DWHJRULHQZHUGHQVRQLFKWLQGXNWLYDXV
dem „Material“, sondern „abduktiv“ aus einer reflektierten und einklammernden
Operation gewonnen, indem auf dem Boden einer regionalen Ontologie das Ge-
meinsame variierend sinnproduktiv „eingelegt“ (Fink) wird. So können empirisch
gehaltvolle Theorien mit begrenzter Reichweite generiert werden (vgl. Brinkmann
2015b).
3 Phänomenologische Kritik der hermeneutischen und
rekonstruktiven Verfahren
Die Phänomenologie geht davon aus, dass die Phänomene sich nicht unverstellt
zeigen. Vielmehr verstellen Interpretationen, Deutungen und theoretische Hinsich-
ten das Phänomen. Oft nehmen wir daher das Phänomen nicht in seiner Materiali-
tät und Präsenz wahr, sondern sehen es als ein Zeichen, das einen hintergründigen,
latenten Sinn repräsentieren soll. Heidegger bemerkt dazu kritisch:
Ä)DNWLVFKLVWHV>«@VRGDVVXQVHUHVFKOLFKWHVWHQ:DKUQHKPXQJHQXQG9HUIDV-
sungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind.
Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, son-
dern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir
sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht“ (Heidegger
1994, S. 75).
Die Vorstellung und Unterstellung von latentem Sinn, wie sie für die Herme-
neutik und die rekonstruktiven Sozialwissenschaften leitend ist, führt nicht dazu,
die Sachen besser oder anders oder überhaupt zu verstehen. Damit wird deutlich,
dass die hermeneutische Trias von Verstehen bzw. Deuten, Auslegen bzw. Interpre-
tieren und Beschreiben problematisch wird (vgl. Brinkmann 2014, S. 212–219).
Damit wird zugleich die konventionelle Koppelung von hermeneutischer und phä-
nomenologischer Methodologie und Pädagogik problematisch, wie sie von pro-
minenten Vertretern der phänomenologischen Erziehungswissenschaft vertreten
wird (vgl. van Manen 19900ROOHQKDXHU1985 'DQQHU 1998). Sie bedarf einer
methodologischen Differenzierung.
In der hermeneutisch-phänomenologischen und sozialwissenschaftlichen For-
schung ist Sinn die Zentralkategorie (vgl. Bohnsack 2003). Hinter dieser Voraus-
setzung verbirgt sich ein doppelter Verstehensbegriff: Es wird davon ausgegangen,
dass die Akteure sich selbst in ihrer Praxis verstehen, und zudem wird vorausge-
VHW]WGDVVVLHGDULQYHUVWDQGHQZHUGHQ N|QQHQ 6HLW 'LOWKH\ ZLUGGDV9HUVWHKHQ
GHV)RUVFKHUVDOV5HNRQVWUXNWLRQ HLQHV LPSOL]LWHQ 6LQQKRUL]RQWV 'LOWKH\1997),
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
42 M. Brinkmann
das heißt als nachgeordnete und auf Vorhandenes und Bestehendes gerichtete Wie-
derherstellung eines vergangenen Sinns, gesehen. Daran anschließend wird in der
aktuellen deutschsprachigen empirischen Sozialforschung Sinn als latenter Sinn
entweder in impliziten Strukturen (in der Objektiven Hermeneutik, vgl. Oever-
mann et al. 1979), in einem impliziten Habitus (in der Dokumentarischen Metho-
de, vgl. Bohnsack 2003) oder in einer „Praktik“ (in der Praxistheorie, vgl. Schatzki
et al. 2001%UHLGHQVWHLQ2006) gesehen. Sinn gilt damit als etwas, das sich in den
empirischen Daten repräsentiert und durch die Arbeit der Interpretation, Deutung
oder Rekonstruktion in die Präsenz der Gegenwart geholt werden kann. Zum einen
gilt also der latente Sinn als verborgener Sinn, der hinter oder unter den Zeichen
des Empirischen anwesend ist und gehoben werden kann. Hierin manifestiert sich
das Erbe der Hermeneutik und ihre Orientierung am Text bzw. am gesprochenen
Wort. Mit der Privilegierung der Sprache und des Textes gerät die qualitative So-
zialforschung in das Problem, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden zu
können, nämlich das implizite Nicht-Explizierbare (das Leibliche, Sinnliche, Emo-
tionale, Vorrationale und Vorprädikative) explizieren zu wollen. Zum anderen ist
es der methodisch privilegierte, verstehende Rekonstrukteur, der die Hinterwelt
des empirischen Sinns explizieren können soll, eines Sinns, der angeblich den Ak-
teuren meist unbewusst ist. Die (Selbst-)Ermächtigung des Interpreten legitimiert
die Rekonstruktion einer Hinterwelt als Repräsentation eines Unbewussten und
Unausgesprochenen.3
Hermeneutische und rekonstruktive Verfahren, so lässt sich provokativ formu-
lieren, beschäftigen sich mit einer Hinterwelt des Sinns, die in die Sachen hin-
eingeheimnist wird. Deren „Erfindung“ (Nietzsche) macht es möglich, dass sich
9HUVWHKHUXQG5HNRQVWUXNWHXUHDOV%HVVHUYHUVWHKHUXQG$QDO\WLNHUHLQHVGHQ%HWHL-
ligten vermeintlich unbewussten und unausdrücklichen Sinns aufschwingen. Der
„gute Wille“ des Hermeneuten (vgl. Derrida 1984) wird so zum Instrument einer
Interpretations- und Identifikationsmacht, die, indem sie zirkelhaft unaufhörlich
um sich selbst kreist (vgl. Foucault 1983), die Differenz von Ausdruck und Ausge-
GUFNWHPYJO'LOWKH\1997), von Verstehendem und Verstandenem (vgl. Danner
1998), von Erfahren und Erfahrenem (vgl. Gadamer 1990) einschleift und einer
text- und vernunftzentrierten Rationalität unterwirft.
Die phänomenologische Sichtweise versucht im Unterschied dazu, die unter-
schiedlichen epistemologischen Ordnungen zwischen dem Sichtbaren und Sag-
EDUHQVRZLH ]ZLVFKHQ OHLEOLFKHQ XQG V\PEROLVFKHQ $XVGUXFNVIRUPHQ DXVHLQDQ-
derzuhalten. Dabei wird die Praxis der Signifizierung von vorsprachlichen und
3 Zu den methodologischen (Zirkel-)Problemen der empirisch qualitativen und quantitativen
Empirie und zum falschen Dual von Induktion und Deduktion vgl. Brinkmann 2015b.
43
vorreflexiven Erfahrungen in der empirischen Forschung einer gesonderten, dif-
ferenzsensiblen Reflexion zugeführt, die das zirkuläre Verhältnis von phänomeno-
logischer Theorie, pädagogischer Empirie und einer Praxis des Lernens und Erzie-
hens in den Blick nimmt (vgl. Brinkmann 2015b). Forschungspraktisch wird die
signifikative Differenz repräsentationskritisch thematisiert, nämlich etwas sagen
zu müssen, was sich nicht sagen lässt, was sich aber zeigt, und im Zeigen sich als
etwas zeigen lässt.
Ich möchte den Zirkel von Theorie, Empirie und Praxis im Folgenden für das
pädagogische Feld genauer bestimmen. Bevor ich einen Entwurf einer pädagogi-
schen Empirie vorstelle, soll zuvor in einem kurzen Überblick die pädagogisch-
phänomenologische Theorie des Erfahrungslernens dargestellt werden. Damit
wird auf die oben genannte thematisch-operative Kopplung rekurriert. Die Vor-
gängigkeit der Theorie ist als „Vorgriff“ (Heidegger 2001, S. 150) zu verstehen,
auf den ein erfahrungs- und differenzsensibler „Durchgang“ (Heidegger) zu den
pädagogischen Erfahrung im Lernen und Erziehen erfolgen kann (vgl. Brinkmann
2015b).
4 Theorie der pädagogischen Erfahrung
In der phänomenologischen Theorie des Erfahrungslernens, wie sie im deutsch-
sprachigen Raum entwickelt wurde, wird das Verhältnis von Lernen, Erziehen und
(UIDKUXQJYRUQHKPOLFKPLW%H]XJDXI+XVVHUOV$QDO\VHGHU(UIDKUXQJXQGGHUHQ
Rezeption durch Gadamer sowie mit Bezug auf die mittlerweile klassische Lern-
theorie G. Bucks bestimmt (vgl. Schenk und Pauls 2014%ULQNPDQQ2014). Husserl
(vgl. Hua IV), Gadamer (vgl. 1990) und Buck (vgl. 1989) zeigen, dass die Erfah-
rung im Lernen zum einen durch ihre Intentionalität, ihre Horizonthaftigkeit und
durch Negativität gekennzeichnet ist. Diese drei Kennzeichen sind nicht ohne die
Temporalität von Erfahrung und ihrer machtförmigen, ordnungserhaltenden und
ordnungsbildenden Funktion verständlich (vgl. zum Folgenden Brinkmann 2011).
Erfahrung als pädagogische Erfahrung lässt sich als gleichermaßen subjektive
und soziale Praxis im Lernen und Erziehen bestimmen. Die phänomenologische
Bestimmung von Lernen lautet: Lernen als Erfahrung ist „Lernen von etwas durch
jemand Bestimmtes oder durch etwas Bestimmtes³ 0H\HU'UDZH 2008, S. 18,
Herv. im Original). Erfahrung im Lernen ist durch Intentionalität gekennzeichnet.
Wie oben dargestellt, können damit nicht nur die aktiven, sondern auch die passi-
ven Aspekte in der Wahrnehmung und Erfahrung erfasst werden. Passivität meint
in pädagogischer Sicht zunächst ein Geöffnetsein für die Anderen und das Andere,
IU0LWPHQVFKHQYJO0H\HU'UDZH2001/1984) und die Dinge (vgl. Dörpinghaus
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
44 M. Brinkmann
2012), d. h. auch für Nicht-Sprachliches, Vor-Sprachliches und Vor-Reflexives.
0HUOHDX3RQW\KDWGLHSKlQRPHQRORJLVFKH(UIDKUXQJVWKHRULHLQOHLESKlQRPHQR-
ORJLVFKHU3HUVSHNWLYHZHLWHUDXVJHDUEHLWHWYJO0HUOHDX3RQW\1974). Er führt das
transzendentale Subjekt Husserls zurück auf ein existierendes, leibliches Subjekt.
Aus diesem Grund hat Leiblichkeit eine zentrale Bedeutung in der phänomeno-
logischen Erziehungswissenschaft. Leib ist, wie noch zu zeigen sein wird, nicht
dingontologisch als Gegenstand zu denken, der von einem Bewusstsein beobachtet
wird, sondern als sozialer Leib, der eine Sinnstiftung im Ausdruck als Verkörpe-
rung vollzieht.
Horizonthaftigkeit der Erfahrung bedeutet, dass jede Erfahrung in den Hori-
zont bereits früherer Erfahrungen, in ein Vorwissen und Vorkönnen, eingebettet ist:
Ä>«@'DV 1HXH LVW1HXHVLP8PNUHLVHLQHUJHZLVVHQ%HNDQQWKHLW(V LVW UHODWLY
Neues“ (Buck 1989, S. 50). Anders gesagt: In der wiederholten Vorerfahrung reak-
tualisiert sich etwas Bekanntes. Erst dann kann ein Ausgriff auf etwas Neues, kann
im Wiederlernen ein Lernen, Hinzulernen und Umlernen stattfinden. Erfahrungen
beruhen daher auf Wiederholung. Sie sind auf ständige Bestätigung angewiesen
(vgl. Gadamer 1990, S. 353). Es ist daher einerseits möglich, dass sich Erfahrun-
gen verstetigen, konventionalisieren und habitualisieren. Der Wiederholungscha-
rakter der Erfahrung verbürgt andererseits die Möglichkeit, sich für neue Erfahrun-
gen zu öffnen und die bestehenden Erfahrungen zu übersteigen. Die Zeitlichkeit
der Erfahrung in der Wiederholung ist ihrem ambivalenten Charakter zwischen
Gewohnheit und Offenheit, Beständigkeit und Überschreitung, Ordnungserhaltung
und Ordnungsbildung geschuldet (vgl. Brinkmann 2011).
Mit dem Blick auf die Ordnung in der Wiederholung und ihre empirische Re-
konstruktion sind zwei Erweiterungen der phänomenologischen Theorie des Erfah-
UXQJVOHUQHQVQ|WLJ±HLQHV\VWHPDWLVFKHXQGHLQHPDFKWWKHRUHWLVFKH6\VWHPDWLVFK
kann Lernen als subjektives Erfahren von der sozialen Interaktion des Erziehens
in einem gesellschaftlichen und historischen Horizont unterschieden werden. In-
dem Vermittlung und Aneignung (vgl. Kade 2009) bzw. Lernen und Erziehen (vgl.
Prange 2005DOVXQWHUVFKLHGOLFKH2SHUDWLRQHQDQDO\VLHUWZHUGHQOlVVWVLFKHLQHU-
seits zwischen der subjektiven Erfahrung im Lernen und der sozialen und erzie-
herischen Praxis andererseits und damit zwischen subjektivem und sozialem Sinn
differenzieren. Für die Praxis des Erziehens ist es weiterhin wichtig einzubeziehen,
dass sie als eine soziale, ordnungserhaltende und ordnungsbildende Praxis auch
eine Praxis der Macht (vgl. Ricken 2006) ist – wie ich weiter unten noch genauer
zeigen werde. Der Zwang, der in der erzieherischen Praxis, in den begrenzenden
und normalisierenden Interventionen ausgeübt wird, kann aber auch auf eine Frei-
setzung zielen. Das Spannungsverhältnis zwischen Fürsorge und Selbstsorge bzw.
von Freiheit und Zwang lässt sich machttheoretisch als Formung und Formgebung
45
im Modus einer ambivalenten Praxis akzentuieren. Erzieherische Formgebung und
ihre ordnungserhaltende Funktion manifestiert sich in Begrenzungen, Hemmungen
und Fokussierungen des Lernens (vgl. Loch 1998). Mit Foucault kann deutlich
werden, dass gerade die Ein- und Ausgrenzung die Voraussetzung für Freiheits-
spielräume bieten und sich darin performativ neue Ordnungen bilden. Diese Frei-
heitsspielräume stehen nicht im Gegensatz zur Macht – sie sind vielmehr ihr Funk-
tionselement. In der erzieherischen Inszenierung sind neben unterwerfenden und
ordnungserhaltenden auch gleichermaßen leiblich-freiheitliche, ordnungsbildende
Aspekte konstitutiv (vgl. Brinkmann 2012, S. 221 ff.).
'LHSlGDJRJLVFKH3HUVSHNWLYHDXIGLHVR]LDOWKHRUHWLVFKH$QDO\VHYRQ2UGQXQ-
gen, von Habitus (vgl. Bourdieu 1993) und Praktiken (vgl. Schatzki 2012) lässt
sich in den Fragen zusammenziehen: Wie lassen sich Praktiken, Ordnungen und
Habitualisierungen pädagogisch verändern? Wie kann eine Öffnung für neue Er-
fahrungen und ein Lernen aus Erfahrung gelingen? Die phänomenologische Er-
fahrungstheorie hat mit dem Begriff der Negativität eine Antwort darauf gefun-
GHQYJO%HQQHU$XFKKLHUVSLHOW+XVVHUOV$QDO\VHGHU,QWHQWLRQDOLWlWHLQH
wichtige Rolle: Er zeigt, dass die Horizontstruktur der Erfahrung mit dem Funk-
tionskreis von „Erfüllung“ bzw. „Enttäuschung“ der Antizipation zusammenhängt
(Buck 1989, S. 50). Tritt das in der Erfahrung Antizipierte und Erwartete nicht ein,
entsteht eine Irritation oder Enttäuschung, weil das aktuell Erfahrene nicht mit
dem bisher Erfahrenen kongruent ist. Im Lernen zeigen sich negative Erfahrungen
als Nicht-Können und Nicht-Wissen, als Verfehlen, Vergessen, Nicht-Verstehen,
Missverstehen, Scheitern, als Störung, als Moment der „Auffälligkeit“, „Aufdring-
lichkeit“, „Aufsässigkeit“ oder als „Unzuhandenheit“ (Heidegger 2001, S. 73 f.).
In der negativen Erfahrung wird die Erfahrung gleichsam auf sich selbst zurück-
geworfen. Der Lernende macht so gesehen nicht nur eine Erfahrung über etwas,
sondern er macht auch eine Erfahrung über sich selbst. Es kann zu einer Umstruk-
turierung, Umwendung und Transformation des Erfahrungshorizontes kommen
(vgl. Buck 1989, S. 9). Es kommt nicht zu einer Löschung oder Überschreibung,
auch nicht zu einer simplen Kumulation von Erfahrungen, sondern alte Erfahrung
ZLUGPLWHLQHPQHXHQ,QGH[YHUVHKHQYJO0H\HU'UDZH1996, S. 89).
Negative Erfahrungen emergieren aus der temporalen Differenz der Wiederho-
lung (vgl. Brinkmann 2012): Darin manifestiert sich der Bildungssinn der Erfah-
rung, oder anders gesagt: ein Lernen als Erfahrung, das sich aus der Wiederholung
des Bestehenden und Beständigen, aus Gewohnheit und Habitualisierung, zu etwas
Anderem, zu Neuem hin öffnet. Lernen als Erfahrung kann so die Voraussetzung
für ein Lernen aus Erfahrung sein. Aber nicht jede wiederholte oder transformati-
ve Erfahrung kann als eine pädagogische Erfahrung gelten. Die Normativität des
pädagogischen Blicks manifestiert sich in einer theoretischen Selektivität, die das
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
46 M. Brinkmann
als pädagogisch setzt, was in der Erfahrung öffnend und überschreitend fungiert,
was also die Möglichkeit schafft, aus dem Stetigen und Kontinuierlichen eine dis-
kontinuierliche Öffnung für Neues und Anderes zu ermöglichen und sich zu dieser
reflexiv verhalten zu können.
5 Pädagogische Empirie4
Um pädagogische Erfahrung empirisch zu erfassen, möchte ich im Folgenden drei
Einsätze wählen. Diese orientieren sich an den erfahrungstheoretisch aufgewiese-
nen Dimensionen der Intentionalität, Temporalität, Horizontalität und Negativität
pädagogischer Erfahrung im Kontext von Leiblichkeit und Macht. Empirisch sind
negative Erfahrungen von besonderem Interesse, da sie als Brüche, Abbrüche, Auf-
brüche sichtbar werden können. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich die
Überkreuzung von subjektivem und sozialem Sinn erstens mit dem Begriff und
dem Phänomen der Verkörperung (5.1) sowie zweitens dessen kommunikativer
Relationierung im Antwortgeschehen (5.2) für eine pädagogische Empirie opera-
tionalisieren und drittens mit der Praxis und der Form des auf Aufmerksamkeit
zielenden Zeigens (5.3) pädagogisch dimensionieren lässt. Diese drei Operatio-
nalisierungen sind gemäß der phänomenologischen Methodologie als deskriptive
.DWHJRULHQ]XYHUVWHKHQGLHHLQHP|JOLFKH6\VWHPDWLNIUHLQHGLIIHUHQ]VHQVLEOH
Empirie bereitstellen können. Mit ihnen kann jeweils eine Reduktion und Variati-
on stattfinden. Der oben aufgezeigte Zirkel von Theorie, Empirie und Praxis lässt
sich damit nicht aufheben. Er ist auch gar nicht zu vermeiden. Vielmehr gilt es, in
ihn „nach der rechten Weise hineinzukommen“ (Heidegger 2001, § 32, S. 153),
d. h. im Zuge einer differenzsensiblen Deskription in eine reduktive Bewegung
zu gelangen, sodass Forschende in einem „Antwortgeschehen“ (Waldenfels) unter
Einbezug der Problematik der Signifizierung auf das antworten, was sich zeigt,
und das beschreiben, was sich zeigen lässt.
4 Die folgenden Überlegungen zu einer pädagogischen „theoretischen Empirie“ (Kalthoff
2008) wurden im Rahmen eines Pilotprojektes zur phänomenologischen Übungsforschung
an der Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Ber-
lin entwickelt. Ich danke den beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Denise Wilde,
Anne Breuer, Richard Kubac und Sales Rödel sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
des Forschungskolloquiums und der Datensitzungen für ihre produktive und kritische Be-
gleitung.
47
5.1 Verkörperung
Die temporalen und machtförmigen Erfahrungen im Lernen drücken sich im
Selbstverhältnis praktisch aus. In der modernen Anthropologie wird das Selbst-
YHUKlOWQLVGHV 0HQVFKHQDOV'LIIHUHQ]DOV$PELJXLWlW0HUOHDX3RQW\RGHU PLW
Plessner als exzentrisches Verhältnis beschrieben (vgl. Ricken 2006 6 II
Brinkmann 2012, S. 168–197). Im Unterschied zu den körpertheoretischen Ana-
O\VHQ GHU .XOWXU XQG 6R]LDOZLVVHQVFKDIWHQ DN]HQWXLHUW GLH SKlQRPHQRORJLVFKH
3HUVSHNWLYHGLH'LIIHUHQ]YRQ.|USHUKDEHQXQG/HLEVHLQ0HUOHDX3RQW\OHJW
dar, dass zwischen dem intellektualistischen Begriff und dem empiristischen Sin-
nesdatum der Leib als das Dritte fungiert, der primär in der Welt situiert ist und
sich darin orientiert. Dieser verkörpert sich gleichsam im Tun und bringt ein ha-
ELWXDOLVLHUWHVÄ.|USHUVFKHPD³ KHUYRU 0HUOHDX3RQW\1974, S. 158, 184). Darin
emergiert („emergé³GDV6HOEVW0HUOHDX3RQW\1974, S. 119). „Das Bewusstsein
LVWXUVSUQJOLFKQLFKWHLQÄ,FKGHQNH]X³VRQGHUQHLQÄ,FKNDQQ³0HUOHDX3RQW\
19746'HVKDOEZLVVHQZLUPHKUDOVZLU]XVDJHQYHUP|JHQYJO3RODQ\L
1985).
bKQOLFK ZLH 0HUOHDX3RQW\ P|FKWH 3OHVVQHU GHQ FDUWHVLDQLVFKHQ 'XDOLVPXV
von Körper und Geist und damit die falsche Alternative zwischen Naturalismus
und Rationalismus bzw. Kognitivismus überwinden. Weil der Mensch „ist“, sich
aber nicht „hat“ und sich entzogen ist, muss er sich selbst „fest-stellen“, sich „ver-
körpern“, sich eine Form geben (Plessner 1970, S. 309, 320). Er ist sich selbst auf-
gegeben, indem er immer wieder in der Verkörperung ein fragiles Gleichgewicht
zwischen Ich und Selbst herstellen muss, ohne Aussicht auf eine endgültige Posi-
WLRQLHUXQJLQVHLQHUH[]HQWULVFKHQ3RVLWLRQÄRKQH,GHQWLWlW³0H\HU'UDZH2000,
S. 145). In der Verkörperung nimmt der Mensch praktisch zu sich selbst Stellung
und verhält sich zugleich zu dieser Stellungnahme vor anderen (Plessner 1976).
Der Mensch ist so gesehen kein Mängelwesen, sondern ein Wesen, das in seiner
Praxis immer schon über sich hinaus auf Andere und Anderes gerichtet ist, indem
es sich selbst jeweils in Form bringt und sich Form gibt.
Verkörperungen lassen sich sehen und beschreiben. Sie sind in der teilnehmen-
den Erfahrung5 sichtbar, spürbar und erfahrbar – sei es als leiblicher Ausdruck
5 Im Unterschied zur teilnehmenden Beobachtung, die in der rekonstruktiven Sozialfor-
schung darauf angelegt wird, die Operation der Beobachtung am „dingontologischen“
Modell (Heidegger) des Gegenstandes quasi objektiv auszurichten, um sie dann der Inter-
pretation durch das forschende Subjekt zuzuführen, geht die teilnehmende Erfahrung (vgl.
Beekmann 1984 6WLHYH20106FKUDW]HW DO2012) davon aus, dass sich die Intentionalität
des Forschers mit dem Nicht-Intentionalen, das Aktive mit dem Passiven, das Subjektive mit
dem Anderen in der Erfahrung verschränken.
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
48 M. Brinkmann
oder als zwischenleibliche Verweisung. Haltung, Mimik, Gestik und „Gebärdung“
(Boehm 20076XQGGDULQ7RQXV5K\WKPXVXQG7LPEUH]HLJHQ6LQQ4XDOLWlW
und Horizont des sich verkörpernden Selbst an. Mit dem Modell der Verkörperung
lässt sich das anthropologisch aufgewiesene Selbstverhältnis im Lernen empirisch
operationalisieren, indem leibliche Akte und Handlungen als Ausdruck einer Stel-
lungnahme zu sich selbst, zu Anderen und vor Anderen verstanden werden können.
Das soll an einem Beispiel jeweils kurz veranschaulicht werden:
Abbildung 1. (Still) stammt aus dem oben erwähnten Pilotprojekt zur phäno-
menologischen Übungsforschung. Zu sehen sind links die Lehrerin und rechts ein
Ausschnitt einer Lerngruppe der 6. Jahrgangsstufe im Sitzkreis. Schülerkamera-
und Lehrerkameraperspektive sind hier gleichsam als Konkretisierung der päda-
gogischen Differenz zusammengeschnitten und bilden eine Situation simultan im
Unterrichtsgeschehen ab. Es bedarf einiger Übung in der phänomenologischen De-
skription, Verkörperungen möglichst reduktiv, d. h. ohne Deutung, zu beschreiben.
Die Aufgabe einer phänomenologischen Empirie im hier vorgestellten Sinne wäre
es, den Dualismus von innerem Sinn und äußerem Verhalten in der Beschreibung
aufzubrechen und leiblich ausgedrückte Erfahrungen im Lernen und Erziehen als
Verkörperungen qualitativ gehaltvoll, theoretisch differenziert und sachlich evi-
dent zu gestalten.
In Mimik und Gestik, mit Blicken und in Haltungen werden dann leibliche
Qualitäten differenzierbar wie etwa Müdigkeit, Schüchternheit, Niedergeschla-
genheit oder Aufmerksamkeit bzw. Nicht-Aufmerksamkeit. Diese lassen sich aus
der Form der Verkörperung und aus den Antworten der Anderen und der Lehrerin
erschließen. Verkörperung wird hier als ein Sich-zeigen vor und mit den anderen
(auch des anderen Geschlechts) im Kontext einer Fremd- und Selbst-Positionie-
Abb. 1 Verkörperungen
49
rung im Stuhlkreis beschreibbar. Die Schülerinnen und Schüler agieren nicht etwa
auf einer „Hinterbühne“ oder gemäß eines „Rollenschemas“ (vgl. dazu den Beitrag
von Sales Rödel in diesem Bd.). Vielmehr sind alle Ausdrücke und Handlungen für
diese Situation konstitutiv. Sie sind Anzeigen für eine Stimmung im Lernraum des
Unterrichts, die sich aus der Überkreuzung von subjektivem und sozialem Sinn
ergibt, und die gleichsam den Horizont für das in dieser Situation stattfindende
Unterrichtsgespräch abgibt. Dieses kann als ein Antwortgeschehen beschreibbar
werden.
5.2 Antwortgeschehen
Waldenfels legt mit der Theorie der Responsivität (vgl. Waldenfels 2007, S. 320 ff.)
ein Modell sozialer Interaktion vor, das mehrere Vorteile für die pädagogische Em-
pirie bereithält. Responsivität ist nach Waldenfels der „Grundzug sprachlicher und
nicht-sprachlicher Akte und Handlungen“ (Waldenfels 2007, S. 324). Damit kön-
nen sowohl sprachliche als auch leibliche, sowohl subjektive als auch soziale Akte
und Handlungen erfasst und ihrer Materialität und Passivität (Waldenfels 2007,
S. 325) Rechnung getragen werden. In der Differenz zwischen Was und Worauf
der Antwort ereignet sich nach Waldenfels der „Anspruch des Fremden“ (Wal-
denfels 2007, S. 332) als etwas, was aus der Situation emergiert und als Ereignis
eintritt. „Damit wird eine Zwischensphäre zurückgewonnen, die weder in subjekti-
ven Intentionen noch in transsubjektiven Koordinationen zu ihrem Recht kommt“
(Waldenfels 2007, S. 332). In Abgrenzung zu Bewusstseinstheorie und Sprechakt-
theorie können sowohl die Verengungen des subjekttheoretischen Intentionalitäts-
begriffs als auch jene des kommunikationstheoretischen Regelmodells der Sprache
(vgl. Waldenfels 2007, S. 331) vermieden werden.
Mit Waldenfels lassen sich vier Ausweitungen von Frage und Antwort nennen:
Das sprachliche Eingehen auf einen sprachlichen Frage-Anspruch, der sich in der
)UDJHDOVHLQH$XIIRUGHUXQJNXQGWXW$XVZHLWXQJMHGHVVSUDFKOLFKH(LQJHKHQ
auf einen Anspruch, der sich in einer sprachlichen Äußerung kundtut (2. Auswei-
WXQJMHGHV(LQJHKHQDXIHLQHQ$QVSUXFKGHUVLFKLQHLQHUVSUDFKOLFKHQbXHUXQJ
NXQGWXW $XVZHLWXQJ MHGHV (LQJHKHQ DXI HLQHQ$QVSUXFK GHU VLFK LQ HLQHU
sprachlichen Äußerung oder aber in vor- oder außersprachlicher Ausdrucksweise
kundtut (4. Ausweitung). Subjektiver Sinn wird so nicht als Ausdeutung einer sub-
MHNWLYHQ,QWHQWLRQHLQHV1DFKHUOHEHQVJHIKOLJHU,QQHUOLFKNHLWYJO'LOWKH\XQG
auch nicht als Andersverstehen einer am Text oder an Sprache orientierten Sach-
lichkeit (vgl. Gadamer) gefasst. Vielmehr wird subjektiver Sinn als verkörperter
und gleichsam gebrochener Sinn aus den Antworten der Anderen erschließbar. Das
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
50 M. Brinkmann
kann auf unterschiedliche Weisen geschehen, im Gespräch, in Mimik und Gestik,
im Etwas-Zeigen und Sich-Zeigen oder im Verbergen. Dieser Umweg über Andere
und Anderes zeigt uns mehr, als wir wissen und sagen können.
Mit dem Modell der Responsivität lässt sich die Verkörperung als Ausdruck
einer tätigen, exzentrischen Stellungnahme sozial und kommunikativ rahmen und
– in den vier Ausweitungen – empirisch operationalisieren. Leibliche und sprach-
liche Kommunikation ist so weder Ausdruck des Bewusstseins eines idealistischen
Subjekts noch Fall sprechakttheoretischer Kommunikationsregeln, sondern von
der Materialität des Antwortens und vom verkörperten Ausdruck her zu verstehen.
Damit wird der Situativität und Performativität sozialer Interaktion Rechnung ge-
tragen. Die Aufmerksamkeit für die Differenz von Was und Worauf im Antworten
macht es zudem möglich, dass auch Missverstehen, Nicht-Verstehen, Andersver-
stehen und Fremdverstehen als Spielarten kommunikativer Negativität sichtbar
werden können. Im Zusammenhang mit Negativität sind also jene Situationen
bedeutsam, in denen der sprachliche Anspruch im Kontrast und in Verzögerung
zum leiblichen Ausdruck steht. Im pädagogischen Feld sind dann jene Fälle von
besonderem Interesse, in denen sich die pädagogischen Intentionen nicht erfüllen,
aber trotzdem oder gerade deswegen eine Antwort ausgedrückt wird.
Mit diesen beiden Stills (aus der gleichen Unterrichtsstunde, wie oben beschrie-
ben) lässt sich das berühmt-berüchtigte fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch
als Antwortgeschehen differenziert beschreiben. Es werden nicht nur sprachliche
Antworten auf sprachliche Fragen relevant, sondern wechselseitig und gleichzeitig
auch nicht-sprachliche Antworten in Mimik, Gestik, Haltung und im Zeigen. Im
Video lässt sich zunächst die Differenz von Ausdruck und Antwort im Kontrast
von leiblicher und sprachlicher Antwort nachverfolgen. Meist sind die leiblichen
Ausdrücke der sprachlichen Artikulation nachgängig, d. h. zuerst erfolgt der leib-
liche Ausdruck. Abbildung 2 zeigt einen langhaarigen Schüler (3. von rechts), der
zeigend versucht darzustellen, was er mit sprachlichen Mitteln nicht ausdrücken
kann. Die Lehrerin versucht ihrerseits wiederholend das Gezeigte verstehend nach-
zuvollziehen, indem sie es vor den anderen wieder zeigt. Hier zeichnet sich ab, was
viele andere Videos bestätigen: Verkörperungen und Antworten werden in pädago-
gischen Settings sehr häufig mit Zeigegesten verbunden.
Darüber hinaus kann aus dem sowohl sprachlichen als auch leiblichen Antwor-
ten auf einen sprachlichen und nicht-sprachlichen Anspruch auch das Nicht-Gelin-
gen, das gegenseitige Missverstehen rekonstruiert werden. Gerade in der Enttäu-
schung artikulierter Intentionen wird Negativität in der jeweiligen Verkörperung
und aus den Antworten der Anderen sichtbar (Abb. 3): im Lächeln, Grinsen des
Schülers, im konzertierten oder angespannten und skeptischen Gesichtsausdruck
der Lehrerin. Wie in vielen anderen Fällen auch, wird im Fortgang das Missver-
51
Abb. 2 Antwortgeschehen
Abb. 3 Antwortgeschehen
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
52 M. Brinkmann
stehen wiederum zeigend von der Lehrerin in die Ordnung des Unterrichts (re-)
integriert und damit in seiner (produktiven) Brisanz entschärft.
5.3 Zeigen
In der Philosophie (vgl. Wiesing 2013), Sozialwissenschaft (vgl. van den Berg und
Gumbrecht 2010), in der Ethologie (vgl. Tomasello 2009) und in der Kunstwis-
senschaft (vgl. Boehm 2007) erfährt das Phänomen des Zeigens in seinen unter-
schiedlichen Spielarten mittlerweile große Aufmerksamkeit, wobei es in der Regel
mit Lernen und Erziehen in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich spricht vieles
dafür, Zeigen als eine pädagogische Handlung zu verstehen – sei es im hinweisen-
den („pointing“), im vorweisenden („showing“) oder im aufweisenden („revea-
ling“) Zeigen. Erziehen kommt schon nach der lebensweltlichen Erfahrung kaum
ohne Geste, ohne Hin- und Verweise und ohne Fokussierung und Polarisierung der
Aufmerksamkeit aus (vgl. Ricken 2009). Prange hat daher im Zeigen die Form
pädagogischen Handelns ausgemacht, in der Lernen und Erziehen operativ zu-
sammenkommen können (vgl. Prange 2005). In jüngster Zeit wird die Wirkung
des erzieherischen Zeigens genauer untersucht, d. h. die Korrelation von zeigen-
dem Aufmerksammachen und lernenden Aufmerksamwerden (Reh et al. (2015),
Brinkmann (in Vorbereitung)). Zeigen wird in der operativen Pädagogik in unter-
schiedlichen Formen differenziert und kann als Form pädagogischen Handelns
V\VWHPDWLVFKYRQDQGHUHQ+DQGOXQJVIRUPHQXQWHUVFKLHGHQZHUGHQ'DPLWZLUGHV
empirisch möglich, Wirkungsabsichten von den Wirkungserfahrungen nicht kausal
und nicht technologisch zu beschreiben und damit Anschlüsse für (Fach-)Didak-
tik, Lehr-, Lern- und Unterrichtsforschung zu ermöglichen. Mit dem Begriff und
Konzept der Artikulation und dem der Inszenierung wird zudem der Zeit- und der
5DXPGLPHQVLRQHLQV\VWHPDWLVFKHU2UW]XJHZLHVHQ'DPLWODVVHQVLFK]HLWWKHRUH-
tische und didaktische Differenzierungen in das „Verlaufsschema“ des Zeigens als
Unterrichten integrieren (vgl. Brinkmann 2009).
Gleichwohl bleibt Pranges operative Theorie des Zeigens einem konventionel-
len (autonomen) Subjektverständnis und damit einem traditionellen Intentionali-
täts- und einem (abbildtheoretischen) Repräsentationsmodell verpflichtet. Damit
aber wird weder die Medialität und die Performativität des Zeigens (vgl. Thom-
pson 2011, S. 69 ff.) noch dessen Sozialität und Machtförmigkeit als auf etwas
Drittes bezogene und in Anwesenheit von Dritten vollzogene Praxis (vgl. Ricken
2009) hinreichend erfasst. Statt idealer Formen des pädagogischen Handelns müss-
ten auch erfahrungstheoretisch und empirisch gehaltvolle Formen des Zeigens be-
schreibbar werden. Um Zeigen als Modell für die empirische Pädagogik fruchtbar
53
PDFKHQ]XN|QQHQPVVWHHVDXVGHU3UDQJHތVFKHQVXEMHNWXQGUHSUlVHQWDWLRQV-
theoretischen Engführung herausgelöst werden (vgl. Brinkmann 2009%ULQNPDQQ
2012, S. 138 ff.).
In einer phänomenologischen Perspektive wäre dann Zeigen nicht nur als Hand-
lung, sondern als Geschehen zu fassen: Im Zeigen zeigt sich etwas oder jemand
als etwas. Dem Zeigen steht so das Sich-Zeigen von etwas ebenbürtig zur Seite,
verstanden als Sichtbar-Werden eines Anderen oder einer Sache, der, die oder das
mich anspricht und auf den, die oder das ich antworte. Mit dem Blickwechsel auf
die gleichermaßen sinnbildenden und sinngebenden Momente im Zeigen können
die nicht-intentionalen, die materialen und die stimmungsmäßigen Momente er-
fassbar werden, können im Zeigen auch die Antworten auf die Dinge (vgl. Stieve
2008), die sich zeigen und die uns ansprechen, thematisch werden (vgl. dazu den
Beitrag von Denise Wilde in diesem Bd.). Auch damit kann es möglich werden, ne-
gative Erfahrungen im Antwortgeschehen pädagogisch und empirisch zu erfassen.
Sie können als nicht-intentionale, verkörperte Antworten auf ein intentionales und
ebenso verkörpertes Zeigen gelten.
Wir können bisher zeigen, dass sich in pädagogischen Situationen mehrere Zei-
geformen überkreuzen: etwas zeigen, etwas vorzeigen, etwas aufzeigen oder wie
im linken Still (Abb. 4) direktiv auf etwas oder jemanden zeigen. Dies korrespon-
diert mit einem Sich-Zeigen bzw. einem sich verkörpert vor den anderen zeigen.
Dabei zeigt sich die Lehrerin als jemand, der den Schülerinnen und Schülern etwas
zeigen kann und darf. Bedeutsam scheint hier ihre leibliche Präsenz in der zei-
genden Verkörperung. In Abb. 5 wird im Antwortgeschehen zeigend und imitativ
der Gedanke des anderen wechselseitig nachvollzogen. Auf die darstellenden Ges-
ten folgt die sprachliche Untermalung. Die Praxis des Zeigens konstituiert hier
Abb. 4 Pädagogisches Zeigen
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
54 M. Brinkmann
Unterricht als Antwortgeschehen. Unterschiedliche Formen des Zeigens (imitati-
ves, direktives, repräsentatives, ostensives, transformatives und negativ-missver-
stehendes Zeigen greifen ineinander (vgl. Brinkmann 2015a). In mikrologischen
$QDO\VHQGHV VLFK YHUN|USHUQGHQ$QWZRUWJHVFKHKHQVZLUG HVGDKHU ]XQHKPHQG
VFKZLHULJHWZDV]XVHKHQZDVQLFKW=HLJHQLVW+LHUEHGDUIHVHLQHU7\SLVLHUXQJ
XQG6\VWHPDWLVLHUXQJ XP GHQhEHUEOLFN ]X EHKDOWHQ 'XUFK 9HUJOHLFKXQG 5H-
GXNWLRQN|QQWHQ(OHPHQWHHLQHUHPSLULVFKJHKDOWYROOHQ6\VWHPDWLNYRQ7\SHQXQG
Formen pädagogischen Zeigens gefunden werden – eine Aufgabe, die wir uns im
o.g. Projekt gestellt haben.
Besonders interessant sind jene Formen repräsentativen Zeigens, in dem etwas
gezeigt wird, was sich nicht deutlich zeigt oder sich entzieht, z. B. etwas, was in
der Vergangenheit liegt und nun zeigend reaktualisiert werden soll – entweder,
indem etwas vorgezeigt wird, das an die vergangene Lerneinheit erinnern soll,
oder indem gestisch und sprachlich auf die Vergangenheit „hingezeigt“ wird. Eine
weitere besondere Form des Zeigens ist das didaktische Zeigen von Modellen,
etwa im Chemieunterricht. Hier wird repräsentativ etwas als vermeintlich Konkre-
WHVJH]HLJW]%GDV3HULRGHQV\VWHPZDVWDWVlFKOLFKDEVWUDNWXQG]XQlFKVWQXU
V\PEROLVFKLVWhEHUKDXSW VLQG DOOH NXOWXUHOOHQ6\PEROV\VWHPH± EHLVSLHOVZHLVH
in Musik, Geschichte, Mathematik, in Fremdsprachen, Grammatik, Chemie oder
Geographie – Abstraktionen und Modelle, die sich nicht bruchlos in die Lebens-
Abb. 5 Pädagogisches Zeigen
55
welt oder „Wirklichkeit“ übersetzen lassen. Da sie vielmehr die Wirklichkeit be-
zeichnen und modellieren, können sie nicht im unmittelbaren Gebrauch erlernt und
überprüft werden. Vielmehr hat der Unterricht die Aufgabe, zeigend die unmittel-
bare, lebensweltliche und intuitive Erfahrung zu „überschreiten und zu erweitern“
(Benner 20086XQGLQGHQ*HEUDXFKGLHVHU 6\PEROV\VWHPH HLQ]XIKUHQ
Auf das Zeigen bezogen bedeutet das, dass die Künstlichkeit dieses Zeigens und
damit die zeigende Artikulation der Differenz von erfahrener Lebenswelt und wis-
VHQVFKDIWOLFKHP 6\PEROV\VWHP HLQH *UXQGIRUP VFKXOLVFKHQ =HLJHQV GDUVWHOOHQ
könnte.
Für die Seite des Lernens wird in diesem Zusammenhang deutlich: Zeigen rich-
tet sich auf Lernen, genauer auf Aufmerksamkeit. Wie im rechten Still zu sehen:
Blicke und Gesten fokussieren sich bzw. werden machtvoll fokussiert. Eine Pola-
risation der Aufmerksamkeit kann sich wechselseitig einstellen und sich in Tonus
und Haltung leiblicher Verkörperungen anzeigen: Lehrerin und Schüler fixieren
die Sache und fokussieren darüber ihre Aufmerksamkeit. Zeigendes Aufmerksam-
machen und lernendes Aufmerksamwerden korrespondieren wechselseitig (vgl.
Brinkmann (in Vorbereitung). Auch in diesem interessanten Feld bedarf es weiterer
qualitativer Konkretisierungen, um empirisch gehaltvolle Formen des zeigenden
$XIPHUNVDPPDFKHQVXQG OHUQHQGHQ$XIPHUNVDPZHUGHQVV\VWHPDWLVFK HUVFKOLH-
ßen zu können.
6 Schluss
Die oben angeführten Beispiele machen deutlich, dass eine empirische Operatio-
nalisierung der phänomenologischen Theorie des Erfahrungslernens im Selbst-,
Mit- und Weltverhältnis möglich werden kann. Im Schnittpunkt von subjektivem
und sozialem Sinn lassen sich im Horizont von Intentionalität, Horizontalität und
Negativität Erfahrungen im Lernen und Erziehen als leibliche Verkörperungen und
als Antworten auf den Anspruch der Anderen oder der Sache aus den Antworten
der Anderen beschreibbar machen. Antwortgeschehen wird als pädagogische, ord-
nungsbildende und ordnungserhaltende Inszenierung im Horizont von Wiederho-
lung und Macht beschreibbar. Die Perspektive auf das Zeigen als Sich-Zeigen und
als Vor-, Hin und Aufzeigen von etwas als etwas kann eine empirisch basierte Neu-
bestimmung von Form und Formgebung in der Pädagogik ermöglichen. Zugleich
ZLUG GHXWOLFK GDVV YLHOH )UDJHQ QRFK XQJHO|VW VLQG XQG HLQH ZHLWHUH 6\VWHPD-
tisierung und Methodisierung empirischen Arbeitens in der phänomenologischen
Erziehungswissenschaft, insbesondere hinsichtlich videographischen Forschens,
noch aussteht.
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
56 M. Brinkmann
Phänomenologisches Forschen, das sich auf die Relationen von Lernen und Er-
ziehen und damit auf die Frage nach der Wirksamkeit einlässt, praktiziert an den
Grenzen zwischen Sichtbarem und Sagbarem, zwischen Sprachlichem und Leibli-
chem. Als Praxis des Sich-Zeigen-Lassens setzt mit der Deskription des Sichtbaren
an, was eine skeptisch-kritische Reduktion, d. h. eine Einklammerung von glei-
chermaßen subjektiven wie theoretischen Vorannahmen voraussetzt. Das festzu-
halten, was sich zeigt, und zugleich als was es sich und wie es sich zeigt, bedeutet,
den Fokus auf Präsenz und Materialität des Sichtbaren zu legen. Die phänome-
QRORJLVFKH(PSLULHEHWHLOLJWVLFKQLFKWDQGHUÃHSLORJLVFKHQµ$QDO\VHYRQEHUHLWV
Vorhandenem oder einer rekonstruktiv-hermeneutischen Suche nach Verborgenem
oder Latentem. Sie kann vielmehr in theoretisch-empirischen Operationen eine
SURGXNWLYH3HUVSHNWLYHDXIGLH*HQHULHUXQJYRQ7\SHQ)RUPHQ XQG .DWHJRULHQ
bieten, indem theoretische und subjektive Perspektiven variiert sowie weitere,
andere Möglichkeiten imaginiert werden. Damit kann ‚abduktiv‘ Sinn eingelegt
ZHUGHQ'LHHUIDKUXQJVVHQVLEOH*HQHULHUXQJYRQ7\SHQRGHU)RUPHQN|QQHQDOV
„Vorgriff auf die Praxis“ (Plessner) helfen, empirisch gehaltvolle Perspektiven auf
Lernen und Erziehen unter Bedingungen von Leiblichkeit und Macht zu eröffnen.
Literatur
Beekmann, Ton. 1984. Hand in Hand mit Sasha. Über Glühwürmchen, Gransma Millie und
einige Raumgeschichten. In Kind und Welt: Phänomenologische Studien zur Pädagogik,
Hrsg. W. Lippitz, 11–25. Königstein: Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenä-
um Hain Hanstein.
Benner, Dietrich. 2005. Erziehung – Bildung – Negativität. 49. Beiheft der Zeitschrift für
Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.
Benner, Dietrich. 2008. Jenseits des Duals von Input- und Output. Über vergessene und
neue Zusammenhänge zwischen Erfahrung, Lernen und Lehren. Vierteljahrsschrift für
wissenschaftliche Pädagogik 84 (4): 414–435.
van den Berg, Karen, und Hans Ulrich Gumbrecht. 2010. Politik des Zeigens. München:
Fink.
Boehm, Gottfried. 2007. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeichens. Berlin: Berlin
8QLYHUVLW\3UHVV
Bohnsack, Ralf. 2003. Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden.
Opladen: Barbara Budrich.
Bourdieu, Pierre. 1993. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Breidenstein, Georg. 2006. Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schü-
lerjob. Wiesbaden: Springer VS.
Breidenstein, Georg. 2012. Ethnographisches Beobachten. In Beobachtung in der Schule –
Beobachten lernen, Hrsg. H. de Boer und S. Reh, 27–43. Wiesbaden: Springer VS.
57
Brinkmann, Malte. 2009. Wiederholungen. Zur temporalen Differenz der pädagogischen
Übung. In Operative Pädagogik: Grundlegung, Anschlüsse, Diskussion, Hrsg. K. Ber-
delmann und T. Fuhr, 57–72. Paderborn: Schöningh.
Brinkmann, Malte. 2010. Phänomenologische Forschungen in der Erziehungswissenschaft.
In Erziehung. Phänomenologische Perspektiven, Hrsg. M. Brinkmann, 7–19. Würzburg:
Königshausen & Neumann.
Brinkmann, Malte. 2011. Pädagogische Erfahrung – Phänomenologische und ethnographi-
sche Forschungsperspektiven. In Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft, Hrsg. I.
M. Breinbauer und G. Weiß, 61–78. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Brinkmann, Malte. 2012. Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lern-
form. Paderborn: Schöningh.
Brinkmann, Malte. 2014. Verstehen, Auslegen, Beschreiben zwischen Hermeneutik und
Phänomenologie. Zum Verhältnis und zur Differenz hermeneutischer Rekonstruktion
und phänomenologischer Deskription am Beispiel von Günter Bucks Hermeneutik der
Erfahrung. In Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck, Hrsg. S. Schenk und
T. Pauls, 199–222. Paderborn: Schöningh.
Brinkmann, Malte. 2015a. Übungen der Aufmerksamkeit: Phänomenologische und empiri-
VFKH$QDO\VHQ]XP$XIPHUNVDPZHUGHQ XQG$XIPHUNVDPPDFKHQ,QAufmerksamkeit.
Zur Geschichte, Theorie und Empirie eines pädagogischen Phänomens, Hrsg. S. Reh, K.
Berdelmann, und J. Dinkelaker. Wiesbaden: Springer VS
Brinkmann, Malte. 2015b. Pädagogische Empirie – phänomenologische und methodologi-
sche Bemerkungen zum Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis. Zeitschrift für Päd-
agogik, 61 (3) (in Vorbereitung).
Buck, Günther. 1989. Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen In-
duktion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Danner, Helmut. 1998. Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Einführung in Her-
meneutik, Phänomenologie und Dialektik. Mit 4 ausführlichen Textbeispielen. München:
Reinhardt.
Derrida, Jacques. 1984. Guter Wille zur Macht. Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer. In
Text und Interpretation, Hrsg. P. Forget, 56–58. München: Fink.
'LOWKH\:LOKHOPDer Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Dörpinghaus, Andreas. 2012. Dinge in der Welt der Bildung – Bildung in der Welt der Dinge.
Würzburg: Königshausen & Neumann.
Fink, Eugen. 1978. Grundfragen der systematischen Pädagogik. Hrsg. von E. Schütz und F.
A. Schwarz., Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber.
Fink, Eugen. 2004a. Edmund Husserl (1859–1938): Unveröffentlichter Nachruf 1938. In
Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Hrsg. F.-A. Schwarz,
75–97. Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber.
Fink, Eugen. 2004b. Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie. In Nähe und Distanz.
Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Hrsg. F.-A. Schwarz, 180–204. Freiburg i.
Br.: Verlag Karl Alber.
Foucault, Michel. 1983. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Gadamer, Hans-Georg. 1990. Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer phi-
losophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck.
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
58 M. Brinkmann
Heidegger, Martin. 1994. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Hrsg. v. P. Jaeger. 3.
Aufl. (Gesamtausgabe II. Abteilung, Vorlesungen 1923–1944). Frankfurt a. M.: V. Klos-
termann.
Heidegger, Martin. 2001. Sein und Zeit$XIO7ELQJHQ1LHPH\HU
Husserl, Edmund. 1950 ff. Husserliana. Gesammelte Werke. Den Haag: Martinus Nijhoff.
(Zitiert als Hua).
Husserl, Edmund und Ludwig Landgrebe. 1999. Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur
Genealogie der Logik. Hamburg: Meiner.
Kade, Jochen. 2009. Kommunikation und Zeigen: Zum Verhältnis von Operativer Pädago-
gik und Theorie Pädagogischer Kommunikation. In Operative Pädagogik: Grundlegung,
Anschlüsse, Diskussion, Hrsg. K. Berdelmann und T. Fuhr, 191–210. Paderborn: Julius
Kinkhardt.
Kalthoff, Herbert. 2006. Beobachtung und Ethnographie. In Qualitative Methoden der Me-
dienforschung +UVJ 5 $\DVV XQG - 5 %HUJPDQQ ± 5HLQEHN 5RZRKOW 7D-
schenbuch.
Kalthoff, Herbert. 2008. Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp.
Landweer, Hilge. 2010. Zeigen, Sich-zeigen und Sehen-lassen. Evolutionstheoretische Un-
tersuchungen zu geteilter Intentionalität in phänomenologischer Sicht. In Politik des Zei-
gens, Hrsg. K. van den Berg und H. U. Gumbrecht, 29–59. München: Fink.
Lippitz, Wilfried. 2003. Phänomenologische Forschungen in der deutschen Erziehungswis-
senschaft. In Differenz und Fremdheit. Phänomenologische Studien in der Erziehungs-
wissenschaft, Hrsg. W. Lippitz, 15–42. Frankfurt a. M.: Lang.
Loch, Werner. 1998. Die Allgemeine Pädagogik in phänomenologischer Hinsicht. In Theo-
rien und Modelle der Allgemeinen Pädagogik. Eine Orientierungshilfe für Studierende
der Pädagogik und in der pädagogischen Praxis Tätige, Hrsg. W. Brinkmann und J.
Petersen, 308–333. Donauwörth: Auer.
van Manen, Max. 1990. Researching lived experience: Human science for an action sensiti-
ve pedagogy$OEDQ\6WDWH8QLYHUVLW\RI1HZ<RUN3UHVV
0HUOHDX3RQW\0DXULFHPhänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Übersetzt von
W. Böhm.
0H\HU'UDZH.lWH9RP DQGHUHQOHUQHQ3KlQRPHQRORJLVFKH%HWUDFKWXQJHQLQGHU
Pädagogik. Klaus Schaller zum siebzigsten Geburtstag. In Deutsche Gegenwartspäda-
gogik 2, Hrsg. M. Borrelli und J. Ruhloff, 85–100. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag
Hohengehren.
0H\HU'UDZH.lWH %LOGXQJXQG ,GHQWLWlW ,Q wir/ihr/sie. Identität und Alterität in
Theorie und Methode, Hrsg. W. Eßbach, 139–150. Würzburg: Ergon.
0H\HU'UDZH.lWH>@/HLEOLFKNHLWXQG6R]LDOLWlW3KlQRPHQRORJLVFKH%HLWUlJH
zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München: Fink.
0H\HU'UDZH.lWH'LVNXUVHGHV/HUQHQV0QFKHQ)LQN
Mollenhauer, Klaus. 1985. Anmerkungen zu einer pädagogischen Hermeneutik. In Neue
Sammlung 25 (4): 420–432.
Nielsen, Cathrin und Hans Rainer Sepp. 2011. Welt denken. Annäherung an die Kosmologie
Eugen Finks. Freiburg i. Br.: Karl Alber.
Nietzsche, Friedrich. 1988. Morgenröte; Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft
1DFKJHODVVHQH)UDJPHQWH±0QFKHQ:DOWHUGH*UX\WHU
59
1IÊOPNFOPMPHJTDIF.FUIPEPMPHJFVOE&NQJSFJOEFS1ÊEBHPHJL
Oevermann, Ulrich, Tilman Allert, Elisabeth Konau, und Jürgen Krambeck. 1979. Die Me-
thodologie einer ‚objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Be-
deutung in den Sozialwissenschaften. In Interpretative Verfahren in den Sozial- und Text-
wissenschaften, Hrsg. H.-G. Soeffner, 352–434. Stuttgart: Metzler.
Plessner, Helmuth. 1970. Philosophische Anthropologie – Anthropologie der Sinne, Heraus-
gegeben von G. Dux. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
Plessner, Helmuth. 1976. Die Frage nach der Conditio humana: Aufsätze zur philosophi-
schen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
3RODQ\L0LFKDHOImplizites Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Prange, Klaus. 2005. Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik.
Paderborn: Schöningh.
Reh, Sabine, Kathrin Berdelmann, und Jörg Dinkelaker. 2015. Aufmerksamkeit. Zur Ge-
schichte, Theorie und Empirie eines pädagogischen Phänomens. Wiesbaden: Springer
VS.
Reichertz, Jo. 2013. Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Über die Entde-
ckung des Neuen. Reihe: Qualitative Sozialforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Ricken, Norbert. 2006. Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung.
Wiesbaden: Springer VS.
Ricken, Norbert. 2009. Zeigen und Anerkennen. Anmerkungen zur Form pädagogischen
Handelns. In Operative Pädagogik: Grundlegung, Anschlüsse, Diskussion, Hrsg. K.
Berdelmann und T. Fuhr, 111–133. Paderborn: Schöningh.
Schatzki, Theodore R. 2012. Timespace of human activity. On performance, society, and
history as indeterminate. Lanham: Lexington Books.
6FKDW]NL7KHRGRUH5.DULQ.QRUU&HWLQDXQG(LNHYRQ6DYLJQ\The practice turn
in contemporary theory. London: Routledge.
Schenk, Sabrina, und Torben Pauls. 2014. Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther
Buck. Paderborn: Schöningh.
Schratz, Michael, Johanna Schwarz, und Tanja Westfall-Greiter. 2012. Lernen als bildende
Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Insbruck: Studienverlag.
Stieve, Claus. 2008. Von den Dingen lernen: die Gegenstände unserer Kindheit. München:
Fink.
Stieve, Claus. 2010. Sich von Kindern irritieren lassen. In Frühkindliche Lernprozesse ver-
stehen. Ethnographische und phänomenologische Beiträge zur Bildungsforschung, Hrsg.
G. E. Schäfer und E. Staege, 18–46. Weinheim: Juventa Verlag.
Thompson, Christiane. 2011. Zeigen und Sprechen: Ironie und Unbestimmtheit in der Erzie-
hung. In Ironie in der Pädagogik, Hrsg. A. Aßmann und J. O. Krüger. Weinheim: Juventa
Verlag.
Tomasello, Michael. 2009. Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. 1. Aufl.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Waldenfels, Bernhard. 1992. Einführung in die Phänomenologie. München: Fink.
Waldenfels, Bernhard. 1998. Antwort auf das Fremde. Grundzüge einer responsiven Phä-
nomenologie. In Der Anspruch des Anderen: Perspektiven phänomenologischer Ethik,
Hrsg. B. Waldenfels und I. Därmann, 35–50. München: Fink.
Waldenfels, Bernhard. 2007. Antwortregister. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Wiesing, Lambert. 2013. Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Berlin: Suhrkamp Verlag.