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Abstract

Die gegenwartigen Krisen zeigen schmerzlich auf, wie blind und naiv die Wirtschaftswissenschaft macht. Anstatt dies als bedauerlichen Betriebsunfall oder unerklarlichen Zufall abzutun, sollten wir uns eingehend mit den Ursachen beschaftigen. Dafur mussen wir auch in die Geschichte dieser Wissenschaft blicken.
W ie konnte es passieren, dass nie-
mand die Krise vorhergesehen
hat?“ Mittlerweile ist diese Frage der
Queen legendär. Weniger bekannt ist die
Antwort der British Academy: Das Ver-
sagen, die Krise zu prognostizieren, sei
das wichtigste Beispiel eines Wunsch-
denkens gepaart mit Hybris. Bei allen–
Ökonomen, Politikern, Unternehmern
und Bankern – habe eine Psychologie
des Verleugnens geherrscht. Zwar habe
es Experten gegeben, die auf ihren Fel-
dern vor drohenden Problemen gewarnt
hätten. Doch „hat die kollektive Vorstel-
lungskraft vieler kluger Menschen, so-
wohl in diesem Land als auch interna-
tional, insgesamt versagt, um das Risiko
für das Gesamtsystem zu verstehen.“
Meinung und Hybris
Die Frage der Queen verlagert sich
damit auf eine tiefere Ebene. Wie ent-
steht eine solche kollektive Vorstellungs-
kraft? Darauf gibt die British Academy
keine Antwort. Sie übersieht damit, dass
sich ökonomische Traditionen im letzten
Jahrhundert eingehend mit diesem Pro-
blem beschäftigt haben. Dies gilt insbe-
sondere für den Neoliberalismus, wenn
auch nicht in kritischer Absicht. Leitend
für dessen Protagonisten war zunächst
die Frage, wie es– in der Sprache der
Akteure des neoliberalen Think Tanks
The Institute of Economic Affairs (IEA)
formuliert– gelingen kann, „Menschen
zu überreden, dass nicht nur die markt-
wirtschaftliche Allokation von Gütern
und Dienstleistungen wirtschaftlich ef-
fizient und wohlstandssteigernd ist, son-
dern auch, wesentlich bedeutender, dass
die marktwirtschaftliche Allokation allen
anderen Methoden des Austauschs über-
legen ist.“ Kurz gesagt, lautet die Ant-
wort, feste Vorstellungen so in den Köp-
fen der Menschen zu verankern, dass sie
Handlungen bereits vor jeglichem Kon-
takt mit der Realität determinieren.
Friedrich A.
Hayek formuliert hierzu
das passende Wissenschafts- und Bil-
dungsprogramm. Um ein adäquates
„Klima von Meinungen“ zu schaffen, soll-
ten Wissenschaftler über kein konkretes
Wissen oder Urteilsvermögen auf einem
bestimmten Feld verfügen, sondern le-
diglich „alle spezifischen Sachverhalte
im Licht allgemeiner Ideen beurteilen.“
Die Macht dieser Ideen wachse dabei „im
Verhältnis zu ihrer Allgemeinheit, Abs-
traktheit und sogar Unklarheit“. Gerade
insofern der Wissenschaftler weder ori-
ginärer Denker noch Experte auf einem
bestimmten Feld sei, könne er wirkungs-
voll als „gatekeeper of ideas“ fungieren.
„Es sind die Intellektuellen, die darüber
bestimmen, welche Ansichten und Mei-
nungen uns erreichen, welche Fakten
wichtig genug sind, um uns mitgeteilt zu
werden, und aus welchem Blick sie uns
präsentiert werden.“ Damit entscheiden
sie auch, was eine Gesellschaft nicht er-
kennen kann, weil sie es nicht erkennen
soll. Sie prägen, nach Walter Lippmann,
deren „Blinde Flecken“.
Die Aufgabe zumindest weiter Teile
der Wirtschaftswissenschaft schränkt
sich damit ein. Sie haben nur noch we-
nige intellektuelle Konstruktionen zu
vermitteln, die ihren Ursprung im rein
Abstrakten haben. Ihren Fortschritt sol-
len sie allein durch die Anwendung die-
ser Konstruktionen auf immer mehr Ge-
sellschaftsbereiche definieren, ohne da-
bei von deren tatsächlichen Problemen
auszugehen. Zugleich sollen sie weder
eine direkte Verantwortung für die ei-
gene Lebenswelt noch ein Wissen über
und aus dieser Welt schulen.
Ökonomisches Denken
als Waffe
Anders gesagt, hat sich die Wirt-
schaftswissenschaft sowohl zum Ziel
als auch zum Mittel der Kriegsführung
zu degradieren. In dem Buch „Waging
the War of Ideas“ vergleicht John Blun-
dell, ehemaliger Generaldirektor des
IEA, neoliberale Think Tanks mit einer
Artillerie, die unablässig ihre Granaten
(Ideen) auch auf die Wissenschaft ab-
feuere. Manche würden ihr Ziel (die In-
tellektuellen) erreichen, andere würden
es verfehlen. Aber niemals übernähmen
die Think Tanks selbst die Rolle der In-
fanterie, sich in kurzfristigem, persön-
lichem Ringen mit dem Feind aufzu-
reiben. Vielmehr ebnete ihr Bombar-
dement den Weg für andere, um diese
Arbeit zu erledigen.
Wir sollten diese, dem Ökonomen
und seiner Wissenschaft zugedachten
Rolle im Kampf der Ideen intensiv re-
flektieren. Ansonsten drohen wir, unsere
kollektive Blindheit weiterhin als Zufall
(oder Naturereignis) und deren reale Fol-
gen allenfalls als Kollateralschaden wahr-
zunehmen. Wie können wir, gerade in
der Bildung, das ökonomische Denken
aus seiner Funktion als Waffe befreien?
Anmerkung
Der Text zitiert überwiegend aus Lippmann,
Walter (): Public Opinion und Hayek,
Friedrich A. (): The Intellectuals and Socia-
lism.
Die blinden Flecken der Wirtschaftswissenschaft
Vom Kampf der Ideen
und seinen Folgen
Die gegenwärtigen Krisen zeigen schmerzlich auf, wie blind und
naiv die Wirtschaftswissenschaft macht. Anstatt dies als bedauer-
lichen Betriebsunfall oder unerklärlichen Zufall abzutun, sollten
wir uns eingehend mit den Ursachen beschäftigen. Dafür müssen
wir auch in die Geschichte dieser Wissenschaft blicken.
Von Silja Graupe
AUTORIN + KONTAKT
Silja Graupe ist Professorin für
Ökonomie und Philosophie an der Cusanus
Hochschule i.
G. in Bernkastel-Kues und
Mitglied des Präsidiums dieser Hochschule.
Weitere Informationen unter www.silja-graupe.de.
11ÖkologischesWirtschaften . ()
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Von Beginn an haben die modernen Wirtschaftswissenschaften gesellschaftliche Prozesse nicht nur beobachtet und beschrieben, sondern diese auch selbst katalysiert und beeinflusst. Da-mit haben sie einer Entwicklung den Weg gebahnt, die neben unbestrittenen Erfolgen zu ökologischen Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen geführt hat. Mehr denn je braucht es eine transformative Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und verbessern hilft.
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Von Beginn an haben die modernen Wirtschaftswissenschaften gesellschaftliche Prozesse nicht nur beobachtet und beschrie-ben, sondern diese auch selbst katalysiert und beeinflusst. Damit haben sie einer Entwicklung den Weg gebahnt, die neben unbestrittenen Erfolgen zu ökologischen Zerstörungen, sozia-len Verwerfungen und immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen geführt hat. Mehr denn je braucht es eine transforma-tive Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere auch die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und verbessern hilft.
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