Content uploaded by Ambros Uchtenhagen
Author content
All content in this area was uploaded by Ambros Uchtenhagen on Oct 05, 2020
Content may be subject to copyright.
Content uploaded by Ambros Uchtenhagen
Author content
All content in this area was uploaded by Ambros Uchtenhagen on Oct 05, 2020
Content may be subject to copyright.
1
Ambros Uchtenhagen
Beitrag für Sozialalmanach 2005 von Caritas Schweiz (II/6)
Einsamkeit und Gesundheit
Zwischenmenschliche Beziehungen und Gesundheit sind in vielfältiger Art miteinander
verbunden, und sie bedingen sich beide gegenseitig. Gesundheitliche Faktoren und Schicksale
wirken sich auf zwischenmenschliche Beziehungen ebenso aus wie die soziale Unterstützung
einen Einfluss auf das Krankheitsgeschehen nehmen kann. Eine Besonderheit bildet dabei das
Verhältnis von subjektiv erlebtem Gefühl der Einsamkeit einerseits und objektivem Mangel
an mitmenschlicher Nähe und sozialer Integration anderseits.
Es ist die Absicht dieses Beitrags, diesen unterschiedlichen Bezügen anhand einiger zentraler
Fragestellungen nachzugehen. Dabei sollen sowohl klinische Beobachtungen und
Erfahrungen zum Zuge kommen, wie auch Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen.
Zunächst geht es allerdings um ein paar begriffliche Klärungen.
Einsamkeit, soziale Vernetzung, soziale Integration
Einsamkeit ist eine vorwiegend subjektiv geprägte Befindlichkeit.1 Ein Mensch kann sich
durchaus auch bei bestehender familiärer, beruflicher, gesellschaftlicher Einbindung einsam
und unverstanden fühlen und darunter leiden. Die Gegenwart anderer, die Interaktionen mit
anderen, die Zugehörigkeit zu anderen können unter solchen Bedingungen eher eine Last als
eine Unterstützung sein und das Gefühl der inneren Einsamkeit verstärken. Wer unter solchen
Umständen nicht die Kraft hat, sich andere Beziehungen zu schaffen und aus den als
belastend erlebten Beziehungen auszubrechen, ist unter Umständen in seiner Gesundheit
gefährdet. Das Gefühl der Einsamkeit kann aber auch mit einem effektiven Mangel an
mitmenschlichen Beziehungen verknüpft sein, etwa nach dem Verlust wichtiger
Bezugspersonen oder bei einer aus Kontaktschwäche resultierenden Vereinsamung. Den
Gegensatz zu dieser Befindlichkeit der Einsamkeit bildet das ebenfalls subjektive Gefühl des
Aufgehobenseins und der Verlässlichkeit in der Beziehung zu anderen Menschen
Soziale Vernetzung betrifft die Gesamtheit der Beziehungen zu anderen Menschen, die nicht
nur ganz oberflächlicher Natur sind – Beziehungen zu Menschen, die mich etwas angehen, als
Angehörige, als Freunde, als Arbeitskollegen, als Partner in geschäftlichen oder Freizeit-
Aktivitäten etc. Mit dem Begriff der sozialen Vernetzung verbindet sich eine Vorstellung von
nicht nur kurzfristigen Beziehungen, die auch in kritischen Situationen Bestand und
unterstützenden Charakter haben und die in der Regel ein gewisse Gegenseitigkeit
voraussetzen. Soziale Vernetzung meint auch soziale Unterstützung und ist damit eine
wichtige Ressource für die Bewältigung von Lebens- und Alltagsproblemen.2 Den Gegensatz
zur sozialen Vernetzung bildet die soziale Isolierung. Sie kann, muss aber nicht mit dem
Gefühl der Einsamkeit verbunden sein.
Soziale Integration meint die gesellschaftliche Einbettung einer Person im Sinne der
Arbeitsintegration, der gesellschaftlichen Partizipation, des verantwortlichen Umgangs mit
sich selbst und anderen. Es hängt von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und
Normen ab, ob jemand als integriert gelten kann oder nicht. Soziale Vernetzung erleichtert die
soziale Integration und umgekehrt, aber die eine ist nicht eine Vorbedingung der anderen. Das
2
Gegenstück zur sozialen Integration ist die soziale Desintegration oder soziale Marginalität.
Sie kann mit dem Gefühl der Einsamkeit einhergehen, muss aber nicht.
Die Unterscheidung von Einsamkeit, sozialer Isolierung und sozialer Desintegration soll
helfen, die komplexen Bezüge zwischen Gesundheit und mitmenschlichen Beziehungen näher
anzugehen. Gleichzeitig ist im Auge zu behalten, dass es sich um drei Aspekte eines
gemeinsamen Phänomens handelt, das als Beziehungskonstellation im
zwischenmenschlichen Bereich verstanden werden kann.
Zunächst ist aber noch zu klären, was wir hier unter Gesundheit verstehen wollen.
Gesundheit, Krankheit
Die Zirkeldefinitionen (Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit, Krankheit ist die
Beeinträchtigung der Gesundheit) sind nicht hilfreich. Die Gesundheitsdefinition der
Weltgesundheitsorganisation WHO von 1946 (Gesundheit ist das vollständige körperliche,
psychische und soziale Wohlbefinden) ist eine wichtige Zielvorstellung, aber kein
operationalisierbares Konzept. Konkreter wurde das in einer späteren Erläuterung, wonach
Gesundheit das Ausmass bezeichnet, in welchem Bedürfnisse befriedigt, Ansprüche realisiert
und das Umfeld gestaltet werden können. Gesundheit erscheint als eine Ressource für die
Bewältigung des Alltags und umfasst soziale und personenbezogene Aspekte ebenso wie
körperliche.
Gesundheit ist entweder subjektiv („ich fühle mich wohl, leistungs- und genussfähig“) oder
aber objektiv („eine Person ist körperlich und psychisch funktionsfähig“) definiert. Subjektiv
bedeutet Gesundheit das Fehlen von Beeinträchtigungen, objektiv das Fehlen von
Behinderungen. Beide Aspekte können sich, müssen sich aber nicht decken. Dasselbe gilt für
den Krankheitsbegriff : subjektiv handelt es sich um Beeinträchtigungen, objektiv um
Behinderungen. Krankheitsgefühl gibt es ohne objektivierbare Krankheitszeichen und
umgekehrt.
In der gängigen Krankheitsdiagnostik der Weltgesundheitsorganisation stehen die
objektivierbaren Symptombilder im Vordergrund 3, und die von ihr publizierten weltweiten
Erhebungen zur Krankheitsbelastung (Burden of disease) 4 arbeiten mit einem dieser
Diagnostik angepassten Behinderungsbegriff. Quantifiziert wird die Belastung durch die
Anzahl der behinderungsgeprägten Lebensjahre (Disability-adjusted life years DALY’s).
In der Diagnostik und Therapie von Krankheitszuständen hat sich im Laufe des letzten
Jahrzehnts der Stellenwert der subjektiv definierten Lebensqualität erhöht. Veränderungen der
Lebensqualität werden als Parameter des Behandlungserfolgs gemessen. Damit ist eine
Korrektur des einseitig funktionalistisch geprägten Krankheitsverständnisses erreicht worden.
Die Krankheitsbelastung wird dementsprechend in qualitätsbestimmten Lebensjahren (Quality
adjusted life years QUALI’s) gemessen.5
Bei näherem Zusehen arbeitet aber bereits das Diagnostiksystem selber mit einer Mischung
von objektivierbaren und nicht objektivierbaren Symptomen. Den beobachtbaren körperlichen
und Verhaltensänderungen stehen subjektive Empfindungen und Erlebnisweisen gegenüber,
auf die nur aufgrund von Äusserungen eines Patienten geschlossen werden kann.
Schmerzsyndrome zum Beispiel sind nur begrenzt objektivierbar, psychische Erkrankungen
wie Depressionen, schizophrene Psychosen und Sucht zeichnen sich durch eine Mischung von
Verhaltensauffälligkeiten und subjektivem Erleben aus. Hier öffnet sich ein breites Feld für
3
Interaktionen zwischen subjektiven Anteilen an Krankheitszuständen einerseits und
Beziehungskonstellationen im zwischenmenschlichen Bereich anderseits.
Einsamkeit als Gefahr für die Gesundheit ?
Gefährdet Einsamkeit die körperliche und psychische Gesundheit ? In dieser abstrakten Form
ist die Frage nicht sinnvoll zu beantworten. Vielmehr wird die Antwort in unterschiedlichen
Zusammenhängen auch unterschiedlich ausfallen.
Zunächst ist die Variante zu beachten, die sich als „einsam, aber stark“ kennzeichnen lässt.
Einsamkeit hat hier nicht die negative Konnotation von mangelnder Verbundenheit oder gar
Verlassenheit. Vielmehr bedeutet sie Unabhängigkeit von einengenden Bindungen und
Rücksichtnahmen. Heldenschicksale ebenso wie Verbrecherschicksale können davon geprägt
sein. Die Zugehörigkeit zu anderen kann ersetzt sein durch die Bindung an eine Idee, ein Ziel,
einen Glauben, aber auch ein Bewusstsein von „allein gegen alle“ kann als eine Quelle von
Kraft erlebt werden. Hier kann eine Gefährdung der Gesundheit in erster Linie durch eine
Missachtung von Risiken gegeben sein. Auch das bewusste Aufsuchen risikoreicher
Situationen ist ein häufiges Merkmal dieser Variante, und jedes erfolgreich überstandene
Risiko wirkt als Verstärker dieser Haltung. Submanische Persönlichkeiten, Menschen mit
manischer Selbstüberschätzung und dem Gefühl der Unverwundbarkeit sind Beispiele für
diese besondere Situation. Sie ist aber auch ohne psychopathologischen Hintergrund
anzutreffen, und die Geschichte kennt Persönlichkeiten von herausragender Statur, deren
Leistungen als Feldherren, politische oder religiöse Führer je nach ethischen Masstäben
anders beurteilt werden, aber in der Regel vom heroischen Gefühl einsamer Grösse begleitet
waren. 6
Ganz anders die Variante von „einsam und verwundbar“. Hier ist das Gefühl von Einsamkeit
überwiegend negativ geprägt durch einen Mangel an Geborgenheit und Zugehörigkeit. Es gibt
kein Vertrauen darauf, dass Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle, in kritischen
Momenten mich verstehen und auch zu mir stehen werden. Beispiele sind Menschen mit
„erlernter Hilflosigkeit“, deren Einsamkeitsgefühl das Ergebnis einer von Misserfolgen oder
langwirkenden Traumatisierungen geprägten Lebensgeschichte ist. „Mit mir kann man
ungestraft alles machen“ ist eine typische Aussage solcher Menschen. Das Krankheitsrisiko
besteht hier in einer Überschätzung und Vorwegnahme von möglichen Beeinträchtigungen, da
nicht auf positive Selbsterfahrungen und Unterstützungserfahrungen zurückgegriffen werden
kann. Das Gefühl etwa, Schmerzen hilflos ausgeliefert zu sein, noch bevor die Schmerzen
akut werden oder sich chronifizieren, kann auch bei guter Analgesie bestehen bleiben und die
Mobilisierung autoprotektiver Kräfte behindern. Längerdauernde Arbeitslosigkeit, niedriger
Sozialstatus, psychische und soziale Schwierigkeiten, geringes Geborgenheitsgefühl,
belastende Kindheitserfahrungen sind einige der Faktoren, die eine solche Entwicklung
begünstigen können. 7 So kann es zu langdauernden Leidenszuständen kommen, die
medizinisch kaum, durch Zuwendung und Abbau der Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühle
aber eher zu lindern sind.
Eine besondere Variante ist das „einsam in feindlichem Umfeld“. Hier können sich Gefühle
der Bedrohung mit einer Mobilisierung von Abwehr und Widerstand verbinden. Beispiele
sind Menschen, die von der Umwelt weder Verständnis noch Anteilnahme, sondern
Missachtung und Benachteiligung, wenn nicht gar Verfolgung und Bedrohung erwarten und
sich dementsprechend ablehnend bis feindselig verhalten. Damit wird das Umfeld so
konstelliert, dass es schliesslich dem subjektiven Bild entspricht. Menschen mit einer
chronischen Beeinträchtigungs- und Vorwurfshaltung oder mit paranoiden Verfolgungsideen
4
isolieren sich damit zusätzlich zum Gefühl der Einsamkeit. Hingegen ist ein erhöhtes
zusätzliches Krankheitsrisiko aus einer solchen Konstellation heraus nicht gegeben.
Einsamkeit infolge Krankheit ?
Ob Menschen infolge von Krankheit vereinsamen, ist in dieser allgemeinen Form auch nicht
sinnvoll zu beantworten. Krankheit, insbesondere akute Erkrankungen können sehr viel an
Mitgefühl und Zuwendung anderer auslösen. Der Kranke hat nicht nur ein Recht auf
Schonung, einen Sonderstatus sowohl rechtlich wie faktisch, sondern darf in vielen Fällen mit
Verständnis, Mitleid und einspringender Fürsorge rechnen. Das kann sich allerdings ändern,
wenn die Krankheit zu einer erheblichen Belastung des Umfeldes führt oder durch
Chronifizierung Anlass gibt zu strukturellen und funktionellen Umstellungen im familiären
oder beruflichen Umfeld.
Auf jeden Fall kommen im Erkrankungsfall persönliche Einstellungen und Verhaltensweisen
des Kranken zum Tragen, welche für das Zustandekommen einer zunehmenden
Vereinsamung ebenso bedeutungsvoll sind wie die Krankheit selbst. Wer sich seines
Krankheitszustandes schämt und ihn zu verbergen sucht, wer sich in seinem Selbstbild durch
die Erkrankung erschüttert sieht und beginnt, sich voller Selbstzweifel zurückzuziehen, wer
an einem sozial stigmatisierten Leiden erkrankt und der Ablehnung durch Rückzug
zuvorkommen will, der riskiert sowohl einen Verlust an sozialer Vernetzung wie auch das
Abgleiten in innere Vereinsamung. Durch die Abwehr von Teilnahme, die als erniedrigend
empfunden wird, durch die Erzeugung von Schuldgefühlen bei denen, deren Zuwendung ihm
als unpassend oder ungenügend erscheint, vermag der Kranke andere erfolgreich
zurückzustossen und sich zu entfremden.
Stellenwert der sozialen Vernetzung für die Gesundheit
Soziale Vernetzung und soziale Unterstützung sind bedeutsame Faktoren zur Erhaltung von
Gesundheit und zur Überwindung von Krankheit. Ungezählte Studien sind zu dieser
Fragestellung durchgeführt und publiziert worden. 8 Krisensituationen aller Art enthalten
Risiken für eine Störung körperlicher Vorgänge und des psychischen Gleichgewichts. Das gilt
für Lebensphasen wie Adoleszenz, „Mitte des Lebens“ und Übertritt vom aktiven in das (im
Sinne einer Erwerbstätigkeit) inaktive Lebensalter. Alle diese Phasen haben ein erhöhtes
Krankheitsrisiko, insbesondere im Bereich psychischer Störungen und Suchterkrankungen.
Insbesondere die Adoleszenz und Postadoleszenz mit ihren vielfachen Anforderungen
(zunehmende Orientierung an Gleichaltrigen und selbstgewählten Vorbildern, Umgang mit
körperlichen Veränderungen und neuen Bedürfnissen wie Sexualität, Austesten der eigenen
Stärken und Schwächen etc.) ist die Lebensphase, in welcher nicht nur Pubertätskrisen,
sondern auch Depressionen, Psychosen, Suchterkrankungen erstmals und gehäuft auftreten.
Dazu kommen erhöhte Unfallrisiken sowie - unter prekären äusseren Verhältnissen - weitere
Krankheitsrisiken. 9
Einschneidende Ereignisse und Veränderungen im Umfeld (Life events) können ebenfalls mit
Erschütterungen bisheriger Sicherheiten und Verhaltensweisen einhergehen und
Umstellungen erforderlich machen, die ein erhöhtes Erkrankungsrisiko bergen. Die Life-
event-Forschung hält dafür ein reiches Material an empirisch gesicherten Zusammenhängen
bereit. 10
Wo liegt nun die Bedeutung der sozialen Vernetzung und Unterstützung ? Auf eine lapidare
Formel gebracht : wo die eigene Kraft, mit neuen Herausforderungen umzugehen und fertig
5
zu werden, nicht ausreicht, kann das Unterstützungspotential im sozialen Netz einspringen,
eigene Erfahrungen ins Spiel bringen, Mut zum Durchhalten machen, Belastungen aus dem
Weg räumen, Wege zur Bewältigung finden helfen. Der emotionale und praktische soziale
Rückhalt, den das soziale Netz bietet, ergänzt und unterstützt die eigenen Kräfte in der
Bewältigung von Krisensituationen.
Welche positiven Wirkungen auf die Gesundheit sind auszumachen ? Dazu gibt es eine grosse
Zahl von Forschungsarbeiten. Meyer unterscheidet drei Arten von Wirkungen :
- Stärkung des Selbstwertgefühls und der emotionalen Stabilität. Diese verstärken das
körpereigene Immunsystem und damit die Krankheitsanfälligkeit. Ausserdem können
sie ein günstiges Gesundheitsverhalten unterstützen.
- Die pathogenen Folgen von sozialem Stress werden reduziert (Stress-Puffer-
Hypothese). Mit belastenden Situationen kann besser umgegangen werden.
- Die Belastungen selber können vermindert und die aktive Beeinflussung belastender
Lebensbedingungen verbessert werden. 11
Meyer hat dieses Modell in der Schweiz empirisch überprüft. Danach korrelieren belastende
Lebensereignisse deutlich mit psychischen und körperlichen Beschwerden. Bei stark
belastenden Ereignissen (z.B. Partnerverlust, Arbeitsplatzverlust, schwere Krise in der
Familie etc.) erleiden gut unterstützte Personen signifikant weniger psychische Störungen als
schlecht unterstützte. Hingegen zeigen Personen mit Alltagsstress ein erhöhtes Mass an
psychischen Störungen, unabhängig vom Ausmass der sozialen Unterstützung. 12
Eine positive Auswirkung der sozialen Unterstützung konnte Meyer aber nur bei sozial gut
integrierten Personen feststellen. Bei alleinerziehenden Müttern mit Defiziten in der
Ausbildungs-, Erwerbs- und Wohnsituation, oder bei mangelhaft integrierten Italienern
konnte soziale Unterstützung solche Defizite nicht wett machen und deren nachteilige
Wirkungen auf Gesundheitsindikatoren nicht ausgleichen. 13
Andere Beobachtungen belegen eine positive Wirkung von sozialer Vernetzung und
Unterstützung auf den Krankheitsverlauf. So gibt es einen Zusammenhang zwischen der
Besuchsfrequenz psychisch Kranker während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen
Klinik einerseits, dem Risiko einer Chronifizierung mit langdauerndem Klinikaufenthalt
anderseits. Das Rückfallsrisiko bei Suchterkrankungen nach einer Behandlung sinkt mit dem
Ausmass sozialer Unterstützung. Verheiratete Patienten haben eine bessere Prognose als
alleinstehende. 14
Nicht nur die Krankheitsanfälligkeit, auch die Überlebenschancen zeigen einen
Zusammenhang mit dem Ausmass sozialer Unterstützung. Eine kalifornische
Längsschnittstudie an 7'000 Personen zeigte schon vor Jahrzehnten, dass die Zahl und die
subjektive Bedeutung enger Beziehungen, vor allem der Rückhalt durch Partnerschaft und
Freundschaften sowie die aktive Beteiligung am Vereinsleben die Sterblichkeit um ein
Mehrfaches verringert. 15
Soziale Randständigkeit und Gesundheit
Die Zusammenhänge zwischen sozialer Integration und Gesundheitsgefährdung sind weniger
aus personenbezogenen Untersuchungen denn aus epidemiologischen Vergleichen
verschiedener Bevölkerungsgruppen bekannt.
6
Eine hohe soziale Ungleichheit in der Bevölkerung ist verbunden mit mehr Morbidität und
Mortalität, aufgrund ungesunder Lebensbedingungen, unzureichendem Gesundheitsverhalten
und schlechterem Zugang zu therapeutischen Leistungen in den benachteiligten Schichten. 16
Während die Lebensbedingungen und die Versorgungsqualität in den entwickelten Ländern
sich deutlich verbessert haben und im gleichen Zug die Lebenserwartung und der allgemeine
Gesundheitszustand gestiegen sind, bestehen heute in Entwicklungsländern noch erhebliche
Defizite. Nach den Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation handelt es sich dabei um
die Faktoren Armut, Mangelernährung, forcierte Urbanisierung mit gesundheitsgefährdenden
Lebensumständen, insbesondere aber um den Verlust der herkömmlichen sozialen Netze,
welche in vielfacher Weise negativ auf das Gesundheitsverhalten und die medizinische
Versorgung der schlecht integrierten Bevölkerungsschichten einwirken. Besorgniserregend
sind in diesem Kontext vor allem die Zunahme und die Auswirkungen depressiver Störungen,
von hochriskantem Suchtmittelkonsum und von Sucht- und Suchtfolge-Erkrankungen. 17
Auch in der Schweiz haben psychiatrische Erkrankungen zugenommen, insbesondere bei den
affektiven und Angststörungen, aber auch bei Suchterkrankungen. Im gleichen Zeitraum sind
die Gesundheitskosten insgesamt sowie die Fürsorgeleistungen markant angestiegen. Ein
Zusammenhang mit einer Zunahme sozialer Stressoren, aber auch einer Abnahme informeller
sozialer Unterstützung kann vermutet werden. Evident scheint eine Zunahme sozialer
Ungleichheit mit einer Marginalisierung von früher besser integrierten Bevölkerungsanteilen
(„neue Armut“, Langzeitarbeitslose).
Generell steigt mit dem Ausmass psychischer Beschwerden das Gefühl, den Problemen
ausgeliefert zu sein, mit ihnen nicht fertig zu werden, keine Entscheidungen fällen zu können
und keine Kontrolle mehr darüber zu haben was geschieht. Dies hat die Schweizerische
Gesundheitsbefragung von 1997 ergeben. Junge Menschen und Frauen sind besonders davon
betroffen.18 Nahe verwandt ist das Gefühl, „abgekoppelt“ zu sein und den Kontakt mit
möglicher Unterstützung verloren zu haben. Tatsächlich wird Hilfe auch nur von einer
Minderheit derer in Anspruch genommen, die unter psychischen Störungen leiden,
insbesondere bei depressiven und Angststörungen. 19
Eine in der Schweiz stark vertretene Gruppe ist die Gesamtheit der in einem anderen
Kulturkreis Aufgewachsenen, die als Gastarbeiter, Flüchtlinge, Asylbewerber ins Land
gelangen, und die in sehr unterschiedlichem, meist unzureichendem Mass integriert werden
können. Auswirkungen des Migrationsstatus auf die Gesundheit dieser Bevölkerungskreise
sind wiederholt untersucht und dargestellt worden. Danach sind es nicht nur die oft
belastenden Lebensereignisse, welche die Migration auslösten, sondern auch eine mangelhafte
Information und Vertrautheit mit unserem Gesundheitssystem, sprachliche und kulturelle
Barrieren sowie Zugangsbehinderungen zu medizinischen Leistungen, welche im
Krankheitsfall zu einer Verzögerung der Hilfeleistungen und zu einem erhöhten
Chronifizierungsrisiko führen. 20 In der Bundesrepublik Deutschland wird eine höhere
Krankheitsbelastung bei verminderter Inanspruchnahme des medizinischen Systems nicht nur
bei Migranten aus anderen Ländern gesehen, sondern auch bei der inerdeutschen Migration
aus den neuen in die alten Bundesländer (sowie bei der kleinen Gruppe derer, die aus West
nach Ost zogen) eine höhere psychische Belastung mit Depressivität festgestellt, wobei
Frauen stärker betroffen sind als Männer. 21
7
Förderung der Vernetzung und Integration als präventive und therapeutische Strategie
gegen Vereinsamung
Aus den bisherigen Ausführungen gibt es wichtige Hinweise auf den vorbeugenden
Stellenwert der sozialen Vernetzung einerseits, der sozialen Integration anderseits. Nicht nur
die primärpräventive Funktion ist hier von Belang. Die sekundärpräventive und
rückfallsverhindernde Wirkung ist von ebensogrossem Gewicht.
Primärprävention : strukturelle Massnahmen, welche die Risiken für eine gesundheitliche
Gefährdung senken, sind in erster Linie von Bedeutung. Im Sinne der Analyse der
Weltgesundheitsorganisation lassen sich unterscheiden :
- Massnahmen gegen Formen der Armut, die eine Bewältigung der Alltagsaufgaben
nicht mehr zulassen und Menschen ungeschützt den schädlichen Einflüssen von
Ausbeutung, Gewalt und vergifteter Umwelt aussetzen
- Massnahmen gegen Formen der Unwissenheit, die eine Vermeidung von
unzweckmässigem Gesundheitsverhalten, eine Artikulierung von Bedürfnissen und
eine Wahrnehmung und Nutzung von Hilfemöglichkeiten erschweren oder
ausschliessen
- Barrieren gegen Formen der sozialen Ungleichheit, welche eine Durchsetzung der
genannten Massnahmen illusorisch machen.
Personenbezogene Massnahmen, wie Förderung der Selbstachtung, der sozialen Kompetenz,
der Konfliktfähigkeit, der Kontaktfähigkeit werden ebenfalls eingesetzt, mit
unterschiedlichem Erfolg; sie vermögen die strukturellen Massnahmen zu ergänzen, aber in
keiner Weise zu ersetzen.
Sekundärprävention : soziale Vernetzung und Unterstützung dient auch der Früherkennung
und der rechtzeitigen Intervention bei gesundheitlichen Krisen und Krankheitszuständen, die
ohne eine solche Unterstützung eher dem Risiko einer Chronifizierung ausgesetzt sind.
Menschen, die vor sich und anderen nicht gerne als krank gelten, Menschen mit einer Scheu
Ansprüche auf medizinische Leistungen geltend zu machen, Menschen mit grosser Angst vor
Eingriffen sind oftmals eher geneigt, solche Hemmnisse zu überwinden, wenn sie aus ihrem
Umkreis über Information, Ermutigung, Erfahrungen anderer die nötige Unterstützung
erhalten. Der geringe Anteil derer, die insbesondere an psychischen Störungen leiden und
dafür auch Hilfe in Anspruch nehmen, spricht für die Notwendigkeit entsprechender
Massnahmen. Dazu gehören :
- Öffentlichkeitsarbeit : bestehende Hilfsangebote sowohl im medizinischen wie im
sozialen Bereich müssen transparent gemacht werden
- Realistische Information darüber, in welchen Situationen welche Hilfen
erfolgversprechend sind, erleichtert eine sachgerechte Nutzung der Angebote
- Unterstützung von Selbsthilfe-Initiativen und –Organisationen
- Schulung weiter Fachkreise im medizinischen und sozialen Bereich bezüglich
Früherkennung und Frühinterventionen bei Krisen und selbstschädigendem Verhalten.
Zur Sekundärprävention gehören Massnahmen, welche gegen die drohende Verschlechterung
desintegrierter Menschen gerichtet sind. Strukturelle Massnahmen im Bereich der
Berufsausbildung, der Beschäftigung, der materiellen Existenzsicherung gelten als die
wirksamsten Massnahmen, aber auch unmittelbare Hilfen werden geltend gemacht.
8
Meyer nennt neue Formen der sozialen Solidarität, wie Selbst-, Freiwilligen- und Laienhilfe,
sowie professionelle Hilfe durch Non-Profit-Organisationen. Die informelle Unterstützung in
Partnerschaft, Familie und anderen Solidargemeinschaften leisten den grössten Teil zur
Befriedigung des Hilfebedarfs. Freiwilliges Engagement erhält einen neuen Stellenwert durch
die wachsende Zahl gesunder, aber nicht berufstätiger Menschen (aktives Alter, Arbeitslose,
Fraueninitiativen wie die US-amerikanischen „Pink Ladies“). Wohngemeinschaften und
Nachbarschaftshilfen sind weitere Stichworte. Diese informellen Unterstützungsnetze können
einspringende Hilfe bieten für Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft ein persönliches
Unterstützungsnetz zu schaffen vermögen. 22 Wird ein solches Netz aber institutionalisiert,
wie im Fall der als Forschungsprojekt eingerichteten Nachbarschaftshilfe in Zürich-Altstetten
geschehen, kann der Effekt einer Schwächung von spontaner Hilfe eintreten. 23 Ausserdem ist
zu vermuten, dass spontane Hilfeleistungen einem Gefühl der Vereinsamung mindestens
ebenso gut entgegenwirken wie organisierte Hilfe.
Rückfallsprophylaxe : es entspricht einer vielfachen Erfahrung, wonach insbesondere
Menschen mit psychischen und Verhaltensstörungen auch nach erfolgreicher Therapie
rückfallsgefährdet sind, und wonach diese Gefährdung bei sozial isolierten und randständigen
Personen besonders hoch ist. Ähnliches gilt für die Gefahr einer Invalidisierung bei
chronischen oder rezidivierenden somatischen Erkrankungen.
Die Therapiepläne haben diesen Erfahrungen Rechnung zu tragen. Der Erfolg einer
Behandlung zeigt sich zunächst unter den besonderen Umständen des Patientenstatus, aber die
eigentliche Bewährung kann sich erst zeigen, wenn der Patient sich in seiner angestammten
(oder neu aufgebauten) Lebenssituation mit all ihren Anforderungen und potentiellen
Belastungen befindet und sich seine Fähigkeit, damit umzugehen, erweisen muss.
Eine nachhaltig erfolgreiche Behandlung schliesst immer dann, wenn Defizite der sozialen
Vernetzung und Integration vorliegen, eine rehabilitative Phase der beruflichen und sozialen
Wiedereingliederung ein. Das gilt für den Übertritt aus einem institutionellen Schonmilieu
ebenso wie für die Entlassung aus dem Strafvollzug. Die Loslösung aus einem pathogen
wirkenden Milieu ist oft einfacher als der Aufbau neuer, unterstützender Beziehungen, sodass
behandelte Personen wie z.B. Suchtkranke nach der Therapie einsamer sind als vorher. Was
es hier braucht, sind aktive Hilfestellungen zum Aufbau eines neuen Netzes, was bei
beruflicher Rehabilitation am besten gelingt, aber auch im Freizeitbereich erfolgreich sein
kann. Solche Bemühungen sind auch am ehesten geeignet, den subjektiven Eindruck der
„Abkoppelung“ und der Vereinsamung zu vermindern.
Anmerkungen
1 Vgl. Kap. 3 Psychologie der Einsamkeit
2 Angermeyer & Klusmann 1989
3 Weltgesundheitsorganisation 1992
4 Weltbank 1993, Weltgesundheitsorganisation 2002
5 Lehmann et al 1998, Weltgesundheitsorganisation 2001
6 Schmidbauer 1987.
7 Aeschlimann et al (in Vorbereitung)
8 Cohen & Syme 1985, Meyer & Suter 1993, Thoits 1995
9 Weltgesundheitsorganisation 1998
10 Dohrenwend 1975, Freeman 1984
9
11 Meyer et al 1997
12 Meyer et al 1997
13 Meyer et al 1997
14 Übersicht bei Uchtenhagen 2000
15 Berkman & Syme 1979
16 Helmert et al 2000
17 Weltgesundheitsorganisation 2001, Uchtenhagen 2004
18 Bundesamt für Statistik 2001
19 Adjacic-Gross & Graf 2003
20 Domenig 2001, Weiss 2003
21 Wittig et al 2004, Berth et al 2004, Grulke et al 2004
22 Meyer 1997
23 Meyer & Suter 1992
Literatur
Adjacic-Gross Vladeta, Graf Martin :
Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie. Arbeitsdokument 2 des
Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Neuenburg 2003
Aeschlimann André, Buettner Ulrich W., Desmeules Jacques et al (in Vorbereitung):
Guideline der Opioidtherapie chronischer Schmerzen.
Angermeyer Matthias, Klusmann Dieter :
Soziales Netzwerk. Ein neues Konzept für die Psychiatrie. Springer Berlin 1989
Berkman LF, Syme Leonhard :
Social networks, host resistance and mortality: a nine-year follow-up study of Alameda
County residents. American Journal of Epidemiology 109 (1979) :186-204
Berth Hendrik, Förster Peter, Brähler Elmar :
Psychosoziale Folgen einer Migration aus den neuen in die alten Bundesländer. Ergebnisse
einer Längsschnittstudie. Psychosozial 27 (2004) : 81-95
Bundesamt für Statistik :
Schweizerische Gesundheitsbefragung 1997. BfS Neuenburg 2001. Auswertungen durch
Gognalons-Nicolet Maryvonne et al : Psychische Störungen in der Schweizer
Wohnbevölkerung, ebenda.
Cohen Sheldon, Syme S. Leonhard (Eds.):
Social support and health. Academic Press New York 1985
Dohrenwend Bruce D :
Sociocultural and sociopsychological factors in the genesis of mental disorders. Journal of
Health and Social Behavior 16 (1975):365-393
10
Domenig Dagmar :
Migration, Drogen, transkulturelle Kompetenz. Huber Bern 2001
Freeman Hugh L (Ed.) :
Mental Health and the environment. Churchill Livingston London 1984
Grulke Norbert, Bailer Harald, Albani Cornelia, Blaser Gerd, Schmutzer Gabriele, Geyer
Michael, Brähler Elmar :
Migration in die Depression ? Innerdeutsche Migration und psychische Befindlichkeit.
Psychosozial 27 (2004) 97-106
Helmert Uwe, Bammann Karin, Voges Wolfgang, Müller Rainer :
Zum Stand der Forschung: soziale Ungleichheit und Gesundheit. In: Helmert Uwe, Bammann
Karin, Voges Wolfgang, Müller Rainer (Hrsg.): Müssen Arme früher sterben ? Soziale
Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland. Juventa Weinheim 2000
Meyer Peter C :
Solidarität oder Therapie ? Die Bedeutung der sozialen Integration für Gesundheit und
Krankheit. Antrittsvorlesung an der Universität Zürich am 9.6.1997
Meyer Peter C, Suter Christian :
Auswirkungen der Organisierung zwischenmenschlicher Hilfe auf
informelle Hilfe. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 18 (1992):413-437
Meyer Peter C, Suter Christian :
Soziale Netze und Unterstützung. In Weiss Walter (Hrsg.): Gesundheit in der Schweiz.
Seismo Zürich 1993, 194-209
Meyer Peter C, Budowski Monica, Decurtins Lucio, Niklowitz Matthias, Suter Christian :
Soziale Unterstützung und Gesundheit in der Stadt. Seismo Zürich 1997
Schmidbauer, Wolfgang :
Helden und Superhelden. In: Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.): Helden. Psychosozial 10 (1987)
:85-95
Thoits Peggy :
Stress, Coping and Social Support Processes: Where are we ? What next ? Journal of Health
and Social Behavior Extra Issue 1995, 53-79
Uchtenhagen Ambros :
Rehabilitative Massnahmen. Auswertung und Resultate therapeutischer Interventionen. In:
Uchtenhagen Ambros, Zieglgänsberger Walter (Hrsg.): Suchtmedizin. Konzepte, Strategien
und therapeutisches Management. Urban & Fischer München 2000, 371-376, 423-433
Uchtenhagen Ambros :
Substance Abuse in developing countries. Editorial, Bulletin of the World Health
Organisation (in print 2004)
Weiss Regula :
Macht Migration krank ? Eine transdisziplinäre Analyse der Gesundheit von Migrantinnen
und Migranten. Seismo Zürich 2003
11
Weltbank :
World development report 1993. Investing in health. New York, Oxford University Press for
the World Bank 1993
Weltgesundheitsorganisation :
International Classification of Diseases. Mental and Behavioral Disorders. 10th edition. WHO
Genf 1992
Weltgesundheitsorganisation :
The World Health Report 1998. Life in the 21st century, a vision for all. WHO Genf 1998
Weltgesundheitsorganisation :
The World Health Report. Mental Health : new understanding, new hope. WHO Genf 2001
Weltgesundheitsorganisation :
The World Health Report 2002. Reducing risks, promoting healthy life. WHO Genf 2002
Wittig Ulla, Merbach Martin, Brähler Elmar, Siefen Rainer Georg :
Migration, Gesundheit und medizinisches System. Psychosozial 27 (2004) 71-79