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Heiner Böttger & Gabriele Gien (Hrsg.)
Heiner Böttger & Gaby Gien (Hrsg.)
Die Tagung TMB im Mai 2014 bei essaloniki in Griechenland zu neu-
rowissenschalichen Aspekten und Erkenntnissen des Sprachenlernens
und deren didaktischer Umsetzungsmöglichkeiten im Unterricht war
ohne Zweifel eine Konferenz
to remember
.
Zwar sind Fortschritte vor allem im frühen Fremdsprachenlernen in den
letzten Jahren immer deutlicher erkennbar gewesen, zwar gibt es in vie-
len Bundesländern Deutschlands, aber auch in anderen europäischen
Ländern bereits erfolgreiche Ansätze der Umsetzung - dennoch bleibt
das ema heute aktueller denn je.
Das Bedürfnis nach weiteren, eektiveren und fortschrittlicheren didak-
tischen Maßnahmen resultiert insbesondere aus neueren Erkenntnisse
der Hirnforschung in Bezug auf das Sprachen- und Zweitsprachenlernen
bei Kindern.
Ziel der Konferenz war es, einige neue Aspekte aus der Hirnforschung
vorzustellen und diese im Hinblick auf mögliche didaktisch-methodische
Umsetzungen zu diskutieren.
Die Ergebnisse der dreitägigen Konferenz unter südlicher Sonne haben
die Erwartungen der Veranstalter, einen Schritt voran zu kommen im
Bemühen um eine stetige Verbesserung des Sprachenlernens, deutlich
erfüllt.
Der vorliegende Konferenzband gibt einen Einblick in die Inhalte und die
Struktur von TMB 2014.
www.epubli.de
Zum neurodidaktischen Umgang mit Mehrsprachigkeit
Zum neurodidaktischen Umgang mit Mehrsprachigkeit
The Multilingual Brain
H. Böttger & G. Gien (Hrsg.) The Multilingual Brain
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Heiner Böttger & Gabriele Gien
The Multilingual Brain
Zum neurodidaktischen Umgang mit
Mehrsprachigkeit
2
EICHSTÄTTER SCHRIFTENREIHE ZUM
KONTINUUM DES LERNENS:
VOM VORPRIMAR- BIS ZUM
TERTIÄRBEREICH
Herausgegeben von Heiner Böttger & Bernd Nussinger
In dieser Reihe sind bislang erschienen und lieferbar:
Band 2: Maria Eisenmann: Differenzierung im Englischunterricht
Dokumentation zur Tagung am 12./13. März 2010 an der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2011.
Eichstaett Academic Press UG. Eichstätt
Band 3: Bernd Nussinger: Gemeinsam leben – getrennt lernen
Evaluation eines Modellversuchs zur partiellen Koedukation in den Fächern
Deutsch und Englisch der Sekundarstufe I (Realschule Bayern). 2011.
Eichstaett Academic Press UG. Eichstätt
Band 4: David Marsh & Oliver Meyer: Qualitiy Interfaces – Examining
Evidence & Exploring Solutions in CLIL. 2012
Eichstaett Academic Press UG. Eichstätt
Band 5: Rudolf Desch: Zum Umgang mit short stories in der gymnasialen
Oberstufe – Eine empirische Studie zur Didaktik und Methodik eines
schülerorientiertenLiteraturunterrichts im Fach Englisch. 2012
Eichstaett Academic Press UG. Eichstätt
Band 6: Tina Erhardt: Individuelle Förderung
Begriff, Modell und schulische Praxis. 2013
Eichstaett Academic Press UG. Eichstätt
Band 7: Bernd Nussinger: Portfolioarbeit aus Sicht von Grundschullehrern
Eine querschnittlich quantitative Studie mit Leitfadeninterview und
Leitfaden sowie Themenvorschläge für die Portfolioarbeit. 2013
Eichstaett Academic Press UG. Eichstaett
Band 8: Heiner Böttger: Between Languages. Festschrift für Dr. Marianne
Häuptle-Barcelo.
Eichstaett. Academic Press UG. 2014
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The Multilingual Brain
Zum neurodidaktischen Umgang mit
Mehrsprachigkeit
Heiner Böttger / Gabriele Gien (Hrsg.)
Band 9 der Eichstätter Schriftenreihe
Kontinuum des Lernens:
Vom Vorprimar- bis zum Tertiärbereich
4
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet abrufbar über
http://dnb.d-nb.de
Böttger, H./Gien, G. (Hrsg.): The Multilingual Brain.
Zum neurodidaktischen Umgang mit Mehrsprachigkeit
Band 9
Die Eichstätter Schriftenreihe zum Kontinuum des Lernens:
Vom Vorprimar- bis zum Tertiärbereich
erscheint im Verlag Eichstaett Academic Press.UG
Herausgeber: Heiner Böttger & Bernd Nussinger
www.ku-eichstaett.de/slf/anglistik/didengl/
© 2014 Eichstaett Academic Press UG
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de in Zusammenarbeit mit der EAP
ISBN 978-3-7375-1692-1
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verbreitung in elektronischen Systemen.
Druck und Bindung: Verlag Epubli
Printed in Germany
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Inhalt
Vorwort ............................................................................................... 8
Carl H. Hahn
Der Kindergarten – Fundament unseres Bildungssystems ................. 11
Thorsten Piske
Empirische Befunde zur Rolle des Alters beim
Zweitspracherwerb ............................................................................. 20
Lena Heine
Unterrichtsbezogene Fremdsprachenerwerbstheorien und
neurowissenschaftliche Erkenntnis .................................................... 33
Julia Festman
Individual differences in control over languages and
processing – and a link to neurodidactics ........................................... 55
Anton Prochazka
Mehrsprachigkeit als Chance − Empirische Erfahrungen zu
Mehrsprachigkeit in Österreich .......................................................... 63
Romy Höltzer
Fremdsprachenlernen an Wiener Volksschulen ................................. 95
Ansgar Batzner
Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen
mit Migrationsgeschichte
−
Spracherwerb in Übergangsklassen
in Bayern .......................................................................................... 101
6
Michaela Sambanis
Bewegtes Lernen – unterrichtliches Vorgehen, Effekte,
Ursachen ........................................................................................... 118
Heiner Böttger
Genderdifferenzierung im Fremdsprachenunterricht
Geschlechtsspezifische funktionale Unterschiede in der
neuronalen Organisation und didaktische Konsequenzen ................ 133
Monika Margarethe Raml
Vielfalt belebt Talent: Mehrsprachigkeit als Chance vs.
Mehrsprachigkeit als Makel ............................................................. 155
Franz Schimek
Sprachen für Europa − Ein Sprachlernkonzept für den
Unterricht in einer zweiten Sprache im Primarbereich der
Europäischen Schulen ...................................................................... 171
Georgios Ypsilandis
A preliminary study on supportive feedback strategies in
language education ........................................................................... 187
Rita Franceschini
Neurobiologie der Mehrsprachigkeit und didaktische
Umsetzungen: ein Spagat ................................................................. 208
Ausgewählte Workshop-Ergebnisse ............................................. 221
Die „>10“ Gebote der Mehrsprachigkeit ......................................... 223
Vielfalt belebt Talent ........................................................................ 225
7
Ausgewählte Interviews ................................................................. 226
Interview mit Prof. Dr. Thorsten Piske ............................................ 228
Interview mit Jun. Prof. Dr. Lena Heine .......................................... 237
Interview mit Prof. Mag. Anton Prochazka...................................... 243
Interview mit Prof. Dr. Michaela Sambanis ..................................... 249
Interview with Prof. Dr. Georgios Ypsilandis .................................. 257
Interview mit Prof. Dr. Rita Franceschini ........................................ 266
8
Vorwort
Berge, griechische Gastfreundschaft, köstliches Essen und
Entspannung am Meer – das war The Multilingual Brain 2014
„TMB 2014“ zu neurowissenschaftlichen Aspekten und Erkenntnissen
des Sprachenlernens und deren didaktischer Umsetzungs-
möglichkeiten im Unterricht war ohne Zweifel eine Konferenz to
remember.
Fortschritte im frühen Fremdsprachenlernen sind in den letzten Jahren
immer deutlicher erkennbar gewesen. Das Thema ist heute aktueller
denn je und es gibt in vielen Bundesländern Deutschlands, aber auch
in anderen europäischen Ländern bereits erfolgreiche Ansätze der
Umsetzung. Dennoch war das Bedürfnis nach weiteren, noch
effektiveren und fortschrittlicheren didaktischen Maßnahmen evident.
Besonders neuere Erkenntnisse der Hirnforschung in Bezug auf das
Sprachen- und Zweitsprachenlernen bei Kindern gaben Anlass zu
einem weiteren Austausch von Experten.
Ziel der Konferenz war es, neue Aspekte aus der Hirnforschung
vorzustellen und diese im Hinblick auf didaktisch-methodische
Umsetzungen zu diskutieren. Der großartige Erfolg sowie die
Ergebnisse der dreitägigen Konferenz haben viele Erwartungen erfüllt
und sogar übertroffen.
Das Besondere daran war jedoch nicht allein die Aktualität und
Brisanz des Themas. TMB 2014 war in vielerlei Hinsicht eine
besondere Konferenz und deshalb auch so erfolgreich.
Ein Aspekt war die Diversität der Teilnehmer. An den Tagungsort
selbst wurden Experten aus den verschiedensten Bereichen geladen,
u.a. aus der Sprachforschung, der Hirnforschung, dem Bereich der
Schulpraxis, der Pädagogik, aus der universitären und schulischen
Lehre und sogar aus der Wirtschaft. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Carl C.
Hahn, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der VW- und Audi-
Konzerne und ein Avantgarde für das frühe Lernen von
Fremdsprachen bei Kindern, folgte ebenfalls der Einladung und
überzeugte die TeilnehmerInnen in seinem Beitrag von der
Wichtigkeit der Thematik und dessen Brisanz in der Bildung.
Aber nicht nur die 20 Teilnehmer vor Ort trugen zum besonderen
Erfolg der Konferenz bei. Erstmalig wurden auch Studierende sowie
Kolleginnen und Kollegen weltweit eingeladen, der Vorträge per
Webinar beizuwohnen und sich im Online-Chat an den
Diskussionsbeiträgen zu beteiligen. Somit wurde eine Brücke
geschlagen zwischen Experten aus der Forschung, Lehrenden aus
Theorie und direkter Praxis sowie Studierenden, die noch am Anfang
stehen und Ansätze didaktischer Umsetzungen in die Praxis
9
mitnehmen werden. In den Diskussionen, die sich an jeden Vortrag
anschlossen, fand ein reger Austausch aller Beteiligten statt, der
sowohl die Teilnehmer als auch die Studierenden und
Kolleginnen/Kollegen bereicherte.
Ein weiterer Aspekt war der außergewöhnliche Austragungsort von
TMB 2014. Konferenzen, so ist man es gewohnt, finden an
Universitäten oder anderen Fortbildungs- und Tagungsorten statt. Man
trifft sich in Konferenzsälen, hört Vorträgen zu, diskutiert diese und
fährt anschließend wieder nach Hause. Auch wenn die Themen aktuell
und interessant sind, so ist es häufig ein Routineablauf, stets nach dem
gleichen Muster. Dem wollte man mit der Organisation von TMB
2014 entgegenwirken. Die Frage war nun, wo man eine Konferenz
abhalten kann, deren Atmosphäre entspannt und locker zugleich ist,
sodass sich die Teilnehmer wohlfühlen, etwas außergewöhnliches
Erleben und so ein ganz neuer, anregender Austausch unter Experten
sowie Kollegen stattfinden kann. Diesen Ort hat man in Nei Poroi/
Griechenland gefunden. Das Hotel Evilion in der Region Pierias
schien der ideale Ort. Das griechische Meer zu Füßen, die
Gebirgsausläufer des Olymps im Rücken und von griechischer
Gastfreundschaft umsorgt – was will man mehr?
Doch auch der eigentliche Konferenztag war etwas Besonderes. In
einem eigens für die Konferenz umgestalteten Nebenraum konnten die
Referenten über ihre Erkenntnisse und Expertise berichten, während
das Geschehen per Webinar eifrig verfolgt wurde. Für Kaffee und
Gebäck wurde gesorgt, die Pause nutzte man zum regen Austausch am
Pool. Obwohl sich erst wenige der Teilnehmer bereits kannten und
sich die meisten erst vor Ort kennenlernten, herrschte von Beginn an
eine entspannte, ausgelassene und sehr kollegiale Atmosphäre unter
allen Beteiligten. Man verstand sich, respektierte sich und verbrachte
auch außerhalb der eigentlichen Konferenzveranstaltungen Zeit
miteinander.
Ein Highlight dieser dreitägigen Konferenz war sicherlich auch die
Fahrt in ein kleines, hoch gelegenes Bergdorf zum gemeinsamen
Essen nach dem ersten Konferenztag. In einer ehemaligen Schule,
welche jetzt als Taverne dient, gab es griechische Delikatessen und
einen spektakulären Blick über die Bucht bei Nacht. Nach so einem
besonderen Abend stand den Workshops am nächsten Morgen nichts
mehr im Wege. In Gruppen wurde über Themen wie Mehrsprachigkeit
als Chance, Executive Funktionen und didaktische Umsetzung im
Unterricht sowie öffentliche Sensibilisierung für das Thema diskutiert.
Man erlebte einen aktiven und angeregten Austausch, der in einem
kreativen Brainstorming zu effektiven und anknüpfbaren Resultaten
führte.
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The Multilingual Brain 2014 − eine Konferenz in Griechenland
zwischen Gebirge und Meer. Was anfangs ungewöhnlich schien,
stellte sich als außerordentlich erfolgreich heraus. Gerade durch die
besondere Atmosphäre, die griechische Gastfreundschaft, den
abwechslungsreichen Konferenzablauf zwischen Vorträgen, Pausen
am Pool, Ausflügen in die Berge und kreativen Workshops, das
Einbeziehen der heimischen Studierenden sowie das kollegiale, teils
freundschaftliche Miteinander unter den Teilnehmern darf man die
TMB 2014 ohne Zweifel als besonderes Tagungsformat mit neuen
und gewinnbringenden Erkenntnissen betrachten. Ein Erfolg für alle
Beteiligten, was sich auch im folgenden Konferenzband niederschlägt.
Eichstätt, im Oktober 2014
Anna Candioli
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Carl H. Hahn
Der Kindergarten – Fundament unseres
Bildungssystems
Ich habe nach den Erfahrungen mit meinen Enkeln in London
beschlossen, um es mal salopp auszudrücken, dass das deutsche
Kindergartensystem abgeschafft gehört. Es ist für die Vorbereitung
künftiger Generationen auf die Welt von Morgen völlig ungeeignet,
nachdem diese Welt in Bewegung geraten ist, wie nie zuvor in der
Geschichte der Menschheit. Das Tempo und die Größenordnungen der
Veränderungen sind ohne Parallele. Um dies nur an einem Beispiel
deutlich zu machen:
Es dauerte etwa eintausend Jahre, von Karl dem Großen bis Napoleon,
ehe sich in Europa die Gütermenge pro Kopf der Bevölkerung
verdoppelt hatte. Doch dank revolutionärer neuer Technologien hat
sich allein seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Güter- und
Dienstleistungsmenge in den Industrieländern verfünffacht. Der
Lebensstandard von uns Europäern übertrifft den der übrigen
Menschheit um das 10-fache. Würden alle Menschen einen solchen
Lebensstil praktizieren, könnte unsere Erde kaum mehr als 2
Milliarden Bewohner ernähren, was der Weltbevölkerung zum
Zeitpunkt meiner Geburt entspricht. Weltweit bevölkern aber
gegenwärtig mehr als 7 Milliarden Mitmenschen unsere Erde und bis
Mitte dieses Jahrhunderts werden es voraussichtlich mehr als 9
Milliarden sein.
Über Jahrhunderte dominierte Europa die Welt, nicht nur dank Kapital
und militärischer Überlegenheit, sondern auch aufgrund seines
Vorsprungs in Bildung und Wissen. Es bestimmte damit das Tempo
des weltweiten Fortschritts und oft waren es deutsche Forscher und
Entwickler, die richtungweisend waren, denken wir nur an Theodor
Schwan und Matthias Schleiden, die bereits 1839 die Grundlagen für
die heutige Biotechnologie legten.
Seit Beginn der Globalisierung haben sich die weltwirtschaftlichen
Schwerpunkte jedoch mehr und mehr in Richtung Asien verschoben.
Wir Europäer realisierten bis heute aber nicht, dass wir dadurch all
unsere Privilegien, die wir über einen so langen Zeitraum besaßen,
verloren haben. In Verkennung der Realitäten glauben wir immer
noch, dass unsere Zukunft gesichert sei. Symbolisch dafür steht für
12
mich die 35-Stunden-Woche, während die Welt 40, 50 und mehr
Stunden arbeitet.
Europa verliert aber auch gemessen an den Bevölkerungszahlen
relativ an Bedeutung. Der demografische Wandel hinterlässt hier seine
Spuren. Lebten im 20. Jahrhundert noch 30% der Weltbevölkerung
auf unserem Kontinent, werden es bis 2050 voraussichtlich nur noch
knapp 8% sein. Verglichen mit China und Indien, die zusammen auf
einen Anteil von bald 40% kommen, entwickelt sich Deutschland bis
zur Mitte dieses Jahrhunderts geradezu zu einem Zwergstaat mit
einem Anteil an der Weltbevölkerung von eben noch 0,7%. Wie es um
uns bestellt sein wird, wenn dieser Zwergstaat dann nicht
konkurrenzfähig ist, mag man sich besser nicht ausmalen.
Zusätzlich erschwert wird unsere Situation durch einen bis heute
wachsenden staatlichen Schuldenberg. Weil unsere Bevölkerung
massiv altert, werden diese Schulden künftig von nur noch 70% der
heutigen Berufstätigen zu schultern sein. Die Zukunftslast aus Zinsen,
Pensions- und Rentenverpflichtungen wird infolgedessen progressiv
steigen, mit entsprechend negativen Auswirkungen auf unsere
Kaufkraft und Wettbewerbsfähigkeit.
Europas und damit auch unser künftiges politisches und
wirtschaftliches Gewicht in der Welt wird entscheidend davon
abhängen, inwieweit es gelingt, das exponentielle globale
Fortschrittstempo auf allen Gebieten mitzugehen, besser noch
mitzubestimmen. Sind wir darauf vorbereitet, haben wir dafür die
richtigen Strategien? Zweifel erscheinen angebracht.
In Deutschland sind wir weiterhin zu sehr auf die klassischen
Industrien fokussiert und profitieren hier vor allem von der riesigen
Nachfrage aus Asien, insbesondere China. Es ist vor allem die
deutsche Automobilindustrie, die dank ihrer besonderen Dynamik
auch anderen klassischen Branchen, wie insbesondere dem
Maschinenbau, wichtige Impulse gibt und dadurch ganz wesentlich
unseren Wohlstand sichert. Bei vielen zukunftsweisenden
Technologien, wie der Gen- und Biotechnologie, der Mikroelektronik
oder auch im Bereich der modernen, wissensintensiven
Dienstleistungen haben wir dagegen den Anschluss und wichtige
Wachstumschancen verpasst. Das gilt besonders in Sektoren, die, wie
die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, eine
hohe Innovationsgeschwindigkeit erfordern. Der Verkauf der Siemens
Handy-Sparte ist symptomatisch dafür. Mit Nokia hat inzwischen
auch der letzte Europäer seine Handy-Produktion verkaufen müssen.
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Das moderne Handy ist längst zu einem Hightech-Produkt geworden,
dessen Rechenleistung heutzutage größer ist als das der Apollo-
Bordcomputer bei der ersten Mondlandung. Wir haben uns
offensichtlich damit abgefunden, im alltäglichen Leben, ob in unseren
Hosen- oder Handtaschen, auf unseren Schreibtischen wie auch in
unseren Entwicklungslaboren auf Hightech-Produkte aus den USA
und Asien vertrauen zu müssen, mehr und mehr von diesen abhängig
zu sein. Das betrifft u. a. auch den inzwischen äußerst lukrativen
Markt der Supercomputer, ohne die in der Forschung heute kaum
noch etwas läuft. Der weltweit größte Computer steht erstmal nicht in
den USA, sondern in China. Mit 33 Billiarden Rechenoperationen in
der Sekunde hat er ein schier unvorstellbares Leistungsvermögen. Der
Zweitgrößte, ein Amerikaner, bringt es auf 17 Billiarden, der größte
deutsche auf vergleichsweise bescheidene 5 Billiarden Rechenschritte
pro Sekunde.
Ursächlich für unser mangelndes Fortschrittstempo ist sicher aber
auch die in einem nicht unbeträchtlichen Teil unserer Bevölkerung
verbreitete Skepsis, teils auch Feindlichkeit, gegenüber neuen
Technologien, denken wir nur an die Erfahrungen in der Gentechnik.
Vernachlässigt werden hingegen die gewaltigen Chancen, die uns
beispielsweise aus einer solchen Technik erwachsen können, gerade
auch mit Blick auf die weiter steigende Weltbevölkerung und die
täglich zu beklagenden 30.000 Hungertoten weltweit.
Unsere Zukunft als schrumpfende Nation wird nur durch überlegene
Technik und Produkte, sprich Innovationen zu sichern sein, was
wiederum eine hohe Kompetenz und Wissensbreite erfordert.
Wichtiger denn je ist es deshalb, das intellektuelle Potential unserer
Bürger zu mobilisieren. Dem Bildungssystem kommt hierbei eine
Schlüsselrolle zu. Es muss unsere Mitbürger auf die
Herausforderungen von morgen adäquat vorbereiten. Dazu gehört
auch, das Verständnis für die Funktionsweise und die
Gesetzmäßigkeiten unserer Markwirtschaft schon frühzeitig in den
Köpfen zu verankern. Kreative Dynamik erfordert aber auch die
richtige Geisteshaltung, Begeisterung und Offenheit für neue Ideen,
Experimentierfreudigkeit und Neugier, Eigenschaften also, die
ebenfalls schon in frühester Jugend vermittelt werden sollten.
Spätestens seit der ersten PISA-Studie wissen wir allerdings, dass es
um unser deutsches Bildungssystem nicht zum Besten bestellt ist.
Trotz einiger seither erzielter Fortschritte sind wir im internationalen
Vergleich heute kaum über das Mittelmaß hinausgekommen.
Weiterhin muss ein zu großer Teil der neu eingestellten
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Auszubildenden bei uns nachgeschult werden. Schlimmer noch: Jeder
zehnte Auszubildende eines Jahrgangs verlässt die Schule sogar ganz
ohne Abschluss.
Länder wie Südkorea, Taiwan, Singapur oder auch China zeigen uns,
wie man es besser macht. Ganz an der Spitze in allen PISA-
Disziplinen steht die Region Shanghai. Selbst in manchen ärmlicheren
Gebieten Chinas erreichen die Schüler Leseleistungen über dem
deutschen Durchschnitt. In Mathematik liegen unsere Kinder im
PISA-Vergleich sogar bis zu zweieinhalb Jahre hinter dem
Leistungsstand der Besten zurück.
Mängel und Defizite sind aber nicht allein nur im Schulsektor zu
beklagen. Auch die deutschen Universitäten, einst erste Adresse für
die Eliten aus aller Welt, laufen heute international weitgehend unter
„ferner liefen“. Deutsche Business Schools der Spitzenklasse sucht
man gleich völlig vergebens. Die Jiao Tong Universität Shanghai
veröffentlicht alljährlich eine Rangfolge der besten Universitäten der
Welt, wobei die ersten 200 Hochschulen in diesem weltweit
gebräuchlichsten Index seiner Art als Eliteuniversitäten gelten. Unter
den 100 Bestplatzierten finden sich allein 64 angelsächsische
Universitäten, jedoch nur vier deutsche und ebenso viel
schweizerische. Beste deutsche ist die TU München auf Position 50.
Bezeichnend ist, dass die sehr viel kleinere Schweiz über ebenso viele
Eliteuniversitäten verfügt wie ihr weitaus größerer deutscher Nachbar.
Während bei uns in Deutschland die Förderung von Eliten
stigmatisiert bleibt, besitzt dieses Thema in anderen Ländern einen
hohen Stellenwert. So nutzen besonders die USA ihre hochklassigen
Universitäten sehr erfolgreich als Magnet für internationale Eliten.
Wen wundert es da, dass die Top-Universitäten des Landes im
Wettstreit um die besten Talente der Welt, Professoren wie Studenten,
zumeist die Nase vorn haben. 70% der Nobelpreisträger sind
gegenwärtig an amerikanischen Universitäten beschäftigt. Das hat den
überaus lukrativen Nebeneffekt, dass auch die Wirtschaft des Landes
dadurch wichtige Impulse erhält. Auch in vielen Schwellenländern,
allen voran in China, erlebt die akademische Ausbildung einen Boom.
Die Chinesen sind fest entschlossen und inzwischen auf einem guten
Weg, eine Superliga von Universitäten zu schaffen, die sich mit den
besten der Welt messen können. Schließlich liefert auch der Stadtstaat
Singapur ein Beispiel für eine sehr zielgerichtete Eliteauswahl, indem
er beispielsweise selbst ausländischen Praktikanten, die nicht an einer
ausgewiesenen Eliteuniversität studiert haben, seit jüngstem die
Einreisegenehmigung verwehrt.
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Der Kampf um die klügsten Köpfe der Welt wird weiter an Intensität
gewinnen. Auf diesen Wettbewerb müssen wir uns mit Realitätssinn
strategisch wie taktisch einstellen. Wer die Förderung der besonders
Begabten auf Dauer vernachlässigt, riskiert nicht nur einen brain
drain, sondern läuft auch Gefahr, den Anschluss zur Weltspitze zu
verlieren. Wir können sicher auch in diesem Zusammenhang noch
einiges von der Schweiz lernen, dem liebsten Einwanderungsland
deutscher Eliten, noch vor den USA.
In der Konsequenz bedeutet dies für uns als Deutsche wie Europäer,
dass wir unsere Ausbildungsstrukturen in ihrer Gesamtheit stärker an
den veränderten globalen Rahmenbedingungen und der
Veränderungsdynamik orientieren müssen. Das erfordert neben
entsprechenden Investitionen in die Bildung vor allem auch Mut zu
pädagogischen Innovationen. Dabei müssen wir nicht gleich alles neu
erfinden. Manchmal hilft es bereits, den Blick über den Tellerrand
hinaus zu richten und bereit zu sein, von jenen zu lernen, die bessere
Ergebnisse erzielen als wir. Das sogenannte Benchmarking, wie wir es
in der Industrie seit vielen Jahren schon praktizieren, d. h. die
weltweite Analyse der Besten und das ständige Streben nach
Bestwerten, muss endlich auch in unseren Bildungssektor Einzug
halten.
Das Fundament für bessere Bildungsergebnisse wird bereits in den
Kindergärten gelegt, die bisher allerdings von der Bildungspolitik eher
stiefmütterlich behandelt wurden. Es ist leider eine Realität in
unserem Lande, dass die Kindergärten hier vorzugsweise noch nach
„klassischem Muster“ betrieben werden und wegen längst überfälliger
Reformen seit Jahren in ihrer Entwicklung stagnieren und damit
international zurückfallen.
Um unsere Jüngsten vor vermeintlicher Überforderung zu schützen,
stellt man ihre geistige Entwicklung während der Kindergartenzeit auf
Sparflamme, lässt sie spielen und sich häufig langweilen.
Intellektuelle Potentiale bleiben so ungenutzt, obwohl Kinder gerade
in dieser frühen Phase ihrer Entwicklung, angetrieben von ihrem
natürlichen Wissensdrang, eine Lerngeschwindigkeit an den Tag
legen, wie sie im späteren Leben nie wieder erreicht wird. Wir stellen
somit schon in den ersten Lebensjahren die falschen Weichen, mit
irreversiblen Konsequenzen für das spätere Leben.
Dank der modernen Neurowissenschaften wissen wir heute, dass
neben der individuellen Veranlagung, der sogenannten genetischen
Prädisposition, das intellektuelle Leistungsvermögen eines jeden
16
Einzelnen ganz wesentlich durch äußere Einflüsse bestimmt wird. Je
anregender diese sind, desto ausgeprägter kommen auch die ererbten
Fähigkeiten zur Geltung. Über die gesamte Kindheit eröffnen sich
dabei Zeitfenster, innerhalb derer die geistige Aufnahmefähigkeit
besonders groß und effizient ist. Das gilt auch für das Erlernen von
Sprachen. Im zarten Alter von 2 Jahren saugen unsere Jüngsten ihre
Muttersprache geradezu auf. Kinder sind dabei imstande, mühelos
auch eine zweite oder dritte Sprache simultan zu erlernen, sofern
damit bereits frühzeitig genug begonnen wird. Bis zum Alter von 10
Jahren ist die Entwicklung des Sprachzentrums allerdings weitgehend
abgeschlossen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem wir gemeinhin mit
dem Fremdsprachenunterricht in unseren Schulen erst beginnen. Jeder
Spracherwerb ist dann unendlich aufwändiger, wie die meisten unter
uns wohl selbst schon einmal feststellen mussten.
Je früher also mit der frühkindlichen Förderung begonnen wird, desto
größer sind die Entwicklungspotenziale für das weitere Leben.
Versäumnisse in dieser Phase der kindlichen Entwicklung lassen sich
später nicht mehr aufholen. Wir brauchen deshalb
Bildungsinvestitionen, die möglichst frühzeitig einsetzen und schon in
unseren Kindergärten für ein Bildungs- und Betreuungsangebot
höchster Qualität sorgen. Eine solche frühkindliche Förderung, bei der
Kinder jeder Begabung gewinnen, schafft die Grundlage für eine
generelle Verkürzung der schulischen Ausbildung und damit auch
einen früheren Eintritt in das Studium und Berufsleben. Schließlich
bestätigt auch eine Reihe von Langzeitstudien, dass im Kindergarten
bereits die Weichen für den späteren Lebensweg entscheidend gestellt
werden, für bestmöglichen Erfolg und damit die höchste Rendite –
individuell wie gesellschaftlich.
Erzieher und Erzieherinnen haben dabei einen ebenso anspruchs- wie
verantwortungsvollen Bildungsauftrag zu erfüllen. Leider herrscht bei
uns weiterhin die Meinung vor, dass zur Ausübung dieses Berufs
keine akademische Ausbildung vonnöten sei, eine Auffassung, mit der
wir – sieht man einmal von Österreich, der Slowakei und dem
Inselstaat Malta ab – EU-weit isoliert dastehen.
Angeregt durch die Erfahrungen mit meinen Enkeln in London und
getragen von der Einsicht, dass reden allein nicht zielführend ist,
haben wir vor nunmehr sieben Jahren ein Kindergarten-Pilotprojekt in
Wolfsburg gestartet, dem etwas später dann auch eine Schule in
Glauchau folgen sollte, mit der ich eng verbunden bin.
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Den Kern des dort praktizierten Konzepts bildet die bilinguale
Erziehung mittels akademisch ausgebildeter englischsprachiger
Vorschullehrerinnen. Das zugrundeliegende Bildungsprogramm ist an
englischen Lehrplänen orientiert, die wir in Zusammenarbeit mit zwei
Universitäten in Großbritannien weiter optimiert und um Elemente des
deutschen Systems ergänzt haben. Der Lehrplan zielt darauf ab, die
Kinder auf spielerische Weise an eine Fremdsprache heranzuführen
und sie zugleich mit Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen
vertraut zu machen.
Alle unsere Wolfsburger Kindergartengruppen wechseln stets als
geschlossener Klassenverband auf die Grundschule über. Um die
Kontinuität sicherzustellen, wurden die Curricula beider
Einrichtungen schon frühzeitig aufeinander abgestimmt. Und die
Ergebnisse sprechen für sich. Die teilnehmenden Kinder, von denen
die ersten im kommenden Schuljahr auf das Gymnasium wechseln,
beeindrucken nicht nur durch ihre Lernkapazität und -geschwin-
digkeit, sondern zeigen nach Aussagen von Lehrern wie Eltern auch
ein deutlich ausgeglicheneres und reiferes Sozialverhalten.
Der Erfolg unseres Konzepts und seine hohe Akzeptanz haben uns
bestärkt, in unserem Wolfsburger Kindergarten neben Englisch seit
Anfang dieses Jahres auch Chinesisch als zweite Fremdsprache
einzuführen. Wir tragen damit besonders auch der Tatsache
Rechnung, dass China, als bald schon wichtigste Wirtschaftsnation der
Welt, für unser Land eine immer größere Bedeutung erlangt. Für den
in unserer Stadt ansässigen Volkswagen-Konzern ist es schon heute
der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt weltweit.
Die Aufnahme der chinesischen Sprache erwies sich allerdings als
ebenso schwierig wie langwierig, weil unsere Lehrerinnen aus China
kein Arbeitsvisum erhielten. Die Begründung dafür lautete, dass sie
aufgrund ihrer akademischen Ausbildung für die Arbeit in deutschen
Kindergärten überqualifiziert seien. Nur dank einer Reihe glücklicher
Umstände gelang es schließlich doch noch, zwei Chinesinnen nach
Wolfsburg zu holen, die dort seit Januar dieses Jahres sehr erfolgreich
in unserem Kindergarten tätig sind, zur Begeisterung von Kindern wie
Eltern.
Trotz aller Bedeutung scheint das Thema frühkindliche Förderung in
der politischen und akademischen Debatte bei uns aber immer noch
nicht angekommen zu sein. Wie anders könnte man sich sonst den
Stillstand erklären, während in der Welt die Bildungsanstrengungen
auf allen nur denkbaren Gebieten dynamisch forciert werden.
18
Exemplarisch sei hier wiederum China genannt, wo auch die
Kindergärten in vieler Hinsicht richtungweisend sind: Das reicht von
der Ausstattung – Klavier und Balletträume gehören in der Regel zum
Standard – über das akademisch ausgebildete Personal bis hin zu den
Lehrplänen, die sich am britischen Curriculum orientieren. Die Kinder
beherrschen beim Übergang auf die Schule nicht nur die englische
Sprache, sondern auch die chinesischen Schriftzeichen und sind
imstande, bereits eine Zeitung zu lesen. In etwa 20 Jahren werden sie
die Konkurrenten sein, mit denen es unsere heutige KiTa-Generation
zu tun bekommt.
Unter dem Druck des unerhörten Tempos der Veränderungen und der
geographischen Schwerpunktverlagerungen werden auch wir uns in
Deutschland mit diesen Themen konstruktiv auseinanderzusetzen
haben. Und die Zeit läuft gegen uns. Schon 2020 werden gut 40% der
Studienanfänger in den Naturwissenschaften aus Asien kommen. Nur
wenn wir auf dem Gebiet der Bildung zur absoluten Spitze in der Welt
gehören, werden wir im Konzert der Nationen konkurrenzfähig
bleiben und weiterhin Gehör finden.
Auch für die Erneuerung unseres Bildungssystems gilt dabei der
Grundsatz, „je solider die Basis, desto effizienter lässt sich darauf
aufbauen“. Denn was passiert, wenn wir das Fundament unseres
Bildungssystems nicht solide bauen, zeigen unsere heutigen
Statistiken: Tausende Auszubildende müssen in den Betrieben
nachgeschult werden, in den Ingenieurstudiengängen haben wir 50%
Abbrecher und hunderttausende junger Menschen im Alter zwischen
20 und 35 Jahren haben gar keine Ausbildung. Eine solche
Verschwendung wertvoller Ressourcen können wir uns einfach nicht
länger leisten. Das Thema der frühkindlichen Bildung ist für mich
angesichts dessen von außerordentlicher Bedeutung, und ich bin daher
auch besonders dankbar, in Ihnen hier so viele Verbündete in der
Zielsetzung gefunden zu haben. Sie versuchen ebenso wie ich gegen
Windmühlenflügel anzukämpfen. 16 Kultusminister sind eine große
Herausforderung.
Ich kann jedenfalls nur sagen, die Kinder sind bereit, die Eltern
begeistert und wir sollten alles tun, um eine breite Öffentlichkeit für
unser gemeinsames Ziel zu gewinnen. Wir müssen echte Bestwerte
ansprechen und ansteuern. Es kommt aber auch noch etwas anderes
hinzu, das ebenfalls wichtig ist. Viele unserer heutigen Mitmenschen
Leben in Angst, weil sie den rasanten Wandel unserer Zeit nicht mehr
verstehen, sie Änderungen innerhalb nur einer Lebensspanne erfahren,
die tausendmal größer sind als in den Tausend Jahren davor. Bildung
19
ist deshalb auch eine Frage der Lebensqualität, des Miteinanders, der
Familien. All diese Elemente hängen ab von einer entsprechenden,
wie von der Natur im Ablauf vorgegebenen Entwicklung.
Von Perikles, dem weisen griechischen Staatsmann stammt der Satz:
„Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorherzusagen, sondern auf
die Zukunft vorbereitet zu sein“. Ich denke, wir sind gut beraten, unser
Handeln nach dieser Maxime auszurichten.
20
Thorsten Piske
Empirische Befunde zur Rolle des Alters beim
Zweitspracherwerb
Das Hauptanliegen dieses Beitrags ist es, auf der Grundlage
empirischer Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung zu zeigen,
dass ein früher Beginn beim Erlernen neuer Sprachen nicht
automatisch zu größeren Lernerfolgen führt. Da „Erfolg“ bzw. größere
Fortschritte beim Erlernen von Zweitsprachen von verschiedenen
Faktoren und nicht nur vom Alter eines Lerners abhängen, sollte man
somit auch vorsichtig mit häufig anzutreffenden Aussagen wie Die
Gehirne kleiner Kinder saugen neue Sprachen auf wie ein Schwamm
umgehen und vielmehr darauf hinweisen, dass sich auch bei so
genannten „frühen“ Zweitsprachenlernern nur dann größere
Lernerfolge einstellen können, wenn verschiedene lernförderliche
Voraussetzungen erfüllt sind. Im Folgenden werden zunächst einige in
der Zweitspracherwerbsliteratur aufgestellte Annahmen zur
Bedeutung des Faktors Lernalter für den Erwerb neuer Sprachen
diskutiert. Danach werden die Ergebnisse von zwei Studien
zusammengefasst, in denen der Stand der Aussprachefähigkeiten und
des grammatischen Wissens von Zweitsprachenlernern untersucht
wurde und damit von Fähigkeiten, von denen besonders oft behauptet
wird, dass sie in großem Maße durch die Variable Lernalter
beeinflusst werden. Abschließend werden die vorgestellten
Forschungsergebnisse bezüglich ihrer Relevanz für den
Fremdsprachenunterricht diskutiert.
Aussagen zur Rolle des Alters im Zweitspracherwerb
In vielen Studien ist darüber berichtet worden, dass Personen, die
eine Zweitsprache (L2) bereits als Kinder erlernen, zumindest auf
längere Sicht eine erheblich höhere Kompetenz in der L2 entwickeln
als Personen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene damit
beginnen, sich eine zweite Sprache anzueignen. Solche Annahmen
haben verschiedene Forscherinnen und Forscher zu der Annahme
bewogen, dass es eine critical period, also ein kritisches Zeitfenster
für das Erlernen von Zweitsprachen, gibt. Dabei gehen Anhänger der
so genannten critical period hypothesis davon aus, dass es für Lerner,
die erst nach dem Ende der kritischen Phase damit beginnen, eine
Zweitsprache zu erwerben, unmöglich ist, diese noch genauso
erfolgreich zu erlernen wie Personen, die die betreffende Sprache als
Erstsprache, also als L1 erlernt haben (z.B. Lenneberg 1967; Scovel
1969, 1988; Patkowski 1980, 1990; DeKeyser 2000). Der geringere
21
Erfolg, den so genannte spätere Lerner im Vergleich zu so genannten
frühen Lernern häufig beim Erlernen einer L2 zeigen, ist im
Zusammenhang mit der critical period hypothesis immer wieder
dadurch begründet worden, dass das menschliche Gehirn in den ersten
Lebensjahren noch verschiedenen Reifungsprozessen unterworfen ist,
die dazu führen, dass die neuronale Plastizität des Gehirns im Laufe
der Zeit abnimmt (z.B. Lenneberg 1967; Scovel 1969; Neville et al.
1992, DeKeyser 2000). Besonders oft werden in der L2-
Erwerbsforschung in diesem Zusammenhang die Aussagen von
Michael Long zitiert, der in einem Überblicksartikel von 1990
folgende Aussage getroffen hat:
The capacity for language development is maturationally constrained,
and its decline probably reflects a progressive loss of neural
plasticity, itself possibly associated with increasing myelination (Long
1990, 251).
Ähnliche Aussagen finden sich auch wiederholt bei Robert
DeKeyser, so zum Beispiel:
Somewhere between the ages of 6-7 and 16-17, everybody loses the
mental equipment required for the abstract patterns underlying human
language. […] It may be that the severe decline of the ability to induce
abstract patterns implicitly is an inevitable consequence of fairly
general aspects of neurological maturation (DeKeyser 2000, 518-
519).
Was die Angaben zu dem Zeitraum betrifft, den das angenommene
kritische Zeitfenster umfassen soll, zog Long (1990) aus einem
Vergleich mehrerer Studien, die die Bedeutung des Alters für den
Zweitspracherwerb untersucht haben, die Schlussfolgerung, dass das
kritische Zeitfenster für eine authentische L2-Aussprache früher endet
als das für das Erlernen der L2-Grammatik:
The ability to attain native-like phonological ability in an SL begins to
decline by age 6 in many individuals and to be beyond anyone
beginning later than age 12, no matter how motivated they might be
or how much opportunity they might have. Native-like morphology
and syntax only seem to be possible for those beginning before age 15
(Long 1990, 280).
Aussagen wie die von Long (1990) und DeKeyser (2000) haben
dazu geführt, dass der Altersvariable in vielen Studien mehr
Bedeutung geschenkt wurde als anderen Variablen, die ebenfalls für
Lernerfolg bedeutsam sein könnten, und sie haben auch dazu
beigetragen, dass z.B. in Deutschland viele Eltern, Lehrkräfte und
Vertreter der Schulverwaltung bzw. der Bildungspolitik ursprünglich
sehr große Erwartungen in Bezug auf den frühen
Fremdsprachenunterricht entwickelt hatten, die sich – betrachtet man
22
die Überschriften einiger Zeitungsartikel aus den letzten Jahren –
allerdings vielfach nicht erfüllt zu haben scheinen.1
In den folgenden beiden Abschnitten wird anhand der Ergebnisse
von nur zwei Studien, die mit Immigranten durchgeführt wurden,
veranschaulicht, welche Faktoren außer dem Lernalter generell einen
Einfluss auf den Lernerfolg von L2-Lernern haben und dass
verschiedene Faktoren bei einzelnen Lernern dabei einen
unterschiedlich großen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung
ausüben können.
Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Variable Alter für die
L2-Ausspracheentwicklung
In der ersten Studie wurde untersucht, welchen Einfluss
verschiedene Faktoren auf die Ausspracheentwicklung von L2-
Lernern haben. In der betreffenden, in den Biocommunication
Laboratories der University of Alabama at Birmingham
durchgeführten Untersuchung haben Piske et al. (2001) L2-Lerner des
Englischen mit L1 Italienisch getestet, die entweder schon als Kinder
oder aber als Jugendliche oder Erwachsene von Italien nach Kanada
ausgewandert waren und dort Englisch als L2 lernten. In der Studie
von Piske et al. (2001) wurde insbesondere der Einfluss der folgenden
vier Variablen auf die L2-Aussprache untersucht: a) das Alter zu
Beginn des L2-Erwerbs, b) die Häufigkeit des L1-Gebrauchs, d.h. wie
oft die Immigranten in Kanada weiterhin ihre L1 Italienisch
verwendeten, c) das Geschlecht der L2-Lerner und d) die Dauer des
Aufenthalts in der zweitsprachigen Umgebung, also wie lange die
Immigranten bereits in Kanada gelebt hatten, als sie getestet wurden.
Wie Tabelle 1 zeigt, wurden dabei insgesamt 90 Personen untersucht.
9 männliche und 9 weibliche Personen, die alle mit L1-Englisch in
Kanada aufgewachsen waren, bildeten die Kontrollgruppe. Die
anderen vier Gruppen umfassten 72 Sprecher mit L1-Italienisch, die
alle in Italien geboren worden waren. Als diese 72 Personen getestet
wurden, hatten sie durchschnittlich schon 36 Jahre in Kanada gelebt.
Dabei wurden zwei Gruppen früher L2-Lerner des Englischen
untersucht, die im Durchschnitt im Alter von 7 bzw. 8 Jahren nach
Kanada gekommen waren. Die Personen in der Gruppe, die als Early-
low bezeichnet wurde, hatten angegeben, noch ca. 7% ihrer Zeit damit
zu verbringen, ihre L1 Italienisch zu sprechen, die Personen in der
Early-high-Gruppe hatten dagegen angegeben, dass sie ihre L1
1So wurden in den letzten Jahren zum Grundschulfremdsprachenunterricht z.B.
Artikel mit Überschriften wie diesen veröffentlicht: „Effekt gleich null“ (Der
Spiegel 4/2009), „Can you say useless?“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
6/2009) oder „Nutzloser Frühstart – Warum Englisch an Grundschulen doch keine
so tolle Idee ist“ (Zeit online, 12. April 2012).
23
Italienisch noch zu ca. 43% ihrer Zeit verwendeten.
2
Die Testpersonen
in zwei weiteren Gruppen mit späten Lernern waren im Durchschnitt
im Alter von 20 Jahren nach Kanada gekommen, wobei die
Immigranten in der als Late-low bezeichneten Gruppe angaben, noch
10% ihrer Zeit damit zu verbringen, ihre L1 Italienisch zu sprechen,
die in der Late-high-Gruppe gebrauchten das Italienische dagegen
noch in 53% ihrer Zeit.
Gruppe L2-Erwerbsalter
(in Jahren)
Häufigkeit L1-
Gebrauch (in %)
Aufenthaltsdauer in
Kanada (in Jahren)
Geschlecht
L1-Englisch - - - 9w, 9m
Early-low 7 7 42 10w, 8m
Early-high 8 43 40 10w, 8m
Late-low 20 10 31 8w, 10m
Late-high 20 53 29 10w, 8.
Durchschnitt
14 28 36 47w, 43m
Tabelle 1: Charakteristika der 90 von Piske et al. (2001) untersuchten
Testpersonen mit Angaben zur Anzahl der weiblichen und männlichen
Testpersonen pro Gruppe.
Jede der insgesamt von Piske et al. (2001) untersuchten 90
Testpersonen produzierte drei vergleichsweise kurze englische Sätze,
nämlich Paul ate carrots and peas, I can read this for you und He
turned to the right. Dabei wurde eine verzögerte Imitationstechnik
eingesetzt, um die Testpersonen dazu zu bringen, diese drei Sätze zu
äußern. Eine Testperson hörte über Lautsprecher z.B. zunächst die
Stimme eines englischen L1-Sprechers, der etwa die Frage What did
Paul eat? stellte, woraufhin ein zweiter L1-Sprecher wiederum über
Lautsprecher Paul ate carrots and peas antwortete. Danach hörte die
Testperson die Frage What did Paul eat? noch einmal von der ersten
Stimme, und dies war für sie das Signal, mit Paul ate carrots and peas
zu antworten. Nachdem insgesamt 270 Sätze (3 Sätze x 90 Sprecher)
aufgenommen worden waren, wurden 9 L1-Sprecher des kanadischen
Englisch darum gebeten, die Stärke des fremdsprachlichen Akzents,
den sie in jedem der von den Testpersonen gesprochenen Sätzen
wahrnehmen konnten, auf einer Skala von 1 bis 9 zu bewerten, wobei
2
Für Details zur Erhebung der Selbsteinschätzungsdaten bezüglich des Umfangs des
L1-Gebrauchs vgl. Piske et al. (2001).
24
die 1 für einen sehr starken Akzent, die 9 für eine akzentfreie
Aussprache stand.
Abbildung 1 verdeutlicht die Hauptergebnisse der Studie von Piske
et al. (2001): Die Y-Achse repräsentiert dabei die in der Untersuchung
verwendete Beurteilungsskala von 1 bis 9. Die Balken auf der linken
Seite stellen dar, welche Akzentbewertungen die so genannten native
speaker raters den beiden Gruppen früher Lerner gegeben haben. Die
Balken auf der rechten Seite zeigen die Bewertungen, die die beiden
Gruppen der späten Lerner erhalten haben. Die weißen Balken
markieren die beiden Gruppen von Lernern, die ihre L1 nur noch
selten gebrauchten, die schraffierten dagegen die beiden Gruppen von
Lernern, die ihre L1 weiterhin häufig verwendeten. Die
durchgezogene Linie markiert den Durchschnittswert von 8.1, den die
raters der L1-Kontrollgruppe gegeben haben, die beiden gestrichelten
Linien den Bereich der Akzentbewertungen, der für die L1 Sprecher
insgesamt angenommen wurde.
Abbildung 1: Durchschnittliche Akzentbewertungen für englische
Sätze, gesprochen von italienischen Immigranten in Kanada, die ihre
L1 Italienisch entweder relativ selten oder relativ häufig gebrauchten.
Die durchgezogene horizontale Linie markiert den von den Sprechern
mit L1 Englisch erreichten Durchschnittswert, die gestrichelten Linien
den Gesamtbereich, den die Akzentbewertungen für die L1-Sprecher
abgedeckt haben (nach Piske et al. 2001).
Wie Abbildung 1 zeigt, wurde die L2-Aussprache der beiden
Gruppen früher Lernern von den raters als akzentfreier bewertet als
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Early-low Early-high
Late-low
Late-high
native English mean
(+/- 2 SDs)
25
die Aussprache der beiden Gruppen von späten Lernern, wobei der
Unterschied zwischen den beiden Gruppen statistisch signifikant war.
Die frühen Lerner erreichten insgesamt einen Durchschnittswert von
6.6, während die späten Lerner insgesamt nur einen Durchschnittswert
von 3.5 erzielten. Wie die Abbildung ebenfalls darstellt, wurde die
L2-Aussprache der beiden Lernergruppen, die ihre L1 nur noch selten
gebrauchten, als akzentfreier bewertet als die Aussprache der beiden
Lernergruppen, die ihre L1 noch häufig verwendeten, wobei auch
dieser Unterschied statistisch signifikant war. Die sogenannten low-
use Gruppen erhielten dabei insgesamt einen Durchschnittswert von
5.6 für ihre Aussprache, während die raters den beiden high-use
Gruppen insgesamt einen Durchschnittswert von 4.5 zusprachen.
Wichtig ist dabei, dass keine signifikante Interaktion zwischen den
Variablen Alter zu Beginn des L2-Erwerbs und Häufigkeit des L1-
Gebrauchs festgestellt wurde, was bedeutet, dass die Variable
Häufigkeit des L1-Gebrauchs die Stärke des Akzents bei den frühen
und den späten Lernern in gleichem Maße beeinflusst hat.
Diese Ergebnisse waren zu dem Zeitpunkt, als sie veröffentlicht
wurden, im Zusammenhang mit der critical period hypothesis
besonders bedeutsam, weil dadurch zum ersten Mal belegt wurde,
dass die Qualität der Aussprache, die sowohl frühe als auch späte L2-
Lerner beim Erlernen der L2-Aussprache erreichen können, nicht nur
davon abhängt, wann sie damit beginnen, die L2 zu erlernen, sondern
auch davon, wie oft sie die L2 im Vergleich zu ihrer L1 gebrauchen.
Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die Variablen Dauer des
Aufenthalts in der zweitsprachigen Umgebung, also in Kanada, und
die Variable Geschlecht in der Studie von Piske et al. (2001) keinen
statistisch messbaren Einfluss auf die Stärke des fremdsprachlichen
Akzents der untersuchten L2-Lerner hatten.
Somit wurde neben dem Lernalter auch die Häufigkeit des L1-
Gebrauchs als unabhängiger signifikanter Prädiktor für die
Ausspracheentwicklung bei L2-Lernern identifiziert. Betrachtet man
allerdings die Daten einzelner von Piske et al. (2001) untersuchter L2-
Lerner, zeigt sich, dass einzelne Variablen für die
Ausspracheentwicklung verschiedener Lerner offenbar eine
unterschiedlich große Bedeutung haben können (vgl. auch Piske
2012). So erhielt z.B. eine Sprecherin mit L1 Italienisch, die
angegeben hatte, 67% ihrer Zeit auf Italienisch zu bestreiten, mit einer
Akzentbewertung von 8.7 einen Wert für ihre englische Aussprache,
der dem von Sprechern mit L1 Englisch entsprach. Ihre Daten standen
also im Gegensatz zu dem durch Gruppenvergleiche erzielten
Ergebnis, dass sich häufiger L1-Gebrauch negativ auf die L2-
Aussprache auswirkt. Darüber hinaus gab es einzelne Testpersonen,
26
die angegeben hatten, dass sie nur noch ca. 10% ihrer Zeit auf
Englisch bestritten und die trotz ihres geringen L1-Gebrauchs nur
vergleichsweise geringe Akzentbewertungen von 5 und weniger
erhielten. Wie bei der Variable Häufigkeit des L1-Gebrauchs zeigten
die von Piske et al. (2001) getesteten Personen auch bezüglich der
Bedeutung der Variable Alter zu Beginn des L2-Erwerbs individuelle
Variation. So wurde der Akzent einiger Lerner als vergleichsweise
stark wahrgenommen, obwohl sie relativ früh, nämlich vor dem Alter
von 12 Jahren mit dem Erlernen des Englischen in Kanada begonnen
hatten. Für solche interindividuellen Unterschiede kann es natürlich
verschiedenste Gründe geben. So können sie z.B. durch
unterschiedliche Grade der Motivation bedingt sein, die Lerner beim
Erlernen einer neuen Sprache zeigen. Bei manchen Lernern liegt
eventuell auch eine besondere Sprachlernbegabung vor (z.B. Jilka et
al. 2010), oder der individuelle Lernerfolg wird durch psychosoziale
Faktoren beeinflusst, z.B. dadurch, in welchem Maße sich ein Lerner
mit der Kultur der neuen Sprache identifiziert.
Es gibt in Untersuchungen, wie denen von Piske et al. (2001), trotz
der Ermittlung signifikanter Gruppenunterschiede in der Regel also
auch immer interindividuelle Variation, so dass Aussagen etwa zur
Bedeutung des Alters oder auch anderer Variablen für Lernerfolg im
L2-Ewerb immer durch ein gewisses Maß an Differenziertheit
gekennzeichnet sein sollten.
Die Bedeutung der Variable Alter für die L2-
Grammatikentwicklung
Die Einschätzung, dass Schlussfolgerungen zur Bedeutung des
Lernalters oder anderer Faktoren für den L2-Erwerb angemessen
differenziert ausfallen sollten, wird auch durch die Ergebnisse von
Studien unterstützt, die sich mit der Bedeutung der Variable Alter für
die L2-Grammatikentwicklung beschäftigt haben. Zum möglichen
Einfluss des Lernalters auf den L2-Grammatikerwerb werden
besonders häufig die Ergebnisse einer Untersuchung von
Johnson/Newport (1989) zitiert. In dieser Studie wurden in den USA
lebende L2-Lerner des Englischen mit L1-Koreanisch mithilfe eines
so genannten grammaticality judgment tests untersucht.
Johnson/Newport (1989) stellten dabei fest, dass Lerner, die vor
Beginn der Pubertät damit begonnen hatten, ihre L2 Englisch zu
lernen, im grammaticality judgment test signifikant unterschiedliche
Werte erzielten als Lerner, die erst nach der Pubertät Englisch erlernt
haben. Die Autorinnen interpretierten dieses Ergebnis als Beleg für
eine u.a. durch Reifungsprozesse auf neuronaler Ebene begründete
kritische Phase für das Erlernen von Zweitsprachen.
27
In zwei Studien, die wie die Studie von Piske et al. (2001), an den
Biocommunication Laboratories der University of Alabama at
Birmingham durchgeführt worden sind, haben Flege et al. (1999) und
Flege/Liu (2001) die Ergebnisse der Studie von Johnson/Newport
(1989) überprüft, indem sie ebenfalls bei in den USA lebenden
Immigranten mit L1 Koreanisch mithilfe eines grammaticality
judgment tests untersucht haben, welche Faktoren außer dem Lernalter
Einfluss auf die Entwicklung grammatischer Kenntnisse bei L2-
Lernern haben könnten. Dabei entsprachen die meisten der von Flege
et al. (1999) verwendeten Sätze den Sätzen aus der Untersuchung von
Johnson/Newport (1989).
Wie Tabelle 2 zeigt, untersuchten Flege et al. (1999) insgesamt 10
Gruppen von Immigranten mit L1 Koreanisch, wobei die Gruppe der
jüngsten Lerner mit durchschnittlich 3 Jahren in die USA gekommen
war, während die Gruppe der ältesten Lerner erst in einem
Durchschnittsalter von 21 Jahren die englische Sprache in den USA
erlernt hatte.
Die verschiedenen Lernergruppen unterschieden sich aber nicht nur
in Bezug auf das Alter zu Beginn des L2-Erwerbs, denn die
Altersvariable korrelierte noch mit verschiedenen anderen
Lernervariablen. Je später die koreanischen Testpersonen in die USA
gekommen waren, desto häufiger gebrauchten sie z.B. immer noch
ihre L1 Koreanisch und desto weniger verwendeten sie ihre L2
Englisch, und je älter die Sprecher mit L1 Koreanisch bei ihrer
Ankunft in den USA waren, desto weniger Zeit hatten sie
beispielsweise auch in amerikanischen Schulen verbracht, in denen
der Unterricht auf Englisch durchgeführt wurde.
28
Tabelle 2: Charakteristika der 264 von Flege et al. (1999)
untersuchten Testpersonen mit Angabe der Anzahl der weiblichen und
männlichen Testpersonen pro Gruppe.
Flege et al. (1999) überprüften in ihrer Studie zwei Arten
grammatischen Wissens, nämlich a) regelbasiertes grammatisches
Wissen und b) lexikalisch basiertes grammatisches Wissen.
Regelbasiertes grammatisches Wissen ermöglicht es Lernern z.B. auf
der Grundlage der Regeln für die past-tense-Bildung im Englischen
einen Satz wie *Yesterday our neighbor washes her car als
ungrammatisch zu klassifizieren. Lexikalisch basiertes Wissen
ermöglicht es Lernern dagegen *The girls enjoy to feed the ducks als
ungrammatisch einzuordnen, wenn sie erkannt haben, dass dem Verb
enjoy im Gegensatz zu vielen anderen Verben im Englischen kein
Verb in der unflektierten base-Form, sondern ein Verb in der -ing-
Form folgt.
Abbildung 2 veranschaulicht, dass die Ergebnisse, die die
koreanischen L2-Lerner des Englischen in der Untersuchung von
Flege et al. (1999) im grammaticality judgment test erzielten (auf der
Y-Achse in % abgebildet), mit zunehmenden Erwerbsalter (auf der X-
Achse in Jahren abgebildet) systematisch schlechter wurden. Dabei
gab es auch hier innerhalb derselben Gruppe teilweise ein größeres
Ausmaß an interindividueller Variation, wie etwa die in der
Abbildung eingekreisten und stark voneinander abweichenden Werte
zeigen, die einige Testpersonen erzielten, die erst im Alter von etwa
20 Jahren damit begonnen hatten, Englisch zu lernen. Nach Angaben
von Flege et al. (1999) stimmten ihre Ergebnisse auf den ersten Blick
aber weitgehend mit denen von Johnson/Newport (1989) überein, die
berichtet hatten, dass Lerner, die Englisch erst nach der Pubertät
erlernt hatten, schlechtere Ergebnisse erzielten als Lerner, die bereits
vor der Pubertät damit begonnen hatten, Englisch zu lernen. Wie
jedoch bereits erwähnt wurde, korrelierte die Variable Alter zu Beginn
des L2-Erwerbs in der Untersuchung von Flege et al. (1999), wie auch
in der früheren Studie von Johnson/Newport (1989), mit einigen
Gruppe L2-Erwerbsalter
(in Jahren)
Häufigkeit L1-
Gebrauch (in %)
Unterricht auf
Englisch (in Jahren)
Aufenthaltsdauer in
den USA (in Jahren)
Geschlecht
L1 Englisch – – – – 12w, 12m
L1 Kor. 3 3 Jahre 46 16 Jahre 20 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 5 5 Jahre 50 15 Jahre 16 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 7 7 Jahre 52 15 Jahre 17 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 9 9 Jahre 58 14 Jahre 15 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 11 11 Jahre 62 11 Jahre 14 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 13 13 Jahre 74 9 Jahre 12 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 15 15 Jahre 70 8 Jahre 13 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 17 17 Jahre 74 6 Jahre 13 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 19 19 Jahre 74 5 Jahre 14 Jahre 12w, 12m
L1 Kor. 21 21 Jahre 78 3 Jahre 14 Jahre 12w, 12m
29
anderen Variablen, bei Flege et al. (1999) insbesondere mit dem
chronologischen Alter der Testpersonen, mit der Häufigkeit ihres L1-
und L2-Gebrauchs, mit der Dauer des Aufenthalts in den USA und
auch mit der Anzahl der Jahre, die die Testpersonen in
englischsprachigen amerikanischen Schulen verbracht hatten.
Abbildung 2: Werte, die Testpersonen mit L1 Koreanisch und L1
Englisch in einem englischen grammaticality judgment test erzielten
(nach Flege et al. 1999).
Da die Variable Alter zu Beginn des L2-Erwerbs in Studien mit
Immigranten zumeist mit anderen Variablen korreliert, wurden von
Flege et al. (1999) und in einer weiteren Studie von Flege/Liu (2001)
verschiedene statistische Verfahren angewendet, um genau bestimmen
zu können, ob Erfolg beim Erlernen der Grammatik einer L2 wirklich
vom Alter zu Beginn des L2-Erwerbs abhängt, wie Johnson/Newport
(1989) oder auch Long (1990) angenommen haben oder ob nicht doch
andere, mit der Altersvariable korrelierende Variablen dafür
entscheidend sind, welchen Erfolg L2-Lerner beim Erwerb
grammatischer Kenntnisse erzielen. Und tatsächlich ergaben die
Ergebnisse eines als matched subgroup analysis bezeichneten
Verfahrens, dass Erfolg beim Erlernen der L2-Grammatik nicht vom
Erwerbsalter als solchem, sondern von mit dem Erwerbsalter
korrelierenden Variablen abhängt.
3
Insbesondere zeigte sich, dass der
Stand des regelbasierten grammatischen Wissens bei den von Flege et
al. (1999) getesteten Immigranten mit L1 Koreanisch davon abhing,
3
Was Details der matched subgroup technique betrifft, vgl. Flege et al. (1999).
30
wie viel Zeit sie in englischsprachigen amerikanischen Schulen
verbracht hatten. Ihr lexikalisch basiertes grammatisches Wissen war
dagegen davon abhängig, wie häufig sie ihre L2 Englisch im
Vergleich zu ihrer L1 Koreanisch gebrauchten. Außerdem waren die
Fortschritte, die Immigranten in Bezug auf beide Arten
grammatischen Wissens gemacht hatten, offenbar auch noch davon
abhängig, wie viel Input sie von L1-Sprechern des Englischen erhalten
hatten. Das Geschlecht der L2-Lerner hatte, wie in der Studie zur L2-
Ausspracheentwicklung von Piske et al. (2001), keinen statistisch
messbaren Einfluss auf den Lernerfolg.
Implikationen der Forschungsergebnisse für den
Fremdsprachenunterricht
Wie lassen sich die hier vorgestellten Forschungsergebnisse
hinsichtlich ihrer Relevanz für den Fremdsprachenunterricht
interpretieren? Insgesamt weisen sie darauf hin, dass das frühe
Erlernen einer neuen Sprache sinnvoll ist, da die frühen Lerner in den
hier vorgestellten Studien in der Regel erfolgreicher abschnitten als
die späteren Lerner. Dabei liefern die präsentierten
Forschungsergebnisse aber keine Belege für die Existenz einer
kritischen Phase für den L2-Erwerb, weil sie gezeigt haben, dass der
Lernerfolg bei späten wie bei frühen Lernern auch durch andere
Variablen als das Lernalter bestimmt wird. Darüber hinaus scheinen
für die Entwicklung der L2-Grammatik nicht das Lernalter als solches,
sondern mit dem Lernalter korrelierende Variablen entscheidend zu
sein. Berücksichtigt man neben den Ergebnissen der beiden hier
vorgestellten Studien auch noch die Ergebnisse einiger weiterer
Studien (z.B. Flege/Liu 2001, Flege 2009), scheinen besonders die
beiden folgenden Faktoren einen positiven Einfluss auf Lernerfolg im
L2-Erwerb zu haben, nämlich erstens die Häufigkeit des Gebrauchs
der L2 im Vergleich zur L1 und zweitens der dauerhafte Kontakt zu
L2-Input durch L1-Sprecher der L2.
Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies, dass sowohl für
jüngere als auch für ältere L2-Lerner Lernumgebungen geschaffen
werden sollten, in denen die Lerner a) so oft wie möglich die
Gelegenheit erhalten, die Fremdsprache auch tatsächlich aktiv zu
gebrauchen, b) kontinuierlich viel L2-Input möglichst auf L1-Niveau
ausgesetzt sind und c) nach den Ergebnissen weiterer, hier nicht
diskutierter Studien (z.B. Missaglia 1999, Iverson et al. 2005,
Trofimovich et al. 2008), an Übungen teilnehmen können, in denen
möglichst auch spezifische Unterschiede zwischen der jeweiligen L1
eines Lerners und der Fremdsprache berücksichtigt werden sollten.
Dieser letzte Punkt ist umso wichtiger, als wir heute in den meisten
31
Klassenzimmern Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen L1-
Hintergründen finden.
Es ist bekannt, dass die hier aufgeführten, für größeren Lernerfolg
beim Erlernen neuer Sprachen sehr wichtigen Bedingungen an den
meisten Grundschulen zumindest in Deutschland bei zwei Stunden
Fremdsprachenunterricht, der aktuell immer noch zu 70 bis 80%
fachfremd erfolgt, nicht gegeben sind. Somit ist es auch nicht
überraschend, dass sich die hohen Erwartungen an den frühen
Fremdsprachenunterricht vielfach nicht erfüllt zu haben scheinen. Bei
der Planung von Fremdsprachenunterricht für junge Lerner ist es
somit nicht ausreichend, durch Verweise auf die Erkenntnisse der
neurowissenschaftlichen Forschung stets nur auf das Potenzial
hinzuweisen, das frühe Lerner in Bezug auf das Erlernen neuer
Sprachen haben. Es sollte vielmehr sichergestellt werden, dass an
Schulen Lernbedingungen geschaffen werden, die es Kindern
ermöglichen, dieses Potenzial auch tatsächlich zu nutzen. Zurzeit
finden sich solche Lernbedingungen in Deutschland am ehesten wohl
an den wenigen Grundschulen, die bilingualen Unterricht anbieten
(z.B. Steinlen/Piske 2013).
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33
Lena Heine
Unterrichtsbezogene Fremdsprachenerwerbstheorien
und neurowissenschaftliche Erkenntnis
Einleitung
Bekanntermaßen hat die Fremdsprachenforschung ein großes
Problem zu stemmen: Der zentrale Untersuchungsgegenstand ist
„terribly complex“ (Gregg 2003: 831), zeigt interindividuell große
Varianz und ist in seiner Abhängigkeit von einer Vielzahl ganz
unterschiedlicher Faktoren hoch dynamisch; was wir über ihn wissen,
ist noch immer sehr lückenhaft. In der Untersuchung des
Fremdsprachenerwerbs differenziert sich die Fremdsprachenforschung
in eine ganze Reihe unterschiedlicher Zweige aus, die sich an jeweils
spezifischen Fragestellungen, Forschungsschwerpunkten, Erkenntnis-
wegen und übergeordneten Theorierahmen orientieren.
Angesichts der Unübersichtlichkeit des Feldes sind (angehende)
Fremdsprachenlehrer mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sie sich
einer Überfülle an – häufig nur impliziten – Theorien über den
Fremdsprachenerwerb gegenüber sehen; ihre Reichweite lässt sich mit
Fragen konkreten lehrerseitigen Unterrichtshandelns, wenn überhaupt,
nur schwer in Verbindung bringen. In ihrem Studium werden sie
zunächst mit den von orientierenden Lehrwerken vorgeschlagenen
Zugängen vertraut gemacht. Blickt man exemplarisch in aktuelle
Einführungslehrwerke für die Fremdsprachenlehrerausbildung an
allgemeinbildenden Schulen in Deutschland (z.B. Decke-Cornill &
Küster 2014; Klippel & Doff 2012; Müller-Hartmann & Schocker-von
Ditfurth 2014; Roche 2008; Thaler 2012; Weskamp 2001), so ist
auffällig, dass stets verhältnismäßig viel Gewicht auf die
geschichtliche Entwicklung der Fremdsprachenforschung mit
obsoleten (Behaviorismus) oder unterrichtsfernen (Nativismus)
Positionen gelegt wird, allerdings wenig systematische und explizite
Orientierungshilfe für die Erarbeitung eines erkenntnistheoretischen
und wissenschaftsreflektierten praxisorientierten Standpunktes
bezüglich Sprache und Fremdsprachenerwerb geleistet wird
4
. Die
Frage, von welchem Bild von Sprache die unterrichtsbezogene
Fremdsprachenforschung derzeit ausgeht und wie sie darauf
aufbauend den Fremdsprachenerwerb konkret modelliert, scheint
daher für Praktiker zunächst einmal nicht so einfach zu beantworten.
Stellt man vor diesem Hintergrund, wie in diesem Sammelband, die
Frage, welche Bedeutung neurowissenschaftliche Erkenntnis für den
Fremdsprachenunterricht haben kann, so muss man meines Erachtens
4
Ein Einführungswerk, das einen anderen Weg geht, ist De Florio-Hansen (2014).
34
zunächst klären, ob und inwiefern die praxisorientierten
Modellierungen überhaupt kompatibel mit neurowissenschaftlichen
Theorierahmen sind, oder ob die Frage ihrer Vereinbarkeit vielleicht –
aufgrund ihrer verschiedenen Paradigmen – überhaupt nicht sinnvoll
stellbar ist.
In diesem Beitrag will ich darum den Leser zu einer Reflexion über
den metatheoretischen Diskussionsstand der Fremdsprachenforschung
einladen. Dabei möchte ich zunächst einen Überblick über den Stand
der Theoriebildung in verschiedenen Teildisziplinen geben, die auch
bewusst solche Ansätze mit einbezieht, die traditionell in der
Fremdsprachenlehrer-Community als weniger bekannt angenommen
werden können. Sinnvoll erscheint mir dabei eine Aufteilung in
unterrichtsferne und unterrichtsorientierte Ansätze, um abschätzen zu
können, welche Theoretisierungen überhaupt die hier interessierende
Reichweite haben. Abschließend soll argumentiert werden, unter
welchen Vorzeichen ein Einbezug neurowissenschaftlicher
Grundlagen in didaktisches Denken hilfreich erscheint.
Unterrichtsabgewandte Strömungen in der
Fremdsprachenforschung
Innerhalb der Fremdsprachenforschung lassen sich verschiedene
Zweige ausmachen, die jeweils sowohl theoretische als auch
angewandte Ziele verfolgen können. Während letztere versucht,
konkrete lebensweltliche, auf Fremdsprachlichkeit und insbesondere
Fremdsprachenunterricht bezogene Probleme zu lösen, zielt die
theoretisch ausgerichtete Fremdsprachenforschung darauf ab, Sprache
und Mehrsprachigkeit als spezifische Phänomene besser zu verstehen
und damit z.B. tiefere Einblicke in menschliche Entwicklungsprozesse
zu gewinnen. Das Erkenntnisinteresse der unterrichtsfernen
Fremdsprachenforschung weist damit letztlich vom untersuchten
Phänomen – Fremdsprachenverarbeitung bzw. Fremdsprachenerwerb
– hin zu übergeordneten Fragestellungen. Die verfügbaren Theorien
lehnen sich zumeist an die entsprechenden Subdisziplinen der
Sprachwissenschaft an: Sprachwissenschaft, Psycholinguistik,
Soziolinguistik, aber auch an die Soziologie, Sozialpsychologie etc.
Werfen wir einmal einen Blick auf dieses Feld.
Linguistisch orientierte Fremdsprachenforschung
Ein dominanter Teil der derzeit aktuellen Fremdsprachenerwerbs-
theorien stammt aus der Sprachwissenschaft. Sie stellen die generelle
Frage: Wie sind die sprachlichen Repräsentationen von
Mehrsprachigen beschaffen? So wird beispielsweise diskutiert, ob das
Erlernen einer weiteren Sprache dieselbe Art von Wissensstrukturen
anlegt und denselben unterliegenden Mechanismen gehorcht wie die
35
Erstsprache, warum bestimmte Satzbildungsmuster eher erworben
werden als andere, wie es sich erklären lässt, dass Lernersprache
produktiv ist, d.h. Lerner in der Lage sind, Strukturen zu produzieren,
die sie so noch nie gehört haben. Lernersprache wird als eigene
Sprachvarietät beschrieben. Solche linguistisch motivierten
Fremdsprachentheorien sind also darauf ausgerichtet, die menschliche
Sprachfähigkeit in ihrer mentalen Repräsentation über die
Untersuchung von mehrsprachigem Sprachwissen zu verstehen, also
die kognitive Architektur von mehrsprachigem Sprachwissen in ihren
Funktionsmechanismen nachzuzeichnen und zu erklären; sie sind
entweder Property Theories (Mitchell & Myles 2004:7; Gregg 2003:
839), indem sie einen bestimmten Zustand des Lernersprachensystems
modellieren, oder Transition Theories, die eine Veränderung im
Sprachsystem durch Erwerbsprozesse in den Blick nehmen (ebd.).
Da sie somit keine unterrichtsbezogenen Fragestellungen verfolgen,
basieren sie auch nicht auf Daten, die in unterrichtlichen
Zusammenhängen erhoben wurden (außer vielleicht als Bestandteil
von großen Lernersprachencorpora).
Für unser fremdsprachenneurodidaktisches Interesse ist hier wichtig,
dass diese Theorien derzeit grob zwei makrotheoretischen
Strömungen zugeordnet werden können, die Sprache und
Spracherwerb unterschiedlich konzeptualisieren: Einerseits als
modulares, regelbasiertes System, andererseits als konnektionistisches
Netzwerk. Die maßgeblich durch die Arbeiten von Chomsky geprägte
modulare Richtung ist in der Linguistik von beiden derzeit die klar
dominantere. Sie geht von folgenden Grundprämissen aus: Sprache ist
eine spezifische menschliche kognitive Fähigkeit, die von anderen
kognitiven Funktionen verschiedenen ist. Menschliches Wissen wird
somit als in verschiedene Module aufgeteilt vorgestellt, die
unabhängig voneinander operieren und lediglich die Ergebnisse ihrer
jeweiligen Verarbeitungsprozesse den anderen Modulen als Input zur
Verfügung stellen. Nur das Sprachwissensmodul, das seinerseits aus
eigenen Sub-Modulen (Phonetik, Morphologie, Syntax, ...) besteht, ist
in universalgrammatischen Theorien Untersuchungsgegenstand.
Spracherwerb wird durch angeborene universale Prinzipien geleitet
und resultiert in unbewusstem, abstraktem Regelwissen. Es wird
versucht, die unterliegenden symbolisch-abstrakten Regeln zu
erfassen und zu beschreiben. Als primäre Datengrundlage wird
spontane oder gezielt erhobene Lernersprachenproduktion untersucht,
die z.B. fehleranalytisch mit einer idealisierten (vgl. dazu Hulstijn
2011) Erstsprachenkompetenz verglichen wird.
White (2003), Hawkins (2001) oder Meisel (2011) sind Beispiele für
Ansätze in modular-universalgrammatischer Tradition. Sie versuchen
36
abzubilden, wie ein idealisierter Fremdsprachenlerner die
Fremdsprache als mentale Grammatik repräsentiert. Dabei illustrieren
sie, dass der universalgrammatische Theorierahmen dazu geeignet ist,
isolierte morphosyntaktische Aspekte von Sprachkompetenz
abzubilden, z.B. Wortstellung, Negation, Wortendungen. Er liefert
jedoch keine Grundlage, um kommunikative oder pragmatische
Kompetenz zu modellieren.
Die universalgrammatische Fremdsprachenforschung ist also primär
theoretischer Natur; nur in Ausnahmefällen finden sich Versuche,
universalgrammatische Grundlagen in einen unterrichtsbezogenen
Kontext zu transferieren (z.B. Whong 2011).
Als Alternative zum modular-universalgrammatischen Ansatz hat
sich, beeinflusst durch Entwicklungen in der Kognitionspsychologie,
eine Strömung in der kognitiven Linguistik herausgebildet, die
grundlegend von konnektionistischen Auffassungen von
Wissenserwerb und -verarbeitung ausgeht. Der Konnektionismus
modelliert menschliches Wissen als Netzwerk, das in seiner Struktur
an die Architektur und Funktionsweise des Gehirns mit seinem
neuronalen Aufbau angelehnt ist. Sprache wird in einem solchen
System nicht durch den unbewussten Erwerb abstrakter Regeln
erworben, sondern – wie jegliche andere Form von Wissen auch –
durch die wiederholte Aktivierung und darauf folgende Verfestigung
bestimmter neuronaler Muster. Nicht abstraktes und angeborenes
Wissen ist damit die Grundlage für Sprachwissen, sondern
wahrgenommene Regelhaftigkeiten im Input: Man lernt Sprache, weil
ihr (rezeptiver wie produktiver) Gebrauch neuronale Spuren und damit
prototypenbasiertes, probabilistisches und frequenzbasiertes
Musterwissen in Form von Form-Bedeutung-Paaren hinterlässt (die
Formseite kann sich in Morphemen, Einzelwörtern, Phrasen-, und
Satzmustern, aber auch größeren Sprachhandlungsmustern wie
Textsorten manifestieren, die mit Bezug auf mögliche
Gebrauchszusammenhänge gespeichert sind).
5
Typischerweise wird
hier auf der Grundlage von Sprachcorpora geforscht, in denen sehr
große Mengen natürlicher Sprache Aufschluss über die tatsächliche
Sprachverwendung und die entsprechenden Kontexte geben.
5
Die häufig angenommene Unvereinbarkeit von universalgrammatischen und
konnektionistischen Ansätzen (z.B. Gregg 2003) wird verschiedentlich adressiert
und diskutiert, inwiefern nicht Modularität und mentale Repräsentation in Form von
abstraktem Regelwissen doch das Resultat von gebrauchsbasiertem,
konnektionistischem Lernen sein können. Sharwood Smith & Truscotts (2014)
MOGUL-Theorie ist ein Beispiel für einen solchen vereinenden Ansatz.
37
Innerhalb solch konnektionistischer Ansätze gibt es verschiedene
theoretische Modellierungen, etwa die kognitionslinguistischen
Ausrichtungen Cognitive Grammar (Achard 2004) und
Konstruktionsgrammatik (Ellis 2013) oder die noch stärker
kognitionstheoretisch basierte Skill Theory (DeKeyser 2001). Der
Vorteil dieses Ansatzes für die Beschreibung von
Fremdsprachenerwerb ist, dass er nicht nur rein auf eine strukturelle
Beschreibung von Sprachwissen, sondern grundlegend funktional
ausgerichtet ist und damit Bedeutung und die Funktion ihres
Ausdrucks als wesentlichen Kern von Sprache betrachtet. Damit bietet
er die Möglichkeit, Spracherwerb eingebettet in den soziokulturellen
Kontext, als Ergebnis individueller Interaktion, eng verbunden mit
anderen Kognitionen und Emotionen und als dynamische,
gebrauchsbasierte Kompetenz zu modellieren (vgl. Bialystok 2001:
54) – und liefert auch eine Rückbesinnung auf behavioristisch
assoziierte Elemente, indem er Wiederholungen für den
Fremdsprachenerwerb eine zentrale Rolle zumisst. Diese Theorien
spiegeln einen subjekttheoretischen Paradigmenwechsel in den
Kognitionswissenschaften, indem sie beginnen, menschliche
Informationsverarbeitung unter Einbezug von emotionalen, sozialen
und kontextuellen Aspekten zu modellieren. Die unterliegenden
Modelle der Embodied Cognition (z.B. Barsalou 2008; Shapiro 2011)
und der Dynamischen Systemtheorie (de Bot et al. 2013) haben
gemeinsam, dass sie sich an der Funktion, nicht nur der Struktur von
Sprache, unter Integration von Motiven zu ihrem Gebrauch
orientieren. Embodiment-Ansätze erweitern somit das Verständnis von
Sprache erheblich, indem sie von multimodalen
Repräsentationsformen ausgehen: So wird ein Wort nicht mit einer
abstrakten, amodalen semantischen Form verknüpft, sondern der
Bedeutungsgehalt, der durch die lexikalische Form aktiviert wird,
besteht aus erfahrungsbasierten sensorischen (z.B. beim Wort
„Apfel“: Vorstellungen von Aussehen, Geruch, Haptik), kontextuell
und mit Emotionen verknüpften Wissensbeständen (vgl. z.B. Rickheit
et al. 2010: 107).
Trotz einiger unterrichtsorientierter Ansätze (Achard & Niemeyer
2004; Bielak & Pawlak 2013; Littlemore 2011, Tyler 2012) geht es
allerdings auch im kognitiv linguistischen Diskurs in erster Linie um
sprachtheoretische Erkenntnis und ihre formale Modellierung. Die
Übertragung in fremdsprachenunterrichtliche Anwendung stellt hier
insgesamt ein noch wenig erschlossenes Feld dar.
Soziokulturelle Ansätze
Soziokulturell-funktionale Ansätze gehen ebenfalls über eine rein
mentalistische Perspektive hinaus, indem sie sich für Sprache in erster
38
Linie als Phänomen interessieren, das soziale und kulturelle
Funktionen erfüllt. Seine Struktur ist in diesen Funktionen verankert
und kann auch nicht ohne ihren Einbezug verstanden und adäquat
beschrieben werden. Soziokulturelle Ansätze modellieren die
spezifischen Mechanismen von Sprachwahl, Prinzipien des
tatsächlichen Gebrauchs verschiedener Sprachen im gesellschaftlichen
Kontext, Merkmale verschiedener Diskurse etc. Die Konzeption von
Sprache und Mehrsprachigkeit als soziale Werkzeuge bedeutet, dass
nicht-sprachliche Konzepte wie Gruppenzugehörigkeit, Identität,
Macht, Gender etc. hier in Theoretisierungen mit aufgenommen
werden. Im L2-Kontext werden dabei zumeist die theoretischen
Positionen Wygotskis (1986) oder die systemisch-funktionale
Linguistik Halliday’scher Prägung (z.B. Eggins 2004) als
Bezugspunkt verwendet. Forschungsarbeiten in diesem Rahmen
fragen beispielsweise danach, unter welchen sozial-kontextuellen
Umständen mehrsprachige Personen zwischen ihren Sprachen
wechseln, welche sprachlichen Merkmale mit bestimmten Funktionen
verbunden sind und wie durch Sprache soziale Identitäten konstruiert
werden. Forschungsmethodisch greifen sie häufig auf ethnographische
und konversationsanalytische Methoden zurück. Dabei sind sie nicht
zwangsweise minder theoretisch ausgerichtet als andere linguistische
Ansätze (z.B. Fawcett 2000), haben aber einen großen Einfluss in
anwendungsbezogenen Bereichen, z.B. in der Zweitsprachen-
erwerbsforschung und der Schreibdidaktik, insbesondere im
angelsächsischen Raum.
Psycholinguistisch orientierte Fremdsprachenforschung
Die Psycholinguistik als Teildisziplin lohnt sich gesondert in den
Blick zu nehmen, weil ihr Ansatz einen großen Teil der
Fremdsprachenforschung bestimmt. Sie ist ein strikt empirisch
arbeitender Zweig der Sprachwissenschaft, der sich dem Wesen von
Sprache über eine Untersuchung von Prozessen sprachlicher
Verarbeitung (also Verstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben) nähert und
dabei spezifische mentale Kontroll- und Steuerungsmechanismen
modelliert.
Die psycholinguistische Fremdsprachenforschung fragt so etwas
wie: Welche Prozesse laufen im Kopf von Mehrsprachigen ab? Das
kann beispielsweise heißen: Wie schaffen sie es, ihre Sprachen beim
Sprechen auseinanderzuhalten (z.B. Festman 2012)? Wie interagieren
die verschiedenen Sprachen beim Sprechen (z.B. Williams &
Hammarberg 1998)? Sind mit den verschiedenen Sprachen auch
unterschiedliche mentale Konzepte verbunden (z.B. Pavlenko 2009)?
Hat Mehrsprachigkeit Vorteile für andere Bereiche kognitiver
Verarbeitung (Bialystok 2001)? Wie ist Mehrsprachigkeit mit
39
Emotionen verbunden (Pavlenko 2005)? Werden Fremdsprachen in
Form von festen Erwerbssequenzen erworben (Pienemann 1989,
1998, Goldschneider & DeKeyser 2001)?
In ihren Modellen der Sprachverarbeitung beinhaltet die
Psycholinguistik, und damit auch die psycholinguistische
Fremdsprachenforschung, stets auch Vorstellungen über die
Speicherung und Repräsentation von Sprachwissen. Sie ist damit eng
angelehnt an die oben dargestellten Modelle aus den
sprachwissenschaftlichen Zweigen und operiert explizit oder implizit
entweder im modular-universalgrammatischen (bspw. Pienemann
1989, VanPatten 2006) oder einer Form des konnektionistischen
Paradigmas (z.B. Ellis 2006).
Psycholinguistische Ansätze basieren sehr häufig auf dem
einflussreichen Modell einsprachiger Verarbeitung nach Levelt
(1989), das für die Erforschung von mehrsprachigen Sprechern durch
de Bot (1992) adaptiert wurde. Als Beispiele für Theorien im
psycholinguistischen Feld können die folgenden dienen: Pienemann
(1998) zeichnet in seiner Processability Theory Erwerbssequenzen des
L2-Erwerbs nach und erklärt, warum L2-Lerner nur solche L2-
Formen verstehen und produzieren können, die ihr
Sprachverarbeitungssystem auf dem jeweiligen Erwerbsstand aktuell
bewältigen kann. VanPatten (2006) modelliert in seiner Input
Processing Theory lexikalisch basierte Verstehensprozesse mit der
Etablierung von Form-Bedeutung-Paaren als grundlegend für den
Fremdsprachenerwerb. Herdina & Jessner (2002) präsentieren ein
Modell, das auf der Grundlage der Dynamischen Systemtheorie und
Chaostheorie Mehrsprachigkeit, insbesondere auch Unterschiede
zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit modelliert und dabei z.B.
Mechanismen des Erwerbs, aber auch des graduellen Verlusts einer
einmal beherrschten Sprache in den Blick nehmen. Theorien, die sich
mit Fragen der Aktivierung und Kontrolle bei der Produktion
mehrerer Sprachen befassen und die beispielsweise erklären können,
woher unintendierte Sprachwechsel kommen, finden sich bei Green
(1998) und Williams & Hammarberg (1995).
Psycholinguistische Forschung verwendet typischerweise
Datenarten, die in streng kontrollierten, experimentellen Settings
gewonnen werden (etwa Blickbewegungen, Tastaturprotokolle,
Messung von Reaktionszeiten, vgl. Mackey & Gass 2005), aber es
gibt auch eine auf qualitativen Daten beruhende psycholinguistische
Fremdsprachenforschung (Williams & Hammarberg 1998 etwa
verwenden in Zwiegesprächen elizitierte Daten als Grundlage ihres
Modells; Pavlenko 2003 erarbeitet ihre theoretischen Modellierungen
u.a. aus narrativen Daten). Psycholinguistische, auf
konnektionistischen Modellen basierende Forschung integriert aber
40
immer häufiger auch neurowissenschaftliche Ansätze (s. Golestani
2014; Ingvalson 2014, Reiterer 2010).
Unterrichtsbezogene Fremdsprachenerwerbstheorien
Wie soeben dargestellt ist ein sehr großer Teil der Fremdsprachen-
forschung nicht auf Unterricht gerichtet, weil sie an einer abstrakten
Beschreibung von Sprachwissen und Bedingungen seiner
Verwendung interessiert ist. Ihre Ergebnisse sind zumeist – wenn
überhaupt – nur in groben Zügen auf die Komplexität des
Fremdsprachenunterrichts mit seinen vielen außersprachlichen
Variablen zu übertragen.
Unterrichtsnahe Theorien über den Fremdsprachenerwerb dagegen
sind prinzipiell in den gleichen linguistisch, kognitionspsychologisch
oder soziologisch orientierten Paradigmen verankert, stellen aber
gezielt die Frage, wie der Fremdsprachenunterricht am besten zu
gestalten sei, damit Fremdsprachen möglichst erfolgreich gelernt
werden können. Dabei lassen sich zwei Positionen unterscheiden:
eine, die die Einflussmöglichkeiten von Unterricht auf das
Fremdsprachenlernen eher skeptisch sieht, und eine andere, die
unterrichtlicher Intervention eine entscheidende Rolle für die
Entwicklung von fremdsprachlicher Kompetenz zuschreibt.
Position 1: Unterricht spielt keine entscheidende Rolle
Die „Unterrichtsskeptiker“ basieren ihre Auffassung primär auf
universalgrammatischen Kernannahmen und bezweifeln, dass
(insbesondere ein grammatikfokussierter) Unterricht, insbesondere
einer, der explizites Wissen vermittelt, eine besonders relevante
Variable für den Fremdsprachenerwerb darstellt. Stattdessen sehen sie
den Fremdsprachenunterricht lediglich in der Funktion, genügend
relevanten fremdsprachlichen Input zur Verfügung zu stellen, den der
jeweilige Lerner aufgrund des Entwicklungsstandes seines
Lernersprachensystems gerade benötigt. Der Grund für diese Position
ist die Annahme, dass der Fremdsprachenerwerb sich parallel zum
Erstspracherwerb in Replikation natürlicher Erwerbssequenzen
vollzieht (vgl. Pienemanns erwerbssequenzbasierte Teachability-
Hypothese). Die L1=L2-Hypothese oder Identitätshypothese (s. für
Überblick Bley-Vroman 1988) ist ein solcher theoretischer Ansatz,
der Fremdsprachenerwerb auf universalgrammatischer Grundlage im
Wesentlichen als Replikation des Erstsprachenerwerbs versteht;
Krashens Monitormodell steht in der gleichen Tradition und sieht
verständlichen Input als notwendige – und ausreichende – Bedingung
für den Fremdspracherwerb. VanPattens Input Processing Theory
(VanPatten 2006) stellt ein neueres Modell dar, das jeglichen
41
Spracherwerb als stark inputabhängig modelliert und damit die Rolle
von unterrichtlicher Intervention stark abschwächt.
Diese deutlich inputorientierte Position führte vor allem in den
1980er Jahren zu einer Fülle an pädagogisch-didaktischen
Umsetzungsformen, die durch verhältnismäßig wenig lehrerseitige
Steuerung geprägt waren. Da der unterliegende Theorierahmen dem
expliziten Thematisieren von Grammatikphänomenen oder
wiederholtem Üben keinen Effekt zuschreibt, beschränkt sich die von
ihm abgeleitete pädagogische Aufgabe darauf, den Unterricht an der
Progression der natürlichen Erwerbssequenzen auszurichten und
reichlich verständlichen Input bereitzustellen. Inhaltsfokussierte
Immersionsprogramme, bei denen die Fremdsprache als
Arbeitssprache im Sachfachunterricht verwendet wird, sind ein
prominentes Beispiel für derartige Umsetzungen. Ebenso zeigen sich
Spuren davon in einem ausgeprägten Fokus auf kommunikative
Kompetenz unter Vernachlässigung von grammatikalischer
Korrektheit, wie er etwa im auf der Monitorhypothese aufbauendem
Natural Approach (Krashen & Terell 1983) verfolgt wird. Pienemanns
Teachability Hypothesis geht zwar davon aus, dass
Fremdspracherwerb von gezielter Instruktion in bestimmten
sprachlichen Bereichen profitieren kann, allerdings nur, wenn das
Lernersprachensystem für den nächsten Entwicklungsschritt bereit
ist – was im Grunde ein Plädoyer für hochindividualisiertes Lernen
darstellt und die Möglichkeiten des Lernens im traditionellen
Klassenverband stark relativiert.
6
Position 2: Unterricht macht einen Unterschied!
Mit der Position der „Unterrichtsbefürworter“ dagegen kommen wir
zu dem theoretischen Feld, das insbesondere für (angehende)
Fremdsprachenlehrer von Belang ist, denn hier unterliegt die
6
Die modular-universalgrammatische Fremdsprachenforschung hat dennoch eine
Reihe von wichtigen Grundlagen geliefert, die von großer Relevanz für
unterrichtliche Prozesse sind. Nennen will ich an dieser Stelle nur die Erkenntnis,
dass Fremdsprachenlerner einen nichtlinearen, hypothesentestenden Prozess der
Entwicklung einer eigenständigen, durch Systematizität geprägten Sprachform
(„Interlanguage“) durchlaufen, der u.a. durch Transfer aus der Erstsprache und
Übergeneraliserungen von Zielsprachenregeln, aber auch durch natürliche
Erwerbssequenzen geprägt ist. Auf dieser Konzeption von Lernersprache basiert die
unterrichtsbezogenen Fehler- und Feedbackforschung (z.B. Kleppin 2010), so dass
die modular-linguistische Erkenntnis hier zu unmittelbaren Konsequenzen im
Umgang mit Fehlern im Fremdsprachenunterricht führen: Statt Fehler – wie noch
unter behavioristischen Vorzeichen – als etwas zu betrachten, das vermieden werden
muss, liefern Sie Einblick in den jeweiligen Erwerbsstand der Lerner und bieten
Lerngelegenheiten, die unterrichtlich nutzbar sind.
42
Annahme, dass durch Unterricht Fremdsprachenlernen wesentlich
optimiert werden kann.
Das Input-Interaktion-Output-Paradigma (IIO) stellt in diesem
Zusammenhang einen derzeit prominenten Theorierahmen dar, in dem
Bedeutungs- und Formfokus miteinander verbunden werden. Es
umfasst als Einzelhypothesen die Input-, die Output-, die Interaktions-
und die Aufmerksamkeitshypothese mit jeweils eigenen
Forschungsdiskursen, die aber alle im Zusammenhang miteinander
stehen und auf Daten aus unterrichtlichen bzw. unterrichtsnahen
Kontexten basieren (vgl. zusammenfassend Gass & Mackey 2007,
Mitchell & Myles 2004). Vor allem werden dabei
Unterrichtsinteraktionen untersucht, gepaart mit introspektiven
Verfahren wie retrospektiven Interviews. Während jegliche
Spracherwerbstheorie unabhängig von ihren sonstigen Annahmen
Input als zentralen Faktor identifiziert – ohne Input kein Spracherwerb
– geht das IIO davon aus, dass Input zwar zentral wichtig, jedoch
nicht allein ausreichend dafür ist, dass eine Fremdsprache optimal
gelernt werden kann (Swain 1993). Vielmehr müssen Lerner auch
Äußerungen in der Fremdsprache produzieren und dabei bemerken,
dass ihnen kommunikative Mittel zum Ausdruck ihrer
Mitteilungsabsicht in der Fremdsprache fehlen, um entsprechende
Aspekte der Fremdsprache erwerben zu können (vgl. die Noticing-
Hypothese von Schmidt 2001). Dazu ist die gezielte Produktion von
Output notwendig. Es ergeben sich Lerngelegenheiten, wenn Lernern
in solchen Situationen die entsprechenden Mittel zur Verfügung
gestellt und sie in die Lage versetzt werden, sie zu verwenden. Eine
zentrale Aufgabe von Fremdsprachenunterricht ist es damit, solche
Merkmale des Inputs ins Blickfeld zu holen, die wenig prominent
sind, sie zu erläutern, und Output der entsprechenden Formen zu
stimulieren. Hierbei spielt neben der Bereitstellung von salientem
Input auch explizite Fehlerkorrektur, Bedeutungsaushandlung sowie
das (zielsprachenkonforme) Wiederholen der entsprechenden
Äußerung durch die Lehrperson eine wichtige Rolle. Besonders
kollaboratives Aufgabenbearbeiten, bei dem Lerner sich in
bedeutungsvollen Aktivitäten sprachlich austauschen (Long 1996:
451ff), werden als gute Lernsituationen aufgefasst. Für den Unterricht
bedeutet dies, dass für die Lerner insgesamt reichlich Möglichkeiten
geschaffen werden müssen, um die Zielsprache kommunikativ, aber
gleichzeitig mit Fokus auf die sprachliche Form produzieren zu
können.
Das IIO steht in Kontrast zur starken Fokussierung auf implizites
Lernen in universalgrammatischen Theorien und findet seine
methodische Umsetzung u.a. im kommunikativen Ansatz des
Fremdsprachenunterrichts und im Task-based Approach.
43
Der theoretische Makrorahmen für diese Position ist die
soziokulturelle Theorie Wygotski’scher Prägung. Wie wir oben
gesehen haben, ist sie damit nicht explizit auf
kognitionspsychologische Grundlagen wie Lern- und
Gedächtnismodelle in konnektionistischer Tradition bezogen, jedoch
grundlegend mit ihnen kompatibel: Lernen, und damit auch
Fremdsprachenlernen, ist auf der Grundlage von allgemeinen
Problemlösefähigkeiten (nicht besonderen Sprachlernmechanismen)
zu verstehen und findet durch wiederholten, bedeutungsvollen
Gebrauch in sozialen Interaktionssituationen statt. Weil dabei
individuelle Konstruktion auf der Grundlage von Vorwissen eine
zentrale Rolle spielt, weisen Personen individuelle Unterschiede in
Lernprozessen und ihren Ergebnissen auf, die jedoch durch kulturelle
und Umfeldvariablen geprägt sind. Die sich daraus ergebende
Lehrerrolle hat sich damit verändert hin zu Konzepten wie
Lernberater, Bereitsteller von Lerngelegenheiten (u.a. durch
Binnendifferenzierung und Scaffoldingtechniken).
Zu bedenken ist, dass das IIO-Modell lediglich die Faktoren Input,
Interaktion und Output in ihrer Bedeutung für das
Fremdsprachenlernen zu beleuchten versucht. Es ist also keine
umfassende Theorie, die Fremdsprachenlernen holistisch mit allen
wichtigen Faktoren erfassen will. Allerdings gibt es komplexere
Ansätze, die diesem Anspruch versuchen, etwas näher zu kommen: Zu
nennen sind hier das sozioedukative Modell nach Gardner (2010),
oder das Modell des sozialen Kontexts nach Clément (1980), die beide
den Faktor Motivation in den Mittelpunkt von dynamischen
Modellierungen rückt. Sie tragen dem Faktum Rechnung, dass
nichtsprachliche Variablen wie Angst, Einstellungen gegenüber der
Zielsprache, Sprachlerneignung, Sprachlernstrategien, der Grad an
Feldabhängigkeit und Selbstvertrauen wesentliche Auswirkungen
darauf haben, wie erfolgreich eine Fremdsprache gelernt wird, wobei
Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der Faktoren untereinander
anzunehmen sind (vgl. Gardner, Tremblay & Masgoret 1997). Das
sich an derartigen Überlegungen aufspannende und weite Teile der
aktuellen angewandten Fremdsprachenforschung bestimmende
Forschungsfeld zu individuellen Lernerfaktoren macht dabei
Gebrauch von einer Vielzahl von empirischen Datenarten qualitativer
und quantitativer Art (Überblick z.B. in Settinieri et al. 2014).
Ebenfalls im Lichte eines soziokulturell-funktionalen Sprach-
verständnisses steht die prominente Position des Gemeinsamen
europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) mit
seinen gestuften Kompetenzformulierungen, sowie die curricular
festgeschriebene Rolle, die der Entwicklung von Interkulturalität im
Fremdsprachenunterricht als Weiterführung des kommunikativen
44
Ansatzes zukommt. In ihnen spiegelt sich ebenfalls eine Sicht wider,
die Sprache funktional als „Türöffner“ und als Werkzeug zur Teilhabe
an Diskursgemeinschaften konzeptualisiert.
Für die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik ist weiterhin die
intensive Diskussion anzumerken, die in Übertragung von
konstruktivistischen Grundlagen aus der allgemeinen Lehr-
Lernforschung auf das Feld des Fremdsprachenlehrens und -lernens
v.a. um die Jahrtausendwende geführt wurde (vgl. Wolff 2002, vgl.
auch die in der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung im Jahr 2002
geführte Diskussion). Sie stehen in Zusammenhang mit Konzepten
wie Lernerautonomie, aber auch mit Lernstrategien und anderen
individuellen Lernervariablen, sowie der veränderten Rolle der
Lehrkraft hin zur Lernberatung. Obwohl konstruktivistische Ansätze
durch ihre grundsätzlich kognitive Ausrichtung mit den
entsprechenden Theorien aus der Kognitionspsychologie kompatibel
sind, weist ihre Rezeption in der (deutschen) Fremdsprachenforschung
eine deutliche Assoziation mit postmodernistischen Positionen auf.
Diese verhalten sich skeptisch dazu, inwiefern „reduktionistische“
naturwissenschaftlich-positivistische Ansätze der Kognitions- und
Neurowissenschaften, die soziale Konstruktion außer Acht lassen,
tatsächlich adäquate Beschreibungsansätze für den unterrichtlichen
Fremdsprachenerwerb sein können (vgl. im internationalen Diskurs
dazu auch die durch Lantolf (1996) angestoßene Debatte in Language
Learning).
Zwischenfazit
Keine der derzeitigen Fremdsprachenerwerbstheorien erhebt den
Anspruch, Fremdsprachenerwerb in seiner vollen Komplexität zu
modellieren. Die aktuelle unterrichtsbezogene Fremdsprachen-
forschung bezieht sich somit auch nicht auf ein einheitliches
Theoriekonstrukt, sondern bearbeitet vielmehr verschiedenen
Forschungsbereiche, wie IIO, den Forschungsbereich individuelle
Unterschiede, oder Lernerautonomie.
Mit Blick auf die makrotheoretische Einbettung ist dabei erkennbar,
dass modular-universalgrammatische Fremdsprachenerwerbstheorien
zwar in der unterrichtsfernen Fremdsprachenforschung hochaktuell
sind, aber in der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts heute so
gut wie keine Anwendung finden. Vielmehr ist der
unterrichtsbezogene Diskurs an soziokognitiven und soziokulturellen
Modellen orientiert. Dabei sind Fremdsprachentheorien kognitiver
Art, die explizit auf konnektionistisches Lernen rekurrieren,
gegenüber Modellierungen auf soziokulturellen Abstraktionsgrad
weitaus seltener vertreten. Aber wenn auch soziokulturelle
Lernmodelle Prozesse des Aufbaus, der Repräsentation und des
45
Abrufs von (Sprach-)Wissen nicht in der gleichen Detailgenauigkeit
explizieren wie explizit konnektionistische Modelle, so sind doch
beide miteinander gut verbindbar. Dies ist wichtig, will man
neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit dem unterrichtsbezogenen
Diskurs der Fremdsprachenforschung in Verbindung bringen; denn
durch ihre Anlehnung an neuronale Strukturen sind, wie oben bereits
betont, konnektionistische Sprachlernmodelle grundsätzlich
kompatibel mit neurobiologischen Phänomenen.
Die unterrichtsbezogene Fremdsprachenforschung versteht damit
Sprache als aus individueller Erfahrung und Gebrauch in sozialen
Situationen entstandenes symbolisches Werkzeug, das soziale und
kognitive Funktionen erfüllt und dabei mit anderen kognitiven
Funktionen sowie Emotionen eng verbunden ist.
Fremdsprachendidaktische Konsequenzen aus neurowissen-
schaftlichen Erkenntnissen
Abschließend will ich nun ansatzweise darüber reflektieren, wie die
vorzufindenden Ergebnisse aus neurowissenschaftlicher Forschung
auf die Ebene der fremdsprachenlerntheoretischen Diskussion zu
beziehen sind.
7
Die fremdsprachenbezogene Neurolinguistik ist eine noch junge
Disziplin (exemplarisch z.B. Osterhout et al. 2008; Reiterer 2010), die
fremdsprachenbezogene Neurodidaktik noch jünger (für einen
Überblick s. Sambanis 2013). In unserem Kontext ist es dabei
interessant, dass sich die meisten neurobiologisch abgeleiteten
didaktischen Empfehlungen auf allgemeine Aspekte von Lernen
beziehen. Sambanis (2013: 7) beispielsweise verweist darauf, dass es
auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse empfehlens-
wert erscheint,
„wenn bei der Entwicklung bestimmter Kompetenzen und Teilkompetenzen viele
Wiederholungen stattfinden [...], wenn anstelle von Belohnung von außen
Herausforderungen geschaffen und wenn zu Fehlern Rückmeldungen gegeben
werden etc.“
So sinnvoll diese Aspekte zur Unterstützung von Lernprozessen
erscheinen und so gut begründbar sie auch auf neuronaler Ebene sind
(ebd.), von ihnen ist keiner sonderlich (fremd-)sprachenspezifisch. Mit
7
Hier will ich anmerken, dass ich selbst weit davon entfernt bin, Expertin auf dem
Gebiet der neurolinguistischen Forschung zu sein. Mein Standpunkt spiegelt daher
lediglich einen Rezeptionsstand ausgewählter Literatur wider; darin ist er aber
vielleicht typisch für Fremdsprachenforscher mit unterrichtsbezogenem Interesse,
und an dieser Stelle als Reflexionsgrundlage von Belang.
46
diesen allgemeinen Aspekten will ich mich im Folgenden deshalb gar
nicht weiter befassen, sondern sogleich nur solche herausgreifen, die
sich spezifisch auf das besondere Wesen von Sprache und
Fremdsprachlichkeit beziehen lassen. Zentraler Ausgangspunkt ist
dabei die semiotische Natur von Sprache mit ihrer Form-Bedeutung-
Verbindung. Folgende Annahmen erscheinen mir auf der Grundlage
von Kategorien aus dem soziokognitiven und soziokulturellen
Paradigma mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen gut vereinbar:
Fremdsprachenlernen als multisensorisches Lernen:
Neurolinguistisch-psycholinguistische Forschung liefert die
Erkenntnis, dass Sprachverarbeitung komplex und über verschiedene
Hirnareale verteilt ist, die auch bei sensorischer Verarbeitung aktiv
sind. Sprache ist nicht von anderen kognitiven Fähigkeiten trennbar.
Beim Aufbau von neuem Wissen in der Fremdsprache sind immer
auch andere Bereiche (Vorwissen, nicht-sprachliche und auf andere
Sinnesmodalitäten bezogene konzeptuelle Wissensbestandteile)
mitbetroffen. Fremdsprachenerwerb kann somit kein ausschließlich
das Sprachwissen betreffender Vorgang sein. Mit seinen Annahmen
der Embodied Cognition liefert der Konnektionismus eine
Verständnisgrundlage dafür, dass Fremdsprachenlernen besonders in
multisensorischen Kontexten gelingen kann: „
„Each of the senses has a separate storage area in the brain. In multisensory
learning, more areas of the brain are stimulated […]. Activities that use multiple
senses mean duplicated storage of information and thus more successful recall.”
(Willis 2010: 60)
Hier erscheinen u.a. Lerngelegenheiten sinnvoll, die Bewegungen und
Gesten zur Unterstützung beim lexikalischen Lernen involvieren, um
die sprachliche Form stärker mit Bedeutung zu verknüpfen.
Fremdsprachenlernen als situatives Lernen:
Ebenso wie Sprache nicht von anderen Sinnesmodalitäten getrennt
werden kann, kann sie von ihrer sozialen Funktion getrennt werden.
Sprachwissen wird darum mit Repräsentationen über ihre sozialen
Verwendungssituationen gespeichert. Hier erscheinen u.a.
Lerngelegenheiten in realen Verwendungssituationen oder ihrer
Simulation (Theater, Rollenspiel) sinnvoll.
Fremdsprachenlernen als emotives Lernen:
Sprache ist nicht von Emotionen trennbar. Während dies auf jegliches
Lernen zutrifft und für das generelle Gestalten von Lernumgebungen
leitend sein sollte, z.B. durch Lernsituationen, die mittels der
47
Simulation von Verwendungssituationen (auch hier: Theater,
Rollenspiel) emotionale Involvierung erlauben (vgl. für Beispiele
Sambanis 2013), scheint es lohnenswert, die spezifische Verbindung
von individuellen Emotionen und Sprache auch auf einer Metaebene,
z.B. in Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachen,
gezielt in den Blick zu nehmen. Welche emotional gefärbten
Assoziationen bringt welche Sprache mit sich? In welcher Sprache
kann ich meine Emotionen ausdrücken? Wie ist Sprache mit Identität
verknüpft?
Fremdsprachenlernen als individuelles Lernen:
Sprachwissensrepräsentation und -verarbeitung ist individuell
verschieden. Die Tatsache, dass Lernen immer an Vorwissen ansetzt,
erfahrungsbasiert ist und auf individuellen Strukturen basiert, führt zur
Erkenntnis, dass die entstehenden kognitiven Strukturen
interindividuell unterschiedlich ausgeprägt sein werden. Von Lerner
zu Lerner sind damit unterschiedliche Wissensbestände, aber auch
Lernwege und -anlässe zu erwarten; was bei einem Lerner
Erwerbsprozesse auslöst, muss dies nicht bei anderen – was auch
Unterschiede in der mentalen Repräsentation als Lernergebnis
nahelegt. Mehrsprachige Personen können darüber hinaus
unterschiedlichen Verarbeitungstypen zugeordnet werden (vgl.
Festman 2012).
Fremdsprachenlernen als Musterlernen:
Da Sprachwissen nicht als abstraktes Regelsystem, sondern als
probabilistisches und prototypenbasiertes Musterwissen anzunehmen
ist, erscheint es sinnvoll, derartige Muster für Lerner erkennbar zu
machen. Sinnvoll scheint es dabei etwa, reichhaltigen Input mit
entsprechenden Formen zu bieten und gleichzeitig die
Mustererkennung zu erleichtern, etwa durch Hervorhebungen, aber
auch, indem neues Vokabular stets in der lexikalischen Umgebung
seiner Verwendung eingeführt wird.
Fazit
Im Lichte dieser generellen Theoriediskussion lässt sich festhalten:
Der derzeitige Diskurs in der unterrichtsbezogenen Fremdsprachen-
forschung bietet eine gute Grundlage für eine Integration
neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Grundsätzlich erscheinen dabei
viele fremdsprachendidaktische Konsequenzen aus dem Wissen über
Aufbau und Funktionieren des Gehirns nicht neu; viele ganzheitlich
oder multisensorisch orientierte Methoden wie die Suggestopädie
(Schiffler 1989), Total Physical Response (Asher 1969) oder die
Dramapädagogik (Moraitis 2011) sind als handlungsorientierte
48
Ansätze aus soziolinguistisch-interaktionalen Theorierahmen
entsprungen und erhalten durch die neue neurobiologische Evidenz
lediglich eine zusätzliche Sicherung bzw. das Potenzial für eine kleine
Renaissance (z.B. Lernen durch Bewegung, Sambanis & Speck 2010,
die Rolle von Gesten, vgl. Gullberg 2008).
Insgesamt erscheinen die Zugänge der kognitiven Psycholinguistik
zur Erweiterung der soziokulturellen Ansätze vielversprechend, weil
sie erlauben, Lernprozesse in größerem Auflösungsgrad in den Blick
zu nehmen. Sie sind allerdings bisher noch verhältnismäßig wenig für
den Praxisbezug erschlossen.
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Julia Festman
Individual differences in control over languages and
processing – and a link to neurodidactics
First, this paper describes and defines individual differences,
executive functions, as well as the concept of language control and
cross-language interference (as a particularly interesting example of
language control). Second, I will explore whether language control
abilities and executive control abilities are a matter of individual
differences. Finally, I will present one view of neurodidactics and its
basic principles based on the concepts described before.
Already when merely observing participants’ performance on an
experimental task, individual differences can often be easily detected.
Just to describe one example: Participants were seated in front of a
computer screen. They were asked to perform on the “Tower of
Hanoi” task, a computerized version of a psychometric test. The
experimenter explained that the participants would see three pegs (see
Figure 1). For training purposes, three discs would be located on the
left peg. For testing, participants would have to rearrange four and
five discs. The goal would be to move all the visually presented discs
from the left to the right peg (see Figure 2). The participant would
have to click and drag one disc at the time with the mouse button,
following a set of rules (e.g., a disc could only be placed either on an
empty peg, such as the middle when starting, or on top of a larger
disc). Every rule violation would be punished with 100 error points.
Participants were asked to complete the task as quickly as possible by
using the fewest possible moves.
Figure 1
56
Figure 2
Following the task explanation, some participants grasped the mouse
button and started to move discs vigorously while collecting many
error points. Others, however, sat still, and rather than the mouse
button they moved their eyes quickly between the pegs. These latter
participants hardly produced any errors, performed very fast, and
solved the task accurately with the minimum number of moves.
The findings in this study go far beyond mere anecdotal
observations. The participants, a group of native Russian students
(mean age 24 years, N=29) at the University of Magdeburg, differed
not only in how they went about solving this task – either by trial and
error, like the former group, or by planning all the necessary moves
ahead, avoiding error points. Compared to the former, the latter group
showed further superior performance in a number of other cognitive
tasks as well as different language tasks, irrespective of intelligence or
language proficiency (Festman et al. 2010; Festman 2012;
Festman/Münte 2012).
Executive functions
Executive function (EF) is widely characterized as higher-order
domain-general cognitive processes enabling one to flexibly control
goal-oriented behavior and to adapt to changing environment, or with
Miyake et al.’s words: executive functions are
(…) general purpose control mechanisms that modulate the operation of
various cognitive subprocesses and thereby regulate the dynamics of human
cognition. (Miyake et al. 2000, 50)
The currently most popular understanding of EF is following
Miyake et al. (2000, p. 50) who, based on a latent-variable analysis
differentiated EF into three main factors: updating information in
working memory, shifting between mental sets, and inhibition (i.e.,
suppressing irrelevant information).
One task that is based on all three executive function factors, namely
updating, shifting and inhibition, is the Wisconsin Card Sorting Test
For a depiction please see Festman/Münte 2012, Figure 1. The
participant is presented with four different symbol shapes (a cross, a
57
star, a circle or a triangle) in one of four colors (yellow, red, green or
blue), and varying in number, from one to four. Every single stimulus
that is presented as a “card” differs in shape, color and number, e.g.
one red triangle, three green stars, etc. The participants’ task is to sort
one stimulus card (e.g. three red crosses) according to a certain rule
(color, shape or number). Inhibition has to be employed in order to
keep on using the one relevant rule and to ignore the other two rules.
For example, the current target rule is “color”. Consequently, the three
red crosses card would have to be sorted in the pile of red shapes
rather than the other colors. A rule change is required. The participant
has to change the sorting behavior by shifting the focus from one rule
to another. For example, the participant has to stop sorting according
to the color-rule and prioritize the shape-rule. In order to do so the
participant is required to update the rule information in working
memory. Perseveration errors are a reflection of the failure to change
the rule.
Language control
A bilingual speaker has two languages available for communication.
In cases when only one of the languages should be used, e.g. when
writing an essay in French, language control is indispensable. As
described in more detail in Festman and Schwieter (to appear),
language control principally refers to two cognitive processes used by
bilingual speakers: The first cognitive process refers to the language
control in conditions when only one of the languages (the target
language). At the same time, the bilingual mind has to prevent
interference from the non-target language; that is, the bilingual has to
avoid any unintentional, unplanned and inappropriate use of the other
language.
The second cognitive process involves language control that is
necessary when changing the target language. For instance, if Jim only
speaks English and Jacqueline only French, then Tobi will most likely
speak English with Jim, and when meeting Jacqueline, switch to
French. This language switch from English to French is necessary if
Jim, the bilingual, wants to be a language-appropriate interlocutor.
Since the language knowledge of the monolingual interlocutors
determines the selection of the language to be used in these
conversations, any use of the other language would thus be considered
inappropriate in this conversational context. Tobi therefore has to
make a language switch depending on the conversational partners’
change. This is possible due to the cognitive process of language
control, executing a voluntary choice of language use.
Green’s influential “inhibitory control” model of activation,
inhibition, and control drew attention to the processes necessary for
58
using either one of a bilingual’s languages (Green 1986, 1998). It is
most probable that two common mechanisms involved in guiding
attention are also employed. It is usually understood that the relevant
information is enhanced, while at the same time the irrelevant
information is inhibited (Roesler 2011, 85). Consequently, as regards
language control, the relevant language (so-called target language) is
enhanced or more highly activated while the irrelevant language (i.e.,
non-target language) is inhibited.
Cross-language interference
In an experimental study, a bilingual picture naming task is
administered. Participants are presented with pictures of concrete
nouns, e.g. a dog (see Figure 3). Before every presented picture, a
colored frame is shown, in one of two colors. The participants are told
beforehand which color represents which language. For example, the
color red means: name the next picture in German, the color green:
name the next picture in English. A participant might produce the
response “dog” rather than “Hund” when a dog is shown with a red
frame indicating German as the target language, another might
produce the response “Katze” (English “cat”) for the dog picture with
the red frame. Both responses would be wrong.
Figure 3
Cross-language interference is commonly defined as the involuntary
use of the non-target language during target language production (as
in our example “dog” rather than “Hund”). Such inaccurate
performance reflects failures of control with regard to the target
59
language. In contrast, substitution errors reflect inaccurate
performance with regard to the content, while being correct in terms
of the target language (as in “Katze” rather than “Hund”).
While substitution errors might be due to lack of sufficient
processing time or reduced processing resources, errors of cross-
language interference represent failure of language control. In fact,
cross-language interference has been used as an indicator of language
control in a line of studies by Festman and colleagues (Festman 2009,
2012; Festman et al., 2008, 2010). They observed that bilinguals differ
in the frequency of cross-language interference production on a
variety of language tasks, e.g. a verbal fluency task (e.g. name in one
minute as many animals in German as you can remember, or name in
one minute as many words that start with the letter “A” in English),
picture naming with a predefined target language, a bilingual
interview with coherent responses (verbal production of about five
minutes per question in one language).
Language control abilities and executive control abilities – a
matter of individual differences?
Every classroom situation proves it: the level of L2 attainment
reached by learners varies greatly. Despite the same educational level,
experience with an L2, amount of input, and native language, students
attain different levels of proficiency in an L2. This variation is also
apparent both within studies of L2 acquisition, which find that
different learners make different levels of gains, as well as across
studies, where learners of similar linguistic structures show different
amounts of development.
Identifying factors which are the source for individual differences
that contribute to a variation in L2 attainment is fundamental for
arriving at a theoretical understanding of second language acquisition.
Furthermore, such knowledge is indispensable for applied
perspectives, including approaches to teaching L2.
Previous research on individual differences in SLA has identified
several factors that may account for differing L2 attainment. In
particular cognitive factors such as working memory and memory
systems, auditory processing, perception, intelligence, language
aptitude, developmental disorders play a major role. Furthermore
affective states and neurophysiological, neuroanatomical, and
potential genetic factors are crucial contributors to individual
differences. For example, individual differences in working memory
capacity refer to the differing amount of information one can store in
working memory, as well as the ease of storing information when
distracted. Since working memory is crucial for our ability to acquire
60
knowledge and learn new skills, levels of L2 attainment are directly
linked to individual differences in working memory capacity.
In the multi-method project (Festman and colleagues) on switching
between languages and executive functions, we found that despite
their same proficiency in both languages the bilingual students
differed in their ability to prohibit cross-language interference. And
those who performed worse on the language tasks (more cross-
language interference) demonstrated slower processing and produced
more errors on a series of tasks tapping into executive control
functions. These results not only showed for the first time a behavioral
link between language control and executive control, but also indicate
that the switching training is not limited to early acquisition per se
(i.e., early bilingualism). EEG-results from the same participants on
cognitive and language tasks support the group distinction by
strengthening their difference in cognitive processing (Festman/Münte
2012). The project results reflect individual differences in terms of
control abilities clearly linking the domains language and executive
function.
In sum, the available evidence calls for enhancing the necessity of
language learners to actively use their languages and switch between
them to establish the prerequisites for and profit from the cognitive
advantage attributed to being bilingual.
Neurodidactics
Herrmann (2009) calls for the consideration of “neurodidactics” as a
new point of view on prerequisites, structures and processes of
memory and learning (i.e., perception and processing of information).
He clearly outlines the basic principles of neurologically based
teaching and learning:
Storing information is easier when the learner (and his limbic
system) perceives and categorizes them as important, useful, and
wishful and accompanied by positive feelings.
The brain has a number of ways how to store information: for facts
the declarative memory, for meaning the semantic memory, for
routines and abilities the procedural memory and for feelings the
emotional memory. Information is better stored when different
memory systems are engaged, and the recall is facilitated due to
multiple storing. Teaching should thus attempt to activate the network
of memory systems, facts should be framed by meaning and in stories
with emotionally important key figures.
Perception and generation of patterns play a key role in learning.
Learning a language involves listening and imitation, while at the
same time, grammatical rules are generated in the brain. Patterns and
61
concepts need to be generated and differentiated, so that different
meaning of knowledge will be stored and involved in multiple storing.
Teaching needs to keep alive the desire to learn. The curiosity for
meaningful experiences is innate, and in order to maintain it,
information which is meaningless or does not need any explanation
needs to be avoided.
When pupils are actively engaged in their actions, their interest and
engagement is increased which promotes the work and learning
results. Emotional involvement improves cognitive performance.
In order to let curiosity and creativity flourish, important
prerequisites are a relaxed atmosphere, the possibility for play and
experimenting as well as confidence, rather than tension for good
grades and anxiety to fail.
The learning process is enabled when success can be expected, when
reward is hoped for, when self-confidence and self-concept are
strengthened.
Phases of tension and relaxation need to alternate in order for intake
of information as well as its consolidation in memory.
Finally, pupils need to involve their thinking as well as socio-
emotional relations. Communicative actions foster achievement and
the other way round. Pupils need a social frame as well a sufficient
degree of attention; cooperation in a group setting allows for a gain in
well-being and increases motivation.
For successful learning, in particular when striving for brain-based
teaching concepts, the current understanding of individual differences
would require taking exactly that, namely individual differences, into
account. The brain always learns, but in its individual way (Herrmann
2009, 15) due to individually different processing of information, as
has been shown e.g. in Festman’s results.
Any neurodidactic approach to learning needs to take these factors
into account: the way brains work, the individual differences in
processing and prior experience, and the preconditions for successful
learning.
62
Literaturverzeichnis
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Rösler, Frank (2011). Psychophysiologie der Kognition. Eine
Einführung in die Kognitive Neurowissenschaft. Spektrum
Akademischer Verlag: Heidelberg.
63
Anton Prochazka
Mehrsprachigkeit als Chance − Empirische
Erfahrungen zu Mehrsprachigkeit in Österreich
„Kennst du viele Sprachen –
hast du viele Schlüssel für ein Schloss.“
Abbildung 1: Voltaire (1694-1778)
8
Der bekannte französische Philosoph François-
Marie Arouet (Voltaire) hat bereits im 18.
Jahrhundert mit dem o.a. Zitat die Bedeutung von Mehrsprachigkeit
hervorgehoben: Sprachen können Türen öffnen; insbesondere Türen
zu Herzen anderer Menschen. Deshalb ist und wird das Erlernen und
Sprechen mehrerer Sprachen zu einem immer wichtigeren
Bildungsziel in unserer Zeit.
Abbildung 2: Kaiser Karl V. (1500-1558)
Der Habsburger und Renaissance-Mensch Kaiser
Karl V.
9
, in dessen Reich die Sonne nie unterging,
zeigt mit seinem Ausspruch „Quot linguas quis
callet, tot homines valet“, auf Deutsch etwa: „So
viele Sprachen einer kann, so viele Male ist er
Mensch.“
10
wie hoch es schon damals geschätzt wurde, mehrere
Sprachen sprechen zu können. Seine Mehrsprachigkeit drückte er
folgendermaßen aus:
„Spanisch spreche ich mit Gott, Italienisch zu den Frauen,
Französisch mit Männern und Deutsch zu meinem Pferd.“
11
Wahrscheinlich meinte er damit, dass er als König eines tief religiösen
Spaniens, auf Spanisch zu Gott betete, Italienisch als Sprache der
Liebe in der Konversation mit Frauen verwendete, Französisch als
8
Porträt von Nicolas de Largillière; (Quelle: Wikipedia)
9
Ab 1516 war er als Karl I. König von Spanien.
10
http://www.unilang.org/viewtopic.php?f=11&t=3595&st=0&sk=
t&sd=a (letzter Zugriff am 17.08.2014).
11
Übersetzung des englischen Zitates aus:
http://en.wikiquote.org/wiki/Charles_V,_Holy_Roman_Emperor (letzter Zugriff am
10.09.2014).
64
Sprache der Diplomatie mit Männern gebrauchte, und Deutsch sprach,
um seinem Pferd Befehle zu erteilen.
Jede Sprache führt uns in eine neue/andere Gedanken-, Lebens- und
Kulturwelt ein. Je mehr Sprachen ein Mensch spricht, desto mehr
Welten eröffnen sich ihm und bereichern ihn, desto mehr aber ist er
auch bereit, Anderem/Fremden ohne Vorurteile zu begegnen,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Sprache und Kultur
zu erkennen und zu tolerieren sowie andere Sprachen und Kulturen
wertzuschätzen. In unserer multikulturellen Gesellschaft ist
interkulturelle Kompetenz überall erforderlich. Sprachkenntnisse
alleine reichen heute nicht mehr aus, sondern es sind auch genauere
Kenntnisse der Kulturen und kulturellen Normen von großer
Wichtigkeit, um andere Sichtweisen und Emotionen zu verstehen.
Was versteht man unter dem Begriff ‘Mehrsprachigkeit‘?
Die Wikipedia führt folgende drei Definitionen von
Mehrsprachigkeit an: Mehrsprachigkeit bezeichnet
•
die Fähigkeit eines Menschen, mehr als eine Sprache zu
sprechen (Multilingualismus).
•
die Geltung oder verbreitete Anwendung mehrerer Sprachen
in einer Gesellschaft, einem Sprachgebiet oder einem Staat.
•
die Verwendung mehrerer Sprachen, um Informationen für
eine möglichst große Zahl Individuen unterschiedlicher
Sprachen zugänglich zu machen, etwa auf Schildern,
Hinweistafeln, Produktbeschriftungen, in Bedienungsanlei-
tungen sowie auf Webseiten oder in Computerprogrammen.
Hier in diesem Artikel geht es insbesondere um die erste Definition
der Mehrsprachigkeit, d.h., dass jemand mehr als eine Sprache
benutzen kann, um Alltagssituationen kommunikativ bewältigen zu
können. Kompetenzen in mehreren Sprachen sowie im Umgang mit
Menschen anderer kultureller Herkunft sind nicht nur eine persönliche
Bereicherung, sondern auch wichtige Kriterien für den schulischen
und später dem beruflichen Erfolg. Mehrere Sprachen sprechen zu
können, bedeutet aber nicht, dass man jede Sprache perfekt
beherrschen muss. Sicherlich ist es von Vorteil, wenn Kinder bereits
zweisprachig/bilingual aufwachsen, wenn z.B. ihre Eltern
unterschiedliche Erstsprachen sprechen. Entscheidend dabei ist
immer, dass die Erstsprache/Muttersprache/Familiensprache/L1
gut entwickelt und gefördert wird.
65
Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt?
Diese interessante Frage wird immer wieder gestellt, allerdings
gehen die Meinungen der Experten auseinander: zwischen 2500
12
und
6.500 bis 7000
13
schätzen die Experten. Dies liegt daran, dass die
Grenzziehung zwischen eigenständiger Sprache, Sprachvariante oder
Dialekt manchmal sehr schwer ist und es nicht immer leicht ist,
eindeutig zu bestimmen, was nun als Sprache gilt. So z.B. galten
früher Serbokroatisch bzw. Kroatoserbisch als eine Sprache mit
unterschiedlichen regionalen Varianten. Heute heißt die Sprache in
jedem Land anders: Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch oder
Serbisch. Ein weiteres Beispiel sind etwa die afrikanischen Bantu-
Sprachen, die jede für sich oder als Einzelsprache mit hunderten
Dialektformen gewertet werden können.
Leider ist die Vielfalt der Sprachen der Welt heute mindestens
genauso bedroht wie jene der verschiedenen Pflanzen- und Tierarten.
Die Anzahl der Sprachen hat seit 10.000 v. Chr. sehr abgenommen
und nimmt leider weiterhin stark ab. Experten, wie David Crystal,
zufolge, stirbt alle 2 Wochen eine Sprache aus. Aus diesem Grund
bemühen sich die Sprachexperten noch möglichst viele Sprachen, die
vom Aussterben bedroht sind, aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt
zu erhalten. Groben Schätzungen zufolge dürfte die Entwicklung etwa
folgendermaßen verlaufen:
Abbildung 3: Die Entwicklung der Sprachen
14
12
Wissenslexikon www.br-online.de/kinder/fragen-verstehen/wissen/2005/00886/
(letzter Zugriff am 10.08.2014).
13
Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Sprachfamilien_der_Welt), übrigens die
Wikipedia gibt es bereits in 287 Sprachversionen (Stand: 11.02.2014).
14
Erstellt nach den Angaben in: www.uni-leipzig.de/~muellerg/su/haspelmath.pdf
(letzter Zugriff am 10.09.2014).
66
Dies ist u.a. auch der Grund, warum der Europarat − ähnlich wie es
einen Tag zum Schutze des Baumes
15
gibt – 2001 auch einen Tag zum
Schutze bzw. zur Wertschätzung aller Sprachen und Kulturen, den
Europäischen Tag der Sprachen (ETS) als Initiative zur Förderung
der Mehrsprachigkeit eingeführt hat. Er wird jedes Jahr am 26.
September mit zahlreichen Aktivitäten gefeiert und soll die Vorteile
von Sprachkenntnissen bewusst machen und die Menschen in Europa
zum lebensbegleitenden Lernen von Sprachen motivieren.
16
Lt. Prof. Dr. Martin Haspelmath vom Max-Planck-Institut für
evolutionäre Anthropologie in Leipzig, existieren heute in Europa 150
Sprachen, davon allein 40 im Kaukasus.
Sprache Weltweit
(in Millionen)
Muttersprachler
(in Millionen)
1. Englisch 1.500 375
2. Chinesisch 1.100 982
3. Hindi 650 460
4. Spanisch 420 330
5. Französisch 370 79
6. Arabisch 300 206
7. Russisch 275 165
8. Portugiesisch 235 216
9. Bengali 233 215
10. Deutsch 185 105
Abbildung 4: Übersicht über die 10 meistgesprochenen Sprachen der Welt
17
15
Der Internationale Tag des Baumes, an dem meist im Rahmen von Festivitäten
Bäume gepflanzt und Feste gefeiert werden, findet jedes Jahr am 25. April statt.
16
In Österreich wurden seit Beginn dieses Aktionstages über 1000 Veranstaltungen
quer über alle Bundesländer, Altersgruppen und Lebensbereiche hinweg durch-
geführt. Mit verschiedensten Sprachenveranstaltungen, wie Poesiewettbewerbe,
Schnupperkurse, Sprachfeste, Lange Nacht der Sprachen oder Tage der Offenen
Tür, die vom Österreichischen Sprachenkompetenzzentrum (ÖSZ) in Graz, für
Europa vom Europäischen Fremdsprachenzentrum (EFSZ) in Graz koordiniert
werden. Dadurch soll das Bewusstsein für die Vorteile sprachlicher Vielfalt und
eines mehrsprachigen Europas gefördert werden.
17
Zusammengestellt nach Angaben in:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/150407/umfrage/die-zehn-
meistgesprochenen-sprachen-weltweit (Sprachkreis Deutsch, Bubenberg-
Gesellschaft 3000 Bern, Stand: 14.05.2012).
67
Etwa die Hälfte der Erdbevölkerung spricht eine dieser 10 Sprachen.
Bereits die Kenntnis von fünf Sprachen (Chinesisch, Hindi, Englisch,
Spanisch und Arabisch) wäre ausreichend, um mit einem Drittel der
Weltbevölkerung kommunizieren zu können.18
Die Weltbevölkerung beträgt derzeit etwa 7,2 Milliarden
Menschen und wird nach UN-Prognosen bis zum Jahr 2050 auf etwa
9,6 Milliarden Menschen wachsen. D.h., obwohl die Weltbevölkerung
weiterhin wächst, geht die Anzahl der Sprachen stark zurück.
Um dies besser veranschaulichen zu können, empfiehlt es sich, die
Welt als Dorf zu sehen: Wäre also die Welt heute ein Dorf mit nur 100
Einwohnern, dann wären davon 60 Asiaten, 15 Afrikaner, 10
Europäer, 9 Lateinamerikaner, 5 Nordamerikaner und 1 Ozeanier.19
Demgemäß würden in diesem Dorf über die Hälfte der Menschen
folgende 10 Sprachen20 sprechen:
22 sprechen Chinesisch
8 Hindi
6 Englisch
5 Spanisch
4 Portugiesisch
4 Bengali
4 Arabisch
3 Russisch
2 Deutsch
1 Französisch
Die Zahl der Dorfbewohner würde bis zum Jahr 2050 auf 136
Menschen steigen, wobei die Zahl der Asiaten auf 74, jene der
Afrikaner auf 34, und die der Lateinamerikaner auf 11 ansteigen
würde, während der Anteil der Europäer gleichbleiben bzw. leicht
sinken würde.
Schätzungen zufolge wird die Weltbevölkerung in den 5 Jahrzehnten
von 2000 bis 2050 von derzeit 7,2 auf 9,6 Milliarden Menschen
anwachsen, während im gleichen Zeitraum die Anzahl der
gesprochenen Sprachen − wie in der Übersicht zuvor bereits gezeigt −,
von 6.500 auf etwa 4.500 Sprachen zurückgehen wird. Derzeit wird
18 http://sciencev1.orf.at/science/news/144292 (letzter Zugriff am 10.09.2014).
19 www.welt.de/wissenschaft/article123328269 (letzter Zugriff am 10.09.2014).
20 Siehe dazu auch Smith 2003, 10.
68
viel getan, um sterbende Sprachen zumindest aufzuzeichnen oder aber
auch wiederzubeleben.
21
Die einzige in großem Umfang erfolgreich wiederbelebte Sprache ist
Hebräisch, das lange Zeit nur als Schriftsprache und liturgische
Sprache existierte. Hebräisch ist heute als Iwrit (Neuhebräisch)
offizielle Sprache in Israel.
Auch in Wales gibt es große Erfolge: 2010 wurde das Walisische
neben dem Englischen zur offiziellen Amtssprache in Wales erhoben.
Seit 2000 müssen Schüler in Wales das Walisische entweder als erste
Sprache oder als Fremdsprache lernen. 20 Prozent der Schulen in
Wales haben Walisisch als erste Unterrichtssprache.
22
Wie viele Sprachen kann ein Mensch lernen?
„In uns allen ist Mehrsprachigkeit angelegt, ein Schatz, den wir
nutzen können und sollten.“ (Weskamp 2007, 5).
Die Fähigkeit, zwei oder mehrere Sprachen zu erwerben, zu lernen
und gebrauchen zu können, ist grundsätzlich in jedem Menschen
vorhanden. Leider wird die in den Schulen häufig vorhandene
Mehrsprachigkeit (z.B. bei Migranten) noch wenig genützt, obwohl
sie einen großartigen gesellschaftlichen und kulturellen Reichtum
darstellt.
In meiner Tätigkeit am EdTWIN
23
Sprachenzentrum in Wien, wo
etwa 10.000 Personen (Kinder, Jugendliche, Lehrpersonen und
Bildungsfachleute) in den Jahren 2009 bis 2011 an verschiedenen von
der EU geförderten Sprachlernangeboten, wie z.B. Spracherlebnis-
kursen, Workshops und Lehrgängen, etc. teilnahmen, um eine unserer
Nachbarsprachen (Ungarisch, Slowakisch oder Tschechisch) zu
erlernen, begegnete ich immer wieder Jugendlichen, die 5-7
verschiedene Sprachen sprechen konnten. Bei den Jugendlichen, die
mit 16 oder 17 Jahren bereits so viele Sprachen sprechen konnten,
handelte es sich fast immer um Migranten, die sich die Mehrzahl der
Sprachen auf natürliche Art angeeignet hatten, um sich innerhalb ihres
großen multilingualen Familienverbandes verständigen zu können,
und diese dann je nach Häufigkeit u. Intensität des Gebrauches auf
unterschiedlichem Niveau beherrschten.
24
21
Bezüglich Gründe für das Sterben von Sprachen bzw. deren Wiederbelebung
siehe Comrie 2007, 212-215.
22
http://de.wikipedia.org/wiki/Walisische_Sprache (letzter Zugriff am 10.09.2014).
23
Die verschiedenen Sprachaktivitäten im Rahmen des EdTWIN (= Educational
Twinning for European Excellence) Projektes ermöglichten Sprach- und
Kulturbegegnungen mit den Regionen Bratislava, Brünn und Györ/Moson/Sopron
und damit auch ein Eintauchen in ein neues Sprachumfeld.
24
Siehe BEGEGNUNGEN Landsteiner/Prochazka 2011.
69
Abbildung 5:
Giuseppe
Mezzofanti
Einige Sprachgenies sind uns bekannt, die es schafften, sich in ihrem
Leben eine große Anzahl von Sprachen anzueignen. Das Interessante
dabei ist, dass alle Sprachgenies, die nachfolgend angeführt werden,
bereits in der Grundschule zumindest 3 Sprachen sprechen konnten.
Als wahrscheinlich bisher größtes Sprachengenie
wird Kardinal Giuseppe Mezzofanti (1774-
1849)
25
aus Italien angeführt, der bereits in der
Schule von einem Jesuiten Spanisch und Deutsch
lernte. Im Alter von 12 Jahren beherrschte er bereits
nahezu 10 Sprachen. Während der Kriegsjahre
1799/1800 leistete er Verwundeten, die aus
verschiedenen Regionen Europas stammten, in den
Krankenhäusern Beistand und nutzte diese
Gelegenheit, seine Sprachkenntnisse zu erweitern.
Mezzofanti, der Italien nie verließ, wirkte auch als
Professor für Hebräisch an der Universität Bologna
und eignete sich im Laufe seines Lebens 38 Sprachen an, die er
perfekt beherrschte, und zusätzlich Basiswissen in weiteren 30
Sprachen, also insgesamt fast 70 Sprachen!
Der deutsche Sinologe Emil Krebs (1867-1930) brachte es
angeblich auch auf 68 Sprachen, die er in Wort und Schrift
beherrschte. Am Ende seines Lebens hinterließ er eine
Privatbibliothek mit etwa 5.700 Schriften und Büchern in fast 120
Sprachen. „Sein Genie wurde durch das Hirnforschungszentrum der
Universität Düsseldorf bestätigt, das sein Gehirn sezierte und seine
Sprachbegabung in einen engen Zusammenhang mit der
Gehirnstruktur stellte.“
26
Der Libanese Ziad Fazah (*1954) wird als das größte derzeit
lebende Sprachgenie und Rekordhalter für Mehrsprachigkeit im
Guinnessbuch der Rekorde angeführt. Nach eigenen Angaben
beherrscht er 58 Sprachen. Bereits in der Grundschule lernte
er
Arabisch, Französisch und Englisch. Mit elf Jahren beschloss er, „alle
Sprachen der Welt zu lernen“, − ohne natürlich zu wissen, wie viele
Sprachen es gibt − und fing an, sich Deutsch im Selbststudium
beizubringen. Mit 18 Jahren zog seine Familie nach Brasilien, wo er
heute als Sprachenlehrer in Rio de Janeiro unterrichtet. Er schafft es
3000 Wörter einer neuen Sprache in 2-3 Monaten zu erlernen. Die
meisten der 58 Sprachen hat Fazah sich selbst beigebracht.
27
25
http://www.porzer.co.at/body_text.html; vgl. dazu auch Weskamp 2007, 59.
26
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/AAmt/Dienste/Aktuell/
EmilKrebsNeu_node.html.
27
http://www.sprachenlernen24-blog.de/mehrsprachigkeit-polyglott-sprachgenie/
70
Abbildung 6:
Muhamed Mešić
Das jüngste Sprachentalent ist Muhamed
Mešić
28
, der 1984 in Tuzla, Bosnien
Herzegowina als Sohn einer Englischlehrerin
und eines Bauingenieurs geboren wurde. Mit 16
Jahren war er in seiner Geburtsstadt bereits
Stadtrat. Seit 2002 wohnt er in Wien, wo er auch
sein Jus-Studium absolvierte. Davor hatte er
bereits Japanologie und Judaistik studiert. Mit 26
Jahren sprach er bereits 56 Sprachen, davon 12
fließend. Er besucht keine Sprachkurse (Ausnahme: 2011, um die
Gebärdensprache zu erlernen), sondern lernt neue Sprachen mit Hilfe
von Reise-Sprachführern, beim Radiohören, Fernsehen, im Internet
oder auf Reisen. Im Alter von 5 Jahren lernte er auf einem Urlaub in
Griechenland Griechisch. Dann folgten Französisch, Italienisch,
Portugiesisch und Deutsch. Im Alter von 13 Jahren lernte er
Ungarisch mit einem deutschen Sprachführer und ungarischen
Frauenzeitschriften. 2010 erhielt er den Brainswork Make a
Difference Award. Lt. Facebook (10.09.2014) kann er bereits in 72
Sprachen kommunizieren und hat erst kürzlich sein Koreanisch
wieder aufpoliert. Er lernt auch Sprachen, die nur von wenigen
Menschen gesprochen werden, wie z.B. Haida (nur ca. 200
nordamerikanische Ureinwohner sprechen sie) oder die Bantusprache
Kinyarwanda. Es sind meist persönliche Motive, warum er eine neue
Sprache lernt, wobei er immer eine Sprache so lange lernt, wie es ihm
Spaß macht.
Förderung der Mehrsprachigkeit durch die EU
Die Europäische Kommission hat bereits in ihrem Weißbuch zur
allgemeinen und beruflichen Bildung (Europäische Kommission
(1995). Kapitel IV, Nr. 4, Council of Europe, 1997) Mehrsprachigkeit
als Ziel formuliert, dass alle europäischen Bürger/innen die
Möglichkeit erhalten, neben ihrer Muttersprache mindestens zwei
weitere Sprachen zu erlernen, wobei es von Vorteil wäre, wenn dabei
eine, eine Weltsprache, die andere eine Nachbarsprache ist.
Ein weiteres Ziel der Europäischen Union ist die Erhaltung und
Förderung des kulturellen und sprachlichen Erbes, wie es heute in
Europa vorhanden ist:
28
de.wikipedia.org/wiki/Muhamed_Mešić und
http://derstandard.at/1285199128418/Tag-der-Sprachen-Bosnisch-fluchen-beim-
Buegeln vom 24.12.2010 (letzter Zugriff am 10.09.2014).
Foto: bosnapress.co.
71
„(Die Europäische Union) … wahrt den Reichtum ihrer kulturellen
und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die
Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“
Vertrag von Lissabon, (2007, Artikel 3 Absatz 3).
Gemäß Artikel 21 und 22 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union [sind] „Diskriminierungen insbesondere wegen
[…] der Sprache, […] der Zugehörigkeit zu einer nationalen
Minderheit […] verboten“ und „[achtet] die Union […] die Vielfalt
der Kulturen, Religionen und Sprachen“.
29
Aus diesem Grunde wurden bereits seit 1983 Fördermittel für alle
Regional- oder Minderheitensprachen einschließlich bedrohter
Sprachen der EU zur Verfügung gestellt und folgende drei Ziele im
Bereich der Mehrsprachigkeit verfolgt:
• „Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt in
der Gesellschaft;
• Förderung einer gesunden, multilingualen Wirtschaft;
• Zugang der Bürger/innen zu den Rechtsvorschriften,
Verfahren und Informationen der Europäischen Union in ihrer
eigenen Sprache.“ (Europäisches Parlament, 2013, 28).
Im Sinne einer Europa-orientierten Sprachpolitik zählt in Österreich
die aktive Förderung von Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt
zu den Bildungsanliegen, die die österreichischen Schulen
ausdrücklich verfolgen. Frühes und kontinuierliches Sprachenlernen,
Unterricht des Deutschen als Erst- und als Zweitsprache, Unterricht
der Minderheitensprachen, der Herkunftssprachen von Migranten,
einer Vielzahl von lebenden Fremdsprachen, aber auch der
klassischen Sprachen, Sachfachunterricht im Medium einer anderen
Sprache als Deutsch sowie die Qualifizierung der Lehrkräfte für diese
Aufgaben sind seit langem Bestandteile der österreichischen
Mehrsprachigkeitspolitik.
Einen weiteren Schritt auf diesem Weg stellt die sprachenpolitische
Strategieentwicklung dar, die das Bundesministerium für Unterricht,
Kunst und Kultur, das Bundesministerium für Wissenschaft und
Forschung und das Österreichische Sprachen-Kompetenz-Zentrum auf
Anregung und mit Unterstützung des Europarates unter der
Bezeichnung „Language Education Policy Profiling“ (LEPP) in
Gang gesetzt haben.
29
zitiert in: Europäisches Parlament 2013, 25.
72
„Der Schwerpunkt liegt auf der Wertschätzung und Entwicklung der
Fähigkeit aller, mehrere Sprachen zu lernen und zu verwenden, diese
Kompetenz durch angemessenen Unterricht und durch eine
plurilinguale Bildung zu verbreitern und zu vertiefen, mit dem Ziel,
sprachliche Sensibilität und kulturelles Verständnis als Basis für eine
demokratische Gesellschaft von BürgerInnen zu schaffen“
(Länderprofil Österreich, S. 12).
30
Mehrsprachigkeit in Österreich: Jede Sprache ist ein Gewinn!
In Österreich werden etwa 250 Sprachen
31
gesprochen. Deutsch ist
die Amtssprache, die von ungefähr 88% der österreichischen
Bevölkerung als Erstsprache gesprochen wird
32
. Daneben gibt es 7
anerkannte Minderheitensprachen
33
, nämlich: Burgenländisch-
Kroatisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch und die
Österreichische Gebärdensprache. Etwa 10.000 Menschen in
Österreich verwenden die Gebärdensprache. Lt. Statistik Austria
(2014) sprechen über 200.000 Menschen in Österreich Türkisch und
Serbisch; weitere 150.000 Menschen sprechen Bosnisch und
Kroatisch.
Nahezu ein Viertel (24%) der Schülerinnen und Schüler an den
allgemein bildenden Pflichtschulen in Österreich hat eine andere
Erstsprache als Deutsch, in Wien sind es sogar über die Hälfte
(52,9%), die in ihrem Alltag neben Deutsch eine andere Sprache
verwenden. Ein Großteil der Schulen zeichnet sich durch eine
beträchtliche sprachliche Vielfalt aus.
34
Das nachfolgende Sprachenporträt von Alena zeigt deutlich, dass
Mehrsprachigkeit heute eine Realität und konkrete Erfahrung der
Lernenden ist, die weit über Zweisprachigkeit (Mutter-/Erst-
/Familiensprache – Fremdsprache oder Herkunftssprache) hinausgeht:
30
Krumm/Reich 2011, 4.
31
http://www.demokratiewebstatt.at/thema/sprachen/minderheitensprachen-in-
oesterreich/
32
KIESEL neu, Heft 1 (2012), 10.
33
Innerhalb der Europäischen Union gibt es neben den 24 Amtssprachen über 60
Regional- oder Minderheitensprachen mit etwa 40 Millionen Sprechern. Vgl.
Europäisches Parlament 2013, 47-49.
34
http://schule-mehrsprachig.at/index.php?id=38 (letzter Zugriff am 10.09.2014).
Siehe dazu auch: Perspektiven 2013/1, 16.
73
Abbildung 7: Sprachenporträt Alena
35
„Tschechisch ist meine Muttersprache. Mein Vater kommt aus
Russland, deswegen spreche ich ein bisschen Russisch. Ich wohne in
Wien und ich spreche Deutsch mit meine Freunde. In der Schule
lernen wir Englisch. Ich wohne mit einem Mädchen aus Ungarn und
sie hat mich Ungarisch beigebracht. Slowakisch ist sehr ähnlich mit
Tschechisch. Ich verbringe die Sommerferien in Kroatien und ich
habe dort Freunde.“
36
Alena steht exemplarisch dafür, dass gegen Ende der Grundschule
Kinder, die nur mit einer Sprache Kontakt haben, bereits eine
Seltenheit sind. Dies weist aber auch daraufhin, wie wichtig es wäre,
die vorhandene Mehrsprachigkeit unserer Kinder bereits früh
(Kindergarten und Grundschule) zu berücksichtigen und zu fördern.
35
Für das Sprachenporträt erhielten die Schülerinnen u. Schüler eine Silhouette mit
der Arbeitsanweisung, alle „ihre Sprachen“dort hineinzumalen und dabei für jede
Sprache eine andere Farbe zu benutzen. Bemerkenswert ist, dass die meisten Kinder
die Farbe Rot nehmen, um ihre L1/Muttersprache/Herkunftsprache zu kenn-
zeichnen.
36
Beispiel aus einer Wiener Volksschule, zitiert in Krumm 2001, 70.
74
Gründe für die Einführung von früher Mehrsprachigkeit in
Kindergarten und Grundschule
Als Gründe, die u.a. zur Einführung des integrativen
Fremdsprachenunterrichts als verbindliche Übung ab der 1. Klasse
Grundschule in Österreich (ab 1989 Schulversuch, seit 2003
Regelschulwesen) bzw. zu „SWING“- Englisch im Kindergarten (seit
1992 in Wien)
37
führten, werden von verschiedenen Fachexpert/-innen
folgende angeführt:
1. Entwicklungspsychologische Gründe
• Das Lernverhalten der Kinder ist noch ähnlich dem L1/
Erstsprachenerwerb (ermöglicht einen natürlichen Erwerb der
Zweitsprache/Fremdsprache).
• 3- bis 6-Jährige verfügen über eine besonders ausgeprägte
Hör- u. Lautimitationsfähigkeit und können deshalb auch eine
vorbildgetreue Aussprache und Intonation erwerben
(ganzheitliches Lernen).
• Kinder dieser Altersgruppe weisen eine größere Sprech-
bereitschaft auf als Ältere (kaum Hemmungen, unbewusstes
Agieren, geringe Angst).
• Sie besitzen größere Spontanität u. Zuversicht bei der
Aussprache (akzentfrei).
2. Lernpsychologische Gründe
• Kinder lernen durch Spiel (Spielerisch-musisches
Experimentieren und Üben auch noch in L1).
• Frühere Kommunikationsfähigkeit (Situationen und
Rollenspiele aus dem Erlebnisbereich der Kinder)
• Gehirn flexibler – handlungsorientiertes Lernen in natürlichen
Alltagssituationen (interessante, anregungsreiche Umgebung)
• Frühes Fremdsprachenlernen ist ein signifikanter Beitrag zur
kognitiven Entwicklung des Kindes und zu lebenslangem
Lernen
38
.
3. Pädagogische Gründe
• Altersgemäße sprachliche Ausdrucksmöglichkeit (Spielen mit
Puppe/Teddybear)
• Handeln und Sprechen noch enger miteinander verknüpft
(Rollenspiele)
• Bereits kleine Lernfortschritte führen zu hoher Motivation
37
Prochazka 2004, 108.
38
Siehe dazu: Wode (2009). Frühes Fremdsprachenlernen in bilingualen
Kindergärten und Grundschulen, S. 119f.
75
• Durch tägliche Kurzeinheiten (5-10 Minuten/1. u. 2. Kl.),
deren Dauer sich nach der Aufnahmefähigkeit der Kinder
richtet
39
, kann die Vergessensquote zusätzlich abgesenkt
werden.
4. Multikulturelle Gründe
• Erstes Erleben der sprachlichen und kulturellen Vielfalt
Europas
• Kinder sind noch frei von Vorurteilen gegenüber anderen
Sprach- u. Kulturgemeinschaften
• Förderung sozialer Kompetenzen (positive Haltung und Ein-
stellung gegenüber Neuem)
• Erziehung zu Toleranz und Offenheit
• Frühzeitiger lustvoller Erwerb von FS-Kenntnissen ˃ gute
Ausgangsposition zum Erlernen weiterer Sprachen („Lust auf
weitere Sprachen wecken“)
• Forderung der EU: 3 Sprachen (L1 + 2 weitere Sprachen,
davon 1 Nachbarsprache)
5. Weitere Vorteile
Mehrsprachig aufwachsende Kinder …
• entwickeln metasprachliche Fähigkeiten früher als
einsprachige
40
(verschiedene Bezeichnungen für einen
Gegenstand)
• können sich schneller auf sprachliche Situationen einlassen
• sind an weiteren Sprachen interessiert und motiviert, diese
auch zu lernen
41
• entwickeln größere Flexibilität im Umgang mit Konzepten u.
Sprache als monolinguale – erweiterte metalinguistische
Fähigkeiten (+ Erlernen von L3 und L4)
• vermehrtes divergentes u. kreatives Denken
• zwei- oder mehrsprachige Menschen erkranken (ca. 4-5 Jahre)
später an Demenz als monolinguale
• schneiden bei kognitiven u. metalinguistischen Tests besser ab
• entwickeln früh ein Sprach(en)bewusstsein u. unbewusst
Sprach-lernstrategien
42
– Wichtig: Entwicklung u. Förderung
der Erstsprache
39
Siehe dazu Didaktische Grundsätze in: Lehrplan der Volksschule (2000, S. 376).
40
Gombos 2013, 77f.
41
Die Auswertung der Sprachbegegnungsinitiativen des EdTWIN Projektes hat
deutlich gezeigt, dass 80-86% der befragten Grundschulkinder, die an einem
einwöchigen ‘Minisprachkurs‘ von 18 Stunden (Slowakisch/Tschechisch/Ungarisch)
teilgenommen hatten, so motiviert wurden, dass sie gerne die Sprache unseres
Nachbarlandes weiter erlernt hätten. (Landsteiner/Prochazka 2011, 16-18).
76
•erreichen einen hohen Grad an Verstehensfähigkeit und auch
Sprachbewusstsein für andere Sprachen
•erreichen in Mathematik und in ihrer Erstsprache bessere
schulische Leistungen als einsprachig aufwachsende Kinder
•entwickeln bessere zwischenmenschliche Fähigkeiten
(verstehen und reagieren auf die Kommunikationsbedürfnisse
anderer besser und sensibler)
•verfügen über eine bessere Fähigkeit zur Problemlösung, da
sie Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten
können43 (Gombos 2013, 60f).
Ein früher Beginn des Sprachenlernens bringt aber auch eine
Verlängerung der Gesamtlernzeit mit sich und letzten Endes mehr Zeit
und die große Chance, weitere Sprachen zu lernen.
Bedingungen für einen effizienten Fremdsprachenerwerb
„Language is best learned when it is the medium, not the object of
instruction.“ (Zit. in: Baumann 2004, 5)
Verschiedenen Expert/-innen zufolge (Brewster, Freudenstein, Wode,
Peltzer-Karpf, etc.) wird im schulischen Kontext eine neue Sprache
am besten erlernt, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:
1. eine möglichst hohe fachliche (fremdsprachliche,
pädagogische und soziale) Kompetenz der Lehrkraft.
2. Optimale Qualität und Quantität (Intensität) des Inputs.
3. Einbettung der Fremdsprache in einen möglichst natürlichen
Kontext, z.B.: „Fremdsprache als Arbeitssprache“, „Content
and Language Integrated Learning“ (CLIL), Cross-curricular
Learning.
4. Orientierung der Unterrichtsform und des
Unterrichtsmaterials an den Grundmustern des
Erstspracherwerbs (Siehe Peltzer-Karpf/Zangl, 69-70).
Es gilt international als erwiesen, dass Immersion44 die wohl
effizienteste Methode ist, um Fremdsprachen schon frühzeitig (in der
42 Dabei ist es besonders wichtig, dass die Erstsprache/L1 entwickelt und gefördert
wird und jede Sprache auch entsprechend wertgeschätzt wird!
43 Muhamed Mesic, der über 56 Sprachen spricht, meinte in einem Interview dazu:
„Mehrsprachig zu sein, hilft – man kann im Alltag stehen bleiben und sagen:‘Okay,
ich habe jetzt ein Problem und komme nicht mehr weiter. Also denke ich es in einer
anderen Sprache durch.‘ Das kann wirklich ein Vorteil sein.“
http://derstandard.at/1285199128418/Tag-der-Sprachen-Bosnisch-fluchen-beim-
Buegeln (letzter Zugriff am 10.09.2014).
44 Mindestens 50% des Unterrichts finden in der Fremdsprache statt.
77
Krippe, im Kindergarten und in der Grundschule)45 und noch ähnlich
der Muttersprache/L1 zu erwerben. Dies haben auch die vierjährigen
Untersuchungen des Vienna Bilingual Schooling-Modells deutlich
gezeigt.
Am zweitbesten scheint als lernsprachlicher Ansatz Content and
Language Integrated Learning (CLIL)/Cross-curricular Learning
zu sein, der vom Europarat seit 1995 besonders empfohlen wird.
Dabei werden ein anderes Fach oder mehrere Fächer in der
Fremdsprache unterrichtet. Dies kann phasenweise (Teile der Stunde
werden in der Fremdsprache vermittelt) oder in Form von ganzen
Stunden in der neuen Sprache erfolgen. Es ist erwiesen, dass dieses
zweikanalige Lernen (über den Kanal der Fremdsprache wird
gleichzeitig Fach- und Sprachkompetenz vermittelt) zu einer
wesentlich höheren fremdsprachlichen Kompetenz führt, als
herkömmlicher, lehrgangsorientierter Sprachunterricht.
Dies setzt natürlich eine ausgezeichnet ausgebildete Lehrkraft
voraus, die die jeweiligen Sachinhalte auch in der Fremdsprache
vermitteln kann.
Zusätzlich dazu sollte auf Empfehlung der Europäischen
Kommission auch außerschulisches Lernen (CLIL außerhalb des
Klassenzimmers), das bisher noch kaum Beachtung fand, besonders
gefördert werden:
„Exposure to the foreign language outside the classroom needs to
be maximised.“46 Dadurch kann die Kontaktzeit in der Fremdsprache
weiter erhöht werden, was letzten Endes auch zu einer Steigerung der
sprachlichen und fachlichen Kompetenz sowie der Motivation der
Schüler/innen führt.
Zusätzlich bedarf es eines vermehrten Angebotes an Sprachen
(anerkannte Minderheiten- und Nachbarsprachen) an unseren Schulen,
das über die bisherige Bandbreite an Sprachen (meist Englisch und
Französisch) hinausgeht. Maßnahmen, wie z.B. der muttersprachliche
Unterricht, unterstützen das Erlernen der Erstsprache.
Hans-Jürgen Krumm und Hans H. Reich beschreiben im Curriculum
Mehrsprachigkeit folgende Kompetenzen, die in der Schule vermittelt
werden sollen, damit die Schüler/innen befähigt sind, „sich in der
heutigen Welt sprachlicher Vielfalt zu orientieren, sich selbstbestimmt
und zielbewusst neue sprachliche Qualifikationen anzueignen und sich
in vielsprachigen Situationen kompetent zu bewegen“:
•Aufmerksamkeit gegenüber Sprachen
•Fähigkeit zur Reflexion der eigenen sprachlichen Situation und
zur Analyse anderer sprachlicher Situationen,
45 Vgl. Wode 2009.
46 Prochazka 2012, 210.
78
•Orientierungswissen über Sprachen und ihre Bedeutung für
Gruppen von Menschen,
•linguistische Grundkenntnisse zur vergleichenden
Beschreibung von Sprachen,
•ein Repertoire von Sprachlernstrategien sowie
sprachliches Selbstbewusstsein.47
Beispiel für ein Mehrsprachenmodell aus Wien
Aus den verschiedenen Beispielen für eine moderne mehrsprachige
Schule in Österreich48 habe ich das Modell der European Primary
School ausgewählt, da es für mich zukunftsweisend ist und in
Hinblick auf die Sprachenateliers auch für andere Schulen von
Interesse ist und relativ leicht in die Praxis umgesetzt werden kann.
Europäische Volksschule/European Primary School
Das Konzept der Europäischen Volksschule (EVS) setzt sich zum
obersten Ziel, den Sinn für ein gemeinsames Europa zu fördern. Es
wurde als länderübergreifendes Bildungsprojekt in Zusammenarbeit
mit den vier Nachbarregionen Györ (H), Brünn (CZ), Bratislava (SK)
und Wien (A) entwickelt.
Die European Primary School weist folgende Charakteristiken auf:
•Konzept der „Europäischen Dimension“ als durchgängiges
Unterrichtsprinzip
•Englisch als Arbeitssprache (CLIL) im Ausmaß von 5
Wochenstunden im Teamteaching mit englischsprachigen
Native Speaker Teachers (ab der 1. Schulstufe)
•Europäische Bildungsprojekte, vor allem mit den Schulen in
den Nachbarregionen in der Slowakei, Tschechien und Ungarn
•zusätzliches Angebot an weiteren lebenden Fremdsprachen ab
der Grundstufe II unter besonderer Berücksichtigung der
Nachbarsprachen Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch.
An der Europäischen Volksschule (EVS)/European Primary School
(EPS) in Wien werden 27 Sprachen gesprochen. Ein Großteil der
47 Krumm/Reich 2011, 2.
48Romy Höltzer stellt in ihrem Artikel „Fremdsprachenlernen an Wiener
Volksschulen“ in diesem Band verschiedene Schulmodelle vor. Zusätzlich gibt es
viele weitere interessante Modelle der Sprachenintensivierung in den
Bundesländern, insbesondere weise ich auf das grenzüberschreitende, dreisprachige
(Deutsch, Italienisch und Slowenisch) Alpen-Adria-Bildungsverbund-Projekt „Drei
Hände-Tri roke-Tre mani“ im Dreiländereck zwischen Österreich, Italien und
Slowenien hin, das sich das Ziel „Dreisprachig vom Kindergarten bis zur Matura“
gesetzt hat. (Siehe Gombos 2013, 146ff.).
79
Schüler/innen hat eine andere Erstsprache als Deutsch und auch viele
Lehrer/innen der Schule spiegeln diese Diversität wieder.
Seit September 2008 bietet die EVS in Wien Sprachateliers in 8
Sprachen (Albanisch, Arabisch, Bosnisch/Serbisch/Kroatisch,
Französisch, Portugiesisch, Tschechisch/Slowakisch, Türkisch und
Ungarisch) an.
Ziele der Sprachenateliers:
• Vermehrtes Sprachenangebot unter Berücksichtigung der
Herkunftssprachen der Schüler/innen, um den Anforderungen
des europäischen Sprachenkonzepts – Erlernen von 2 Sprachen
zusätzlich zur Erstsprache – gerecht zu werden
• Förderung des Fremdsprachenlernens zu einem frühen
Zeitpunkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen
• Sprachinteresse der Kinder für neue Sprachen wecken und die
Grundlage für ein lebenslanges Sprachenlernen schaffen
(literacy, language and cultural awareness)
• Kinder lernen voneinander – miteinander (peer teaching);
durch Annäherung an die Sprachen der anderen wird auch das
Verständnis und die Toleranz gefördert
• Erleichtern der Transitionen im Rahmen des europäischen
Bildungswegs
• Gestiegenem Bedarf nach fremdsprachenorientiertem Unter-
richt gerecht werden
Die Mehrsprachigkeit der Schüler/innen ist Anlass und Ausgangs-
punkt zum Sprachenlernen und soll eine Basis für das weitere
Interesse und die Freude am Sprachenlernen grundlegen. Die
Schüler/innen können freiwillig sechs Wochen lang (ab der
Grundstufe II) ein bis zwei Stunden pro Woche ein Atelier besuchen
und lernen dabei die jeweilige Sprache und Kultur kennen. Danach
können sie wechseln oder die gewählte Sprache weitere 6 Wochen
vertiefen. Sprachenlernen wird damit bereits in der Volksschule zum
selbstverständlichen Bestandteil des Lernens. Damit wird eines der
wesentlichsten Ziele der European Primary School erreicht, nämlich
zu ermöglichen, dass Schüler/innen einen zwanglosen Zugang zu
verschiedenen Sprachen bekommen und lernen, sich mit anderen zu
verständigen, ohne dass Sprachbarrieren dabei eine große Rolle
spielen!
Die Schule fand sowohl national als auch international große
Anerkennung und wurde bereits zwei Mal (2002 und 2010) mit dem
Europäischen Spracheninnovationssiegel (ESIS) ausgezeichnet.
80
Abbildung 8: ESIS Siegel der EVS
Praxisideen und Miniprojekte zur Förderung von
Mehrsprachigkeit
„Sprichst du mit jemandem in einer Sprache, die er versteht, so
erreichst du seinen Kopf; sprichst du mit ihm aber in seiner eigenen
Sprache, so erreichst du sein Herz.“49 – Nelson Mandela (1918-2013)
Interkulturelles Lernen und Mehrsprachigkeit sind miteinander eng
verbunden, weil sie uns sowohl Zugang zu den etablierten
Fremdsprachen als auch zu den Migrationssprachen eröffnen. Kinder
haben Gott sei Dank noch kaum Vorurteile und stehen daher viel
offener anderen Menschen und Sprachen gegenüber. Sie sind hoch
motiviert, mit ihrem Freund/ihrer Freundin in seiner/ihrer
Herkunftssprache zu sprechen, und diese als „Schlüssel zum anderen
Herzen.“ zu verwenden.
Die nun folgende kleine Sammlung von Ideen und Miniprojekten zur
Integration von Mehrsprachigkeit im Unterricht erhebt keinen
Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versteht sich als Angebot und
Chance, Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer, an der Schule und in
unserer Umgebung zu verwirklichen. Die angeführten Aktivitäten
können Anstoß zu ersten Schritten sein und Anregungen für eigene
Lösungen bieten.
•Sprachen in unserer Klasse/Schule – Woher kommen wir?
Mit verschiedenen Fähnchen werden auf einer Land-/Europa-
/Weltkarte die Orte/Länder markiert, deren Sprachen die
Schüler/innen sprechen. Zusätzlich können daneben Ansichtskarten,
Fotos bzw. die Namen der Schüler/innen angebracht werden, die diese
Sprachen sprechen. In Sprechblasen kann dann ein Gruß oder eine
Frage oder die Vorstellung „Ich heiße (Romana)“, etc. in der
jeweiligen Herkunftssprache der Schüler/innen geschrieben werden.
49 http://www.humanrights.com/de/voices-for-human-rights/nelson-mandela.html
(letzter Zugriff am 10.09.2014).
81
Die fertiggestellte Karte kann dann in oder vor der Klasse bzw. im
Eingangsbereich der Schule befestigt werden. Variante: Weltkugel.
•Mehrsprachige Grußformen
Die Kinder lernen verschiedene Begrüßungsformen in anderen
Sprachen/aus den Herkunftssprachen ihrer Mitschüler/innen kennen,
erproben sie bzw. versuchen sie später im Rahmen eines Ratespieles
die jeweilige Sprache oder das entsprechende Land herauszufinden.
Erweiterung: sie kreieren selbst einen neuen europäischen Gruß
paarweise oder in Gruppen und zeigen ihn den anderen vor. Sie
erfinden und gestalten mit Unterstützung der Lehrkraft ein
Begrüßungslied in verschiedenen Sprachen.
•Welche Sprachen sprechen die Tiere?
Für Kinder ist es äußerst interessant, herauszufinden, dass Tiere in
verschiedenen Sprachen/Kulturen oft andere Laute von sich geben.
So z.B. bellt der Hund nicht weltweit „wau-wau“, sondern z.B. in
Indonesien „guk-guk“, in England „bow-wow“ (kleinere Hunde
„woof-woof“), in der Türkei „hav-hav“, in Spanien „guau-guau“, in
Japan „wan-wan“, in Rumänien „ham-ham“, in Holland „blaf-
blaf“…
Auch der Hahn kräht unterschiedlich in verschiedenen Sprachen:50
„cock-a-doodle-doo“ (Englisch), „quiquiriqui“ (Spanisch),
„cocorico“ (Französisch), „ko-ki-oh“ (Koreanisch), „kukurikú“
(Ungarisch), „kuckeliku“ (Schwedisch) oder „kok-e-kok-ko“
(Japanisch). Dies kann auch Anlass zu einem Unterrichtsgespräch
bzw. zu entsprechenden Recherchen in der eigenen Familie oder im
Internet geben.
•Mehrsprachige Beschriftungen in der Klasse/Schule
Fenster hat in anderen Sprachen auch einen anderen Namen. Um
dies bewusst zu machen, werden verschiedene Einrichtungs- und
Schulgegenstände in der Klasse bzw. auch die verschiedenen Räume
in der Schule (Direktion, Musikzimmer, Turnsaal, etc.) in zwei oder
mehreren Sprachen/Herkunftssprachen der Schüler/innen beschriftet.
Es empfiehlt sich dabei, für jede Sprache eine andere Farbe zu
wählen. Im Rahmen eines Sprachentages oder zum jeweiligen Thema
passend könnten auch die Wochentage,51 Monatsnamen bzw.
Jahreszeiten in verschiedenen Sprachen präsentiert werden.
50 http://de.wiktionary.org/wiki/kikeriki Weitere Tiere und deren Laute mit Angabe
der entsprechenden Sprachen finden sich mit ansprechenden Illustrationen auf:
http://www.boredpanda.com/animal-sounds-different-languages-james-chapman/
(letzter Zugriff am 10.09.2014).
51 Vgl. Kiesel, Heft 1, 2012a, 26.
82
•Eine zwei- oder mehrsprachige Bücherecke/Schul-
bibliothek einrichten
Diese könnte zwei- oder mehrsprachige Bilderbücher, Geschichten
bzw. Märchenbücher, Audio- und Videomaterialien, mehrsprachige
Zeitschriften, wie z.B. das dreisprachige Magazin Trio, sowie
Liedersammlungen in verschiedenen Sprachen enthalten und dadurch
auch Interesse, Verständnis und Wertschätzung für andere Sprachen
wecken.
•Mehrsprachige Rollenspiele
Dabei können einfache Einkaufsgespräche (z.B. beim Bäcker, im
Schuhgeschäft, Buchgeschäft, Eisgeschäft, auf dem Markt, etc.) oder
Gespräche beim Kauf einer Fahrkarte (Bahnhof) bzw. beim Bestellen
in einer Imbissstube/im Restaurant simuliert werden, wobei der
Kunde/die Kundin, Einkäufer/in, Gast in der jeweiligen
Herkunftssprache spricht und der Verkäufer/die Verkäuferin, die
Bedienung, der Kellner/die Kellnerin deutsch. Im Anschluss daran
wird besprochen, was verstanden wurde, was beim Verstehen
geholfen hat (z.B. Gestik, Mimik) und was zum besseren Verständnis
noch wichtig gewesen wäre. Dies kann auch wesentlich zur
Sensibilisierung für migrante Schüler/innen beitragen, die häufig in
solchen Verstehenssituationen sind.
•Sprachenportraits
Durch das Anfertigen eines Sprachenportraits, manchmal
Sprachenfigur oder auch Sprachenbild genannt, können Kinder bereits
in der Grundschule ein Sprachbewusstsein entwickeln und sich
bewusst machen, über welchen Reichtum an Sprachen sie schon
verfügen. Die Schüler/innen malen die Figur an, wobei sie für jede
Sprache eine andere Farbe verwenden. Je öfter und besser sie die
Sprache sprechen, umso größer wird die Fläche, die sie anmalen.
Durch die Farbe und die Zuordnung im Körper kann gut
veranschaulicht werden, welche Bedeutungen die einzelnen Sprachen
für die Kinder haben bzw. auch welche Gefühle mit ihnen verbunden
sind.
Diese Sprachenfigur ist auch im Europäischen Sprachenportfolio
für die Mitteleuropäische Region, Primarstufe (für SchülerInnen von
6 bis 10 Jahren) enthalten, das in den 5 Sprachen Deutsch, Englisch,
Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch kostenlos unter
http://europabuero.ssr-web.at/index.php/de/downloads-de (letzter
Zugriff am 10.09.2014) heruntergeladen werden kann.
83
• Lieder aus verschiedenen Ländern
Musik ist eine universelle Sprache, die jedermann versteht. Sie kann
Gefühle wie z.B. Freude, Trauer, Begeisterung, Sehnsucht oder auch
Wünsche besonders gut ausdrücken. So könnten Migrantenkinder z.B.
Musik aus ihrem Herkunftsland mitbringen, ein europäisches Musik
Quiz mit den Schüler/innen gestaltet werden (vgl. Baumann 2005b,
31) bzw. zusammen mit der Lehrkraft verschiedene Tänze
einstudieren. Auch das gemeinsame Musizieren und Singen von
Liedern in anderen Sprachen kann dazu beitragen, die Realität der
Mehrsprachigkeit besser im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein zu
verankern.
Grundschulkindern macht es großen Spaß ein Lied in verschiedenen
Sprachen zu singen. Als einfaches Beispiel sei hier das Lied Bruder
Jakob genannt, das in verschiedenen Sprachen/Herkunftssprachen der
Kinder gesungen werden kann. Aus den im Internet angebotenen 36
Sprachvarianten http://ingeb.org/Lieder/bruderja.html (letzter Zugriff
am 10.09.2014) werden hier nur zwei exemplarisch angeführt:
Polnisch
Panie Janie! Panie Janie!
Rano wstań ! Rano wstań !
|: Wszystkie dźwony biją :|
Bim, bam, bum, bim, bam, bum.
Tschechisch
Bratře Kubo, Bratře Kubo,
Ještě spíš, ještě spíš ?
Venku slunce zárí, ty jsi na polštáři,
vstávej již, vstávej již.
Es empfiehlt sich dabei folgende Vorgangsweise:
- Erarbeiten des Liedtextes in einigen Sprachen
- Gemeinsames Singen einiger Strophen des Liedes, wobei jene
Schüler/innen, die die jeweilige Sprache sprechen, bei der
richtigen Aussprache helfen können.
- Eventuell Erarbeiten einer weiteren Strophe in einer Mundart
Mögliche Erweiterung:
- Die Schüler/innen sammeln mit Hilfe der Eltern weitere
Strophen in anderen Sprachen und sprechen dann darüber,
warum sie gerade diese Sprache ausgesucht haben
- Singen des Liedes im Kanon oder gleichzeitig in
verschiedenen Sprachen
- Präsentation des Liedes vor den Eltern oder einer
Nachbarklasse, wobei die Gäste/Zuhörer/innen die jeweils
vorgesungenen Sprachen erraten sollen.
84
Die nachfolgenden Beispiele aus dem Lehrwerk „Supermouse“
zeigen, wie Mehrsprachigkeit im Englischunterricht verwirklicht
werden kann:
• Sprachen erkennen
Hörverständnisübung: Saying Goodbye in Europe
Im Wesentlichen geht es hier darum, dass die Schüler/innen den
Abschiedsgruß „Auf Wiedersehen“ in verschiedenen Sprachen hören
und dabei herausfinden, in welchem europäischen Land die jeweilige
Sprache gesprochen wird.
Setting: Radio Rainbow is broadcasting a programme about how to
say „Goodbye” in Europe.
• Listen to Radio Rainbow.
• Colour in each man according to the flag of his country.
52
• Draw lines from the speech bubbles to the matching
men/countries.
Abbildung 9: Saying Goodbye in Europe (Baumann 2005b, 31)
52
Notwendige Vorerfahrungen: Kenntnisse der jeweiligen Nationalfahnen,
Länderbezeichnungen bzw. deren Abkürzungen.
85
N: Listen to Radio Rainbow and find the correct
country.
Rory: 1. We say “Goodbye” or “Farewell” in England.
2. We say “Farväl” in Sweden.
3. We say “Na schledanou” in the Czech Republic.
4. We say “Au revoir” in France.
5. We say “Arrivederci” in Italy.
6. In Poland you can hear ”Dowidzenia”.
7. We say “Adios” in Spain.
8. And in Hungary you can hear “Viszont Látásra”.
What do you say in your country?
Baumann 2005a, 147
• European Language Quiz: „Dandelion“ in six languages
Bei dieser Hör- und Leseverständnisaktivität sollen die
Schüler/innen die sprachliche Vielfalt bzw. Ähnlichkeiten zwischen
den Sprachen anhand des Wortes „Löwenzahn“ erkunden und dem
jeweiligen Begriff in der Fremdsprache das entsprechende Land
(dargestellt durch Fahne u. Autokennzeichen) zuordnen.
• The Ps listen to the CD and match the word with the
corresponding flag.
• They fill in the country code.
• The Ps colour in the flags.
86
Abbildung 10: European Language Quiz (Baumann 2005b, 20)
James: Supermouse, can you help me, please?
SM: Yes, of course.
James: What do they say for “dandelion“ in other countries?
SM: In France they say “dent de lion“.
In Spain they say “diente de león“.
In Italy they say “dente di leone“.
In the Netherlands they say “Leeuwetand“.
In Austria and Germany they say “Löwenzahn“.
And in Great Britain they say “dandelion“.
Baumann 2005a, 104
Key: 1. F: dent de lion (In some regions of France they say pissenlit
instead according to the plant’s effect.)
2. E: diente de león
3. I: dente di leone
4. NL: Leeuwetand
5a/5b D: Löwenzahn
6. GB: dandelion (Dandelion was originally the French word
dent de lion, pronounced in an English way.)
Vorschläge und Aktivitäten zur Weiterführung, wie z.B.
Hintergrundinformationen über „Dandelions“, Dandelion Rhyme,
87
Flower Quiz, Mini Project: Plants, etc. finden sich in Baumann
2005a, 104ff.
• Feste und Feiern mehrsprachig gestalten
Hier bietet sich insbesondere eine Geburtstagsfeier an:
- Die Kinder wünschen dem Geburtstagskind „Happy
Birthday!“ in ihrer jeweiligen Herkunftssprache. Falls
gewünscht, bietet das Internet diesen Glückwunsch in 162
Sprachen an:
http://www2.vobs.at/hs-goetzis/asp_staff/happy_birthday.htm
(letzter Zugriff am 10.09.2014)
- Die Kinder singen dem Geburtstagkind das Lied „Happy
Birthday“ in verschiedenen Sprachen oder traditionelle
Geburtstagslieder aus verschiedenen Ländern. Das Goethe-
Institut hat diesbezüglich 2 CDs herausgebracht, eine mit 20
Sprachvarianten des am häufigsten gesungenen
Geburtstagliedes „Happy Birthday“ sowie traditionelle
Geburtstagslieder aus vielen Ländern:
http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/fms/meh/de5023774.htm
Als weiteres Beispiel sei hier noch das Weihnachtsfest genannt:
- Brainstorming zum Thema „Weihnachten“
- Die Schüler/innen berichten, wie in ihrem Herkunftsland
Weihnachten gefeiert wird (wann das Fest gefeiert wird,
welche Weihnachtsbräuche es gibt – Weihnachtsessen –
Geschenke, Lieder, etc.).
- Anhand der nachfolgenden Abbildung kann in englischer
Sprache über Weihnachtsbräuche in den angegebenen
europäischen Ländern gesprochen werden (vgl. Baumann
2005, 78f.):
88
Christmas around Europe
Abbildung 11: Christmas around Europe (Baumann 2005c,17)
- In die noch freie letzte Zeile setzen die Schüler/innen ihr
Herkunftsland ein und ergänzen die entsprechenden
Zeichnungen und Daten.
- Die Schüler/innen wünschen einander entweder ein „Merry
Christmas“ in englischer oder in ihrer jeweiligen
Herkunftssprache. „Frohe Weihnachten“ findet man in allen
Sprachen auf:
http://www.babelmaster.de/uebersetzung_frohe_weihnachten.html
(letzter Zugriff am 10.09.2014).
Für weitere Ideen zu mehrsprachigen Projekten siehe Prochazka 2008,
57f.
89
Zusammenfassung und Ausblick
Zunächst noch einige wichtige Hinweise bezüglich Materialien. Das
ÖSZ in Graz hat schon seit einigen Jahren verschiedene Materialien
erstellt, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Umgang mit und
der Förderung von Mehrsprachigkeit beschäftigen und eine
intensivere Auseinandersetzung mit der Thematik ermöglichen. So
z.B. wurde eine umfangreiche Sammlung von zehn Heften mit dem
Titel KIESEL – Kinder entdecken Sprachen für die Altersstufe von
acht bis zwölf Jahren zur Unterstützung der Lehrkräfte konzipiert.
Diese werden zu folgenden Themen angeboten:
• Von den Sprachen des Kindes zu den Sprachen der Welt
• Europanto
• Die Wochentage in verschiedenen Sprachen
• Die lange Reise der Wörter
• Sind Obst und Gemüse männlich oder weiblich?
• Mein Körper kann sprechen
• Latein lebt! Warum es in vielen Sprachen ähnliche Wörter
gibt.
• Sprachwege. Der Zusammenhang von Sprache und Kultur
am Beispiel des Burgenland-Romani
• Bilder von der Welt in verschiedenen Sprachen
• Sprachenportraits
Diese Materialien können über nachfolgende Website bestellt werden,
sind aber auch als kostenloser Download unter www.oesz.at
erhältlich. Die Kiesel-Hefte sollen die Neugier der Schüler/innen für
Sprachen wecken, eine positive Haltung gegenüber anderen Sprachen
und deren Sprecher/innen entwickeln helfen und das Bewusstsein für
eine mehrsprachige Gesellschaft fördern.
Schon seit einigen Jahren gibt das BMBF in Zusammenarbeit mit
dem Stadtschulrat für Wien die dreisprachige Zeitschrift (Deutsch,
Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Türkisch) Trio zur Unterstützung
des Leseunterrichts in mehrsprachigen Klassen von der 2. bis zur 6.
Schulstufe heraus. Trio erscheint zweimal jährlich (März und
Oktober). Das Heft will die Freude aller Schülerinnen und Schüler am
Lesen wecken und einen Beitrag zur Förderung der sprachlichen
Kompetenz in der Erst- wie in der Zweitsprache leisten. Trio möchte
Lehrerinnen und Lehrer ermutigen, die sprachlichen Ressourcen in
ihrer Klasse kreativ zu nutzen (kostenloser Download unter
www.schule-mehrsprachig.at).
90
Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass
Sprachen gepflegt und benutzt werden. Nicht umsonst gilt – wie für
vieles Andere – der Grundsatz: Use it or lose it!
Verschiedene Bildungspolitiker/innen und Sprachexpert/innen
fordern immer wieder ein durchgehendes Konzept zu
Mehrsprachigkeit sowie ein breiteres Sprachenangebot, das die
gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre berücksichtigt,
sowohl im Kindergarten als auch im schulischen Bereich.
„Sprachunterricht und Sprachförderung können weder soziale
Ungleichheiten noch die Diskriminierung anderssprachiger Menschen
beseitigen. Aber Sprachunterricht kann entscheidend dazu beitragen,
dass die Chancen von Menschen, ihren Platz in der Gesellschaft zu
finden, verbessert werden.“ (De Cillia/Krumm 2009, 4).
Die EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und
Jugend, Androulla Vassiluou, hob in einer Rede mit dem Titel „Why
languages still matter“ am 27.09.2012 die Bedeutung der Sprachen
zur Erhaltung von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Diversität
hervor:
„If we no longer take the trouble to learn our neighbours‘ language,
then we are less likely to understand their concerns, and even less
likely to lend a helping hand. Experience tells us that we are more
willing to make sacrifices for those that we know and trust. Today as
much as ever, culture and language remain potent factors of our sense
of community.“
53
So lässt sich auch unser großes Ziel, Mehrsprachigkeit zu erreichen,
besser verstehen. Durch das Erlernen einer neuen Sprache werden
nicht nur die kulturellen, sprachlichen und sozialen Kenntnisse und
Fertigkeiten erweitert, sondern insbesondere jene Kompetenzen
vermittelt, die zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses
besonders beitragen.
Mehrsprachigkeit zu erreichen, ist unser weitgestecktes Ziel,
unsere große Hoffnung und − last, but not least − auch Chance zum
Frieden in der Welt:
53
Zitiert in: Gombos 2013, 59.
91
„Through learning a language, we learn about CULTURE:
Through learning about culture, we learn TOLERANCE for others.
Through learning tolerance for others, we can hope for PEACE.”
Helena Curtain, University of Wisconsin, USA
54
Literaturverzeichnis
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cross-curricularen Englischunterricht an Grundschulen in 4 Bänden.
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Ismaning: Hueber.
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Ismaning: Hueber.
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Ismaning: Hueber.
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54
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entdecken und feiern. Praxisvorschläge für Sprachenworkshops und
Sprachenaktionen für die Grundschule und die Sekundarstufe I. ÖSZ
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KIESEL neu – Materialien zur Mehrsprachigkeit: Heft 2 (2012b).
Beide Broschüren stehen online unter www.oesz.at (˃Materialien und
Service<) als kostenloser Download zur Verfügung (letzter Zugriff am
10.09.2014).
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frühen Fremdsprachenerwerbs. Narr: Tübingen.
95
Romy Höltzer
Fremdsprachenlernen an Wiener Volksschulen
55
Fremdsprachliche Kompetenz zählt in der Europäischen Union zu
den Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen und ist gerade
auch in einer internationalen Stadt wie Wien von essentieller
Bedeutung. Auch der vom Europarat initiierte LEPP-Prozess
56
trug
dazu bei, Sprach- und Sprachunterrichtspolitik zu reflektieren, zu
fördern und weiter zu entwickeln. Der Stadtschulrat für Wien trägt
dieser Tatsache Rechnung und bietet, beginnend mit der ersten
Schulstufe, eine Palette von Fremdsprachenmodellen an.
57
Englisch
als Lingua Franca hat dabei einen besonderen Stellenwert und wird
von allen Schülerinnen und Schülern der Volksschule erlernt, wobei
die Intensität allerdings je nach Modell variiert. Eine multikulturelle
und multilinguale Gesellschaft benötigt natürlich ein breiter
gefächertes Fremdsprachenangebot, um den Bedürfnissen der
jeweiligen Zielgruppen zu entsprechen. So wurden auch vielzählige
Fremdsprachenmodelle in den romanischen Sprachen Französisch,
Italienisch, Spanisch und den regionalen Nachbarsprachen
Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch an Wiener Pflichtschulen
implementiert.
Diesen Modellen ist gemeinsam, dass an Schulen mit vermehrtem,
bzw. intensiviertem Fremdsprachenangebot Native Speaker Teachers
zum Einsatz kommen.
Englisch an Wiener Volksschulen
Bilinguales Modell:
Vienna Bilingual Schooling – VBS
Aufgrund mehrerer zeitgeschichtlicher Ereignisse wie die Eröffnung
der UNO-City 1979, die Öffnung des Eisernen Vorhanges 1989 oder
Österreichs Beitritt zur EU 1995, die zu einer stärkeren Ansiedlung
englisch-, bzw. mehrsprachiger Familien in Wien führten, wurde im
Jahr 1992 der Schulversuch „Vienna Bilingual Schooling – VBS“ ins
Leben gerufen, dessen Ziel es ist, sowohl die deutsche als auch die
englische Sprache ab dem Schuleintritt als Unterrichtssprache zu
verankern. Die Alphabetisierung erfolgt dabei zunächst in der
jeweiligen Erstsprache, Englisch oder Deutsch, der Beginn des Lesens
und Schreibens in der jeweiligen Zweitsprache wird individuell ab der
ersten Schulstufe festgelegt. First Language und Second Language
55
Volksschule in Österreich: 1.-4.Schulstufe
56
Language Education Policy Profiling
57
http://www.europabuero.ssr-wien.at
96
finden dabei in getrennten Sprachgruppen bei dem betreffenden
Native Speaker Teacher statt. In allen „nicht sprachlichen“
Gegenständen erfolgt der Unterricht in beiden Sprachen.
Da für den erfolgreichen Besuch dieses Schulversuchs Vorkenntnisse
in beiden Sprachen nötig sind, wird bei der Aufnahme ein
Orientierungsgespräch mit dem Kind geführt, bei dem auf die drei
Bereiche sozio-emotionale Kompetenz, sprachliche Flexibilität
(kommunikative Strategien), sowie kommunikative Kompetenz
besonderes Augenmerk gelegt wird.
CLIL-Modelle:
Global Education Primary School – GEPS
Um auf die Herausforderung der zunehmenden Globalisierung gut
vorbereitet zu sein und mit den nötigen Kenntnissen, Fertigkeiten und
Haltungen in einer immer vielfältiger werdenden Welt bestehen, aber
auch aktiv beteiligt sein zu können, wurde 2001 das Projekt „Global
Education Primary School – GEPS“ in das Wiener Schulwesen
implementiert, das sich ebenfalls großer Beliebtheit erfreut. Es basiert
auf den vier Säulen Globales Lernen, Fremdsprachenkompetenz,
Umgang mit modernen Informations- und Kommunikations-
technologien und projektorientiertes Lernen.
Im Rahmen einer täglichen CLIL Stunde werden über die gesamten
vier Grundschuljahre hinweg verschiedene Themen auch des Globalen
Lernens in der Arbeitssprache Englisch behandelt. Dabei unterrichten
Klassenlehrkraft und Native Speaker Teacher im Team. I have friends
in other countries, Languages in our class, What games do children
play here and in other countries, Holidays and celebrations here and in
other countries, The world provides for our table, Pollution, Fair trade
and fair pay, Music and stories from around the world sind nur einige
der Themen, die im Rahmen des Globalen Lernens – nicht nur in der
Arbeitssprache Englisch – behandelt werden können.
Des Weiteren wird in diesem Modell ab der dritten Schulstufe, nach
Maßgabe der personellen Ressourcen, noch eine weitere
Fremdsprache angeboten.
European Primary School – EPS
Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projekts
wurde dieses Modell mit Expertinnen und Experten aus der Slowakei,
Tschechien und Ungarn entwickelt und 2001 in einem Wiener
Gemeindebezirk gestartet. Es hat zum Ziel, den Sinn für ein
gemeinsames Europa besonders zu fördern, wobei dem
Fremdsprachenlernen eine große Bedeutung zukommt. So findet auch
hier täglich eine CLIL Stunde – mit Klassenlehrkraft und Native
Speaker Teacher im Team – statt, und ab der dritten Schulstufe
97
werden zusätzlich regionale Nachbarsprachen (Slowakisch,
Tschechisch, bzw. Ungarisch) angeboten. Für den Lernbereich
European Studies wurden im Rahmen eines mitteleuropäischen
Grundschulnetzwerkes Unterrichtsmaterialien entwickelt, wobei zur
Themenfindung die Lehrpläne aller vier Regionen58 herangezogen
wurden. We are children from the CENTROPE region, Famous
landmarks in our region, Eurokids sind einige der typischen
Projektthemen, wobei auch Schulpartnerschaften, gegenseitige
Besuche und gemeinsame Projekttage zum Kennenlernen und zum
Vertiefen des europäischen Gedankens dienen.
International Regional College – IRC
Dieses Modell entstand im Rahmen eines EU-Projekts und hat den
Erwerb internationalen Bewusstseins und internationaler
Handlungskompetenz zum Ziel, die in den International Studies im
Ausmaß von drei (CLIL)Wochenstunden, in denen ebenfalls ein
Native Speaker Teacher mit im Team ist, zum Tragen kommen.
Dual Language Programme – DLP
In Absprache mit dem jeweiligen Standort, werden im „Dual
Language Programme“ Native Speaker Teachers flexibel für CLIL
Unterricht in diversen Gegenständen eingesetzt.
Begegnungssprachliches Modell:
Native English Speaker Support In Education – NESSIE
Im Rahmen von zwei Projektwochen wird Schülerinnen und
Schülern der vierten Schulstufe durch den Einsatz mobiler Native
Speaker Teachers die Möglichkeit geboten, das in der Volksschule
erworbene Wissen in Englisch in authentischen Situationen
anzuwenden. So werden unter anderem sprachliche Grund-
kompetenzen gefestigt, die Nahtstellenproblematik beim Übertritt in
die Sekundarstufe entschärft, aber auch Wissen über Landeskunde und
Kultur durch die Begegnung mit dem Native Speaker Teacher
unterstützt und gefördert.
Lebende Fremdsprache Englisch:
Englisch 2020
Der reguläre Englischunterricht in der Volksschule beläuft sich auf
eine Wochenstunde auf allen vier Schulstufen und wird in der Regel
von der Klassenlehrkraft erteilt. Um nun die Effektivität des
Unterrichts und die Professionalisierung der Lehrkräfte zu steigern,
sowie die Übergangsproblematik von der Volksschule zur
Sekundarschule zu entschärfen, wurde im Schuljahr 2013/14 das
Projekt „Englisch 2020“ ins Leben gerufen. Dabei sollen erstens so
58 CENTROPE Region: Bratislava/SK, Brünn/CZ, Györ, Moson, Sopron/HU,
Wien/A
98
genannte English Experts, geeignete Lehrkräfte am Standort, den
Englischunterricht durchführen, d. h. ein Stundentausch ist möglich,
bzw. erwünscht. Zweitens erfolgt der Unterricht auf Grundlage der
GK4 – Grundkompetenzen Lebende Fremdsprache, 4.Schulstufe,
einem didaktisch-methodischen Tool, das gemäß dem GERS
59
Kompetenzen beschreibt, die am Ende der Volksschulzeit erreicht
werden sollen.
Dieses Projekt startete mit 23 Pilotschulen und soll in den folgenden
Jahren flächendeckend ausgeweitet werden. Die ersten Erfahrungen
und Evaluationen scheinen vielversprechend.
Romanische Sprachen an Wiener Volksschulen
CLIL-Modelle:
FIP, SIB, Arco Iris
Ähnlich dem GEPS Modell wird bei den Projekten „Français intégré
à l’école primaire – FIP“, „Scuola elementare italiana bilingue – SIB“
und „Arco Iris“ das Ziel verfolgt, Französisch, bzw. Italienisch oder
Spanisch als Arbeitssprache bereits ab der ersten Schulstufe zu
verankern. Das zeitliche Ausmaß bei „FIP“ und „SIB“ beträgt fünf,
bei „Arco Iris“ 3 Wochenstunden, wobei ebenso der jeweilige Native
Speaker (in „Arco Iris“ nur 2 Wochenstunden) gemeinsam mit der
Klassenlehrkraft im Team unterrichtet.
Ab der dritten Schulstufe erhalten die Schülerinnen und Schüler
ergänzend verpflichtenden Englischunterricht von 2 Stunden pro
Woche. Im spanischen Modell wird nachmittags zusätzlich eine
unverbindliche Übung Spanisch angeboten.
Begegnungssprachliche Modelle:
Mes Amis, Amici
Die beiden begegnungssprachlichen Projekte (ähnlich dem NESSIE
Modell) richten sich an Schülerinnen und Schüler der dritten und
vierten Schulstufe, wobei ihnen in zweitägigen Projektblöcken
gemeinsam mit einem Native Speaker Teacher die Möglichkeit
geboten wird, in spielerischer Form eine neue Sprache und Kultur
kennen zu lernen, aber auch sich erste sprachliche Fertigkeiten
anzueignen.
Lebende Fremdsprachen Französisch, Italienisch, Spanisch:
Papillon, Palloncino, Mariposa
In der überwiegenden Mehrheit der Wiener Volksschulen wird im
Regelunterricht auf allen vier Schulstufen natürlich Englisch
angeboten, trotzdem wählen einige Standorte, bzw. Klassen, für den
59
GERS – Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen,
lehren, beurteilen
99
Beginn eine der drei romanischen Sprachen. Auch hier beträgt das
zeitliche Ausmaß jeweils einer Stunde pro Woche, wobei zusätzlich
Native Speaker Teachers zum Einsatz kommen. Ergänzend erhalten
die Schülerinnen und Schüler ab der dritten Schulstufe
verpflichtenden Englischunterricht im Ausmaß von zwei
Wochenstunden.
Regionale Nachbarsprachen an Wiener Volksschulen:
CentroLING
Der Stadtschulrat für Wien fördert seit 1997 die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der CENTROPE Region,
wobei ein Teil dieser Zusammenarbeit in der Durchführung
verschiedener Projekte der Sprach- und Kulturbegegnung an Wiener
Schulen besteht. Darüber hinaus wird so auch der Forderung des
Europarates entsprochen, der zufolge jede/r europäische Bürger/in
neben der Muttersprache über Kenntnisse zweier weiterer Sprachen –
im Idealfall eine davon eine Nachbarsprache – verfügen sollte.
Unter der Leitung von Native Speaker Teachers für Slowakisch,
Tschechisch oder Ungarisch werden im Rahmen des
Sprachennetzwerkes CentroLING bereits ab der Volksschule
Projektwochen, bzw. Projekttage mit dem Ziel des Kennenlernens und
der Auseinandersetzung mit Sprache und Kultur des Nachbarlandes
angeboten.
Und wie geht es weiter?
Um Kontinuität zu gewährleisten und im Sinne des lebenslangen
Lernens muss natürlich auch das Fremdsprachenlernen auf der
Sekundarstufe fortgeführt werden. Deshalb wurden die bestehenden
Modelle entweder erweitert oder eine entsprechende Möglichkeit der
Fortsetzung geschaffen.
So ist es im Schulversuch „Vienna Bilingual Schooling – VBS“
möglich, eine bilinguale Bildung von der ersten bis zur zwölften, bzw.
dreizehnten Schulstufe zu durchlaufen. Ebenso werden die Projekte
„EPS“ („European Middle School – EMS“, European High School –
EHS“), „IRC“ und „DLP“, sowie das französischsprachige Projekt
„FIP“ unter dem Namen „Français intégré aux projets dans le
secondaire – FIPS“ ebenfalls bis zum Ende der Sekundarstufe II
weitergeführt. Auch das Sprachennetzwerk CentroLING bietet auf der
Sekundarstufe I Spracherlebniskurse und auf der Sekundarstufe II
Sprachenworkshops in Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch an.
Das Europa Büro des Stadtschulrates für Wien informiert gerne über
diese und weitere Fremdsprachenprojekte.
100
„The limits of my language are the limits of my world.”
Ludwig Wittgenstein (österreichisch-britischer Philosoph)
Literaturverzeichnis
BMUKK/BMWF/ÖSZ (2009). Language Education Policy Profile.
Sprach- und Sprachunterrichtspolitik in Österreich. Länderprofil.
Höltzer, Romy (2011). GEPS. Global Education Primary School.
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http://www.stadtschulrat.at/ (letzter Zugriff am 01.07.2014).
101
Ansgar Batzner
Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen mit
Migrationsgeschichte
−
Spracherwerb in
Übergangsklassen in Bayern
Im Jahr 2012 betrug in Deutschland der Anteil der Menschen mit
Migrationshintergrund rund 20,2 Prozent (16,3 Mio.
60
von 80,52 Mio.
Einwohnern), Millionen von Schülerinnen und Schülern (SuS) mit
Migrationshintergrund besuchen die allgemeinbildenden Schulen in
Deutschland, die meisten von ihnen haben Erfahrungen in zwei und
mehr Sprachen. Unklar ist, welche Bedeutung jeweils die Mutter- oder
die Erstsprache bzw. die Verkehrssprache Deutsch für den schulischen
und beruflichen Erfolg der Kinder und Jugendlichen hat (vgl. Hopf
2007, 163). Im Gegensatz zu einer doppelten Halbsprachigkeit
61
sind
die positiven Aspekte von Mehrsprachigkeit unumstritten, gerade und
auch bei den ausländischen Kindern und Jugendlichen in unseren
Schulen. Wichtig ist es, dass der Muttersprache eine größere
Bedeutung im Kontext der schulischen Lerninhalte zukommt und
hierüber das Selbstwertgefühl ausländischer Schüler maßgeblich als
Persönlichkeitskonstituente, die sich auf die gesamte Laufbahn
auswirkt, gestärkt wird (z.B. muttersprachlicher Unterricht als
Versetzungsfach; Integration fremdsprachlicher Elemente in den
Fachunterricht, Einrichtung bilingualer Klassen) […] (Seitz 2011,
270). Didaktische Konsequenzen werden seit Jahren angemahnt, auch
mit Blick auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften: Kinder sollten in
ihrer Sprachlernkompetenz nicht unterschätzt werden, schon in den
vorschulischen Einrichtungen müsse es Fremdsprachenangebote
geben, die Muttersprache(n) müssen gefördert werden, Feedback für
die Erfolge im Sprachenlernen ist wichtig und die Aus-, Fort- und
Weiterbildung müsse institutionalisiert werden (vgl. Böttger 2011, S.
3). Ergebnisse der Resilienzforschung zeigen, dass die Wertschätzung
der Erstsprache eine große Rolle für das Selbstkonzept und damit auch
für die Zukunftsperspektiven der Schülerinnen und Schüler haben
kann (vgl. Lammer 2010).
In diesem Beitrag werden die Sprachangebote zum Erlernen der
Zweitsprache Deutsch für Kinder und Jugendliche in Bayern
60
https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Migrati
onIntegration/Migrationshintergrund/Migrationshintergrund.html (20.08.2014)
61
Zum Begriff der „doppelten Halbsprachigkeit“ gibt es eine Stellungnahme der
Universität Potsdam, die keine sachliche Grundlage für die Annahme einer
doppelten Halbsprachigkeit sieht: Die sogenannte „Doppelte Halbsprachigkeit“:
eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme http://www.unipotsdam.de/fileadmin/
projects/svm/pdf/DoppelteHalbsprachigkeit_Stellungnahme.pdf (22.08.2014)
102
vorgestellt. Dabei nennt der Beitrag kurz die Angebote der Vorkurse
für Kinder im Kindergartenalter und der Sprachfördermaßnahmen für
SuS an Grundschulen und Mittelschulen. Schwerpunktmäßig geht der
folgende Beitrag auf die Spracherwerbssituation derjenigen Kinder
und Jugendlichen, die in so genannten Übergangsklassen
62
beschult
werden, nachdem sie in der Regel ohne jegliche Deutschkenntnisse
nach Deutschland gekommen sind, jedoch über eine
Spracherwerbsbiografie im Herkunftsland in einer oder mehreren
Sprachen verfügen und meist einen Alphabetisierungsprozess
durchlaufen haben, manchmal in einem vom Deutschen abweichenden
Schriftsystem. Ferner werden die Gelingensbedingungen der
Mehrsprachigkeit für SuS mit Migrationshintergrund aufgezeigt.
Abschließend folgen Handlungsempfehlungen für den Unterricht mit
SuS, die Deutsch als Zweitsprache erwerben und in ihrer
Mehrsprachigkeit gefördert werden.
Deutsch als Zweitsprache im Kindergartenalter
Für Vorschulkinder mit Migrationshintergrund gibt es in Bayern seit
dem Jahr 2001 mit dem Vorkurs gezielte Sprachförderangebote. Diese
wurden von anfangs 40 Deutschlernstunden auf seit 2008 nunmehr
240 Deutschlernstunden ausgeweitet. Während im Schuljahr 2013/14
es in der Regel getrennte Vorkursangebote für Kinder, die
deutschsprachig aufwachsen und für Kinder, die Deutsch als
Zweitsprache erwerben, gab, wurden zum Schuljahr 2014/15
gemeinsame Vorkurse eingerichtet. Die Kinder besuchen in den
letzten 1,5 Jahren vor der Einschulung den Vorkurs, wobei von Seiten
der Kindertagesstätten 40 Stunden im vorletzten Kindergartenjahr
(KGJ) und 80 Stunden im letzten KGJ eingebracht werden, während
die Lehrkräfte im letzten KGJ 120 Stunden Vorkurs übernehmen. Die
Größe der Vorkursgruppe beträgt 6 bis 8 Kinder, in den Jahren zuvor
62
Die Einrichtung von Übergangsklassen in der Grundschule ist in Bayern im §29
der Grundschulordnung geregelt: „
1
Für Schülerinnen und Schüler mit
nichtdeutscher Muttersprache, die dem Unterricht in einer deutschsprachigen
Klasse nicht zu folgen vermögen, können Übergangsklassen eingerichtet
werden.
2
Die Entscheidung trifft das Staatliche Schulamt.
3
Über die Zuweisung von
Schülerinnen und Schülern zur Übergangsklasse entscheidet die Schulleiterin oder
der Schulleiter.
4
Ist eine Schülerin oder ein Schüler einer Übergangsklasse so weit
gefördert, dass sie oder er dem Unterricht in einer deutschsprachigen Klasse zu
folgen vermag, weist die Schulleiterin oder der Schulleiter die Schülerin oder den
Schüler nach Anhörung der Erziehungsberechtigten einer deutschsprachigen Klasse
in der zuständigen Grundschule zu.
5
Die Zuweisung in eine deutschsprachige Klasse
erfolgt zu Beginn eines Schuljahres oder mit der Aushändigung des
Zwischenzeugnisses, spätestens jedoch mit Ablauf des zweiten voll besuchten
Schuljahres in der Übergangsklasse“, http://www.gesetzebayern.de/jportal/
portal/page/bsbayprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-
VoSchulOBY2008rahmen&doc.part=X (22.08.2014)
103
waren es 8 bis 12 Kinder. Grundlage für die Vorkursteilnahme sind
zwei Testverfahren: Seldak
63
und Sismik
64
. Beide Testverfahren sind
bayernweit vorgeschrieben. Der Vorteil der Zusammenlegung der
beiden Zielgruppen liegt neben der geringeren Gruppenstärke vor
allem darin, dass eine differenzierte Lernumgebung und eine
Pädagogik der Vielfalt die Methodik der Vorkursarbeit
65
bestimmt
(vgl. IFP 2014, S. 6)
Sprachförderangebote an Grundschulen und Mittelschulen
Für SuS mit Migrationshintergrund gibt es an den Grundschulen und
Mittelschulen in Bayern vielfältige, bedarfsorientierte Förderangebote:
Deutschförderklassen
66
und Deutschförderkurse
67
. Alle Förder-
angebote orientieren sich am Lehrplan Deutsch als Zweitsprache.
63
Seldak: Sprachentwicklung und Literacy bei Migrantenkindern in
Kindertagesstätten
64
Sismik: Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in
Kindertageseinrichtungen
65
Ausführliche Informationen zur Vorkursarbeit enthält die 2014 veröffentlichte
Handreichung Vorkurs Deutsch 240 in Bayern, zit. nach:
http://www.ifp.bayern.de/projekte/laufende/vorkurs.html (22.08.2014)
66
Deutschförderklassen sollen gezielt dem intensiven Spracherwerb und der
Integration der nichtdeutschen Mitschülerinnen und Mitschüler dienen. […]
Merkmale der Deutschförderklasse: In einer Deutschförderklasse werden
Schülerinnen und Schüler aus der Regelklasse (Stammklasse) zusammengefasst, die
keine oder sehr geringe Deutschkenntnisse haben. Deutschförderklassen können in
allen Jahrgangsstufen der Grund- und Haupt-/Mittelschulen eingerichtet werden.
Sie umfassen ca. 12 Schülerinnen und Schüler, die in ausgewählten Fächern den
Unterricht getrennt von ihrer Stammklasse erhalten, in den übrigen Fächern
nehmen sie am Unterricht ihrer Stammklasse teil. […] Dieses Modell stellt sicher,
dass auf der einen Seite der kompakte Deutschunterricht in der Deutschförderklasse
die Schülerinnen und Schüler zügig an den erforderlichen Leistungsstand heranführt
und auf der anderen Seite die Isolation und Gettoisierung dieser Kinder
überwunden wird. Ziel ist es, die Kinder soweit zu fördern, dass sie je nach ihrer
Leistungsentwicklung nach einem oder nach zwei Jahren ohne Zeitverlust voll in
ihre Regelklasse eingegliedert werden können und dort ihre Schullaufbahn
erfolgreich fortsetzen. (http://www.km.bayern.de/ministerium/schule-und-
ausbildung/foerderung/sprachfoerderung.html 22.08.2014)
67
Deutschförderkurse an der Grundschule im Umfang von einer bis vier
Wochenstunden finden zusätzlich zum regulären Deutschunterricht statt. An der
Mittelschule kann dafür ganz oder teilweise eine Befreiung vom übrigen Unterricht
(nicht nur Deutschunterricht) ausgesprochen werden. (http://www.km.bayern.de/
ministerium/schule-und-ausbildung/foerderung/sprachfoerderung.html 22.08.2014)
104
Deutsch als zweite oder dritte Sprache:
Übergangsklassen
In den vergangenen Jahren ist die Zahl derjenigen Kinder und
Jugendlichen, die ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen,
stark angewachsen. Im Landkreis Neu-Ulm wurde erstmals im
Schuljahr 2012/13 eine Übergangsklasse (Ü-Klasse) an einer
Mittelschule eingerichtet, während es im Jahr zuvor schon 121 Ü-
Klassen
68
in Bayern gab und im Schuljahr 2012/13 bereits 159 Ü-
Klassen zur Verfügung standen
69
. Im Schuljahr 2013/14 gab es
bayernweit bereits 244 Übergangsklassen
70
. Die Tendenz ist weiter
steigend. Im Schuljahr 2013/14 waren es im Schulamtsbezirk Neu-
Ulm bereits vier Ü-Klassen und im Schuljahr 2014/15 sind es sechs
Ü-Klassen, davon zwei an Grundschulen. Mittlerweile gibt es auch in
einem bundesweiten Pilotprojekt 15 Ü-Klassen im gebundenen
Ganztagesangebot, um das Sprachangebot über den Vormittags-
unterricht hinaus zu erweitern. Das Angebot der Ü-Klassen richtet
sich an Quereinsteiger, die neu nach Deutschland kommen und keine
oder nur sehr geringe Deutschkenntnisse haben
71
. In vielen Fällen
handelt es sich um Kinder von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die
in ihrem Herkunftsland eine oder mehrere Sprachen erlernt haben und
oft auch in einem anderen Schriftsystem alphabetisiert wurden. In
einer Ü-Klasse im Landkreis Neu-Ulm waren im Schuljahr 2013/14
beispielsweise Jugendliche, die zusammen über elf Sprachen und vier
verschiedene Schriftsysteme verfügten: ein Schüler aus China
68
https://www.bayern.landtag.de/www/ElanTextAblage_WP16/Drucksachen/Schriftl
iche%20Anfragen/16_0013699.pdf (21.08.2014)
69
http://www.bertholdrueth.de/image/inhalte/file/Jahrespressekonferenz_Neuerunge
n%20im%20Schuljahr%202013-2014.pdf, Seite 39 (21.08.2014)
70
„Im Schuljahr 2013/2014 waren bayernweit zum Stichtag 1.10.2013 insgesamt 244
Übergangsklassen an Grundschulen und Mittelschulen eingerichtet, in denen
besonderer Integrationsbedarf für Schülerinnen und Schüler besteht, die als
Quereinsteiger in das bayerische Schulsystem eintreten und nur rudimentäre oder
gar keine Deutschkenntnisse besitzen. Die über-wiegende Anzahl von
Übergangsklassen ist dabei in städtischen Ballungszentren angesiedelt. Hiervon
wurden bereits im Schuljahr 2013/2014 15 Übergangsklassen in gebundener
Ganztagsform eingerichtet.“, zit. nach: Bayerisches Staatsministerium für Bildung
und Kultus, Wissenschaft und Kunst, KMS vom 21.07.2014, S. 2
71
„Ob ein Schüler eine nichtdeutsche Muttersprache besitzt, hängt nicht von seiner
Staatsangehörigkeit ab. Vielmehr ist entscheidend, welche Sprache tatsächlich seine
Muttersprache ist, also diejenige Sprache, in der er vorwiegend spricht. Bei
Kindern, die verschiedene Sprachen sprechen, ist ausschlaggebend, ob die
nichtdeutsche Sprache besser gesprochen wird als die deutsche. Ein ausländisches
Kind, das die deutsche Sprache gut oder besser als die Sprache des Herkunftslandes
beherrscht, muss in einer deutschen Regelklasse unterrichtet werden.“, zit. nach:
http://www.schulberatung.bayern.de/imperia/md/content/schulberatung/08_sonderre
gelungen_f_r_sch_ler_mit_migrationshintergrund_in_der_grundschule_nach_bayeu
g_und_grso.pdf (22.08.2014)
105
(chinesische Schrift), fünf SuS aus Russland und Bulgarien
(kyrillische Schrift), zwei SuS aus Syrien (arabische Schrift) sowie
mehrere SuS aus Ländern, die die lateinische Schrift verwenden bzw.
darüber hinaus weitere eigene Grapheme kennen (wie z.B. das
Türkische). Der Lehrplan Deutsch als Zweitsprache stellt den Rahmen
für die Arbeit in der Ü-Klasse dar, die Stundentafel weist einen hohen
Anteil von Deutschunterricht aus.
Stundentafel für die Übergangsklasse in den Jahrgangsstufen 7 bis 9
72
Unterrichtsstunden für die Pflichtfächer
• Religionslehre/Ethik 2 Unterrichtsstunden
• Deutsch als Zweitsprache 10 Unterrichtsstunden
• Mathematik 5 Unterrichtsstunden
• Arbeit-Wirtschaft-Technik 1 Unterrichtsstunde
• Physik/Chemie/Biologie/Erdkunde/Geschichte/Sozialkunde 6
Unterrichtsstunden
• Sport 2+2 (differenzierter Sportunterricht) Unterrichtsstunden
Gesamtstundenzahl im Bereich der Pflichtfächer 26+2
Unterrichtsstunden für die Wahlpflichtfächer Technik, Wirtschaft, Soziales
(gemäß Stundentafel für die Regelklassen der Mittelschule) – 5
Unterrichtsstunden (7. Klasse), 4 Unterrichtsstunden (8. Klasse) und 4
Unterrichtsstunden in der 9. Klasse.
Das Staatliche Schulamt kann entsprechend der Zusammensetzung der SuS
einer Klasse (Alter, Vorkenntnisse) mit Ausnahme des Fachs Deutsch als
Zweitsprache hinsichtlich der Fächer und der Stundenanteile
Verschiebungen innerhalb der Stundentafel vornehmen. In den Fächern
Deutsch als Zweitsprache, Mathematik und
Physik/Chemie/Biologie/Erdkunde/Geschichte/Sozialkunde können
Lerngruppen gebildet werden.
Die SuS einer Ü-Klasse in der 7. Jahrgangsstufe haben somit maximal
31 Stunden Unterricht, in vielen Fällen kommen jedoch noch Arbeits-
gemeinschaften und Zusatzangebote, z.B. für das Fach Englisch,
hinzu. Ziel der Ü-Klasse ist es, dass die SuS maximal zwei Jahre in
72
https://www.verkuendungbayern.de/files/kwmbl/2013/08/anhang/Anlage_3_PDF_
A.pdf (21.08.2014)
106
dieser Klasse verbleiben und so bald wie möglich dem Regelunterricht
folgen können. Bei älteren SuS ist es das Ziel, den Übergang in die
Berufswelt durch den Ausbau der Sprachkompetenzen zu erleichtern.
Aus den Erfahrungen der bisherigen Ü-Klassen im Schulamtsbezirk
Neu-Ulm lässt sich sagen, dass viele SuS schon deutlich vor dem
Ablauf der maximalen Verweildauer von zwei Jahren die Ü-Klasse
verlassen, oft schon nach sechs bis neun Monaten. Einige SuS gehen
danach in eine Regelklasse der Mittelschule, andere haben den Erwerb
des Qualifizierenden Abschlusses (Quali) der Mittelschule geschafft
und besuchen im darauffolgenden Jahr ein so genanntes 9plus2-
Angebot, um den mittleren Bildungsabschluss zu erreichen und
weitere SuS schafften den Übertritt in eine Regelklasse der Realschule
bzw. des Gymnasiums. Der Erfolg, nach nur einem Jahr Beschulung
in Bayern als SuS, die ohne ein Wort Deutsch nach Deutschland
kamen, innerhalb so kurzer Zeit auf ein Gymnasium wechseln zu
können, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Wann kommt ein Kind in die Übergangsklasse?
Um in eine Übergangsklasse im Schulamtsbezirk Neu-Ulm
aufgenommen zu werden, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt
sein: Das Kind bzw. der Jugendliche ist neu in Deutschland und
verfügt über keine oder nur sehr geringe Deutschkenntnisse, so dass es
bzw. er dem Regelunterricht nicht folgen könnte. Der Sprachstand
wird in der Regel durch den schulischen Ansprechpartner für Deutsch
als Zweitsprache der Sprengelschule festgestellt oder durch den
Berater bzw. die Beraterin Migration, die es in jedem Schulamtsbezirk
jeweils für die Grundschulen und die Mittelschulen in Bayern gibt.
Darüber hinaus müssen die Erziehungsberechtigten damit
einverstanden sein, dass das Kind eine Ü-Klasse, die sich an einem
vom Wohnort abweichenden Ort befinden kann, besucht. Ferner
müssen die Schulleitungen sowohl der abgebenden als auch der
aufnehmenden Schule mit der Aufnahme des Schülers bzw. der
Schülerin einverstanden sein. Es muss in der Ü-Klasse einen freien
Platz geben, da die Höchstgrenze nicht überschritten werden soll. Und
schließlich kann die Zuweisung des Kindes bzw. des Jugendlichen nur
erfolgen, wenn der Sachaufwandsträger, in der Regel die Kommune
des Wohnortes der neuen Ü-Klassen-SuS, zur Übernahme der
Beförderungskosten, die für die Ü-Klassen-SuS anfallen, für die Zeit
von maximal zwei Jahren bereit ist.
Hilfreich ist die Erfassung schulischer und persönlicher Daten, bevor
die SuS in eine Ü-Klasse aufgenommen werden: Das Datum des
Zuzugs nach Deutschland, das Herkunftsland, der Aufenthaltsstatus,
das Vorhandensein von Deutschkenntnissen, die Kontaktdaten der
107
Erziehungsberechtigten und vor allem die bisherige Schulbiografie
und Angaben zur Familiensituation. Diese und weitere Angaben
können der Lehrkraft helfen, die Situation der SuS in der Ü-Klasse
einzuschätzen und gegebenenfalls auf Ressourcen in der Familie
zurückzugreifen.
Abbildung 1 zeigt das Anmeldeformular
73
zur Aufnahme in die Ü-
Klasse.
Abb. 1: Anmeldung – Übergangsklasse
I. Schüler
Familienname, Rufname, weitere Vornamen
weiblich männlich
Anschrift
____________________________________________
Tel. _________________________________________
Handy: ______________________________________
Geburtsdatum
Bekenntnis Staatsangehörigkeit
Geburtsort (Landkreis, Land)
Herkunftsland
Zuzug nach Deutschland Status Aufenthaltstitel bis
Deutschkenntnisse:
nein ja
II. Erziehungsberechtigte
Vater
Name, Vorname(n)
Anschrift
____________________________________________
____________________________________________
Mutter
Name, Vorname(n)
Ansprechpartner/ Betreuer/ Dolmetscher Tel.-Nr.
73
Das Anmeldeformular für die Übergangsklasse wurde im Schuljahr 2102/13 von
Petra Donth, Beraterin Migration Mittelschule im Schulamtsbezirk Neu-Ulm,
entwickelt.
108
III. Angaben über den Schulbesuch
Schulbesuch in Deutschland
nein ja, Zeitraum: ____________________ Ort: ______________________ Schulart: _____
Anzahl der Schulbesuchsjahre: _________________________
Schulbesuch in Herkunftsland/Heimatland
nein ja, Zeitraum: ____________________ Ort: ______________________ Schulart: ________________
Anzahl der Schulbesuchsjahre: _______________
Einschulung: ______________ Zuletzt besuchte Jahrgangsstufe:
__________________
Hat das Kind einen Kindergarten besucht
nein ja, _____________ Jahre/Monate
Weitere Angaben über den Schüler:
Zahl der Geschwister, Geburtsjahre
__ _________ / _________ /_________ /_________ /
Freiwillige Angaben, die für die Erziehung und den
Schulbetrieb von Bedeutung sind (z.B. besondere
körperliche, geistige oder charakterliche Eigenschaften)
Besondere Fähigkeiten/ Interessen
IV. Vorgelegte Unterlagen
Schulbesuch
nein ja, Zeugnis(se)
Urkunden
Anmeldung Meldebehörde
Aufenthaltsgenehmigung
Reisepass/Ausweis Geburtsurkunde
Sorgerechtsbeschluss
Das oben genannte Kind soll die Übergangsklasse, bis der Sprachstand den Besuch der Regelklasse
zulässt oder max. zwei volle Schuljahre.
Datum Schulleiter/in abgebende Schule Unterschrift/en des/der Erziehungsberechtigten
Aufnahme in die Schule
Das Kind wird ab ______________________________ in die Uli-Wieland-Mittelschule Vöhringen
Peter-Schöllhorn Mittelschule Neu-Ulm
in die Übergangsklasse aufgenommen.
_____________________________________________________________________________________________________________
Datum Unterschrif t der aufnehmenden Schule
109
Was erleichtert den Erwerb von Mehrsprachigkeit, was macht
den Erfolg der Übergangsklassen aus?
Der Erfolg der Übergangsklassen beim zügigen und nachhaltigen
Aufbau von Mehrsprachigkeit basiert auf mehreren Gelingens-
bedingungen
74
, die in didaktischer, pädagogischer und organi-
satorischer Hinsicht gewährleistet sein sollen bzw. müssen.
a) Didaktische Erfolgsfaktoren
• Die Lehrkraft ist fachlich gut auf den Unterricht in einer Ü-
Klasse vorbereitet. In der Regel hat sie Deutsch als
Zweitsprache studiert bzw. sich in diesem Bereich
weiterqualifiziert.
• Sie unterrichtet deutlich mehr Stunden im Fach Deutsch, als
die SuS in einer Regelklasse erhalten könnten.
• Der Unterricht erfolgt differenziert auf mehreren
Niveaustufen, in manchen Übergangsklassen geschieht nach
einem gemeinsamen Input die Differenzierung auf bis zu vier
Stufen. Die Differenzierung erfolgt auch im Fach Mathematik,
so dass die Lehrkraft gleichzeitig beispielsweise
Bruchrechnen, die Grundrechenarten und Maßeinheiten
unterrichtet.
• Alle SuS arbeiten nach einem individuellen Wochenplan.
Auch wenn in Bayern die Übergangsklassen nicht mehr drei
Jahrgangsstufen umfassen dürfen, sind doch oft in einer Ü-
Klasse SuS von bis zu vier Jahren Altersunterschied und
höchst unterschiedlichen Deutschkenntnissen zusammen. Zwar
kommen alle Schüler meist ohne Deutschkenntnisse in die Ü-
Klasse, da aber der Eintritt in die Ü-Klasse fortlaufend
während des Schuljahres erfolgt, gibt es immer absolute
Zweitsprachanfänger und SuS mit geringen bzw.
fortgeschrittenen Deutschkenntnissen.
• Für alle SuS stehen in ihrer jeweiligen Erstsprache
Wörterbücher bereit. So erhalten die SuS eine Wertschätzung
ihrer Erstsprache, schulen außerdem ihre Methodenkompetenz
im Umgang mit dem Wörterbuch und können selbstständig
arbeiten. In einer Ü-Klasse im Landkreis Neu-Ulm gab es im
vergangenen Schuljahr Wörterbücher in 15 verschiedenen
Sprachen.
• Die SuS dürfen sich in ihrer Erstsprache oder einer weiteren
ihnen vertrauten Sprache verständigen, z.B. wenn dies zum
Klären von Unterrichtsinhalten notwendig ist. Gerade wenn
während eines Schuljahres ein zweites oder drittes Kind aus
dem gleichen Herkunftsland in die Ü-Klasse aufgenommen
74
vgl. Herrmann, Vanessa: Arbeitspapier zur Ü-Klasse, 2014 (unveröffentlicht).
110
wird, kann der bisher schon beschulte Ü-Klassen-Schüler
wertvolle Tutorendienste übernehmen.
• In manchen Fällen kommt auch der Erwerb einer zweiten oder
dritten Sprache, die die SuS in ihrem Herkunftsland
kennengelernt haben, als Ressource Mehrsprachigkeit zum
Einsatz. Die damit verbundenen metasprachlichen
Fähigkeiten der SuS können gezielt genutzt werden. Einige
der bulgarischen SuS, die die Ü-Klassen im Landkreis Neu-
Ulm besuch(t)en, konnten z.B. fließend Türkisch, da dies in
manchen Landesteilen Bulgariens (und auch Serbiens) als
Minderheitensprache verbreitet ist. Ein weiteres Beispiel
stellen zwei SuS aus China dar, die zunächst für eine längere
Zeit in Italien gelebt haben, dort gut Italienisch erlernten und
nun als dritte Sprache Deutsch in der Ü-Klasse lernen. Der
Mehrsprachigkeit, zumal wenn dann auch Englisch als
Fremdsprache hinzukommt, sind hier kaum Grenzen gesetzt.
Interessant war es in den vergangenen zwei Jahren auch zu
beobachten, wenn rumänische SuS sich mit SuS aus Spanien
und Italien in der Ü-Klasse verständigen konnten, da diese drei
Sprachen nah verwandt sind.
• Die Lehrkraft erstellt eigene individuelle bzw. verwendet
vorhandene Unterrichtsmaterialien, die auf die
Sprachbedürfnisse der Ü-Klassen-SuS zugeschnitten sind. In
der Regel gibt es bislang nur wenige Lehrwerke, die sich
ausschließlich auf die Ü-Klassen-Zielgruppe beziehen im
Gegensatz zu einem breiten Angebot für Lerner des Fachen
Deutsch als Fremdsprache (DaF). DaF-Materialien enthalten
oft Sprachmaterialien und Situationen, die nicht mit der
Lebenswirklichkeit der Ü-Klassen-SuS übereinstimmen.
• Der Unterricht räumt dem Spracherwerb Vorrang vor allen
anderen Inhalten ein.
• Wesentlich zum Erfolg der Ü-Klasse tragen Unterrichtsgänge
und das Einbeziehen von außerschulischen Situationen und
Erfahrungen in den Unterricht bei. Die SuS der Ü-Klasse
sollen – wie in jedem guten Sprachunterricht – möglichst viel
Gelegenheit erhalten, Deutsch zu sprechen (und auch zu
schreiben). wobei das Sprechen zunächst im Vordergrund
steht. Deutsch ist zunächst das Mittel zur Verständigung, zur
Kommunikation, schon nach wenigen Wochen können sich die
SuS der Ü-Klasse im Schulalltag orientieren.
• Im Fachunterricht wird oft epochal unterrichtet, auf einem
fachsprachlich reduzierten und dennoch fachlich richtigen
Niveau. Wenn es das Angebot der Ü-Klasse nicht gäbe, hätten
es diese SuS unverhältnismäßig schwerer, dem Fachunterricht
111
in Physik, Biologie, Chemie oder Geschichte, Erdkunde und
Sozialkunde zu folgen.
• Der Sprachunterricht erfolgt über ein gutes, korrektes und
deutliches Sprachvorbild durch die Lehrkraft, auch in Bezug
auf die Betonung und die Satzmelodie.
• Der Unterricht orientiert sich im Tempo an der Sicherung von
Basiswissen und fundamentalen Sprachfertigkeiten. Die
Rhythmisierung des Unterrichts ist von großer Bedeutung,
nach mehr als zwei oder drei Stunden täglichem
Sprachunterricht sind viele SuS erschöpft.
• Überdurchschnittlich hoch ist das Selbstkonzept von SuS, die
neu nach Deutschland kommen. Ihre Motivation, eine neue
Sprache zu lernen und sich in einem neuen Land zu bewähren
bzw. zu beweisen, ist groß. Untersuchungen zu
Immigrationserfahrungen in anderen Ländern und dem damit
verbundenen Optimismus bzw. Erfolg
75
sind vergleichbar.
• Erfolgserlebnisse im Erlernen der zweiten bzw. dritten Sprache
stellen sich in den Ü-Klassen in der Regel schnell ein, die
damit verbundene Wertschätzung und Anerkennung und der
Erfolg im Anwenden der neuen Sprache sind gerade für die Ü-
Klassen-SuS von großer psychologischer Bedeutung.
Fachliche und fachdidaktische Aspekte
• Eine Sprachstandsdiagnose in regelmäßigen Abständen hilft,
den Sprachkompetenzaufbau systematisch und individuell zu
begleiten. Insbesondere das Leseverständnis muss erfasst
werden. Kompetenzorientierte Förderpläne sind die Kon-
sequenz aus den Diagnoseergebnissen.
• Die Portfolioarbeit fördert den Blick auf das bislang Erreichte
bei den SuS der Ü-Klasse.
• Der Wortschatzaufbau erfolgt über die unmittelbare
Lernumgebung und das Erfahrungsfeld der SuS: Schule,
Schulmaterialien, Familie, Farben, Zahlen, Zeiten,
Nahrungsmittel, Körperteile usw. Der Grammatikaufbau
erfolgt über so genannte Lernszenarien (vgl. Hölscher et al.,
2006, S. 6ff), vermittelt zunächst einfache Strukturen und
orientiert sich an Alltagssituationen.
• Die Lehrkraft weiß um die Besonderheiten der deutschen
Sprache: Verbstellung, Verbklammer, zweigliedrige Verben,
transitive Verben, (un-) regelmäßige Verben, Hilfsverben,
75
Interessant hier ein Blick auf die Studie von Grace Kao und Marta Tienda:
„Optimism and Achievement: The Educational Performance of Immigrant
Youth” Social Science Quarterly 76 (1995): 1-19, in: http://works.bepress.com/cgi/
viewcontent.cgi?article=1005&context=grace_kao (21.08.2014).
112
Artikelzuordnung, Pluralbildung, Dehnung bzw. Schärfung,
Auslautverhärtung, Konsonantenhäufung (z.B. Angstschweiß),
Wortzusammensetzungen, Vor- und Nachsilben, Genera,
Kasus, Homonyme und weitere Phänomene, die im Deutschen
von anderen Sprachen abweichen.
• Methoden des Tandemlesens (paired reading) werden
sukzessive angewandt.
Pädagogische und organisatorische Rahmenbedingungen
• Von großer Bedeutung ist die Wertschätzung gegenüber der
Biografie der Ü-Klassen-SuS. Sich in einem neuen Land
behaupten zu können, verlangt viel von den minderjährigen
SuS. Dazu die Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche
unfreiwillig ihr Heimatland und ihren Freundeskreis bzw.
Angehörige verlassen haben. Dass zudem oft traumatische
Erlebnisse und Erfahrungen verarbeitet werden müssen, wenn
die Schüler aus (Bürger-)Kriegsregionen oder Krisengebieten
kommen, erschwert den Start in schulischer und persönlicher
Hinsicht. Oft waren die SuS in einem anderen Schulsystem in
ihrem Heimatland beschult und starten, nachdem sie dort z.B.
eine dem Gymnasium ähnliche Schulform besucht haben, in
der Mittelschule.
• Vor der Aufnahme in die Ü-Klasse erfolgt eine differenzierte
Datenerhebung, wie sie mittels des in Abb1. vorliegenden
Anmeldeblatts erfolgen kann.
• Ideal ist es, wenn über den Ü-Klassen-Unterricht hinaus die
SuS ein „Sprachbad“ erhalten, also möglichst viel Gelegenheit
erhalten, Deutsch zu hören, zu sprechen und anzuwenden. Dies
kann zum einen durch das Angebot von Ganztagsbetreuung
bzw. -beschulung geschehen, wie dies in Bayern durch offene
und gebundene Ganztagsangebote der Fall ist. Im Schuljahr
2013/14 wurden 15 Ü-Klassen im Ganztagesbetrieb in Bayern
eingerichtet, im Schuljahr 2014/15 folgt ein derartiges
Angebot auch im Schulamtsbezirk Neu-Ulm. Ideal ist es, wenn
darüber hinaus die Ü-Klasse im Ganztagesbetrieb durch
sozialpädagogische Fachkräfte unterstützt wird
76
. Zum
anderen kann die Erweiterung von Gelegenheiten, Deutsch zu
76
„Zusätzlich stehen pro gebundener Ganztagsklasse und Schuljahr Mittel aus dem
Europäischen Sozialfonds (ESF) in Höhe von bis zu 26.500 Euro zur Verfügung.
Die gegenüber den üblichen Fördersätzen für schulische Ganztagsangebote deutlich
erhöhte Förderung soll insbesondere eine erweiterte sozialpädagogische
Komponente ermöglichen, die den besonderen Bedürfnissen der Schülerinnen und
Schüler in Übergangsklassen Rechnung trägt.“, zit. nach: Bayerisches
Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, KMS vom
21.07.2014, S. 4f.
113
sprechen und die Sprachkompetenz zu steigern, durch das so
genannte Neuburger Modell erfolgen
77
. Die Schüler machen
gemeinsam in der Schule ihre Hausaufgaben und nutzen das
Angebot einer Nachmittagsbetreuung. Darüber hinaus
besuchen die Eltern Deutschkurse
78
und eine Elternschule.
Die Ausweitung von Unterrichts- bzw. schulischen
Betreuungszeiten bietet zudem den Vorteil, dass die SuS sich
in ihrer Freizeit stärker mit dem Aufbau sozialer und
sprachlicher Kompetenzen beschäftigen als mit einer
Freizeitgestaltung, die zu stark durch die peer-group der
eigenen Nationalität definiert ist, wodurch die Notwendigkeit,
die „neue Sprache“ anzuwenden, verringert wird.
• In Bayern ist die Mindestgröße für eine Ü-Klasse 13 SuS, die
maximale Schülerzahl beträgt 20. Zu Beginn eines Schuljahres
kann die Mindestgröße auch unterschritten werden, da
erfahrungsgemäß während des Jahres weitere SuS in die Ü-
Klasse aufgenommen werden. Die geringe Zahl von SuS in
der Ü-Klasse ist ein weiterer Gelingensfaktor für den Erwerb
der Zweitsprache Deutsch.
• Die (sozial-) pädagogische Betreuung und die
Zusammenarbeit mit weiteren schulischen und
außerschulischen Unterstützersystemen sind wichtig.
Lernpaten, der Mobile Sonderpädagogische Dienst (MSD) und
Jugendsozialarbeit können auftretende Störungen und ggf.
auch psychische Probleme, die für den Zweitspracherwerb der
Ü-Klassen-SuS hinderlich sein könnten, minimieren helfen.
Viele Kinder und Jugendliche aus den Ü-Klassen haben eine
zum Teil belastete und belastende Migrationsgeschichte,
müssen sich mit unterschiedlichen Rollenbildern und –
vorstellungen der Eltern bzw. des Aufnahmelandes
auseinandersetzen und sind zudem auch durch die familiäre
und soziale Situation geprägt: belastende Wohnsituation,
finanzielle Notlage der Eltern, Verlust eines Elternteils oder
anderer Verwandter etc.
• Als günstige organisatorische Rahmenbedingungen haben sich
auch der Einsatz von weiteren Lehrkräften, z.B. von
Förderlehrern (Teamteaching) und von Praktikantinnen
und Praktikanten erwiesen. In mehreren Übergangsklassen
77
http://www.neuburg-schrobenhausen.de/index.php?id=7137,12 21.08.2014.
78
Ein Blick auf eine Untersuchung von Judith Häusermann in der Schweiz zeigt die
Bedeutung der kontaktlinguistischen Faktoren wie der Deutschkenntnisse der Mutter
und deren Einstellung gegenüber der deutschen Sprache. Auch die Frage, ob jemand
in der Familie deutsch mit dem Kind spricht, scheint einen Einfluss auf den
Deutschspracherwerb der Kinder zu haben. (Häusermann, 2009, S. 16).
114
im Landkreis Neu-Ulm waren und sind SuS der
Fachoberschule als Praktikanten und Praktikantinnen
eingesetzt. Die Lehrkraft wird in der Betreuung und im
Unterricht der Ü-Klasse entlastet. Als besonders positiv hat
sich der Einsatz von zwei Praktikanten erwiesen, die beide
Migrationshintergrund haben und so auch eine
Identifikationsfigur für die Ü-Klassen-SuS boten bzw. einen
weiteren Anreiz, „es zu schaffen“ darstellten.
• Gerade für die SuS aus Zuwandererfamilien in den Ü-Klassen
ist eine gelingende Bildungs- und Erziehungspartnerschaft
von fundamentaler Bedeutung. Kooperation, Kommunikation,
Gemeinschaft und Mitsprache sind wesentliche Felder der
Zusammenarbeit zwischen Schule und Erziehungs-
berechtigten.
• Oft werden schulische und außerschulische Fachkräfte mit
einbezogen, wenn es um sprachliche Alltagsprobleme geht:
Dolmetscherdienste, Formulare ausfüllen, Anträge stellen –
dies alles ist für die SuS und deren Familien in der ersten Zeit
nach der Einreise nach Deutschland kaum zu bewältigen, hier
sind in der Regel die Lehrkraft, die Schulsozialarbeit, die
Verwaltungsangestellte aus dem Schulsekretariat oder – wie in
Neu-Ulm – Mitarbeiter des Familienzentrums aktiv. Für die
SuS ist es auch aus psychologischer Sicht für den Erwerb der
Zweitsprache Deutsch bedeutsam, wenn die SuS erfahren, dass
sie und ihre Familien Unterstützung erfahren.
Handlungsempfehlungen
Für die gezielte Förderung von SuS mit Migrationshintergrund,
insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, die mit geringen oder
ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen, lassen sich die
folgenden Handlungsempfehlungen formulieren: Eine Didaktik der
Mehrsprachigkeit gilt es für diese Zielgruppe weiterzuentwickeln.
Anliegen sind die Inhalts- und Handlungsorientierung, d.h. die
Lernenden werden befähigt, mit der Sprache zu handeln, indem sie
ganz konkrete Aufgaben lösen, welche zu einem Produkt bzw. zu
sprachlichen Handlungen führen. Wortschatz und Grammatik werden
somit nicht isoliert oder systematisch gelernt, sondern sind in einen
Kontext eingebunden. […] Neben den rein sprachlichen Kompetenzen
sind in der Didaktik der Mehrsprachigkeit auch andere Kompetenzen
wichtig. So sollen auch Bewusstsein für Sprachen und Kulturen
geweckt sowie übersprachliche Kompetenzen gefördert werden. Die
Lernenden werden angeregt, verschiedene Sprachen – ihre
Muttersprachen, die Sprache ihres Umfelds und Fremdsprachen – zu
vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken. Sie
115
lernen Strategien, um komplexe Texte zu entschlüsseln, Texte zu
schreiben oder Kommunikationsbarrieren zu überwinden. Und sie
lernen, dass solche Strategien in allen Sprachen anwendbar sind.
(Egger et al. 2012, 24)
Es ist eine staatliche Aufgabe, qualitativ hochwertige Angebote zur
Förderung der Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Dies schließt die
Wertschätzung und Förderung der Herkunftssprachen ein (vgl.
Neumeyer, 2012, S.1f). Der Spracherwerb von Muttersprache(n),
Deutsch und weiteren Fremdsprache(n) soll koordiniert erfolgen. Jede
Sprache verdient Anerkennung und Wertschätzung im schulischen
Kontext. Mehrsprachigkeit bedeutet nicht einen perfekt gedoppelten,
gleichermaßen differenzierten Wortschatz, sondern die
Komplementarität von Ressourcen (vgl. Tracy, 2011). Die
metasprachlichen Fähigkeiten der SuS finden Eingang in die
Unterrichtsgestaltung. Die bisherigen Sprachlern-kompetenzen aus der
Erst- (und Zweitsprache) werden für den Erwerb des Deutschen und
der Fremdsprachen, die im deutschen Schulsystem erlernt werden
können, genutzt. Dazu bedarf es der Zusammenarbeit der deutschen
und der ausländischen Lehrkräfte, der Fachlehrkräfte für die
Fremdsprachen mit den Lehrkräften, die Deutsch (als Zweitsprache)
unterrichten sowie der Kooperation mit den Erziehungsberechtigten
und nicht zuletzt der SuS. In fachlicher Hinsicht gilt es, die
Sprachstandsdiagnostik
79
zu einem elementaren Bestandteil der
Lehrerbildung zu machen. Lehrkräfte benötigen eine gezielte und
kontinuierliche Weiterqualifikation, auch um die eingeleiteten
schulischen Förderangebote systematisch evaluieren zu können.
Letztendlich kommt es auf die Lehrkraft an, auf ihre Einstellung zur
Mehrsprachigkeit der Lernenden, auf ihre Wertschätzung gegenüber
den (Spracherwerbs-) Biografien, auf ihre Fachlichkeit und auf die
oben genannten didaktischen, pädagogischen und organisatorischen
Erfolgsfaktoren. Dass dies möglich ist, zeigen die Beispiele der
Übergangsklassen.
Literaturverzeichnis
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79 Ein gut geeignetes Testverfahren für Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren stellt das
Testverfahren LiSe-DaZ Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als
Zweitsprache dar, vgl. Schulz Petra/ Tracy, Rosemarie/ Voet Cornelli, Barbara
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118
Michaela Sambanis
Bewegtes Lernen – unterrichtliches Vorgehen, Effekte,
Ursachen
Zwischen Sprache und Bewegung bestehen engste Verbindungen:
Sprechen ist eine motorische Tätigkeit, und selbst beim Hören
können, wie Studien mit bildgebenden Verfahren belegen, motorische
Zentren involviert sein, z.B. bei sogenannten action words:
„Hearing a word seems to be associated with activation of its
articulatory motor program, and understanding an action word seems
to lead to the immediate and automatic thought of the action to which
it refers.” (Pulvermüller 2005: 581)
Diese und weitere Befunde zur Verbindung von Sprache und
Bewegung (für eine Zusammenschau vgl. Sambanis 2013, 89ff.)
veranlassen zu der Frage, ob und wie sich der Einsatz von
Bewegungen auf das Lernen einer Fremdsprache auswirkt. Im Gehirn
werden sensorische und motorische Informationen überaus schnell
miteinander verknüpft, was die Vermutung nahelegt, dass
Sprachverstehen und andere sprachliche Prozesse von unterrichtlichen
Impulsen profitieren könnten, die diese Verbindungen im Gehirn
unterstützen. Durch ein planvolles Zusammenführen
neurowissenschaftlicher (vgl. u.a. Pulvermüller 2005, Macedonia et al.
2011) und fremdsprachendidaktischer Erkenntnisse (vgl.
Sambanis/Speck 2010, Sambanis 2013) wurden Einsichten dazu
gewonnen, welche Effekte erzielt werden können, wenn im
Fremdsprachenunterricht Inhalt und Bewegung miteinander verknüpft
werden.
Auf der Basis dessen, was über die Verarbeitung von Sprache und
die Verbindung von Sprache und Bewegung beim Lernen bekannt ist,
stellt sich die Berücksichtigung von Bewegung gerade beim
Fremdsprachenlernen als eine vielversprechende Strategie des
Verarbeitens, Behaltens und Abrufens von Inhalten dar. Verschiedene
gute Gründe sprechen für bewegten Unterricht, darunter
gesundheitserzieherische, lerntheoretische und die bereits
angesprochenen neurophysiologischen. Die Verbindung von Inhalten
und Bewegung kann den Lernertrag stützen, für Abwechslung sorgen,
den Unterricht beleben und die Lernbereitschaft vieler Schülerinnen
und Schüler positiv beeinflussen.
Vor diesem Hintergrund stellen sich mehrere Fragen: Wie muss man
sich das Vorgehen im Unterricht vorstellen? Um welche Form von
Bewegungen handelt es sich? Welche Effekte wurden nachgewiesen,
wie ist der Forschungsstand? Zeigen sich Wirkungen beim
119
Fremdsprachenlernen nur bei den oben erwähnten action words oder
auch bei anderen, z.B. bei kommunikativen Fertigteilen,
Funktionswörtern, Abstrakta usw. sowie bei Lerninhalten jenseits der
Lexik?
Diesen und weiteren Fragen geht der folgende Beitrag nach. Um eine
Vorstellung davon zu geben, wie Bewegungslernen in der Praxis
umgesetzt werden kann, wird zunächst das unterrichtliche Vorgehen
zur Verknüpfung von Sprache und Bewegung, wie es in den
bisherigen Studien im Fremdsprachenunterricht zur Anwendung kam,
dargestellt. Es handelt sich um ein Vorgehen, das einfach umzusetzen
ist und keiner zusätzlichen Materialien bedarf. In vielen Fällen kann
das bewegte Lernen als ein dramapädagogisches Mini-Format
bezeichnet werden.
An die Darstellung des unterrichtlichen Vorgehens schließen sich
Einblicke in die bereits empirisch nachgewiesenen Effekte,
insbesondere auf den Wortschatzerwerb und die Aussprache, an. In
Zusammenhang mit der Koppelung von Sprache an Bewegungen wird
außerdem die Frage, ob sich Wirkungen auch bei Transferleistungen
zeigen, aufgegriffen. Des Weiteren stellt sich die Frage nach
Hinweisen darauf, ob fließende Bewegungen und Standbilder
vergleichbare Effekte auf die Behaltensleistung zeigen und ob es
möglicherweise auch negative Effekte von bewegtem Lernen gibt.
Zum Schluss des Beitrags werden die Ergebnisse eines zum
Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags gerade abgeschlossenen
Experiments dargestellt, an dem im Sommersemester 2014
Teilnehmer eines Masterkurses der Englischdidaktik an der FU Berlin
mitwirkten. Nachdem die Studierenden eine Einführung in
Funktionsweisen des Gehirns gehört und sich mit
neurowissenschaftlichen und fremdsprachendidaktischen Studien zum
Bewegungslernen auseinandergesetzt hatten, wollten sie in einem sich
über das Semester erstreckenden Selbstversuch herausfinden, ob
Bewegungen auch bei ihnen als jungen Erwachsenen und erfahrenen
Fremdsprachenlernern Effekte zeigen.
1. Umsetzung im Unterricht
Bezeichnungen wie bewegtes Lernen, Lernen mit Bewegungen usw.
können unterschiedliche Vorstellungen hervorrufen, denn Bewegung
kann im Unterricht auf verschiedene Weise und für unterschiedliche
Zielsetzungen genutzt werden: Mitunter dient Bewegung der
Abwechslung, Entspannung oder Aktivierung und erfüllt eher
motivationale oder gesundheitserzieherische Zwecke, in anderen
Fällen wird Bewegung zur Unterstützung des Lernprozesses
eingesetzt. Bei verschiedenen Sozial- und Arbeitsformen spielt
Bewegung eine Rolle (Laufdiktat, Gallery Walk, Kugellager usw.),
120
was für Abwechslung sorgt und zugleich auf den Lernprozess
rückwirken kann. Eine andere Möglichkeit ist die direkte Verknüpfung
von Inhalten mit Bewegungen, und diese steht im Fokus dieses
Beitrags.
Das bewegte Lernen, in der Fachliteratur auch als Szenisches Lernen
oder Scenic Learning (Hille et al. 2010) bezeichnet, basiert auf der
Verbindung von Inhalten, z.B. neuem Wortschatz, mit Bewegungen.
Da sich Wortschatzerwerb recht gut erforschen lässt, wird dieser
Gegenstandsbereich des Fremdsprachenunterrichts in den meisten
Studien zur Überprüfung der Effektivität bewegungsbasierten Lehrens
und Lernens berücksichtigt, und auch für die Beschreibung des
unterrichtlichen Vorgehens eignet sich das Beispiel Wortschatzarbeit
sehr gut. Dennoch soll die Schilderung der Umsetzung in der Praxis
anhand dieses Beispiels keineswegs suggerieren, dass lediglich neues
Vokabular mit Bewegungen verknüpft werden könne.
Jede Lehrkraft kennt die Situation, in der es gilt, neue Vokabeln
einzuführen, damit die Lernenden einen neuen Text hörend verstehen,
ihn sich lesend erschließen oder eine andere Aufgabe bewältigen
können – einschließlich der, die neuen Wörter und Wendungen
möglichst eigenverantwortlich durch weiteres Üben zu festigen. Bei
der Wortschatzeinführung geht es darum, die Schülerinnen und
Schüler mit der Bedeutung, Klanggestalt und, je nach Klassenstufe,
zumeist auch der korrekten Schreibweise des neuen Wortes vertraut
zu machen. Auch die Verwendung in einem exemplarischen Kontext
wird häufig berücksichtigt, was es den Lernenden erleichtern soll, sich
eine Vorstellung von der kommunikativen Funktion des neuen Wortes
oder der Wendung zu schaffen (Wann kann ich es verwenden?
Welcher Kommunikationsabsicht kann es dienen? Wo steht es im
Satz? usw.). Die Verwendung in einem prototypischen
exemplarischen Kontext kann für die Lernenden hilfreich sein und zur
Klärung von Bedeutung und Funktion beitragen, was eine wichtige
Grundvoraussetzung dafür bildet, dass Neues erfolgreich verarbeitet
und dauerhaft im Gehirn abgelegt werden kann. Ein Grundprinzip des
Gehirns ist nämlich die Effektivität. Um effektiv arbeiten zu können,
wozu das Gehirn nicht zuletzt angesichts der Fülle an
hereinströmenden Impulsen gezwungen ist, sucht es ständig nach
Sinn, nach Stimmigem, Mustern, Anknüpfungsmöglichkeiten und
Regelmäßigkeiten.
Bewegungen können dazu beitragen, Sprachliches fassbar,
anschaulich, und durch die motorische Umsetzung überdies fühlbar zu
machen. Durch Bewegungen werden zusätzliche Lernkanäle genutzt,
was wiederum die Aktivierung entsprechender Zentren im Gehirn zur
Folge hat. Auf diese Weise beeinflusst die Verbindung von Inhalten
mit Bewegungen die Art der Verarbeitung im Gehirn und führt, wie
121
später noch dargelegt wird, zu wünschenswerten Effekten. Allerdings
zeigen sich diese nur, wenn die zugeordneten Bewegungen stimmig
sind, d.h. es muss den Lernenden gelingen, einen Zusammenhang
zwischen dem Inhalt und der Bewegung herzustellen, denn andernfalls
versucht das Gehirn, die Widersprüchlichkeiten, Unstimmigkeiten
oder Unklarheiten aufzulösen. Das bindet Ressourcen, die in der
Phase der Verarbeitung neuer Inhalte (Enkodierung) anderweitig
gebraucht würden.
„Betrachtet man die Aktivierungsmuster im Gehirn (fMRT), so
zeigen sich Unterschiede bei der Verarbeitung, je nachdem, ob
sprechbegleitende Gesten als stimmig oder als zusammenhanglos
eingestuft werden (vgl. Macedonia et al. 2011, Sambanis 2011). Bei
stimmigen Bewegungen komme es zur Aktivierung motorischer
Zentren („For […] iconic gestures, we observed brain activation in the
premotor cortex“, Macedonia et al. 2011: 12), bei
zusammenhanglosen Bewegungen würden hingegen metakognitive
Prozesse angestoßen.“ (Sambanis 2013: 100)
Das Finden von passenden Bewegungen kann zu einem Baustein der
Wortschatzarbeit werden, der im Unterricht regelmäßig bzw. bei
Bedarf genutzt sowie als eine Lerntechnik von den Schülerinnen und
Schülern eigenverantwortlich, auch beim Vokabellernen zu Hause,
angewandt werden kann. Die Lehrkraft kann selbst Bewegungen
finden oder im Rahmen der Wortschatzeinführung eine kurze Phase
einplanen, in denen sich die Lernenden arbeitsteilig in Kleingruppen
passende Bewegungen ausdenken. Anschließend präsentieren sie
diese, zusammen mit den zugehörigen Vokabeln, ihren
Mitschülerinnen und Mitschülern, und im gemeinsamen,
bewegungsbegleiteten Chorsprechen wird die neue Lexik mehrfach
wiederholt. Die Lehrkraft trägt insbesondere durch die Bereitstellung
der korrekten Aussprache bei und beteiligt sich am Chorsprechen.
Vielen Lehrkräften bereitet es Sorge, dadurch Unterrichtszeit zu
verlieren, aber dieses Vorgehen kann auf wenige Minuten beschränkt
werden (Zeitlimit vorher ankündigen), aktiviert alle Schülerinnen und
Schüler, überträgt ihnen Verantwortung (Entscheidungsmöglichkeit
bei Auswahl der Bewegungen, Spielraum für eigene Ideen,
Auseinandersetzung mit dem neuen Wortschatz, Lernen durch Lehren
und Lernen durch Bewegung) und kann durchaus eine lohnende
Investition sein.
Bewegtes Lernen besteht also aus der Verbindung von Inhalten mit
stimmigen Bewegungen und dem mehrfachen Üben von Inhalten und
Bewegungen im Verbund. Bewegungen, die in einen sinnvollen
Zusammenhang mit den Inhalten gebracht werden können, sind
oftmals semantische Gesten, aber auch Lautliches kann in
Bewegungen umgesetzt werden und, wie eingangs erwähnt, eignen
122
sich auch Kontextualisierungen, d.h. die Darstellung eines
Verwendungskontextes durch sprachliche, übersprachliche, gestische
und mimische Mittel (oben als dramapädagogisches Mini-Format
bezeichnet).
1.1 Beispiele für stimmige Bewegungen
Eine passende Bewegung beispielsweise für das Wort loop
(Schlaufe, Schleife) kann in einer einfachen Geste, nämlich einer
kreisförmigen Bewegungen der beiden Zeigefinger, bestehen. Mit
dieser Bewegung lassen sich zugleich die beiden Schlaufen einer
Schleife abbilden als auch das doppelte o im englischen Wort.
Manche Wörter bieten durch ihre Klanggestalt wunderbare
Ansatzpunkte, um sie mit Bewegungen zu verbinden. Als ein Beispiel
ließe sich das Wort bump (Beule) anführen. Verbindet man es mit
einer Bewegung, bei der die flache Hand an die Stirn klopft während
bump gesprochen wird, werden die klanglichen Eigenschaften durch
die Bewegung aufgegriffen und darauf angespielt, wie Beulen
entstehen. Das Wort wird durch die Bewegung kontextualisiert, und es
entstehen entsprechende Gedankenbilder. Ähnliche Verbindungen
lassen sich auch bei Wörtern finden, bei denen sich die Klanggestalt
zunächst als Merkhilfe nicht anbietet, z.B. beim amerikanischen Wort
für Wasserhahn, faucet. Es gibt keine klangliche Verbindung zum
Deutschen und auch lautmalerische Eigenschaften fehlen dem Wort.
Zerlegt man faucet aber in zwei Sprechsilben und zeigt beim
wiederholten Sprechen im Takt der Sprechsilben mit der Hand das
Herabfallen von Wassertropfen an (fau- oben am Wasserhahn, cet-
Aufprallen des Tropfens im Becken), entsteht über das wiederholte
Sprechen samt Bewegung doch eine klangliche Verbindung, nämlich
die zu einem tropfenden Wasserhahn, was wiederum zur Einbettung
des neuen Wortes in eine konkrete lebensweltliche Situation führt.
Dadurch wird ein stimmiger Anknüpfungspunkt für die Verarbeitung
und Speicherung des Wortes geschaffen. Dieselbe Bewegung lässt
sich natürlich auch dem Englischen (water) tap zuordnen.
Sollen Wendungen und kommunikative Fertigteile mit Bewegungen
dargestellt werden, muss nicht jedem Wort eine Bewegung zugeordnet
werden. Vielmehr genügt es, der ganzen Äußerung eine Bewegung
zuzuordnen, um deren Speicherung als ein sogenanntes chunk zu
unterstützen.
„[…] chunks werden als Bedeutungseinheiten unsegmentiert,
vielfach ohne Analyse der einzelnen Konstituenten gespeichert und als
Gesamtheiten rasch wieder erkannt. Das Wiedererkennen von chunks
beschleunigt den Hörverstehensvorgang und entlastet das
Arbeitsgedächtnis.“ (Sambanis 2007: 48)
123
Als Beispiel für eine Bewegung zu einem gesamten chunk ließe sich
Let’s go clockwise (gehen wir im Uhrzeigersinn vor) anführen:
Lernende und Lehrkraft drehen sich ein Mal sprechbegleitend rechts
um sich selbst. Durch einen ausgestreckten Zeigefinger lässt sich
zusätzlich das Aufrufen einzelner Personen symbolisieren.
Auch durch Mimik kann beim bewegten Lernen Bedeutung sichtbar
gemacht und ein Kontext evoziert werden. Für Chin up! (Kopf hoch)
könnte sich ein gesenkter, bedrückter Blick in einen zuversichtlichen
wandeln. Während Chin up! gesprochen wird, kann der Zeigefinger
ans Kinn tippen – so wird die Verbindung zu chin verdeutlicht und
subtil auf den Unterschied zum Deutschen Kopf hoch! hingewiesen.
Der Kopf hebt sich, der Blick geht zuversichtlich geradeaus und ein
Lächeln zeigt das Fassen neuen Muts, wozu Chin up! anregen möchte.
Einige dieser Beispiele können als einfache dramatische
Umsetzungen bezeichnet werden. Sie simulieren eine Situation bzw.
greifen einen Handlungsablauf auf, worin die Äußerung verortet wird.
Mit knappen Simulationen von Kontexten lassen sich auch abstrakte
Begriffe darstellen, z.B. Gefühle wie curiosity, pride.
1.2 Relevanz der aktiven Beteiligung am bewegten Üben
Als zweite Gelingensbedingung für das bewegungsgestützte Lernen,
neben der Stimmigkeit der zugeordneten Bewegungen, wurde durch
mehrere Studien die Relevanz der Schüleraktivierung belegt. Nur in
den Fällen, in denen die Lernenden die Bewegungen selbst mehrfach
sprechbegleitend ausführten, zeigten sich entsprechende Effekte.
Beschränkten sich die Studienteilnehmer aufs Zuschauen bzw. aufs
Zuschauen und Mitsprechen, war der Effekt auf die Behaltensleistung
deutlich geringer (Macedonia et al. 2011, Sambanis 2013, vgl. auch
Zimmer et al. 2001).
Schüleraktivierung ist beim bewegten Lernen also ein wesentlicher
Faktor, aber es muss nicht befürchtet werden, dass die Bewegungen
ständig auszuführen seien, denn nach einigen Wiederholungen reicht
die Erinnerung an die zugeordnete Bewegung. Durch das Üben von
Inhalt und Bewegung im Verbund, das, um alle Lernenden zugleich zu
aktivieren und niemanden zu exponieren, in der Klasse als
Chorsprechen stattfinden sollte, werden sogenannte motorische
Gedankenspuren angelegt, die weiterhin, auch wenn die Bewegung
schließlich nur noch erinnert wird, zu einer entsprechenden
Aktivierung im Gehirn führen und damit letztlich zu erfolgreichem
Lernen beitragen. Dies führt zu der Frage, welche Effekte das
bewegungsbasierte Vorgehen auf den Lernertrag eigentlich zeigen
kann.
124
1.3 Effekte von bewegtem Lernen
Das bewegungsbasierte Vorgehen (Szenisches Lernen) im
Fremdsprachenunterricht wurde inzwischen durch eine Reihe an
Studien evaluiert, u.a. durch die aus mehreren Teilstudien bestehende
Evaluation von Hille et al. (2010). Sie basiert auf mehreren
Datensätzen, die im gymnasialen Französisch- und Lateinunterricht
auf den Klassenstufen 6, 7, 8 und 9 erhoben wurden.
Die Teilstudien zum Wortschatzerwerb zeigen ein einheitliches Bild
und belegen für beide Fremdsprachen behaltensförderliche Effekte
von Szenischem Lernen. Die Gruppen, in denen mit Bewegung
gelernt wurde (Experimentalgruppen), waren den Gruppen ohne
Bewegung (Kontrollgruppen) signifikant überlegen. Die Effektstärken
(d) sind mit Werten zwischen 2,5 und 3,6 sehr groß.
Die Messung der Behaltensleistung bei Lateinvokabeln in Klasse 9
beispielsweise ergab folgendes Bild:
Abbildung 1: Behaltensleistung Lateinvokabeln Kl. 9 nach Hille et al.
(Experimental-Kontroll-Gruppe, Mittelwert, vier Messzeitpunkte; Anzahl
der Vokabeln)
„Die Versuchsgruppe, die szenisch gelernt hatte, wusste in der
Summe über alle 4 Messzeitpunkte hinweg mehr Vorkabeln
(MW=14,6) als die Kontrollgruppe (MW=5,7)“ (Hille et al. 2010:
343). Der Unterschied wird in der Graphik bei den beiden letzten
Messzeitpunkten besonders deutlich sichtbar.
Zum ersten Messzeitpunkt, d.h. als nach der Einführung und einer
Übungsphase der Zielwortschatz erstmalig schriftlich abgefragt
wurde, unterschieden sich die beiden Gruppen kaum. Auch in den
125
anderen an der Studie beteiligten Klassen zeigten sich am Anfang
keine nennenswerten Unterschiede zwischen Experimental- und
Kontrollgruppen, doch über die Zeit hinweg änderte sich das Bild:
statistisch gesprochen ist die Interaktion zwischen Messzeitpunkt und
Untersuchungsgruppe signifikant. Während die Kontrollgruppe mit
der Zeit immer weniger erinnern kann, „steigt die Erinnerungsleistung
bei der szenisch lernenden Gruppe von Messzeitpunkt 1 zu
Messzeitpunkt 2 an (p=.036) und bleibt dann stabil“ (Hille et al. 2010:
343). Während also zunächst kaum ein Unterschied zu erkennen war,
was den Schluss nahelegen könnte, dass das Einspeichern neuer
Inhalte mit und ohne Bewegungskoppelung gleich gut gelinge,
vergrößerte sich der Unterschied zwischen den Gruppen je mehr Zeit
zwischen der Wortschatzeinführung und den Testungen verstrich. Die
Bewegungsgruppe lernte sogar dazu, während sich bei der
Kontrollgruppe Vergessen abzeichnete. Längerfristig – die Studie lief
über 14 Wochen – blieb die Behaltensleistung nur in der
Bewegungsgruppe auf hohem Niveau und über die Zeit, d.h. zwischen
2. und 4. Messzeitpunkt (vier Wochen, vierzehn Wochen) erstaunlich
stabil.
Die Daten weisen darauf hin, dass durch die Nutzung von
Bewegungen beim Lernen dem Vergessen entgegengewirkt werden
kann, was wohl insbesondere auf die Multisensorität des
Enkodierungsprozesses (mehrkanaliges Lernen) und die dadurch
angestoßene Art der Verarbeitung im Gehirn zurückzuführen ist.
Weitere Studien weisen in dieselbe Richtung und belegen ebenfalls,
nicht nur für gymnasiale Lerner, sondern auch für andere Schularten
die behaltensförderlichen Effekte von bewegungsbasiertem Lernen
(für eine Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. Sambanis
2013: 96ff.).
Eine kleine Studie im Rahmen einer Masterarbeit in der Abteilung
Didaktik des Englischen der FU Berlin (Kinkel 2012) ging der Frage
nach, ob sich vergleichbare Effekte auch zeigten, wenn anstelle der
fließenden Bewegungen und Darstellungen, wie sie beim Szenischen
Lernen zum Einsatz kommen, standbildartige Posen genutzt werden.
Die kritische Diskussion der Erkenntnisse aus den bislang
vorliegenden Studien führte nämlich zu der Frage, ob der
entscheidende Faktor möglicherweise der Bewegungsfluss sei oder ob
ein statisches Darstellen in Form von Standbildern vergleichbare
Effekte zeigen könne. In der Arbeit wurden, in Anlehnung an das
Design der oben erwähnten Evaluation von Hille et al., Daten im
Englischunterricht der Grundschule (Klasse 4) erhoben und zwar zum
Wortschatzerwerb und zum Textverständnis. Im Zentrum der
Unterrichtseinheit stand ein Kinderbuch, das gemeinsam erschlossen
wurde, wobei in der Experimentalgruppe einzelnen Textpassagen
126
Yoga-Stellungen, in der Kontrollgruppe Bildmaterialien zugeordnet
wurden. Zwischen dem zweiten und dem dritten Messzeitpunkt lagen
die sechseinhalbwöchigen Sommerferien, während derer genügend
Distraktoren wirken konnten. Um ein häusliches Üben
auszuschließen, das zwar aus pädagogischer Sicht in der Regel
begrüßenswert, aus Forschersicht zur Ermittlung dessen, was
langfristig ohne bewusste Wiederholungen behalten werden kann,
hingegen als ein Störfaktor erscheint, wurde die Messwiederholung
nach den Sommerferien für die Studienteilnehmer überraschend
durchgeführt.
Es zeigten sich vergleichbare Effekte des Lernens mit Yoga-
Positionen / Standbildern wie beim Szenischen Lernen mit fließenden
Bewegungen: die Yoga-Gruppe hatte über die Sommerpause ohne
weiteres Üben dazugelernt, die Kontrollgruppe signifikant vergessen.
„Bemerkenswert ist in diesem Fall außerdem, dass die
Bewegungsgruppe trotzdem besser abschnitt, obwohl vorrangig aus
dieser Gruppe Leistungsträger zum Schuljahresbeginn ans
Gymnasium gewechselt hatten. Auf diese Weise konnte das Ergebnis
der Messung nach den Ferien in der Bewegungsgruppe nicht von
besonders leistungsstarken Kindern profitieren. Die festgestellte
Steigerung der Behaltensleistung über die Zeit ist umso
beeindruckender, und könnte sogar darauf hinweisen, dass gerade
Kinder, die nicht zur Leistungsspitze zählen, vom Bewegungslernen
profitieren. Dieser Detailaspekt müsste jedoch noch weiter erforscht
werden.“ (Sambanis 2013: 100)
Die Studie bestätigte außerdem die bereits in früheren Erhebungen
gemachte Beobachtung, dass Lernende, die mit Bewegung gearbeitet
hatten, diese als Stütze nutzten, z.B. um die gelernten Inhalte in den
Tests abrufen zu können. Eine weitere Beobachtung im Rahmen
dieser Erhebung weist darauf hin, dass sich Kinder, zumindest im
Primarschulalter, besonders involviert zeigen können, wenn bei der
Textarbeit Bewegungen bzw. Standbilder genutzt werden. In diesem
Fall führte die den Körper einbindende Umsetzung des Textes zu einer
besonders intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte auf
emotionaler und kognitiver Ebene und regte die Kinder zu
weiterführenden Überlegungen und Diskussionen des Kinderbuches
an. Mögliche Effekte von Bewegungslernen (Szenisches Lernen und
Umsetzen mit Standbildern im Vergleich zu Textarbeit ohne
Körperlernen) auf das Textverständnis sollten ebenfalls noch weiter
erforscht werden.
Auch zu den Effekten auf die Aussprache liegen erste Erkenntnisse
vor, und zwar in Form von weiteren Teilstudien der Evaluation von
Szenischem Lernen (Hille et al. 2010) und einer ergänzenden Studie
127
im Englischunterricht. Beides wird im Folgenden zusammenfassend
dargestellt.
Die Teilstudien zu den Effekten von Szenischem Lernen auf die
Ausspracheleistung wurden im Französischunterricht auf den
Klassenstufen 6 und 7 durchgeführt (N=
85). Die Schülerinnen und
Schüler der Experimental- und Kontrollgruppen wurden mit einem
ihnen unbekannten Lesetext konfrontiert, den sie im Unterricht übten
und zwar in allen Gruppen sechs Mal à sieben Minuten verteilt über
fünf Wochen. Die Zeit, die sich die Lernenden mit dem Text
auseinandersetzen konnten, war also in allen Gruppen dieselbe, und
auch das Korrektur- und Unterstützungsverhalten der Lehrkraft war
vergleichbar. Überdies wurde sichergestellt, dass die Lernenden den
Text nicht zusätzlich zu den unterrichtlichen Übungszeiten außerhalb
der Schule übten, indem die Textkopien am Ende der Übungszeiten
jeweils wieder eingesammelt wurden.
Dadurch wurden wesentliche Faktoren konstant gehalten und
kontrolliert, sodass der eigentliche Unterschied zwischen den Gruppen
darin bestand, dass nur in den Experimentalgruppen beim Lesenüben
Bewegungen eingesetzt wurden. Bei stimmhaften Lauten führten die
Schülerinnen und Schüler weiche Handbewegungen zum Körper hin
aus, bei stimmlosen harte vom Körper weg. Die Kontrollgruppen
konzentrierten sich hingegen ganz auf den gedruckten Text.
Nun stellte sich die Frage, ob die Bewegungen auch bei der
Aussprache Effekte zeigten und welcher Art diese sein würden, denn
letztlich war nicht auszuschließen, dass sich Bewegungen beim Lesen
gar nicht förderlich auswirkten, sondern möglicherweise sogar
hinderlich, da sie einen Teil der Aufmerksamkeit der Lernenden
beanspruchten. In anderen Worten: es galt herauszufinden, ob
Bewegungen beim Lesenüben stützend, ohne sichtbare Effekte auf die
Aussprache oder hemmend wirken.
Nach Abschluss der über fünf Wochen gestreckten Übungszeiten
wurde von jedem Lernenden eine Tonaufnahme des Lesetextes
gemacht. Diese Aufnahmen wurden jeweils von vier unabhängigen
Ratern (drei Französischlehrkräfte, eine Muttersprachlerin), die nicht
wussten, welche Aufnahme aus der Experimental- oder der
Kontrollgruppe stammte, beurteilt. Zur Einschätzung der
Ausspracheleistungen der Schülerinnen und Schüler nutzten die Rater
einen Bogen, der auf der Grundlage des Kriteriensystems nach DELF
und des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens erstellt wurde
(vgl. Hille et al. 2010: 345). Beurteilt wurden die phonetische
Korrektheit (Vokale, Konsonanten, Nasale, Liaison, Interferenzen),
der Sprachfluss (Prosodie, Tempo) und Merkmale, die auf das
Sinnverständnis schließen lassen (Adressatenbezug, Verlesungen).
128
Auf beiden Klassenstufen schnitten die Gruppen, die den Lesetext
mit Bewegungen geübt hatten, in allen Kategorien besser ab als die
Kontrollgruppen, meistens statistisch signifikant. Für Klasse 7 ergab
sich eine Effektstärke von d=0,8, für Klasse 6 sogar d=1,27. Die
Teilstudien weisen also auch im Hinblick auf die Aussprache auf
stützende Effekte des Einsatzes von Bewegungen hin und
widersprechen der Befürchtung, dass diese gegebenenfalls störend
wirken könnten.
Da diese Daten wiederum an einem Gymnasium erhoben worden
waren, stellte sich die Frage, ob sich bei einer anderen Schülerschaft
Vergleichbares zeigte. Ferner schien es interessant, zu untersuchen, ob
die Effekte möglicherweise auf eine besondere Vertrautheit mit dem
Lesetext zurückzuführen waren oder ob sie sich auch zeigten, wenn
anstelle des bekannten Textes eine Transferleistung verlangt wurde.
Im Rahmen einer weiteren Masterarbeit der Didaktik des Englischen
der FU Berlin (Weigel 2013) wurde die Frage „Führt szenisches
Lernen zu einer Verbesserung der Aussprache?“ aufgegriffen.
Zunächst wurde für die Klassenstufe 8 möglicher Wortschatz
ausgewählt sowie, in einem weiteren Schritt, zur Überprüfung der
Transferleistung, nach phonologischen Zwillingen gesucht, d.h. nach
Wörtern mit gleichen Ausspracheeigenschaften (z.B. starving –
carving, float – coat). Bei den Messungen sollten nämlich nicht die
Lernwörter selbst, sondern vielmehr jene getestet werden, die die
Lernenden nur dann korrekt aussprechen konnten, wenn es ihnen
gelang, den Transfer vom Lernwortschatz zu den ähnlichen, aber nicht
identischen Wörtern zu leisten. Die Daten wurden an zwei
Messzeitpunkten (sechs Wochen zwischen 1. und 2. Messzeitpunkt,
Messwiederholung unangekündigt) an einer Gesamtschule erhoben
und zeigten folgende Tendenzen: Bei der ersten Messung lagen die
beiden Gruppen dicht beieinander mit einer leichten Überlegenheit der
Experimentalgruppe, bei der zweiten vergrößerte sich der Unterschied
zugunsten der Experimentalgruppe, was die Vermutung nahelegt, dass
Bewegungslernen auch bei einer anderen Zielgruppe positive Effekte
zeigen kann. Der Rückgang der Fehlerrate der Experimentalgruppe im
Laufe der Zeit manifestierte sich übrigens bei allen Leistungsdritteln,
nicht nur bei der Leistungsspitze. Ergänzend erwähnt sei, dass sich die
Transferleistung als große Herausforderung darstellte, worauf die
besonders zum 1. Messzeitpunkt recht hohe Fehlerrate schließen lässt.
Negative Effekte auf das Einprägen der Rechtschreibung zeigten
sich übrigens nicht. Da, ähnlich wie bei den oben referierten
Teilstudien mit dem Lesetext, nicht ausgeschlossen werden konnte,
dass durch die Einbindung von Bewegungen als zusätzlicher Stimulus
beim Lernen möglicherweise ein Teil der Aufmerksamkeit der
Schülerinnen und Schüler zu Lasten des Einprägens der Schriftbilder
129
beansprucht wird, wurden ergänzend schriftliche Vokabeltests
eingesetzt. Diese ergaben keine Hinweise darauf, dass durch
bewegungsgestützte Ausspracheübungen die Erinnerungsleistung in
Bezug auf die Schriftbilder leide.
2. Bewegtes Fremdsprachenlernen bei jungen Erwachsenen
Ob Bewegungen auch bei erfahrenen Fremdsprachenlernern stützend
wirken können, wollten, wie eingangs erwähnt, Teilnehmer eines
Masterseminars der Englischdidaktik an der FU Berlin im
Sommersemester 2014 herausfinden. Eine mehrsprachige
Kursteilnehmerin, Intissar Brik, teilte die Studierenden in
Experimental- und der Kontrollgruppe ein und lehrte dann beiden, der
einen Gruppe mit Bewegungen, der anderen ohne Bewegungen, aber
mit der Möglichkeit, sich Notizen zu machen, folgende zehn arabische
Wörter:
لﯾﻣﺟ [jâmielon] beautiful
لﻣﺟ [Jâmâlon] camel
بﺗﻛ [kâtâbâ] to write
بﺎﺗﻛ [kitâbon] book
دﯾﻌﺳ [saiidon] happy
نﯾزﺣ [hâzien] sad
رﯾﺑﻛ [kâbiron] big
رﯾﻐﺻ [saghieron] smart
زﺎﺗﻣﻣ [momtâz] excellent
ةﺎﯾﺣﻟا [al-hâyâtu] life
Die arabischen Schriftzeichen wurden bei der Einführung nicht
verwendet, da sie für die an dem Experiment Mitwirkenden –
Studierende mit Vorkenntnissen in Arabisch beteiligten sich nicht an
dem Versuch – keine Merkhilfe dargestellt hätten. Stattdessen wurde,
als pragmatische Lösung, die Klanggestalt, wie in den eckigen
Klammern dargestellt, abgebildet und bei der Einführung der Wörter
an die Tafel geschrieben. Die Kontrollgruppe notierte sich die Wörter
in dieser Form, musste aber nach der Einführungs- und ersten
130
Übungsphase die Notizen abgeben, um Verzerrungen bei den
Messungen durch Abschauen oder weiteres Üben auszuschließen.
Nach einer kurzen Interimsphase wurde der erste Vokabeltest
geschrieben. Die Aufgabe bestand darin, die arabischen Wörter in
neuer Reihenfolge wieder zu erkennen und die englischen
Übersetzungen anzugeben. Nach dem ersten Messzeitpunkt fanden
keine weiteren Übungsphasen mehr statt. Untenstehende Graphik
bildet folglich die Behaltensleistung ohne weiteres Üben über einen
Zeitraum von sieben Wochen ab.
Abbildung 2: Behaltensleistung Arabischvokabeln Studierende der
Englischdidaktik, Master (Experimental-Kontroll-Gruppe, Mittelwert, drei
Messzeitpunkte: direkt nach Einführung und Üben, nach 4 Wochen, nach 7
Wochen; Anzahl der Vokabeln)
Im Hinblick auf Effekte des bewegten Lernens zeigt sich zu allen
drei Messzeitpunkten eine leichte Überlegenheit der Experiment-
algruppe. Diese ist bei der dritten Messung, also wiederum über die
Zeit gesehen, am größten. Die relativ hohe Vergessensrate kann
darauf zurückgeführt werden, dass die Vokabeln über Wochen hinweg
nicht wiederholt wurden, dass sich aber die Probanden, die kurz vor
dem Abschluss ihrer universitären Ausbildung standen, in demselben
Zeitfenster mit zahlreichen anderen Themen und Wissensinhalten
befassten. Daran lässt sich erkennen, dass Löschvorgänge
beispielsweise dann ablaufen, wenn scheinbar Relevanteres
hinzukommt, andere Informationen hingegen nicht mehr genutzt
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1. MZP 2. MZP 3. MZP
traditionell
(6 Teilnehmer)
szenisch
(5 Teilnehmer)
131
werden und damit gewissermaßen den Status von Erledigtem erhalten,
vergleichbar einer Hotelzimmernummer, die nach der Abreise bald
nicht mehr erinnert wird. Das Gehirn muss Ballast löschen, um die
nötige Effizienz und den Fokus auf das, was tatsächlich gebraucht
wird, zu erhalten (zum Prozess des Vergessens vgl. Spitzer 2007).
Die Studierenden bestätigten, dass sie sich an die Bewegungen
erinnerten und diese in vielen Fällen als Zugriff nutzten, um die
Wörter wieder in Erinnerung zu rufen. Außerdem berichteten einige,
dass ihnen durch den Versuch wieder bewusst wurde, wie schwierig
es sein kann, sich Wörter in einer nicht vertrauten Sprache
einzuprägen, und wie hilfreich letztlich Außersprachliches
(Bewegungen, Mimik, die Reihenfolge der Einführung der Wörter
etc.) für sie war.
3. Schlussbemerkungen
Zu Beginn wurde die Frage aufgeworfen, ob das Verknüpfen von
Inhalten mit Bewegungen den Lernertrag stützen könne. Der Beitrag
zeigte zunächst, wie Bewegung in den Unterricht eingebunden werden
kann und welche Effekte inzwischen nachgewiesen wurden.
Förderliche Wirkungen konnten vor allem auf das langzeitige
Behalten von Wortschatz gezeigt werden, aber auch hinsichtlich der
Aussprache liegen erste positive Befunde vor. Weitere Aspekte
wurden beleuchtet und kurz die Frage aufgegriffen, ob Bewegungen
möglicherweise auch als Störfaktoren wirken können.
Der aktuelle Forschungsstand ist bei Weitem noch nicht lückenlos.
Es gilt weitere Detailfragen empirisch zu erforschen, Studien bei
anderen Fremdsprachen, mit Lernern unterschiedlichen Alters etc. zu
replizieren. Aber er lässt zumindest schon den Schluss zu, dass die
Nutzung von Bewegung im Fremdsprachenunterricht im Hinblick auf
unterschiedliche Gegenstandsbereiche förderliche Wirkungen zeigen
kann. Dies darf einerseits als Ermutigung für Lehrende und Lernende
verstanden werden, Bewegungen beim Fremdsprachenlernen
einzubinden. Andererseits sei betont, dass sich durch die bisherigen
Arbeiten ein Forschungsfeld herauskristallisiert hat, das lohnend
erscheint, weiter bearbeitet zu werden.
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Zimmer, Hubert D. et al. (Hrsg.) (2001): Memory for action: a
distinct form of episodic memory? Oxford.
133
Heiner Böttger
Genderdifferenzierung im Fremdsprachenunterricht
Geschlechtsspezifische funktionale Unterschiede in der
neuronalen Organisation und didaktische Konsequenzen
Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Männern
und Frauen sind zahlreich, von der Körpergröße über die
Muskelentwicklung bis hin zu endokrinen Funktionen.
Sie im Gehirn aufzuspüren, ist jedoch nicht leicht. Die Dimorphismen
sind klein, wenige und meistens mit noch relativ unbekannter
Funktion. Es sind bis heute vielfache wissenschaftliche
Anstrengungen unternommen worden, Geschlechterunterschiede im
Gehirn nachweisen zu können. Erste fMRT-Untersuchungen bezogen
sich vor allem auf die Größenunterschiede des männlichen bzw.
weiblichen Gehirns, dazu kommen Aspekte der kognitiven
Fähigkeiten in kortikalen und subkortikalen Regionen (Kaiser et al.,
2009).
Um es vorwegzunehmen: Bis auf eine einzige − potenziell
bildungssystemverändernde − Ausnahme sind dramatische Unter-
schiede zwischen Mädchen und Jungen in der frühen Kindheit und
Kindheit auf die ersten Blicke nicht festzustellen, weder von den
Neurowissenschaften, noch von den Erziehungs- und Sprach-
wissenschaften. Dieser eine Aspekt wird im Kapitel 3.5
„Myellinisierung“ beschrieben.
Die Schnittflächen zwischen allen Forschungslandschaften, dem Blick
von außen z.B. auf das Lernverhalten mit pädagogischen und
erziehungs- bzw. sprachwissenschaftlichen sowie psychologischen
Beobachtungen, und dem Blick ins Zentrum des Denkens und der
Entwicklung, dem Gehirn, führen jedoch bei genauem Hinsehen,
sprich: analytischem Abgleich und Kreuzauswertungen der
miteinander in Beziehung gesetzten Befunde zu einigen wichtigen
Implikationen und Änderungspotenzialen in der Sprachendidaktik und
-methodik.
Dabei stellt sich nicht zuvorderst die Frage, was und wie viel gelernt
werden kann, sondern die Frage danach, wie Sprachen erworben
werden können. Sie ist viel differenzierter als bislang angenommen zu
beantworten, ein Umstand, der möglicherweise aber für in Lehr-
/Lernprozessen Involvierte aus eigenen Erfahrungswerten heraus nicht
überraschend kommt.
Diese scheinbar marginale, genderspezifische Unterschiedlichkeit der
neuronalen Organisation bedeutet nicht weniger als: Jungen und
Mädchen, Frauen und Männer lernen und gebrauchen Sprachen teils
134
offensichtlich völlig unterschiedlich. Vieles ist aus dieser Erkenntnis
bislang zwar über Erfahrungswerte in nicht weiter reflektierte
didaktische Maßnahmen eingegangen, Beweis basierte
sprachendidaktische Differenzierungsmethodiken jedoch sind noch
Mangelware und Desiderate für die Zukunft. Der folgende Artikel soll
Hinweise auf eine zukünftige fremdsprachendidaktische Behandlung
der Thematik geben.
1. Überzeugende Genderforschung evidenzbasiert und cross-
sciences
Erkenntnisse der Genderforschung, die auf soziokulturelle Einflüsse
wie geschlechtsspezifische Erziehung, Geschlechtsrollenleitbilder,
Vorbilder und Medien zurückzuführen sind, und solche, die sich auf
das rein biologische Geschlecht beziehen, sind schwerlich
voneinander zu trennen (vgl. Butler, 1990; Fausto-Sterling, 2000).
Letzteres ist kein rein körperlicher oder materieller Zustand, ist tief
verwoben mit den sozialen und kulturellen Strukturen von gender
(Kaiser et al., 2009).
Die Begriffe gender und sex werden konsequenterweise oft synonym
verwendet. Gender definiert das soziale Geschlecht, die
Geschlechterrolle, besitzt kulturelle und verhaltenstypische
Implikationen. Medizinisch wird gender von den biologischen
Unterschieden der Chromosomen bis hin zu Geschlechtsorganen
definiert, was ebenfalls den Begriff sex, das biologische Geschlecht,
charakterisiert.
Für die Hirnforschung wird es nach der deskriptiven, kartierenden und
aktive Hirnareale identifizierenden Forschung (brain mapping) im
analysierenden, interpretativen Nachgang zunehmend bedeutend, dass
Diversitätsbefunde in Hirnstrukturen und -funktionen nicht von
sozialer Erfahrung getrennt werden können. Genderspezifische
Forschungsdesigns sind zunehmend schwer danach zu differenzieren,
spracherwerbliche Aspekte lassen sich nur schwerlich von sozialem
Einfluss trennen. Ein Beispiel: Das Forschungsaufgabenformat „Freie
Narration“ führt zwar zu vielen mündlichen Äußerungen, die
inhaltlich aber stark divergieren.
Die Entwicklung kindlicher und jugendlicher Gehirne geht nach
neurowissenschaftlicher Erkenntnis einher mit beständiger neuronaler
Plastizität bis ins hohe Alter (Kaiser et al., 2009), Erfahrungen jeder
Art werden biochemisch in die neuronalen Netze eingepflegt bzw.
neue gebildet. Dem folgend, sind vermutlich sogar schon
vorgeburtliche und vorsprachliche Interdependenzen zwischen gender
und sex zu erwarten. Bezugspersonen und Bezugssituationen
verändern und prägen sehr früh, führen neben den biologischen
Merkmalen zu kaum veränderbaren Geschlechtsmarkern.
135
2. Genderspezifische Befunde der klassischen
Spracherwerbsforschung
Kaiser et al. (2009) fassen den nicht spezifisch neuro-
wissenschaftlichen Forschungsstand bis dato wie folgt zusammen:
In der psycholinguistischen Forschung wird konsensual ein weiblicher
Vorteil bezüglich Sprachproduktion und Sprachflüssigkeit festgestellt,
(u.a. Halpern, 1992), während das Verstehen von Wortanalogien
männlich dominiert wird (u.a. Hyde and Linn, 1988).
Der Zusammenhang von anatomischer Voraussetzung und
sprachlichen Fertigkeiten mit möglichen männlichen Vorteilen u.a.
bezüglich der absoluten Hirngröße konnte von Wallentin (2009)
weder bei gesunden noch kranken Probanden in einer
metaanalytischen Untersuchung festgestellt werden.
Die Sprachverhaltensforschung dagegen macht eine Häufung von
vorsprachlichen Fertigkeiten (Rome-Flanders and Cronk, 1995) und
spontaner Sprechbereitschaft (Craig and Washington, 2002; Jackson
and Roberts, 2001) bei jungen Mädchen aus. Dazu tritt eine weibliche
Dominanz im Erwachsenenalter bezogen auf Rechtschreibung,
generelle Sprachfähigkeit und Grammatikverwendung (Kimura, 1999)
wie auch beim Wortgedächtnis (Wortlisten unzusammenhängender
Wörter, Ziffern, Inhaltsverzeichnisse) (vgl. Heaton et al., 1996;
Kimura, 1999) auf.
Weitere geschlechtsspezifische Unterschiede mit leichten weiblichen
Vorteilen bei Wortzuordnungsgeschwindigkeit und Wortlesen
(Majeres, 1999) wie auch bei visuellem Einfluss auf gehörte Sprache
(Irwin et al., 2006) wurden dokumentiert.
Überraschend jedoch sind signifikante Befunde zur Anzahl der täglich
gesprochenen Wörter. Hartnäckig hält sich der Mythos der weiblichen
„Geschwätzigkeit“, die Wahrheit jedoch ist eine völlig andere. Kaiser
et al. (2009) stellen in ihrer Metaanalyse keinerlei Forschungen fest,
die einen größeren Unterschied identifizieren im Vergleich der
generellen Anzahl von durchschnittlich täglich gebrauchten Wörtern.
Mehl et al. (2007) zählten je 16000 Wörter täglich beiderseits, Leaper
& Ayres (2007) stellten gar eine leicht höhere Redseligkeit bei
Männern fest. Die Analyse von Forschungsergebnissen zum
Sprachgebrauch von Männern und Frauen seit den 70er Jahren basiert
auf 71 Untersuchungen mit über 6000 Probanden. Allein die Inhalte
unterscheiden sich deutlich, männliche Gesprächsthemen sind
tendenziell sachlich und unpersönlich, weibliche gefühlsbetonter und
persönlicher. Das Fazit von Leaper & Ayres (2007) ist, dass
Sprechumfang und Sprechart situationsabhängig sind und so stark von
sozialen Einflüssen abhängen.
136
Pennebaker et al. (2007) kommen zu einem ausgeglichenen Ergebnis
mit 400 Probanden, die sechs Jahre lang mithilfe digitaler
Aufnahmegeräte alle ihre Alltagsgespräche aufzeichnen ließen. Dieses
Forschungssetting ist bedeutend und das Ergebnis höchst signifikant:
Einen genderspezifischen Unterschied beim Sprachumfang gibt es
nicht.
3. Forschungsansätze der Neurowissenschaften
Neurowissenschaftliche Untersuchungen, die die
Forschungsbereiche von Medizin, Psychologie und Biologie berühren,
setzen modernste bildgebende Verfahren ein.
Die beiden wichtigsten sind aktuell die funktionelle
Magnetresonanztomografie fMRT sowie die Magnetoenzephalografie
MEG.
fMRT ist ein bildgebendes Verfahren der Radiologie, die die
Magnetresonanz von Wasserstoffatomen nutzt. Das jedoch nicht nur
zur Darstellung von anatomischen Details des Gehirns, sondern auch
zur für die Spracherwerbsforschung relevanten Erkundung neuronaler
Substrate der menschlichen Kognitionsfunktionen. Dazu werden die
aufgabenbezogenen Veränderungen in zerebralen Regionen bezüglich
Blutfluss und Sauerstoffkonzentration visualisiert.
Die Magnetoenzephalographie besitzt die Kapazität, Hirnaktivitäten
mit zeitlich-räumlichen Auflösungen in Millisekunden und
Millimetern zu messen. Sie ist bezüglich des Darstellungspotenzials
anderen bildgebenden Verfahren hierin überlegen und definiert
diesbezüglich den derzeitigen state of the art. Unterschiedliche
sensorische Stimulationen des Gehirns erzeugen deutliche auf sie
bezogene Magnetfelder, die analysiert werden können. Hirnaktivitäten
im Hintergrund können unter verschiedensten Umständen zusätzlich
identifiziert werden.
Die Anzahl der genderspezifischen Untersuchungen per fMRT und in
jüngster Vergangenheit zunehmend per MEG wächst (vgl. Kaiser et
al., 2009) sowohl total als auch anteilig an allen fMRT-Studien und
fMRT-Publikationen weltweit insgesamt.
Das hängt nicht zuletzt mit der ebenfalls bedeutender werdenden
Erkenntnis zusammen, dass der Spracherwerb als eine höchst
genderspezifische Variable betrachtet wird, insbesondere auch durch
die Beobachtung, dass Mädchen und Frauen neue Sprachen
anscheinend leichter und schneller lernen und sprechen als Jungen und
Männer.
Die Untersuchungsmethoden können zunächst die strukturellen
Unterschiede im männlichen und weiblichen Gehirn feststellen und
137
beschreiben. Unterschiede lassen sich aber auch identifizieren durch
die fMRT-Forschung mit Fokus auf kognitive Sprachverarbeitung.
Ausgeklammert müssen dabei die Fragen nach dem Einfluss sozialer
Indikationen und Erfahrungen (Schmitz, 2006; Leonard et al., 2008)
sowie nach Unabänderlichkeit (Jordan et al., 2002) bleiben.
Gleichwohl, so stellen Kaiser et al. (2009) in ihrer Metanalyse fest,
erscheinen Geschlechtsunterschiede in Bezug auf höhere kognitive
Fertigkeiten in der neuronalen Organisation nicht unveränderlich,
sondern dem lebenslangen Einfluss von (Lern-)Erfahrungen offen
ausgesetzt (vgl. auch Jäncke et al., 2001; Münte et al., 2002;
Draganski et al., 2004).
Wie schwierig zu beurteilen die gegenseitige Wirkung von
biologischer Prädisposition und einer sozialen Prägung ist, zeigt der
Bereich der Lateralisierung (vgl. Kap. 3.2). Hier werten Kaiser et al.
(2009) die weibliche Bilateralität sowie die männliche Lateralität eher
als verkörpertes Resultat der Sprachsozialisierung durch erlerntes
Verhalten im sozialen Kontext, denn als biologisch-strukturellen
Unterschied in einer rein materiellen Dimension.
Neuere Forschungen können diese Annahme verschieben (vgl. Kap.
3.2). Es bleibt jedoch als Forschungsstand bestehen, dass
genderspezifische Unterschiede während der biologischen
Entwicklung eines Menschen auch Teil der Hirnbiologie werden und
so sex und gender schwer isolierbar miteinander verbunden sind
(Fausto-Sterling, 2000).
3.1 Zerebrale Größenunterschiede
Die eigentlich ultimative, ursprüngliche Unterscheidung zwischen
männlich und weiblich liegt in den Chromosomen der Eltern. Der
entsprechende Genotyp spezifiziert das biologische Geschlecht ganz
zu Anfang der menschlichen Entwicklung, noch vorgeburtlich.
Gleich nach der Geburt wachsen die Gehirne von Jungen und
Mädchen allgemein weiter unterschiedlich in struktureller,
physiologischer und biochemischer Hinsicht. Studien mit
Kernspintomografien zeigen, dass dabei einige Bereiche
geschlechtsspezifisch schneller wachsen können. Die meisten
neuroanatomischen Unterschiede können dabei mit Hirngröße und
-volumen erklärt werden. So können noch im Kindes- und Schulalter
wichtige Hirnregionen bei Mädchen im Hinblick auf diese
Bezugsgrößen und der Form früher schneller reifen (Caviness et al,
1996; Jäncke et al., 1997; Leonard et al., 2008). Im selben Alter
schon früh in verschiedenen Entwicklungsstadien, gleichen sich die
Entwicklungsverläufe im Laufe der weiteren Jahre an, es kommt zu
einer Annäherung.
138
Wenige Variablen können als bislang weitgehend gesichert gelten:
1) Gehirne von Jungen sind etwa 13 Prozent schwerer und 10
Prozent größer als vergleichbare Mädchengehirne. Das
entspricht dem Verhältnis im Vergleich des Körpergewichts
und ist völlig normal.
2) Die Hirnrinde ist in allen Bereichen bei Mädchen und Frauen
dicker, mehr Windungen (Gyri).
3) Die Anzahl der Neuronen ist in bestimmten Bereichen bei
Jungen und Mädchen signifikant höher:
Im Bereich der Sehrinde, im limbischen, kognitiv arbeitenden
Teil des Frontallappens sowie im Schläfenlappen, wo wichtige
Sprachzentren sitzen.
Im Scheitellappen, mit Beteiligung an räumlicher
Wahrnehmung, sowie im Mandelkern, wo emotionale Reize
verarbeitet werden, weisen Jungen eine höhere
Neuronendichte auf.
4) Die weibliche Verbindung zwischen beiden Hirnhälften ist
dicker, die Mehrzahl an Nervenverbindungen scheint eine
bessere Verbindung herzustellen. Diese Brücke (vgl. Kap. 3.2)
ist schon vorgeburtlich in der weiblichen Variante etwa ein
Fünftel größer als in der männlichen, insbesondere das
sprachrelevante Splenium. Männer haben eine stärkere
Verbindung innerhalb jeder Hälfte (vgl. Clemens et al., 2006;
Haut et al., 2006). Somit ist auch die neuronale
Vernetzungsdichte bei Mädchen in beiden Hemisphären
ähnlich, bei Jungen asymmetrisch.
Trotz dieser vier anatomischen Unterscheidungsbereiche ein Gehirn
strukturell als männlich oder weiblich zu identifizieren, ist dagegen
nicht möglich. Stoffwechsel und Durchblutung sind weitgehend
identisch, auch wenn in weiblichen Hirnen die Blutzirkulation um
etwa 15 Prozent höher zu sein scheint (Marano, 2003).
Weitere anatomische, chemische und funktionale Unterschiede
zwischen den Gehirnen von Jungen und Mädchen sind quer durch das
Organ nachzuweisen in Bereichen, die mit Sprache, Gedächtnis,
Gefühlen, Sehen, Hören und Orientierung zu tun haben. Wo sie sich
rein auf Sprache und den sprachlichen Kompetenzaufbau beziehen,
wird dies in den folgenden Kapiteln aufgegriffen.
3.2 Lateralisierung
Die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns, das
Corpus Callosum, auch Brücke genannt, beeinflusst die Symmetrie
der Hirnfunktionen bei beiden Geschlechtern. Mit über 200 Millionen
139
Nervenfasern überträgt sie Signale in beide Hirnhälften, kann aber
auch Signalströme hemmen.
In einem bestimmten Teil des Corpus Callosum, dem Splenium, findet
die Vernetzung der Sprachzentren statt. Gegenseitige Hemmung der
beiden Hirnhälften bestimmt bei produktiver wie rezeptiver
Sprachaktivität die so genannte Lateralisierung, die funktionelle
Ungleichheit oder auch zerebrale Asymmetrie der Hemisphären.
Dabei übernimmt die linke Hirnhälfte in der Regel die Führung, wenn
das Gehirn sprachliche Reize verarbeiten muss, und hemmt die
Aktivität der rechten Hemisphäre. Bei Mädchen und Frauen sind es
spezielle Geschlechtshormone (vgl. Kap. 3.6), die den Hemmprozess
vermindern.
Sichtbar gemacht werden kann diese Lateralisierung wiederum durch
ein bildgebendes Verfahren, die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI,
von engl. Diffusion tensor imaging). Mithilfe der
Magnetresonanztomografie (fMRT) kann die Diffusionsbewegung
von Wassermolekülen im Körpergewebe gemessen und räumlich
aufgelöst dreidimensional darstellt werden.
Weiss et al. (2003) führten funktionelle Konnektivitätsanalysen per
fMRT bei sprachlichen Aktivitäten von Probandinnen durch. Die
Befunde sagen aus, dass Mädchen stärker und funktionell
symmetrischer organisiert beide Hirnhälften einsetzen, um effizienter
sprachliche Aufgaben zu lösen. Jungen bewältigen sprachliche
Aufgaben stärker mit der jeweils darauf spezialisierten Hirnhälfte,
also eher links. Klinische Studien (McGlone, 1977; Kimura, 1983;
Hier et al., 1994) bestätigen dies.
Mädchen scheinen, so die Ergebnisse, zum multitasking zu tendieren,
wobei nicht bestätigt werden kann, dass die Hirnkapazitäten dabei
auch geteilt werden. Jungen arbeiten effizienter mit einer einzigen
Aufgabenstellung.
Das weibliche Hirn, obwohl ja ca. 13 Prozent kleiner, widmet wohl
durch die Lateralisierung 20 bis 30 Prozent mehr Hirnanteile der
Sprache.
Deutlich ist ein weiterer Genderunterschied zu erkennen, wenn es zu
früher empathischer, metaphorischer Lesekompetenz kommt:
Mädchen können sich in der Regel etwas früher in Personen einfühlen
(Böttger, 2015). Regionen in der rechten Hemisphäre, für Emotionen
verantwortlich, wurde in Leseversuchen bei Mädchen aktiviert, bei
Jungen nicht. Die Bilateralität befördert dies scheinbar (vgl. Kap 3.5).
Jungen dagegen verwenden nur die Hälfte der Hirnareale, die
Mädchen für gefühlsmäßige Verbalisierungen nutzen.
140
Alle Unterschiede haben allerdings nichts mit einem
geschlechtsspezifischen Intelligenzgefälle zu tun.
3.3 Neocortex und die Sprachzentren
Unter Neocortex wird der multisensorische und motorische,
sprachrelevante Teil der Großhirnrinde verstanden.
Die Hirnrinde − auch Cortex oder (lat. cortex „Rinde“), Hirnmantel
oder Pallium (lat. pallium „Mantel“) − ist eine Ansammlung von
Nervenzellen, die sich als dünne Rindenschicht am äußeren Rand des
Groß- und Kleinhirns befindet. Die Großhirnrinde heißt lateinisch
Cortex cerebri, die Kleinhirnrinde Cortex cerebelli.
Ganz generell sind neuronale Verbindungen früher messbar stärker bei
Mädchen, was bedeutet, dass deren Cortex früher reift. Dass dies
Auswirkungen hat auf ein mögliches früheres Lernvermögen, zeigt
sich im Scheitel-/Temporallappen. Schon ab dem 3. Monat vor der
Geburt können weibliche Föten auf auditive Reize zunächst immer
gleich, dann weniger und schlussendlich nicht mehr reagieren – man
nennt dies „habituieren“. Das deutet auf ein Erinnerungsvermögen für
detaillierte Sinneseindrücke hin sowie die Fähigkeit, aufmerksam
Gehörtes zu verfolgen, speziell auch unterschiedliche Stimmen.
Auch die weiblichen Frontallappen entwickeln sich früher. Der
präfrontale Cortex, als CEO unseres Gehirns, ist für analytische,
strategische und organisatorische Belange zuständig.
Räumliches Denken und Problemlösestrategien werden diesem Areal
zugeordnet.
Bewusste, vorsätzliche Aktivitäten können Mädchen schon im frühen
Schulalter, früher als Jungen, ausführen. Ihre Aufmerksamkeits-
spannen sind dann länger und die Übergänge zwischen den
Schulstunden und Fächern werden schneller bewältigt (Havers, 1995).
Eine solche frühe kognitive Kontrolle ist mit der Hormonausschüttung
von Serotonin (vgl. Kap. 3.6), die vom Frontallappen ausgeht, zu
erklären. Sie sorgt u.a. für das Erkennen von Ursache und Wirkung
sowie die Verminderung von Impulsivität.
Jungen nützen die präfrontalen Regionen eher für räumliche und
mechanische Funktionen (u.a. Moir & Jessel, 1989).
Wichtige, maßgebliche Sprachzentren der linken Hemisphäre liegen
im Temporallappen, das sogenannte Broca-Zentrum (haupt-
verantwortlich für die Sprachproduktion) sowie das Wernicke-
Zentrum (hauptverantwortlich für das Sprachverstehen) sind beide
statistisch gesehen bei Frauen um 20 Prozent bzw. sogar um fast 30
Prozent größer als bei Männern, besser durchblutet und weisen eine
141
höhere Neuronendichte auf. Sie entwickeln sich bei Mädchen deutlich
früher, während des Formulierens und Erfassens von Sprache werden
zusätzlich zu ihnen noch weitere Cortexbereiche aktiviert.
Zusammengenommen bieten alle Forschungen mit fMRT tendenzielle
Hinweise darauf, dass in Bezug auf Sprachproduktion (Schlösser et
al., 1998; Weiss et al., 2003; Kaiser et al., 2007) Spracherkennung
(Pugh et al., 1996; Frost et al., 1999; Kansaku et al., 2000; Phillips et
al., 2001; Baxter et al., 2003) sowie allgemein in verbaler
Kommunikationskompetenz und Ausdrucksvermögen Mädchen
Jungen in der Regel übertreffen, d.h. höhere Wortschatzumfänge
verwenden und früher sprechen sowie über Sprache nachdenken −
schon zu Schulanfang gibt es da messbare Unterschiede. Die Mädchen
waren auch etwas besser darin, sich neue Wortlisten zu merken und
später wiederzugeben. Der frühe Vorteil bezüglich des Wortschatz-
umfangs wird im Erwachsenenalter ausgeglichen.
Nicht geklärt ist, ob Unterschiede in der Neuronenzahl der
Geschlechter auch unterschiedliche kognitive Fähigkeiten bedeuten,
und ob die höhere Neuronendichte in der weiblichen Hörrinde mit
besseren Testergebnissen bei Sprachflüssigkeit korreliert.
3.4 Limbisches System
Das limbische System ist ein uralter Teil des Gehirns, dem
funktional u.a. die Steuerung der Funktionen von Antrieb, Lernen,
Gedächtnis, Emotionen sowie vegetative Regulationsprozesse
zugeordnet werden. In Bezug auf genderspezifische Unterschiede, mit
dem Fokus auf Spracherwerb, sind zwei Strukturen besonders
interessant: Der Gyrus parahippocampalis, der sogenannte
Hippocampus, sowie der Corpus amygdaloideum, der Mandelkern
oder auch Amygdala.
Der Hippocampus ist für Lernvorgänge von entscheidender Be-
deutung, auch, da er als einzige Hirnregion neue Nervenzellen bilden
kann. Sie bleiben dann erhalten, wenn sie verwendet werden
(Draganski, 2004).
Neue Impulse können bei emotional-positiver Stimmung schnell zur
Speicherung und zum Behalten aufbereitet, über Übung und
Wiederholung stabilisiert und anschließend, meist nachts, in die
Großhirnrinde (Cortex) transferiert werden.
Untersuchungen belegen durchweg, dass der Hippocampus bei Frauen
größer und auch aktiver ist. Dieser Umstand würde den Befund
stützen, dass somit auch das Gedächtnis, speziell in Bezug auf
Wortschatz, Namen, Gesichter, Bilder, Objekte und Alltags-
begebenheiten generell besser zu sein scheint.
142
Der Mandelkern, eine beidhemisphärisch vorhandene mandelförmige
Struktur, reagiert vornehmlich auf emotionale Informationen. Sind
dies negative, z.B. Prüfungsangst, und Restriktionen, werden sie mit
einem negativen emotionalen Etikett versehen. Für jeden Lernprozess
ist das kontraproduktiv, die Reaktion sind u.a. Flucht (auch quasi nach
innen), Blockaden und Angst. Der Mandelkern ist bei Jungen messbar
größer.
Emotional bewegende Ereignisse, jedoch nur wenn positiv im
Hippocampus konnotiert, werden allgemein − ohne genderspezifische
Unterschiede − eher im Gedächtnis gespeichert. Bei Mädchen ist
dabei eine erhöhte Aktivierung des limbischen Systems festzustellen,
im sowieso bereits dichter vernetzten kognitiven wie limbischen Teil
des Stammhirns. Somit ist nicht überraschend, wenn die meisten
Jungen Gefühle und Worte anders erleben als Mädchen (Blum, 1997;
Moir & Jessel, 1989).
3.5 Myelinisierung
Das Neuron, die Nervenzelle, ist die funktionale Basiseinheit des
Hirnsystems, wobei sie aber nicht die einzige Zellart im Körper ist.
Axone leiten die elektrischen Nervenimpulse weiter, wobei die
Leitungs- und Kommunikationsgeschwindigkeit zwischen den Zellen
durch die Dicke der Markscheiden (des Myelin-Mantels) definiert
wird.
Wenn das Gehirn sich entwickelt und reift, werden diese Nervenfasern
nach und nach mit Myelin überzogen, bis etwa zum 30. Lebensjahr.
Später lassen sich nicht mehr so leicht Verbindungen zwischen den
Nervenzellen knüpfen, die Lernfähigkeit nimmt ab. Vorhandene
Verbindungen werden optimiert. Die Myelinisierung in den für
Sprache zuständigen Regionen findet genau in dem Zeitraum statt, in
dem der erste Rückgang des Lernvermögens beobachtet wird, sehr
früh, nimmt man derzeit an (vgl. Hyltenstam & Abrahamsson, 2005).
Es besteht ein enger Zusammenhang von Lesekompetenz und dem
Grad der Myelinisierung:
Lange Nervenbahnen, für das Lesen und Schreiben als eindeutig
zuständig identifiziert, werden bis zum Alter von 30 Jahren ebenfalls
verstärkt mit einer Myelinschicht. Im Alter von 4 bis 8 Jahren
vollzieht sich dieser Prozess hormonell bedingt genderunterschiedlich
stark, Mädchen sind diesbezüglich in dieser Zeitspanne hormonell
bedingt deutlich weiter entwickelt (Benes et al., 1994). Der Vorsprung
kann bis zu 3 Jahren betragen.
Hirnareale, die feinmotorischen Fertigkeiten wie Handschrift
zugeordnet werden können, entwickeln sich bei Mädchen bis zur
Pubertät ebenfalls bis zu 6 Jahre früher. (Denckla et al., 2013;
143
Anokhin et al, 2000). Ein Übergewicht an Dyslexie wird in klinischen
Studien parallel hierzu vor allem Jungen zugeordnet. Erst um das 18.
Lebensjahr nivelliert sich diese Schieflage (Sax, 2004).
3.6 Hormone
Hormone sind Botenstoffe, die die biologischen Abläufe im Körper,
das Verhalten – also auch das Sprachverhalten − und die
Empfindungen eines Menschen entscheidend beeinflussen. Männliche
(Androgene) und weibliche (Östrogene) Hormone finden sich in
unterschiedlichen Konzentrationen in den beiden Geschlechtern
wieder. Eine zentrale übergeordnete Rolle bei der Regulation des
Hormonsystems spielt die Hypophyse, eine tropfenförmige
Hormondrüse an der Unterseite des Gehirns. Sie ist quasi eine
Schnittstelle, über die das Hirn mit der Freisetzung und Reduzierung
von Hormonen Vorgänge wie Wachstum und Stoffwechsel reguliert.
Ihre Befehle bekommt die Hypophyse direkt vom Hypothalamus.
Schon vorgeburtlich entwickeln sich die Gehirne von Ungeborenen
unter dem Einfluss verschiedener Hormoncocktails völlig
unterschiedlich. Sie beeinflussen das Wachstum der Nervenzellen, die
Neuronendichte verschiedener Hirnareale sowie Organisation und
Vernetzung des sich entwickelnden Organs. Nach der Entwicklung
der Geschlechtsorgane formt sich in der zweiten
Schwangerschaftshälfte im Fötus ein männliches oder weibliches
Hirn.
Männliche Babys weisen so viel Testosteron wie ein 25-jähriger Mann
auf (McCarthy, 2011). Der Testosteron-Spiegel fällt danach bis zum
Beginn der Pubertät, formt jedoch weiter das wachsende männliche
Gehirn.
Mädchen produzieren ebenfalls pränatal Testosteron, jedoch nicht
annähernd so viel wie Jungen (Berenbaum & Bryck, 2008). Als
wichtigste weibliche Hormone gelten das zu den Östrogenen zählende
Östradiol sowie das Progesteron.
Insgesamt sind die Hormonspiegel beider Geschlechter über die
Lebenspanne individuell sehr unterschiedlich und unterliegen
zusätzlich zahlreichen Schwankungen − Jahres- und Tageszeit, Alter,
Gewicht, oder dem weiblichen Zyklus. Vorsicht ist in jedem Fall
geboten bei Übergeneralisierungen, z.B. Aussagen über den noch
weitgehend unklaren genauen hormonellen Einfluss auf kognitive
Funktionen.
Den Zusammenhang zwischen Geschlechtshormonen, kognitiven und
emotionalen Fähigkeiten bzw. den Unterschieden in der neuronalen
144
Verarbeitung untersuchten zahlreiche Studien. Die Befunde
zusammengefasst:
1. Die höheren Hormonspiegel von Oxytocin und Östrogen befördern
die Sprachfähigkeit bei Mädchen. Die Forschung spricht gar von
einem frühen verbal boost.
2. Da Jungen weniger Serotonin und Oxytocin im Blut und Hirn
aufweisen, sind sie physisch auch impulsiver, Mädchen
biochemisch weniger impulsiv (Moir & Jessel, 1989; Taylor,
2002).
3. Sexualhormone können die Kommunikation zwischen den beiden
Hirnhälften beeinflussen und so auch die weibliche zerebrale
Asymmetrie verändern. Während der Menstruation hemmten
Bereiche des Frontallappens der sprachdominanten linken
Hirnhälfte tatsächlich entsprechende Areale auf der rechten Seite,
das Hirn arbeitet eher männlich. Wenn Tage vor dem Eisprung der
Östradiolspiegel ansteigt, nimmt diese Blockade messbar ab − die
Hirnorganisation wirkt wieder weiblich, die sprachliche
Ausdrucksfähigkeit steigt.
4. Bedeutung der Befunde – mögliche neurodidaktische
Schlussfolgerungen
Aus jedem einzelnen neurologischen Befund bezüglich des (Fremd-)
Sprachenlernens eine didaktische Schlussfolgerung ziehen zu können,
ist unrealistisch und auch wissenschaftlich unredlich.
Das Bild jedoch einer gehirngerechten, und damit wirklich
lernerorientierten Didaktik wird schärfer, wenn es sich, gleich einem
Puzzle, aufbaut, mit den Einzelinformationen erweitert über
zusätzliche, passende Details, die dann zu immer größeren
didaktischen Handlungsfeldern werden.
In jedem Fall jedoch erfordern strukturelle, genderspezifische
Unterschiede in der neuronalen Organisation ebenso individuelle
Differenzierungsverfahren im Fremdsprachenunterricht (vgl. Fine,
2010).
4.1 Voraussetzungen schaffen
Einstellung der Lehrkräfte
Der erste Schritt in diese Richtung ist zunächst ein Haltungswechsel
der Lehrkräfte wie der Lerner.
Diskriminierung, Stigmatisierung, Zurücksetzung und Nicht-
Beachtung von Kompetenzen oder noch fehlenden Kompetenzen sind
gesellschaftlich vorhandenen Stereotypen von sex und gender
geschuldet bzw. der sozialen Erwartungshaltung, die sie
transportieren. Diese zu überwinden, bedeutet ausreichende
Kenntnisse zu erlangen über die biologischen Genderunterschiede, die
145
Lernbedürfnisse der Mädchen und Jungen insbesondere in Bezug auf
das (Fremd-)Sprachenlernen.
Erst dann kann ein deutlich vorhandenes genderspezifisches
Verschiedensein zur bewussten Bereicherung der Lernkontexte
führen.
Bezugspersonen
Eine nicht zu überschätzende Rolle bei diesem Prozess können im
Sinne eines balancierten Bezugspersonensettings männliche Mentoren
und Rollenmodelle spielen, z.B. Väter, Großväter und weitere
freiwillige männliche Lehrpersonen. Immer noch sind es − aus vor
allem gesellschaftlichen Gründen − Tagesmütter, Kindergärtnerinnen
und Lehrerinnen, die die ersten sechs institutionalisierten Lernjahre
von Kindern und Jugendlichen begleiten.
Lernräume
Lernräume, genderdifferenziert ausgerichtet, halten neben
ausreichendem Platz ein Mobiliar vor, das den Bewegungs-
bedürfnissen von Jungen zur Steigerung ihrer vergleichsweise
geringeren Konzentrationsspannen gerecht wird, flexibel anzuordnen
ist, aber auch mögliche Rückzugsräume zum individuellen Lernen in
jeglicher Körperhaltung bietet − sitzend, stehend, liegend, schaukelnd,
laufend. Eine besondere Bedeutung kommt einem solch mobilen
Raumdesign zu Beginn der Schulzeit zu, wenn in der Regel Jungen
motorische Vorteile haben.
Methodische Verfahren
Auf methodischer Ebene findet diese Unterschiedlichkeit geeigneter
Weise durch kreative, experimentelle, kinästhetische und performative
Aktivitäten wie z.B.:
- theatre plays, creative dramatics
- playing to learn: physical games
- pantomimes
- film and video making
- how-to demonstrations
- projects
- video broadcasts and game shows
Berücksichtigung.
Es gilt nach der ersten genderbalancierten strukturellen Ausrichtung
jedes institutionalisierten Lernraumes sowie der Bereitschaft der
Lehrkräfte, gezielte Fördermaßnahmen zu organisieren. Erforderlich
scheint eine Gender-Balance-Systematik, die gleichermaßen
weitgehende Chancengleichheit ermöglicht beim fremdsprachlichen
146
Kompetenzaufbau von Mädchen und Jungen, und beiden im wahrsten
Sinne des Wortes gerecht wird.
4.2 Strategische Kompetenzen
Der unterschiedliche Entwicklungsstand des jungen männlichen
präfrontalen Kortex, der langsamer reift als der von Mädchen, weist
auf einen Bedarf an Unterstützung der higher-level thinking skills, hier
speziell Lernstrategien, auf.
Organisation
In einem frühen Stadium des Sprachenlernens ist es zunächst die
Organisation von Lern- und Arbeitsmaterial, sowie ganz pragmatisch
das Packen der Schultasche oder des Rucksacks. Beispielhaftes
Vorgehen und etwas Trockenübungszeit ist sinnvoll, um eine
Organisationsroutine zu entwickeln und schneller auf die vielfältigen
Medien als Informationsträger von (Fremd-)Sprache und die
vertiefenden Übungsmaterialien zurückgreifen zu können (vgl. Kap.
3.6).
Verhalten und Haltung
Jungen reagieren, hormonell gesteuert eher impulsiv als Mädchen.
Die kognitiven Fähigkeiten zum Schaffen von Einsichten sind früh
vorhanden, so ist die reine Erklärung bzw. Hinweise (reality check)
auf Handeln und Konsequenzen hilfreich. Überschätzung ist ein
wesentliches Merkmal für viele diskussionswürdige männliche
Handlungen.
Im Gegensatz dazu unterschätzen sich Mädchen, die eigene
Selbstwahrnehmung muss in der Regel durch das Entwickeln und
Unterstützen von „Can do“-Haltungen aufgebaut werden. Die
kompetenzorientierte Ausrichtung von Lehrplänen und
Aufgabenformaten unterstützt dies nachhaltig.
Verhandlungs- und Diskussionsstrategien z.B. in role plays und
assessment centers, das Üben und Einnehmen von Führungsrollen,
auch in Gesprächen, ermutigen dazu, vorhandene verbale Fähigkeiten
nicht zurückzuhalten, sondern bewusst einzusetzen.
Konzentration
Das Anwenden von Sprache, Mutter- wie Fremdsprachen, ist ein
ganz wesentlicher Bestandteil des täglichen Schullebens und seiner
Arbeitsformen. Einen nicht unerheblichen, wenn nicht größten Teil
verbringen Schülerinnen und Schüler sitzend, zuhörend, in Teams an
Gruppentischen oder allein am Platz arbeitend, an Computern
recherchierend, lesend und schreibend.
147
Die nötige Konzentrationsspanne ist bei Jungen dabei messbar kürzer.
Das Erreichen des Endes dieses Zeitrahmens, einem sog. neuralen
Pausenstatus, kündigt sich oft an durch Augenverdrehen, das Beenden
von Notizen, das Spielen an Stiften, rhythmischen Klopfen etc. in der
Hoffnung, damit wach zu belieben, und endet im schlimmsten Fall mit
dem kompletten Einnicken.
Mädchen dagegen sind in der Regel ohne Pause in der Lage, dem
Unterricht zu folgen, zeigen deutliche Zeichen der Aufmerksamkeit
und Teilnahme, auch, wenn ihnen langweilig ist. Sich quasi aktiv
aufzuladen und selbst zu erholen ist für sie im Lernprozess scheinbar
ohne äußerliche Aktivität möglich. Insbesondere bei langen verbalen
Instruktionen scheinen diese Erholungsstrategien zu funktionieren,
nicht jedoch bei Jungen. Je länger der verbale Input dauert, desto
schneller wechseln diese in den beschriebenen Pausenstatus.
Jungen diese Tatsache bewusst zu machen, hilft ebenso wie das
Stützen von Gesagtem mit räumlich-visuellen Hilfen − Bildern,
Symbolen, Diagrammen, Objekten etc. (Gurian & Stevens, 2005). Die
fremdsprachlichen Aufgabenformate sind geeigneter Weise konkret
und strukturiert. Lange Instruktionen zu kürzen und nicht länger als
etwa eine Minute anzuweisen, bedeutet unterrichtlich gender-
spezifisch zu agieren.
4.3 Sprachliche Fertigkeiten
Im Bereich der rezeptiven Fertigkeiten Hör-/Sehverstehen und
Leseverstehen ist der Forschungsstand noch nicht umfassend genug,
um direkte Konsequenzen für eine genderspezifische Differenzierung
auf der methodischen Ebene zu bewerben.
Die bereits erwähnten unterschiedlichen Konzentrationsspannen gilt
es in jedem Fall zu berücksichtigen, und es empfiehlt sich,
beispielsweise vielfältige, individuelle, teils medial gut gestützte
Erarbeitungsmöglichkeiten eines Textes zuzulassen. Audio-, Video-
oder Printvorlagen von Texten sind dabei in inhaltlich geeigneter
Weise emotional mit der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen
verbunden, sind herausfordernd, authentisch und in bestem Sinne
bedeutend.
Die produktiven Fertigkeiten, das Schreiben und Sprechen in den
verschiedenen Sprachen, müssen in Zukunft anders als rezeptive
Fähigkeiten von Anfang an genderspezifisch unterschiedlich auf
vielen Ebenen berücksichtigt werden − zu groß sind die beweisbaren
Unterschiede von Mädchen und Jungen in der Entwicklung mündlich-
produktiver Sprachkompetenzen und Literacy.
148
Literacy
Im Folgenden geht es nur um den rein sprachlichen Erwerb des
Lesens und Schreibens (Functional Literacy), einem engeren
Begriffsverständnis. Darüber hinausgehende Kompetenzen wie
Textverständnis, Vertrautheit mit Medien und Literatur, sowie
Leseerfahrungen sind neurodidaktisch mit vorhandenen
erziehungswissenschaftlichen und sprachendidaktischen Befunden
nicht bewertbar.
Wenn feststellbar ist, dass sich die Gehirne von Mädchen im
Grundschulalter in Bezug auf verbal-emotionale Funktionen schneller
entwickeln, sie dazu noch die frühe Fähigkeit stillzusitzen und sich
auf gestellte Aufgaben lange zu konzentrieren ohne kognitive
Anstrengung besitzen, hat dies zwangsläufig Auswirkungen: Nicht nur
fremdsprachliche Lernerfolge insgesamt sind größer, besonders der
Auf- und Ausbau des kompetenten Umgangs mit dem Schriftbild
gelingt schneller und intensiver (Whitmire, 2010:56; Conlin, 2003).
Viele schulische Misserfolge lassen sich von Schulbeginn an aus
Misserfolgen beim Schreiben und Lesen ableiten, insbesondere dann,
wenn Lernaufgaben und Lernmaterialien zunehmend den Wechsel
von „learning to read” hin zu „reading to learn” einleiten. Dass eine
frühe Intervention notwendig ist, zeigt eine Longitudinalstudie:
„Over the last 20 years the reading skills of 17-year-old boys
have been in a steady decline. Each year since 1988 the gap
between boys’ and girls’ reading skills has widened a bit
more” (Whitmire, 2010: 31).
Schreib- und Leselehrgänge in Mutter- und Fremdsprachen − wenn
überhaupt generell vorhanden − müssen deshalb genderspezifisch
überdacht und neu strukturiert werden.
Die frühe unterschiedliche Myelinisierung (siehe Kap. 3.5) bei
Mädchen und Jungen mit Differenzspannen in der Entwicklung von
bis zu 4 Jahren machen eine gezielte Differenzierung im Aufbau der
Alphabetisierung unbedingt notwendig. Für den Bereich der
Fremdsprachen sind zuvorderst zwei Beispiele zu nennen.
1) Der spielerische, experimentelle und individuelle Umgang mit
der Rechtschreibung im Sinne einer „interlanguage“:
Rechtschreibfehler werden dabei als intelligente Anpassung an
die Schreibnormen angesehen, Modelle und Selbstkorrekturen
führen von der eigenen Schreib- und Lesehypothese der
Kinder zur Zielform. Das erfordert einen zeitunabhängigen
Lernprozess, Restriktionen wie z.B. Negativkorrekturen führen
zu neuronalen Gegenreaktionen und sind deutlich
kontraproduktiv.
149
2) Unterschiedliche Textangebote , sogenannte „boy books“, z.B.
omnipräsent in den Leseecken und bei den
Freiarbeitsmaterialien platziert, enthalten Themen wie
competition, adventure, sports, science fiction, how-to-do-
things, aber auch war stories und fictional violence. Ebenso
stuff about slime, bacteria and bugs – um es ein wenig
adressatenspezifisch zuzuspitzen. Es geht um motivationale
Zugänge zu eben für Jungen biologisch schwierigen
Hirnfunktionen im Grundschulalter.
3) Ab der Sekundarstufe 1 sind in allen Schularten
fremdsprachliche Literacy-Förderkurse geeignete Differen-
zierungsmaßnahmen für Jungen und Mädchen am unteren und
oberen Ende der entsprechenden Kompetenzen.
Weitere Konkretisierungen der methodischen Ebene, genauer der
methodischen Verfahren, der material- und Medienauswahl, der
inhaltlichen Gestaltung liegen als zukünftige Aufgaben an.
Speaking
Die sprachproduktiven Fähigkeiten unterscheiden sich bei Jungen
und Mädchen deutlich, mit klaren frühen Vorteilen für das weibliche
Geschlecht. Der höhere Wortschatz ermöglicht eine ausgefeiltere,
differenzierte Ausdruckmöglichkeit, diese wiederum führt
zwangsläufig zu einer sich schnell entwickelnden verbalen
Kommunikationskompetenz − insbesondere zur spontaneren
Sprechbereitschaft. Jungen und Mädchen entwickeln auch deshalb
früh sprachlich verschiedene Erzählstile (Gilligan, 1982).
Dass diese Umstände zusammengenommen dann noch einhergehen
mit sich wohl parallel ebenfalls zügiger entwickelnden kognitiven
Vorteilen bezüglich Sprachvergleichen, und somit eine nicht
unbedeutende Auswirkung auf das weitere Fremdsprachenlernen
haben, vergrößert die Leistungslücke zwischen Jungen und Mädchen
im frühen (Fremd-)Sprachenlernen deutlich.
Drei Handlungsfelder lassen sich binnendifferenzierend identifizieren.
1) Der unterschiedliche produktive Wortschatzumfang − mit
frühen Vorteilen für Mädchen − korreliert sehr stark mit den
festgestellten Differenzen bei den darauf bezogenen
Speicherkapazitäten von verbundenen und unverbundenen
Wortlisten.
Stark visualisierte Stützung durch Wordwebs, Objekte, Bilder,
Symbole etc. konkretisieren den Wortschatz für Jungen und
bereiten die Verfügbarkeit vor. Gezielte Memostrategien, z.B.
spielerisches „Abfotografieren“ mit den Augen, unterstützen
dies.
150
2) Literacy-Kompetenzen erst ermöglichen den Aufbau von
passivem Wortschatz. Passives Verfügen führt über Übung
und Verbalisierung zur produktiven Verfügbarkeit.
Oben genannte Fördermaßnahmen zur Literacy sind demnach
auch für den mündlichen Fremdsprachengebrauch
unverzichtbar.
3) Die emotionalere Bindung zu Sprache bei Mädchen führt dazu,
dass diese leichter verbalisieren, was sie fühlen. Jungen
entwickeln dies nachweislich später, können aber in der Regel
konkret beschreiben, was sie getan haben, tun oder tun werden.
Da das Gehirn Dinge, die konkret getan werden, zudem höher
hierarchisiert als passiv rezipierte, spricht viel dafür, dass
neben dem Angebot gezielt aktiver, persönlicher
Formulierungen (chunks, idioms) auch sprach-
/sprechhandlungsorientierte Aufgabenformate in bester
Hinsicht genderdifferenzierend sind.
Nahezu alle vorgeschlagenen Differenzierungsfelder richten sich zwar
zunächst im Schwerpunkt auf die Förderung von
entwicklungsspezifischen, wenngleich kurzfristigen, Nachteilen von
Jungen in der Sprachverwendung. Sie sind jedoch notwendig, um in
den vorhandenen eher linear als spiralcurricular angelegten
Lernprogressionen in den Fremdsprachen nicht schon früh Jungen
bewusst, unbewusst oder wider besseren Wissens zurückzulassen.
Gleichzeitig dürfen für die Sprachentwicklung von Mädchen nicht
durch limitierte Anforderungen, Aufgabenformate, Sprachumfänge
oder fehlende individuelle sprachliche Begabtenförderung
„Deckeneffekte“ (Böttger, 2013) eingezogen werden. Dies würde eine
unnötige Verzögerung und Verschleppung der hohen
Sprachpotenziale von Mädchen bedeuten. Genderspezifische
Unterschiede dürfen nicht zu Diskriminierungen jeglicher Art – auch
durch die schulische Didaktik beispielsweise – führen, sondern
müssen als Bereicherung angesehen werden.
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Monika Margarethe Raml
Vielfalt belebt Talent: Mehrsprachigkeit als Chance vs.
Mehrsprachigkeit als Makel
Der Umgang mit Multilingualität in Deutschland ist kontrovers:
Einerseits wird das Beherrschen von mehreren Sprachen in der
Öffentlichkeit bewundert und von Politik und Wirtschaft gefordert,
andererseits begegnen mehrsprachige Schüler/innen im Unterricht oft
Skepsis und Vorurteilen. Sie werden als „Ausnahme von der Regel“
wahrgenommen, ihre Präsenz macht andere Maßnahmen erforderlich
als im Muttersprachunterricht in sprachlich homogenen Klassen und
wird deshalb problematisiert.
Lehrkräfte fühlen sich überfordert und durch ihre Ausbildung wenig
auf den Unterricht in heterogenen Klassen vorbereitet. Eltern handeln
paradox, wenn sie auf der einen Seite multikulturell und plurilingual
geprägte „Brennpunkt-Schulen“ meiden möchten, auf der anderen
Seite entsprechend frühe mehrsprachige Förderung für den eigenen
Nachwuchs suchen.
Offensichtlich gibt es eine Diskrepanz in der gesellschaftlichen
Bewertung des Phänomens Mehrsprachigkeit mit unterschiedlichem
Prestige der jeweiligen Einzelsprachen.
Aufgabe der Wissenschaft und Politik ist es deshalb, neue
Erkenntnisse und Bildungsziele zur Mehrsprachigkeit als kognitiver
Vorteil und bildungspolitisches Ziel publik zu machen.
Sprachgenie-Kult(ur)
Friedrich Rückert (1788-1866) beherrschte angeblich 44 Sprachen,
darunter neben verbreiteten europäischen Sprachen und klassischen
Bildungssprachen wie Hebräisch, Griechisch, Latein, Arabisch und
Persisch auch seltene afrikanische, slawische und Turksprachen.
Diese Art der systematisch erworbenen Vielsprachigkeit ruft bis
heute unsere Bewunderung hervor. Wettbewerbe für Sprachtalente
und Berichte darüber werden oft mit Intelligenz und Begabung in
Zusammenhang gebracht.
Ein Beispiel dafür ist der „Sprachsammler“ unserer Tage Johan
Vandewalle, der 1987 den Wettbewerb als polyglottester Mensch
Flanderns gewonnen hat, soll bis zu 31 Sprachen beherrscht haben,
darunter exotische wie Aserbaidschanisch, Tadschikisch und
Swahili.
80
80
Bereits als Kind begeisterte sich der 1960 in Brügge geborene Vandewalle für
Grammatik und Lexik und lernte neben seiner Muttersprache Flämisch bald
Französisch, im Gymnasium dann Englisch, Deutsch, Griechisch und Latein.
156
Das Goethe-Institut rief 2008 zum internationalen Handyvideo-
Wettbewerb Sprachen ohne Grenzen auf, bei dem in 60 Sekunden
Mehrsprachigkeit im Alltag eingefangen werden sollte.
81
Es gewann
der Beitrag einer 26-jährigen Kanadierin, die u. a. Germanistik
studiert hatte und in Japan Englisch unterrichtet.
Im Oktober 2013 haben die Vereinten Nationen einen
Schreibwettbewerb zur Mehrsprachigkeit gestartet: College- und
Universitätsstudenten weltweit waren aufgefordert, einen Aufsatz zum
Thema „Viele Sprachen, eine Welt“ in einer der sechs offiziellen UN-
Sprachen (Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch,
Spanisch) zu verfassen, die nicht zugleich die Muttersprache des
Schreibers sein durfte.
82
Der nachvollziehbare Nutzen von
Mehrsprachigkeit im Kontext von „Weltbürgerschaft“ sollte dabei
hervorgehoben werden.
Ähnlich fokussiert ist der jährliche Fremdsprachenwettbewerb Mit
Sprachen erfolgreich! für Schüler/innen in Österreich, der keck
proklamiert: „Einsprachigkeit ist heilbar!“ Die verbreitete Sichtweise
von Mehrsprachigkeit als problembehaftetes Bildungshemmnis wird
somit – gemäß der gesellschaftlichen Realität – revidiert, und
Multilingualität als erstrebenswerte Norm vs. Monolingualität als
Abweichung aufgezeigt. Nach dem EU-Prinzip der ‚Einheit in
Vielfalt’ soll das gleichberechtigte Neben- und Miteinander
unterschiedlicher Kulturen, Sitten und Gebräuche, Überzeugungen
und Sprachen gefördert werden.
83
Skeptischer Umgang mit Mehrsprachigkeit in Gesellschaft und
schulischer Praxis
Entgegen diesem multilingualen Ideal war die Ausbildung der
Deutschlehrkräfte und der schulische Deutschunterricht in vielen
Bundesländern lange Zeit völlig auf den Muttersprachunterricht
Deutsch ausgerichtet.
Dabei wurde ausgeblendet, dass die sprachlich homogene Klasse
zumindest in größeren Städten und Schulen durch die großen
Migrationsbewegungen seit den 1950er Jahren immer weniger der
Realität entsprach.
Bereits 1991 hat Ingrid Gogolin in ihrer Habilitationsschrift Der
monolinguale Habitus der multilingualen Schule die Diskrepanz von
Die Welt vom 25.9.2011,
http://www.welt.de/wissenschaft/article13621609/Mehrsprachigkeit-verschafft-
geistigen-Vorsprung.html, zuletzt aufgerufen am 30.8.2014.
81
http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/fst/de4194803.htm, zuletzt aufgerufen am
27.8.2014.
82
http://german.cri.cn/1565/2013/10/18/1s205639.htm, zuletzt aufgerufen am
28.8.2014.
83
http://fsw.tsn.at, zuletzt aufgerufen am 28.8.2014.
157
Theorie und Praxis zu Mehrsprachigkeit im Schulkontext
angeprangert (Gogolin 1994). Ausgangspunkt ist die These, das
deutsche Bildungswesen habe seit dem 19. Jahrhundert ein bis in die
Gegenwart wirkendes monolinguales Selbstverständnis
herausgebildet. Dies erweist sich heute angesichts einer zunehmend
heterogenen Schülerschaft als hinderlich, da es mit der sprachlichen
und kulturellen Vielfalt in der schulischen Arbeit nicht adäquat
umgeht – vor allem aus Perspektive der Lehrer/innen.
Kinder, die mit ihrer Erstsprache (L1) in einem anderssprachigen
Umfeld aufwachsen, haben im Lauf ihrer Schulkarriere häufig mit
Schwierigkeiten und Vorurteilen zu kämpfen: Lehrkräfte sehen sie –
besonders in einer ursprünglich weitgehend monolingualen
Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland – als
Herausforderung, oft sogar als Störfaktor im Unterrichtsalltag.
Die Koordinatorin des Zentrums für Bildungsintegration an der
Universität Hildesheim, Filiz Keküllüoglu, sieht Schwierigkeiten der
Lehrkräfte in deren mangelnder Vorbereitung begründet:
„Die Lehrer und Lehrerinnen sind zum Teil mit dieser
einwanderungsbedingten Vielfalt etwas überfordert, weil sie bislang
nicht sehr diversitätssensibel ausgebildet wurden. (...) Also es ist
quasi unmöglich, vorurteilsfrei zu sein. Aber der wichtige Weg ist, (...)
dass man sich dessen bewusst wird, wie Stereotypen entstehen, wie
Diskriminierungen entstehen, wie Diskriminierung vonstattengeht.
Und die angehenden Lehrerinnen und Lehrer müssten sich dessen
bewusst werden. Und das ist eine Sache, die man sich nicht einfach
anlesen kann – nicht nur – man muss sich damit auch sehr reflexiv
auseinandersetzen."
84
Selbst in Klassen, in denen einsprachige Schülerinnen und Schüler
(SuS) mit L1 Deutsch weniger als 30% der Klasse ausmachen, werden
immer noch Sprachlehrwerke, sprachdidaktische Konzepte und
Methoden verwendet, die intuitive Deutschkenntnisse und
Sprachfertigkeiten eines Muttersprachlers voraussetzen.
Konservative Politiker haben noch 1982 im Koalitionsvertrag von
Unionsparteien und FDP allen Ernstes postuliert, Deutschland sei kein
Einwanderungsland: „Es sind daher alle humanitär vertretbaren
Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu
unterbinden.“ Mit dieser defensiven Haltung wurden nicht nur
demographische Entwicklungen und volkswirtschaftliche
Erfordernisse ausgeblendet, sondern auch die Ansprüche von
Millionen Menschen anderer Nationalität und Sprache ignoriert, die
84
http://www.deutschlandfunk.de/universitaet-hildesheim-lehrer-besser-auf-
migrantenkinder.680.de.html?dram:article_id=278028, zuletzt aufgerufen am
17.8.2014.
158
damals bereits Teil der bundesdeutschen Gesellschaft waren und es
bis heute sind.
85
Deutschland ist vielsprachig und multikulturell. In Deutschland
leben rund sieben Millionen Menschen mit ausländischer
Staatsangehörigkeit. Zusammen mit denjenigen, die mit ihren Kindern
die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, kommt man
sogar auf knapp 16 Millionen, d. h. jeder Fünfte, der in Deutschland
lebt, hat ausländische Wurzeln.
86
Heute gibt es nicht nur einen regen Austausch durch
Arbeitsmigration auf europäischer Ebene, sondern auch eine Vielzahl
globaler Migrationsbewegungen durch internationale Konzerne und
den Zuzug von Asylbewerbern, die ein gesellschaftliches und
bildungspolitisches Umdenken erfordern.
Bildungspolitisches und didaktisches Umdenken
Erst in den letzten Jahren wird Mehrsprachigkeit als schulische
Realität bundesweit ernst genommen, der man mit Methoden der
Zweit- und Fremdsprachdidaktik DaZ/DaF (Deutsch als Zweit-/
Fremdsprache) im deutschen Muttersprachunterricht begegnet
(Ahrenholz 2009).
Bereits 2001 hat Heidi Rösch mit einem Forscherteam im Auftrag
des Berliner Senats eine Handreichung Deutsch als Zweitsprache für
Berliner Lehrer/innen konzipiert.
87
Auch die Curricula des Bayerischen Kultusministeriums und das
Institut Staatliche Bildung (ISB) widmen sich inzwischen offiziell
dem Thema „Mehrsprachigkeit“, etwa mit den jährlichen Rundbriefen
Schüler interkulturell flexibel fördern (SCH.I.F.F.) seit 2010, gestützt
auf Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung.
88
Ähnlich haben Hans H. Reich und Hans-Jürgen Krumm für die
österreichischen Schulen Ein Curriculum zur Wahrnehmung und
Bewältigung sprachlicher Vielfalt im Unterricht entwickelt
(Reich/Krumm 2013).
Fraglich bleibt, wie diese bildungspolitischen Bekanntmachungen in
der Schulpraxis aufgenommen werden:
85
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Migration
Integration/migrationshintergrund2010220127004.pdf?__blob=publicationFile,
S.28, zuletzt aufgerufen am 19.8.2014.
86
Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung
mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2012, Wiesbaden 2013, S.
31, zuletzt aufgerufen am 12.9.2014.
87
https://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-
bildung/foerderung/sprachfoerderung/daz_handreichung.pdf?start&ts=1234875610
&file=daz_handreichung.pdf, zuletzt aufgerufen am 26.8.2014.
88
https://www.isb.bayern.de/schulartspezifisches/materialien/schiff-rundbrief/,
zuletzt aufgerufen am 22.8.2014.
159
Zum einen besteht wohl eine grundsätzliche Skepsis jeglichen Top-
down-Verlautbarungen gegenüber, zum anderen gibt es eine
Latenzzeit von Forschungswissen, auch gebunden an Zyklen der
akademischen Lehramtsausbildung.
Um die schulpraktische Realität von mehrsprachigen SuS oder SuS
mit unterschiedlicher L1 in sprachlich heterogenen Klassen langfristig
zu verändern, bedarf es daher sowohl einer modifizierten Ausbildung
der Lehrkräfte als auch einer gesellschaftlichen Sensibilisierung.
Polyglotte Wissenschaft – monolinguale Klassen?
Im akademischen Kontext sind interkulturelle Austausch- und
Sprachprogramme längst etabliert. Allerdings besteht durch die
modularisierten Studiengänge im Bologna-Prozess die Sorge, dass
diese Austauschförderungen immer weniger wahrgenommen werden.
Mehrsprachigkeit ist bei wissenschaftlichen Konferenzen und
Publikationen gefordert. Aber selbst die akademische Lehre ist
hierzulande oft noch weit entfernt vom Ideal mehrsprachiger
Universitäten (Franceschini 2009).
Schulische Fachprofile gingen in der Bundesrepublik Deutschland
lange – entgegen aller Mehrsprachigkeitsbekundungen heute – vom
Standard monolingualer SuS mit L1 Deutsch aus, die im Laufe ihrer
Schullaufbahn eine oder mehrere Fremdsprachen erlernen (in der
Regel Englisch plus Französisch, Spanisch, Latein).
Familiäre Mehrsprachigkeit wird dagegen an bundesdeutschen
Schulen oft immer noch als Ausnahme von der Regel behandelt.
Dadurch wird sowohl die Realität der SuS ausgeblendet, die
während ihrer Schulzeit nach Deutschland kommen und innerhalb der
Familie kontinuierlich eine andere Instrumental-/ Verkehrssprache als
Deutsch pflegen (z. B. L1 Türkisch, Russisch), als auch die Situation
der in Deutschland geborenen, von klein auf mehrsprachigen SuS, die
spätestens ab dem Kindergartenalter neben der L1 ihrer Eltern
Deutsch als zweite L1 erworben haben und von diesem Zeitpunkt an
Deutsch als Hauptverkehrssprache nutzen, aber ihre zweite Sprache
selbstverständlich im Hintergrund weitertragen.
Dies wurde lange weder im schulischen Sprachunterricht
berücksichtigt, der sich die strukturellen Vorkenntnisse der
mehrsprachigen SuS nicht zunutze machte, noch hatte es
Auswirkungen auf das gesellschaftliche Selbstverständnis und die
Einstellung diesen SuS gegenüber – ein Circulus vitiosus.
Besonders bedenklich ist dabei die offenkundige Diskriminierung
bestimmter Sprachen und ihrer Sprecher, anders ausgedrückt:
Während bestimmte Sprachen durchaus ein hohes Prestige in
160
Gesellschaft und Schule genießen – allen voran kanonisch als
Fremdsprachen vermittelte wie Englisch, Spanisch, Französisch,
Italienisch – wird die Mehrsprachigkeit von SuS mit L1 Türkisch,
Russisch, Polnisch, Rumänisch u. a. in der öffentlichen Meinung
skeptisch gesehen und von den Lehrkräften dieser SuS als Nachteil
und Schwierigkeit im Deutschunterricht bewertet.
Ursachen hierfür mögen sowohl in der historischen und politischen
Bedeutung der jeweiligen Nationalitäten liegen, als auch in der Nähe
und Vertrautheit durch persönliche (touristische oder kulturelle)
Sprachkontakte sowie rationale Wertschätzung der Sprachen aufgrund
ihrer globalen Verbreitung und Potenz als Lingua franca in
Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.
Wie sehr die Reichweite globaler Verkehrssprachen und das damit
einhergehende Prestige allerdings historischen Veränderungen
unterliegen, wird am Beispiel der griechischen Sprache Koine und
dem Lateinischen von der Antike bis in das Mittelalter deutlich – von
einer Weltverkehrssprache hin zur Reduktion auf den
fachsprachlichen Bereich. Ähnlich büßte die russische Sprache nach
dem politischen Zusammenbruch der Sowjetunion ihre globale
Bedeutung zugunsten einer Vielfalt an Nationalsprachen ein.
Aber nicht nur der historische Wandel in der Sprachprestige-
Bewertung sollte zu größerer Wertschätzung jeglicher
Mehrsprachigkeit ermahnen – auch durch neurowissenschaftliche
Erkenntnisse ist diese Diskrepanz in der Bewertung von
Mehrsprachigkeit zurückzuweisen.
Wissenschaft und Mehrsprachigkeit
Die Frage nach einer möglichen Korrelation von Mehrsprachigkeit
und Intelligenz ist nicht nur von allgemeinem Interesse, sondern
beschäftigt auch die Forschung seit langem. Als gesichert gilt, dass
multilingual aufwachsende Kinder sich in ihrer Entwicklung von
monolingual erzogenen unterscheiden.
In mehreren Studien beschäftigte sich die Kanadierin Ellen
Bialystok mit dem Phänomen des kindlichen Spracherwerbs in
bilingualen Kontexten. 2012 untersuchte die Forschergruppe 104
Sechsjährige mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund in vier
Gruppen (Englisch monolingual, Chinesisch-Englisch bilingual,
Französisch-Englisch bilingual, Spanisch-Englisch bilingual)
(Barac/Bialystok 2012).
Durch drei verbale Aufgabenstellungen und eine nonverbale
Kontrollaufgabe testete man die sprachliche Entwicklung von
monolingualen und bilingualen Kindern. Dabei schnitten die
bilingualen Probanden bei den nonverbalen Funktionen wie dem
161
Ordnen von Bildern nach wechselnden Sortierregeln durchwegs
besser ab. Die besten Leistungen bei den Sprachaufgaben wurden von
den bilingualen Kindern erzielt, deren beide Sprachen große
Überschneidungen aufwiesen bzw. deren Unterrichtssprache mit der
Testsprache übereinstimmte.
In vorangegangenen Studien hatte Bialystok sich auf die
Zusammenhänge von Sprache, Literacy und kognitiven Fähigkeiten in
der bilingualen Vorschul-Entwicklung konzentriert (Bialystok 2001)
und dabei in verschiedenen Feldern besondere Problemlösungs-
fähigkeiten der Bilingualen aufgezeigt, kontrastiv zu monolingual
aufwachsenden Kindern.
Neurowissenschaftler bestätigen positive Auswirkungen von
Mehrsprachigkeit auf die kognitiven Fähigkeiten Bilingualer, etwa ein
besseres Arbeitsgedächtnis als bei gleichaltrigen Einsprachigen. In der
Schulpraxis bedeutet das einen Vorteil beim Kopfrechnen oder beim
Lösen von Aufgaben bzw. beim Wechsel zwischen zwei Aufgaben.
Selbst wenn eine eindeutige Korrelation von Intelligenz und
Mehrsprachigkeit bisher nicht zu beweisen ist, konnte zumindest ein
erhöhtes Sprachbewusstsein bei den mehrsprachigen Kindern
festgestellt werden: Kinder, die in zwei Sprachen reden und denken,
reflektieren früher über Sprache. Auch die Inhibition – die
Unterdrückung von Nicht-Relevantem bzw. Konzentration auf ein
Merkmal – gelingt Mehrsprachigen laut Leist-Villis besser.
89
Im Verständnis von lifelong learning ist nicht nur der schulische
Bereich von Interesse (Haberzettl et. al. 2013): Einige Studien haben
inzwischen auch positive Auswirkungen von Mehrsprachigkeit im
Alter konstatiert (Bialystok et. al. 2004).
Eine Luxemburger Studie von Magali Perquin mit 230 Probanden
im Durchschnittsalter von 73 Jahren bestätigte 2011, dass Demenz
und Gedächtnisprobleme im Alter bei Mehrsprachigen verzögert
auftreten. Gedächtnisprobleme bei Teilnehmern mit drei Sprachen
waren dreimal seltener als bei Probanden mit zwei Sprachen. Bei
viersprachigen Teilnehmern traten die Schwierigkeiten sogar fünfmal
seltener auf (American Academy of Neurology – AAN, 2011).
Eine Untersuchung kanadischer Forscher zu 211 Patienten mit Alzheimer-
Verdachtsdiagnose erbrachte ähnliche Ergebnisse: Knapp die Hälfte der
Patienten war zweisprachig und zeigte trotz ähnlicher Plaqueablagerung im
Gehirn deutlich bessere Ergebnisse hinsichtlich Alltagskompetenz,
Gedächtnisleistungen, Orientierung, Planung und Problemlösung. Die
Autoren der Studie erklärten dies mit einer ‚kognitiven Reserve’ des
bilingualen Gehirns, die zu einer Verzögerung der Symptome führe –
89
http://www.zweisprachigkeit.net/zweisprachige_erziehung.htm, zuletzt aufgerufen
am 19.8.2014.
162
und somit wirkungsvoller sei als medikamentöse Optionen derzeit.
(Craik/Bialystok/Freedman 2010).
Eine Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse könnte die
gesellschaftliche Einstellung gegenüber Mehrsprachigkeit verbessern.
Im Folgenden werden nun einige Initiativen vorgestellt, die sich
nachhaltig – anders als die Vielzahl kurzfristiger Sprach-
förderprogramme – mit dem Thema Mehrsprachigkeit im
institutionellen Bildungskontext auseinandersetzen.
Wertschätzung von Mehrsprachigkeit in Kindergarten und
Schule
Mehr-Sprachigkeit bedeutet automatisch ein Mehr-Wissen der
multilingualen SuS: Anstatt die Abweichung der mehrsprachigen SuS
vom monolingual L1-Deutsch-Sprecher als Defizit in den
Vordergrund zu stellen, können diese SuS als Vorbild und Ziel einer
mehrsprachigen Gesellschaft fungieren.
Die vermeintliche deutsche Einsprachigkeit ist – wie bereits
angesprochen – heute weder Realität noch Normalität in Deutschland.
Im globalen Kontext ist Monolingualität ohnehin eine Rarität:
Afrikanische Länder haben bis zu mehrere hundert Stammessprachen
zugleich zu koordinieren.
90
Papua Neuguinea gilt mit über 830
indigenen Sprachen und Dialekten als sprachenreichstes Land der
Welt.
91
In einigen europäischen Ländern (Schweiz, Italien, Belgien,
Spanien) gibt es mehrere Amts-/Verkehrssprachen und somit einen
selbstverständlich multilingualen Alltag für die gesamte
Bevölkerung.
92
Mehrsprachigkeit ist – global betrachtet – also nicht
die Ausnahme sondern die Regel.
Bildungspolitische Strategien mehrsprachiger Länder und
didaktische Sprachvermittlungsstrategien an den dortigen Schulen
könnten ein Vorbild für den Umgang mit Mehrsprachigkeit
hierzulande sein.
Frühkindliche Förderung von Mehrsprachigkeit durch die Eltern
und Bildungseinrichtungen
Besonders auf den frühkindlichen Spracherwerb richtet sich das
gegenwärtige Interesse der Mehrsprachigkeits-Forschung
(Craik/Bialystok/Freedman 2010, Filtzinger/Montanari/Cicero
Catanese 2011, Grimm/Schulz 2012).
90
http://www.bpb.de/internationales/afrika/afrika/58933/sprachenvielfalt?p=all
zuletzt aufgerufen am 8.9.2014.
91
http://www-01.sil.org/pacific/png/, zuletzt aufgerufen am 16.9.2014.
92
http://www.beo-doc.de/downloads/EU-Sprachen_de-beo.pdf, zuletzt aufgerufen
am 28.8.2014.
163
Jüngste Publikationen geben einen Überblick zu bilingualen
Programmen in Kindertageseinrichtungen aus Perspektive der
Wissenschaft, Praxis und Verwaltung. Sie untersuchen ihre
Wirksamkeit hinsichtlich des idiomatischen, lexikalischen und
grammatischen Spracherwerbs (Piske 2014) bzw. referieren Beiträge
aus Fachtagungen und aus der Praxis zum Immersionsverfahren
(Steinlen/Rohde 2013).
Auch die passgenaue frühkindliche Sprachförderung zur
Vorbereitung auf die Grundschule ist Gegenstand der Forschung, um
eine Über- bzw. Unterforderung der Kinder (missed identity/mistaken
identity) zu vermeiden (Schulz et. al. 2014).
Im Alltag sind zwei Konstellationen zu unterscheiden: Erstens
Familien mit einer durch die Eltern vorgegebenen, gewissermaßen
‚natürlichen’ bilingualen Spracherwerbssituation und zweitens
‚künstliche’ Mehrsprachigkeitskontexte durch die Wahl einer
entsprechenden Bildungseinrichtung (Kindergarten, Schule).
Während im ersten Fall der Spracherwerb meist intuitiv-ungeleitet
durch die Eltern erfolgt, stellt der zweite Fall häufig eine gezielte
Entscheidung monolingual sozialisierter Eltern dar, die sich von der
institutionell erworbenen Mehrsprachigkeit spätere Bildungs- und
Karrierevorteile für ihre Kinder versprechen. Allerdings sollte dieser
frühe Fremdspracherwerb in jedem Fall über Muttersprachler
geschehen.
Fremdsprachenkurse für Kleinkinder sind dagegen in der Forschung
umstritten: zum einen wegen ihrer Konzentration auf imagereiche
Sprachen, zum anderen aufgrund der fraglichen Nachhaltigkeit –
Gelerntes ohne Bedeutung im Alltag wird schnell wieder vergessen.
93
Unsicherheiten seitens der Eltern ob der korrekten Vorgehensweise
in der Sprachvermittlung bestehen in beiden Fällen. Ihnen begegnen
Elternratgeber zur Mehrsprachigkeit.
Popularisierung von Wissen: Beispiel Elterninformation zur
Mehrsprachigkeit
Ratgeber-Lektüren bieten Eltern Informationen zur mehrsprachigen
Sprachvermittlung und wissenschaftliche Erkenntnisse in verständlich
aufbereiteter Form.
Der 2014 in 6. Auflage erschienene Elternratgeber von Anja Leist-
Villis etwa basiert auf Ergebnissen empirischer Studien im griechisch-
deutschen Kontext und setzt beim frühkindlichen Spracherwerb an.
Sie fordert eine stärkere Orientierung des Bildungssystems an
Mehrsprachigkeit, beginnend bei entsprechenden Kindergärten für
93
http://www.t-online.de/eltern/kleinkind/id_53908110/erziehung-macht-
zweisprachigkeit-kinder-intelligenter.html, zuletzt aufgerufen am 18.8.2014.
164
bilingual aufwachsende Kinder.
Dort werden bereits angelegte Sprachfertigkeiten in Kommunikation
mit den Erzieher/innen und anderen Kindern und durch Spiele, Lieder,
Bücher etc. weiterentwickelt. Anders als in monolingual konzipierten
Einrichtungen kann hier nicht nur eine Förderung der
Umgebungssprache und späteren Unterrichtssprache Deutsch
stattfinden, sondern auch der Umgang mit der Zweitsprache
ausdifferenziert werden. Diese Unterstützung ist entscheidend für eine
positive Einstellung der Kinder zu ihrer Zweitsprache, die ansonsten
von den Kindern als im Alltag nicht bedeutend erlebt und deshalb
immer mehr vernachlässigt oder sogar abgelehnt wird.
Immer noch raten uninformierte Erzieher/innen und Lehrer/innen
den Eltern mehrsprachiger Kinder, in jedem Fall „nur Deutsch“ mit
dem Kind zu sprechen – ohne die negativen Folgen auf die
sprachliche Entwicklung der Kinder und das destabilisierte
Erziehungsverhalten der Eltern zu bedenken (Leist-Villis 2014).
Die Kinder selbst fühlen sich durch die Sprachenvielfalt keineswegs
überfordert – wie es Petra Schulz treffend formuliert: „Das Gehirn ist
kein Behälter, der irgendwann überquillt, sondern funktioniert
vielmehr wie ein Muskel, den man trainieren kann.“
94
Voraussetzung dabei ist laut Schulz allerdings eine ‚emotionale
Bindung’ an die Sprache. Zudem sei eine Sprachsicherheit der Eltern
entscheidender als der Zeitpunkt des Spracherwerbs. Schulz empfiehlt
neben einer gemeinsamen Familiensprache entweder eine personelle
Zuordnung beider Sprachen nach Elternteilen oder eine Zuordnung
nach Lebensbereichen, um den Kindern eine klare Systematik an die
Hand zu geben.
Leist-Villis leitet aus der defizitären Situation der Mehrsprachigen
folgende Forderungen an Bildungspolitik und Wissenschaft ab:
Unterstützung von Forschungen zu Zweisprachigkeit
Unterstützung der wiss. Entwicklung und Erprobung von
Konzepten für zweisprachige Kindergärten und Schulen
Erhöhung des Angebotes an zweisprachigen Einrichtungen
Beratungsmöglichkeiten zu Zweisprachigkeit
Unterstützung von Zweisprachigkeit in einsprachigen
Einrichtungen
94
Dobertin, Birthe, FOCUS-Online am 13.5.2013,
http://www.focus.de/familie/wissenstest/lernatlas/fremdsprachen/wie-
mehrsprachige-erziehung-gelingt-mehrsprachigkeit-macht-das-gehirn-
flexibel_id_3077262.html, zuletzt aufgerufen am 15.8.2014.
165
Integration der Thematik in die Ausbildung von
pädagogischen und medizinischen Fachkräften
95
Wie kann sich gegenseitiges Lernen entwickeln, bei dem die
Referenzsprachen der SuS mit anderen L1 als Bereicherung für die
SuS mit L1 Deutsch einbezogen werden können?
Für den Unterricht sehen Rosemarie Tracy und Petra Schulz mit
Blick auf die Forschung einige Herausforderungen: Um die
Mehrsprachigkeit ihrer SuS als Wert wahrnehmen und im Unterricht
adäquat berücksichtigen zu können, müssen die Lehrkräfte an den
Schulen nach Möglichkeit über die Muttersprachen ihrer SuS
informiert sein (Tracy/Schulz 2009). Sprachforscher vermitteln
linguistisches Hintergrundwissen über unter den SuS verbreitete
Referenzsprachen wie Japanisch, Chinesisch, Vietnamesisch, Hindi,
Persisch, Türkisch, Spanisch, Russisch, Ukrainisch, Griechisch,
Albanisch, Arabisch und Hebräisch. (Krifka et al. 2014).
Auch die Lehrmittelforschung hat sich inzwischen mit der
mehrsprachigen Realität an den Schulen auseinandergesetzt und
multilinguale Lehrbücher für verschiedene Fächer analysiert und
entwickelt (Augschöll Blasbichler/Videsott/Wiater 2013).
Best-Practice: Lehramtsstudium Hildesheim
Im Februar 2014 hat die Universität Hildesheim ein Zentrum für
Bildungsintegration gegründet, welches Lehramtsstudierenden den
vorurteilsfreien Umgang mit SuS mit Migrationshintergrund und ihre
optimale Förderung nahebringen möchte.
96
Neben der Forschung zur Bildungspartizipation sollen mehr
Studierende mit Migrationshintergrund gewonnen werden und somit
in Zukunft mehr Lehrkräfte mit interkulturellem Hintergrund. Zwölf
Professuren – unter anderem ‚Diversity Education’, ‚Deutsch als
Zweitsprache’, ‚Frühpädagogik’, ‚Heterogenität und Unterricht’ –
erforschen die Ursachen für Bildungsbenachteiligung. Hier sind neben
strukturellen Ursachen und Formen der institutionellen
Diskriminierung vor allem mangelnde Sprachkompetenz zu nennen.
Dabei werden Möglichkeiten der Mehrsprachigkeit ausgelotet, etwa
durch Elke Montanari für das Fach „Deutsch als Zweitsprache“:
Wir müssen unsere Lehramtsstudierenden deutlich besser
95
http://www.zweisprachigkeit.net/mehrsprachigkeit_bildungssystem.htm, zuletzt
aufgerufen am 22.8.2014.
96
Vgl. hierzu den Deutschlandfunk-Beitrag von Michael Engel: „Lehrer besser auf
Migrantenkinder vorbereiten“, gesendet am 20.2.2014, zuletzt aufgerufen am
18.8.2014, http://www.deutschlandfunk.de/universitaet-hildesheim-lehrer-besser-
auf-migrantenkinder.680.de.html?dram:article_id=278028.
166
vorbereiten auf Mehrsprachigkeit. Das heißt, wir werden in den
einzelnen Fächern Diskurse führen, zum Beispiel im Fach
Sachunterricht oder im Fach Kunst, indem Schülerinnen und Schüler
sagen, ich versteh‘ das nicht, kann mir das noch mal erklärt werden.
Indem wir die Mehrsprachigkeit mit einbeziehen. Also welche Worte
aus der Kunst kommen denn zum Beispiel aus dem Russischen?
Erfahrungen des Verstehens und Nichtverstehens gemeinsam
reflektieren, und dass wir hier aus Hildesheim auch Lehrkräfte haben,
die das können.
97
Entscheidend ist dabei, dass auch die Familien der SuS mit
Migrationshintergrund einbezogen werden (Montanari 2013,
Neumann 2012). Missverständnisse und Ängste können
beispielsweise durch eine Sprachbegleitung abgebaut werden.
Dadurch werden Bildungsressourcen genutzt, Talente frühzeitig
erkannt und gefördert.
Gesellschaftliche Sensibilisierung: Mehrsprachigkeit als Chance
Eine positive Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit setzt ein
Umdenken voraus: Im schulischen Kontext bedeutet das neben der
grundlegenden Reform von Lehrerausbildung und
Lehrplankonzeption, dass die language awareness von mehr-
sprachigen SuS stärker durch Sprachvergleiche auf
lexikalischer,
struktureller und phonetischer Ebene im Unterricht einbezogen wird.
Gesamtgesellschaftlich ist ein Wandel nur durch gezielte
Information zu erreichen: Aktuelle Erkenntnisse der
97
Ebda. http://www.deutschlandfunk.de/universitaet-hildesheim-lehrer-besser-auf-
migrantenkinder.680.de.html?dram:article_id=278028, zuletzt gelesen am 9.8.2014.
• Sprachgenie-Kult und
Mehrsprachigkeits-Forschung
vs.
• Vorurteile gegenüber
Anderssprachigen im (Schul-)
Alltag
Status quo
öffentliche Meinung
• Personen
• Aktionen
• Medien
Öffentlichkeitsarbeit
gesellschaftliche
Sensibilisierung • Mehrsprachigkeit als
individueller Wettbewerbsvorteil
• Mehrsprachigkeit als gesamt-
gesellschaftliche Chance
ZIEL:
gesellschaftliche
Wertschätzung
167
Mehrsprachigkeits-Forschung können durch Veranstaltungen, Medien
und Personen bekannt gemacht werden.
Ähnlich wie es wissenschaftsintern auf Konferenzen, Kongressen
und über Fachpublikationen eine Fortentwicklung und einen
Austausch von Wissen über Mehrsprachigkeit gibt, können
regelmäßige Veranstaltungen und Kampagnen, dauerhafte
Förderprogramme und allgemein zugängige Internetportale zur
Information der breiten Öffentlichkeit eingesetzt werden.
98
Netzwerke
und Internetforen bieten multilingualen Sprechern die Möglichkeit
zum Erfahrungsaustausch und allen Interessierten Unterstützung bei
Fragen. In der Begleitung und Betreuung dieser Portale besteht eine
neue Aufgabe der Wissenschaft.
Im Alltag können etwa mehrsprachige Behördenformulare und
Hinweisschilder die Wertschätzung anderer Sprachen deutlich machen
und zu einer Internationalisierung der Gesellschaft beitragen.
Originalsprachige Filme mit Untertitel statt synchronisierter wie
etwa in Skandinavien wären nicht nur wertvoll für die
Mehrsprachigkeits-Entwicklung in Deutschland, sondern außerdem
auch förderlich für die Alphabetisierung der Muttersprachler.
Mehrsprachige Vorbilder aus den Bereichen Kultur, Politik und
Sport können als Paten zur Bildungs- und Talentförderung beitragen.
Role-models wie die Sänger Rolando Villazon und Peter Maffay, die
Cellistin Sol Gabetta, die Schauspieler Miroslav Nemec und Erol
Sander, die Nachrichtensprecher Linda Zervakis, Ingo Zamperoni und
Dunja Hayali,
der Politiker Cem Özdemir und die SPD-
Generalsekretärin Yasmin Fahimi, die Sportler Vitali und Wladimir
Klitschko, Lukas Podolski und Sami Khedira überzeugen durch ihr
persönliches Beispiel, dass Interkulturalität und Mehrsprachigkeit
nicht nur ein individueller Wettbewerbsvorteil sein können, sondern
auch eine Bereicherung für die Gesellschaft sind.
Bei der Laudatio zum Integrationspreis der Deutschlandstiftung lobte
Bundeskanzlerin Angela Merkel den langjährigen
Fußballnationalspieler Miroslav Klose im September 2014. Er sei
einer, der „in mehreren Sprachen und Kulturen zu Hause“ sei und als
„Repräsentant einer bunten und vielfältigen Nationalmannschaft“ für
ein weltoffenes, tolerantes Deutschlandbild stehe.
99
Die Erkenntnis einer multikulturellen und mehrsprachigen
Gesellschaft als Bereicherung scheint endlich in der Politik
98
Ein gelungenes Beispiel für institutionelle Information ist das Portal des Goethe-
Instituts: http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/fst/de4194803.htm, zuletzt
aufgerufen am 28.8.2014.
99
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/09/2014-09-11-merkel-
goldene-victoria.html, zuletzt aufgerufen am 14.9.2014.
168
angekommen zu sein.
100
Ähnlich optimistisch klingt die Antwort einer elfjährigen deutsch-
türkischen Schülerin, die – gefragt nach ihren wichtigsten Kriterien
zum Item ‚idealer Partner’ – konstatiert: „Eigentlich ist die
Nationalität nicht wichtig. Ich hab’ deutsche und türkische
Freundinnen und Freunde. Und wenn ich noch besser Englisch kann,
kommt jeder Mann auf der Welt infrage!“
101
Literaturverzeichnis
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171
Franz Schimek
Sprachen für Europa −
Ein Sprachlernkonzept für den Unterricht in einer
zweiten Sprache im Primarbereich der Europäischen
Schulen
Vorbemerkung
Dieser Beitrag stellt eine Kurzdarstellung des L 2 Curriculums dar, an
dem der Verfasser als Leiter der Arbeitsgruppe der Europäischen
Schulen maßgeblich mitgewirkt hat. Es wird aber auch auf die damit
verbundenen wissenschaftlichen Grundlagen bzw. konsekutiven
Ableitungen für zukünftige Entwicklungen eingegangen. Vgl. dazu
www.eursc.org.
Das neue CURRICULUM L2 für Englisch, Französisch und
Deutsch
Die Europäischen Schulen wurden von der Europäischen Union
1953 eingerichtet, um für die Kinder der Mitarbeiter/innen, die in den
EU Institutionen arbeiten, ein entsprechendes Ausbildungskonzept
vorzusehen, das einerseits die jeweiligen nationalen Bildungsziele
erfüllt, ihnen andererseits auch Qualifikationen vermittelt, die in den
anderen Staaten der Europäischen Union anerkannt werden.
In diesen Schulen gibt es mehrere Sprachabteilungen, wobei die
Schüler/innen, wenn möglich, üblicherweise jener Sprachsektion
angehören, die ihrer Muttersprache entspricht. Ein wesentliches
Element der Europäischen Schulen ist der Sprachenunterricht. Das
Erlernen einer zweiten Sprache ist für alle Schüler/innen der
Primarstufe der Klassen 1 bis 5 verpflichtend. Als zweite Sprache
können die Kinder eine der drei Vehikularsprachen der Europäischen
Schulen, Englisch, Französisch oder Deutsch wählen, wobei diese
Sprache nicht ihrer als erste Sprache gelernten Sprache entsprechen
darf. Diese Sprache wird dann auf der Sekundarstufe als
Arbeitssprache in verschiedenen Unterrichtsgegenständen eingesetzt.
In weiterer Folge lernen die Schüler/innen ab dem 7. Schuljahr eine
weitere Sprache der Europäischen Union. Später ist es auch möglich,
als Wahlfach eine dritte oder vierte Fremdsprache zu erlernen.
Der Schulabschluss ist das Europäische Baccalaureat, das in allen
Staaten der Europäischen Union anerkannt wird und damit den
diesbezüglichen Universitätszugang ermöglicht.
Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Europäischen Schulen ist in
die Grundsteine aller Europäischen Schulen – wie folgt − eingraviert:
172
„Zusammen erzogen, von Kindheit an von den trennenden Vorurteilen
unbelastet, vertraut mit allem, was groß und gut in den verschiedenen
Kulturen ist, wird ihnen, während sie heranwachsen, in die Seele
geschrieben, dass sie zusammengehören.
Ohne aufzuhören, ihr eigenes Land mit Liebe und Stolz zu betrachten,
werden sie Europäer, geschult und bereit, die Arbeit ihrer Väter vor
ihnen zu vollenden und zu verfestigen, um ein vereintes und
blühendes Europa entstehen zu lassen.“
In den Lehrplänen der Europäischen Schulen werden so die
grundlegenden Zielsetzungen beschrieben, nämlich einerseits eine
formelle Ausbildung zu bieten und andererseits die persönliche
Entwicklung der Kinder in einem breiten sozio-kulturellen Umfeld zu
fördern. Die formelle Ausbildung beinhaltet die Aneignung von
Kompetenzen, die auf den Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und den
Aufbau von Haltungen in verschiedenen Bereichen abzielen.
Die persönliche Entwicklung findet in vielfältigen geistigen,
moralischen, sozialen und kulturellen Kontexten statt. Sie setzt das
Bewusstsein für situationsangemessenes Verhalten, das Verständnis
für das Lebensumfeld der Schüler/innen sowie die Entwicklung ihrer
persönlichen Identität voraus.
Diese beiden Zielsetzungen entwickeln sich in einem Kontext des
umfassenden Bewusstseins vom Reichtum der europäischen Kultur.
Dieses Bewusstsein und die Erfahrung von Gemeinsamkeiten in
Europa sollten die Schüler/innen zu einer größeren Achtung der
Traditionen aller einzelnen Staaten und Regionen Europas sowie ihres
Zusammenhangs bewegen. Die Schüler/innen der Europäischen
Schulen sind die künftigen Burger/innen Europas und der Welt. Als
solche sollen sie mit einer Reihe von Kompetenzen ausgestattet
werden, um den Herausforderungen des rapiden Wandels der Welt
standzuhalten.
Wie bereits angeführt, ist das Erlernen einer zweiten Sprache von
Anfang an für alle Schüler/innen der Primarstufe der Klassen 1 bis 5
verpflichtend. Als zweite Sprache können die Schüler/innen entweder
Englisch, Französisch oder Deutsch wählen.
Zur Planung des Unterrichts sowie zur Sicherung des
Unterrichtsertrages wurden vom Inspektionsausschuss der
Europäischen Schulen Lehrpläne in diesen drei Sprachen entwickelt.
Aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen und Ansichten gab es
jedoch essentielle Unterschiede zwischen den drei Sprachen. 2009
wurde daher entschieden, ein gemeinsames Curriculum auf der Basis
173
neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und aufbauend auf den
Erfahrungen, die aus der täglichen Unterrichtsarbeit gewonnen werden
konnten, zu erstellen. Nach fünfjähriger Entwicklungsarbeit ist es
einer Expertengruppe gelungen, einen gemeinsamen Lehrplan für die
drei Vehikularsprachen zu entwickeln.
Im Mittelpunkt des Lehrplans stehen jene Kompetenzen, die sich die
Schüler/innen zum Abschluss der Primarschulerziehung aneignen
sollen. Der Sprachenunterricht wird dabei als fortwährender und
schrittweiser Lernprozess betrachtet, der auf die Persönlichkeit eines
jeden einzelnen Kindes eingeht. Die Lehrkräfte haben die Aufgabe,
den persönlichen Ausgangspunkt eines/einer jeden Schülers/Schülerin
im Sprachkontinuum zu berücksichtigen und eine entsprechende
Differenzierung anzubieten.
Der Lehrplan enthält allgemeine Zielsetzungen, didaktische
Grundsätze sowie Unterrichts- und Lernziele, Inhalte und Richtlinien
zur Beurteilung. Hier werden die Fertigkeiten, die die Schüler/innen
zu einer effizienten Kommunikation entwickeln sollen, sowie die
dafür erforderlichen sprachlichen Kompetenzen beschrieben.
Zusätzlich zu der erforderlichen diagnostischen, formativen und
summativen Beurteilung des Lernprozesses der Schüler/innen in der
zweiten Sprache nimmt die Förderung von Selbstbeurteilung und
damit verbunden der Einsatz von Schülerportfolios einen wesentlichen
Stellenwert ein.
Das gemeinsame Curriculum wird von einem spezifischen Lehrplan
für jede der drei Vehikularsprachen − Französisch, Englisch und
Deutsch − begleitet, der insbesondere auf die sprachspezifischen
Aspekte eingeht und eine praktische Grundlage für die differenzierte
Planung zu den im Curriculum angeführten Themenbereichen bietet
sowie auch bewährte Beispiele zur Unterrichtspraxis enthält.
Der Lehrplan der zweiten Sprache basiert auf einem dynamischen
Modell des Unterrichts- und Lernprozesses. Die Lehrkräfte sollen
mittels eines aktivitätengestützten und denkfördernden Lernumfelds
ein motivierendes und stimulierendes Lernumfeld schaffen, in dem
auch neue Lernmöglichkeiten entworfen und aufgebaut werden sowie
die Fortschritte aller Schüler/innen aufmerksam mitverfolgt werden.
Die Lernenden profilieren sich dabei als aktive Teilnehmer/innen, die
sich ihrer Lernfortschritte bewusst sind und in diesem Prozess eine
aktive Rolle übernehmen.
174
Die Sprachentwicklung ist als ein holistischer Ansatz zu betrachten,
sodass die Entwicklung eines Aspekts den Lernprozess in einem
anderen Aspekt unterstützt. Der Erwerb von Sprachfertigkeiten
bedeutet allerdings nicht, dass die Schüler/innen die neue Sprache
kennen und wertschätzen gelernt haben. Die Lehrkraft sollte daher
sicherstellen, dass Sprachenlernen eng mit dem Wertschätzen der
Kultur und der Literatur des Landes der Zielsprache verknüpft ist.
Fertigkeiten in der zweiten Sprache können darüber hinaus die
Empathie, die Sprachbereitschaft, die Sensibilität und die Entwicklung
des eigenständigen Denkens fördern. Diese Fertigkeiten können dank
differenzierter, verknüpfter, fächerübergreifender Ansätze entwickelt
werden und bieten Gelegenheiten, Neues zu entdecken sowie
Bedürfnisse und Fähigkeiten auszudrücken. Die Individualität des/der
Lernenden muss im Unterrichtsprozess berücksichtigt werden.
Das Erlernen einer Sprache ist ein sehr komplexer, holistischer
Prozess, in dem sich die Schüler/innen eine Vielzahl von Fertigkeiten
aneignen. Dieser Lehrplan bietet ein Rahmenwerk aus Lernzielen, die
den kommunikativen, linguistischen, kulturellen und dynamischen
Aspekten des Spracherlernens Rechnung tragen. Sie stellen Leitlinien
für die Lehrkräfte und Schüler/innen dar, auf die sie sich in ihrem
Lernkontinuum berufen sollen.
Die Lernziele sind in vier Bereiche aufgeteilt:
1. Lernziele der Sprachaktivitäten, die ‘Hörverständnis’, ‘an
Gesprächen teilnehmen’ und ‘zusammenhängendes Sprechen’,
‘Leseverständnis’ und ’Schreiben’ umfassen.
2. Lernziele zur Entwicklung von linguistischen Kompetenzen
3. Lernziele zur Entwicklung dynamischer Kompetenzen, die
kommunikative, interkulturelle, soziale und strategische
Kompetenzen umfassen
4. Lernziele in kulturellen und literarischen Bereichen
Die kommunikative Sprachkompetenz des/der Sprachenlerners
/Sprachenlernerin bzw. des/der Sprachenverwenders/-verwenderin
wird bei der Ausführung der verschiedenen Sprachaktivitäten
aktiviert, Sie umfassen folgende Fertigkeitsbereiche:
• Hören und Verstehen
• an Gesprächen teilnehmen und zusammenhängendes Sprechen
• Leseverständnis
• Schreiben
175
Die in diesem Curriculum aufgelisteten Tabellen enthalten die
Beschreibung der Zielsetzungen, die auf der Primarstufe umgesetzt
werden sollen. Dabei handelt es sich um eine auf die spezifische
Situation der Schüler/innen der Primarstufe der Europäischen Schulen
angepasste Version des vom Europarat entwickelten Gemeinsamen
Referenzrahmens für Sprachen für die Stufen A1, A2 und B1. Zur
Darstellung des angesprochenen Lernkontinuums wird die folgende
Stufendarstellung „STAIRS“ des Sprachlernfortschrittspfads gewählt:
176
177
Schülerinnen und Schüler erwerben Fähigkeiten und Fertigkeiten
sowie Einstellungen und Haltungen, die sie in die Lage versetzen,
zukünftige Anforderungssituationen zu bewältigen und
verantwortungsvoll und kooperativ in ihren Beziehungen zu anderen
Menschen handeln zu können. Wertschätzender Umgang mit anderen
Sprachen und Kulturen ist eine wesentliche Voraussetzung für das
Zusammenleben in einer durch Diversität gekennzeichneten
europäischen Bevölkerung. Im vorliegenden L2 Curriculum sind
daher die übergreifenden Fähigkeiten in einem Referenzrahmen der
dynamischen Kompetenzen in vier Kompetenzbereichen
zusammengefasst und kategorisiert. Auf diesen dynamischen
Kompetenzen basiert jegliche Kommunikation in Fremdsprachen
ebenso wie in der Erstsprache. Im vorliegenden Curriculum werden
folgende Kompetenzbereiche definiert:
• Kommunikative Kompetenz
• Interkulturelle Kompetenz
• Sozialkompetenz
• Strategische Kompetenz
Im Referenzrahmen der dynamischen Kompetenzen werden jene
Kompetenzen dokumentiert, die bewusst und unbewusst im
alltäglichen Sprachunterricht praktiziert werden. Sie sind durch
Aufgaben nicht vordergründig operationalisierbar bzw. überprüfbar,
dafür aber in Lernsituationen erfahrbar, lern- und trainierbar und
mithilfe des folgenden Rasters für Lernende und Lehrende
transparent.
178
179
180
Resilienz und Mindset
Das neue L2 Sprachlernkonzept stellt die Schüler/innen in den
Mittelpunkt des Lernprozesses, sodass sie sich zu selbstsicheren
Sprechern/Sprecherinnen in einer zweiten Sprache entwickeln können.
Die angeführten dynamischen Kompetenzen stellen dafür die Basis für
diese positive Persönlichkeitsentwicklung dar. Es bedeutet eine
Abkehr von einem „Defizitblick” hin zu einer positiven
Wahrnehmung des eigenen Lernfortschritts. Das Stufenmodell
„STAIRS” des Sprachlernfortschrittspfads gibt dazu die Grundlage.
Ein Sprachenunterricht, der sich an diesem Konzept orientiert, hilft
auch das generelle Resilienzvermögen der Schüler/innen zu stärken
und auszubauen. Gerade in Zeiten ökonomischer und gesel-
lschaftlicher Unsicherheit hat auch schulische Bildung dazu
unterstützende Maßnahmen zu setzen. Sprachenlernen im Sinne des
vorliegenden Konzeptes kann somit zur Stärkung des persönlichen
Resilienzvermögens beitragen:
Sprachenlernen wird als ein positiv orientierter Prozess, der
unüberwindbare Schwierigkeiten vermeidet, gesehen und empfunden.
Es öffnet Türen zur positiven Persönlichkeitsentwicklung, wobei die
Lernenden aber auch bereit sein müssen, diese Veränderungen
anzunehmen.
Sprachenlernen zielt auf das schrittweise bewusste Erreichen von
Zielen in Teilbereichen, wobei die Lernenden eigenverantwortlich
Entscheidungen treffen können.
Durch positive Ergebnisse im Sprachlernfortschrittspfad wird das
persönliche Selbstwertgefühl gestärkt und dadurch Zuversicht
vermittelt.
Durch kontinuierliche Erfolge auf den „STAIRS“ wird Freude und
Wertschätzung vermittelt.
Sprachenlernen hilft aber auch im verstärkten Maße, erweiterte
zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und
grenzüberschreitende Netzwerke auf der Basis gemeinsamer
Interessen zu entwickeln.
Nach Denis Mourlane
102
erkennt man resiliente Menschen daran, dass
• sie Optimismus und Zuversicht ausstrahlen.
• sie eine hohe Bereitschaft, Situationen gründlich zu
analysieren, zeigen.
• sie insgesamt balanciert und im Reinen mit sich selbst sind.
• sie gelassen sind.
102
Vgl. dazu Denis Mourlane, Denis: Resilienz – die unentdeckte Fähigkeit der
wirklich Erfolgreichen; Business Village Verlag 2012.
181
• sie klare Ziele vor Augen haben und diese konsequent und mit
viel Disziplin verfolgen.
• sie empathisch sind und sich zurücknehmen können, um dem
anderen genau zuzuhören.
• sie Humor haben und akzeptieren die negativen Seiten des
Lebens als etwas Gegebenes, das zum Leben dazugehört.
Einen Sprachenunterricht, der dies berücksichtigt, kann die Lernenden
in ihrem Resilienzvermögen stärken, wobei dies auch auf die
Sprachenlehrer/innen eine entsprechende positive Wirkung haben
kann. Sie nehmen den schrittweisen Lernfortschritt der Schüler/innen
wahr und werden dadurch optimistisch gestimmt und empfinden, dass
ihr Einsatz wertgeschätzt wird.
____________________
Grundvoraussetzung zu erfolgreichem Sprachenlernen ist der
kontinuierliche Aufbau einer positiven Einstellung und Haltung zum
Erwerb einer weiteren Sprache. Oft haben Lerner die entsprechenden
persönlichen Voraussetzungen zu einem erfolgreichen
Sprachenerwerb, wobei aber die tatsächlich erreichte Kompetenz nicht
mit den möglichen Voraussetzungen einhergeht. Erfolgreicher
Sprachenerwerb hängt sehr mit der persönlichen sich positiv
entwickelnden Haltung zum Erwerb einer weiteren Sprache
zusammen. In diesem Zusammenhang kann der Bezug mit dem von
Carol Dweck
103
beschriebenen Konzept einer „GROWTH
MINDSET” hergestellt werden. Carol Dweck stellt der „GROWTH
MINDSET” die „FIXED MINDSET” gegenüber.
In einer „FIXED MINDSET” vertrauen Menschen auf ihre
persönlichen Fähigkeiten, wie Talente und Intelligenz, als
vorgegebene Wege zum Erfolg. Misserfolge werden nicht
einkalkuliert und werden beim Eintreten z.T. durch äußere Umstände
begründet. In einer „GROWTH MINDSET” sind Menschen
überzeugt, dass sie auf der Basis ihrer Grundvoraussetzungen durch
Selbstverpflichtung und großem persönlichen Einsatz ihre Fähigkeiten
weiterentwickeln können. Dadurch werden Lernbereitschaft und
Widerstandsvermögen bei auftretenden Schwierigkeiten gesteigert
und führen schlussendlich zu einer erfolgreichen Weiterentwicklung
der persönlichen Kompetenzen. Wenn man nun Carol Dwecks
Konzept auf Sprachenlernen umlegt, ergibt sich bei FIXED
MINDSET folgende Grundhaltung des Sprachenlerners/der
Sprachenlernerin:
103
Vgl. dazu Dweck, C.S.: MIndset – The New Psychology to Success, Random
House, New York 2006.
182
• Talente sind vorgegeben.
• Man versagt, daher ist man ein Versager.
• Man geht Anstrengungen aus dem Weg.
• Man ignoriert Kritik.
• Persönliches Versagen ist das Versagen aller.
• Persönlicher Erfolg wird mit dem Versagen anderer in
Verbindung gebracht.
Dem gegenüber zeigt sich folgende Grundhaltung bei GROWTH
MINDSET:
• Herausforderungen treiben an.
• Schwierigkeiten stellen Herausforderungen dar.
• Man lernt aus Rückschlägen.
• Anstrengungen werden als Weg zum Erfolg gesehen.
• Kritik – wenn positiv – wird als Hilfestellung empfunden.
• Durch den Erfolg von anderen wird man persönlich inspiriert.
Das vorliegende Curriculum zielt auf ein GROWTH MINDSET ab.
Eine wesentliche Voraussetzung dazu ist die Eigenverantwortlichkeit
der Lernenden für das persönliche Sprachenwachstum. Dazu ist die
Segmentierung der Sprachlernfortschrittspfades im Sinne des
dargestellten STAIRS Konzept erforderlich, um ihnen einen Weg zum
erfolgreichen selbstverantwortenden Sprachenlernen vorzugeben.
Monitoring, Modelling und Scaffolding
104
Das L2 Curriculum geht von einer veränderten Rolle des Lehrens
und Lernens aus: Die Lehrer/innen schaffen durch motivierende,
klärende und helfende Anregungen, Denk- und Handlungsanstöße den
Rahmen für lebendige Lernsituationen. Sie beobachten und
dokumentieren die individuelle Lernentwicklung (Monitoring), sind
Lernvorbilder (Modelling) und bauen „Gerüste“ für die selbsttätige
Sprachentwicklung der Schülerinnen und Schüler (Scaffolding). Um
den Kindern einen für sie passenden Lernfortschrittspfad anbieten zu
können, ist es notwendig, den individuellen Entwicklungsbedarf zu
ermitteln. Die Lehrer/innen stellen die individuellen Leistungsstände
der Schüler/innen fest und dokumentieren prozessbegleitend deren
Sprachenwachstum. Auf der Basis dieser Diagnose werden den
Schülern/innen auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtete
Sprachlernmodelle angeboten, die die Grundlage für das Bauen von
Lerngerüsten darstellen. So können die Schüler/innen auf ihren
Lernfortschrittspfaden unterstützend begleitet werden. Dabei gehen
104
Vgl. dazu Ehrenhold-Knauf, A: „Dynamische Kompetenzen im Prozess des
Lehrens und Lernens im Bereich der 2. Sprache − L 2 Curriculum für Europäische
Schulen/Grundschule“, Unveröffentlichter Beitrag, Bielefeld April 2013.
183
die Lehrkräfte auf das Sprachkönnen der einzelnen Kinder ein und
bringen sie durch Nachfragen und Bereitstellung der benötigten
Sprachmittel weiter. Sie bieten aber auch Anregungen und setzen
Impulse für lebendige und sich zyklisch erweiternde Lernsituationen.
Neben der Vermittlung von Sprachkompetenz schließt Sprachbildung
weitere Bildungsbereiche und Bildungsprozesse ein. Dazu gehören
Kenntnis und Wertschätzung der neuen Sprache, der Literatur und der
Kultur anderer Länder
105
sowie die Ausprägung von Kritik- und
Argumentationsbereitschaft, Empathie, schließlich die Fähigkeit zum
vernetzten Denken. Der Erwerb einer neuen Sprache stärkt die
Persönlichkeit der Schüler/innen und vermittelt die Chance, neue
Erfahrungen zu machen.
Zusammenfassung und Ausblick
Das Curriculum für den Unterricht in einer zweiten Sprache an den
Europäischen Schulen zeigt neue Wege auf, Schüler und Schülerinnen
zu selbstbewusstem und selbstständigem Sprachenlernen
heranzuführen. Im Wesentlichen geht es darum, die Lernenden mit
jenen Kompetenzen auszustatten, die ihnen einen aktiven Zugang zu
einer zunächst fremden sprachlichen Umwelt ermöglichen. Auf der
Basis einer GROWTH MINDSET folgen die Lernenden einem
individuell ausgerichteten Sprachlernfortschrittspfad. Lehrer
segmentieren Lernschritte, geben sprachliche Modelle vor und setzen
auf die einzelne Lernerpersönlichkeit ausgerichtete Unterstützungs-
maßnahmen. Durch wertschätzendes Feedback werden Lernerfolge
verstärkt und damit Mut geschafft, die nächste Stufe von STAIRS zu
erreichen.
Dieses Konzept wird von einem sehr positiven Grundtenor getragen,
der schlussendlich auch auf die Sprachenlehrer/innen eine positive
Wirkung hat und die Sinnhaftigkeit ihrer unterrichtlichen Tätigkeit
unterstreicht.
Zukünftige Lehreraus- und -fortbildungsprogramme mögen diesem
aufgezeigten Weg Rechnung tragen. Auch hier sollte die
Prozesshaftigkeit der Kompetenzentwicklung im Vordergrund stehen.
Dies ist nur durch eine kontinuierliche begleitende Betreuung durch
die Lehrerfort- und -ausbildner möglich. Der Einsatz moderner
Kommunikationstechnologie im Sinne von ONLINE Programmen
könnte dabei von Vorteil sein. Es geht auch in der Lehreraus- und
fortbildung um die Entwicklung einer GROWTH MINDSET, die
Lehrer/innen in die Lage versetzt, den großen Herausforderungen an
die Persönlichkeits- und Sprachentwicklung der Kinder in einer global
vernetzten Welt gerecht zu werden.
105
Im neuen L2 Curriculum wird im Abschnitt 3.4. gesondert darauf eingegangen.
184
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Georgios Ypsilandis
A preliminary study on supportive feedback strategies in
language education
Introduction
The term feedback is probably the most known among a number of
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or evidence) to describe “a reaction, a response that is usually
triggered and received by the learner and provided by the teacher”, at
least in most cases of educational environments (Ypsilandis,
2002:171). As early as 1959 MacDonald described feedback as a
“control mechanism for signalling him (the learner) that his
responding is bringing him toward or taking him away from his
goal”(p.78). This concept of feedback is generally accepted by most
researches as an error correction and hypothesis testing mechanism
“so that the error is eliminated from further production” or to place it
in Long’s (1998:16) words “…explicit negative feedback, i.e. error
‘correction,’ etc”. Although at early stages feedback was provided in
the form of yes or no (or other methods of reward and punishment), a
number of different corrective feedback types have been suggested by
different scholars in the bibliography, such as, recasts, expansion
(Brown and Bellugi, 1964), repetition, backchannel cues,
metalinguistic, requests for clarifications, elicitation or negotiation (to
name a few). These are among those discussed in detail in Psaltou
(2004) and Ypsilandis (2006). The impact to learning for some of
these feedback types has been tested by experimental or empirical
research since the beginning of the programmed instruction
behaviourist Skinnerian theories, initially with not so convincing
results but lately with more concrete ones. This is reviewed in short
below, in section 2.1. Similarly, a number of adjectives have also been
added to the noun feedback, such as immediate (Skinner, 1954),
delayed, corrective, formal or informal, frequent (Gagne, 1977), direct
and indirect (Hendrickson (1978) and incidental (Hounsel, 1999). All
the above feedback types require student active participation in the
form of performance or response to a stimuli or a task. It may thus be
understood that, this corrective mechanism operates at a productive
stage of the learning process.
Although the aim of feedback provision has always been to support
learning, from the behaviourist era, the term supportive feedback has
initially been advocated in Ypsilandis (2002) and initially tested in
Ypsilandis (2006) to describe a different concept. Supportive
feedback, does not aim to reward or correct and repair the
188
performance of the learner but rather to assist the learning process at a
much earlier stage. It aims to offer support for the comprehension of
learning material (input) and further aid retention, and as such, it has a
different type of operation than its corrective namesake. Supportive
feedback does not require any output from the part of the student. The
student expresses his need to receive clarifications upon initial input
and the teacher, the software, a co-learner or a listener supports him
by providing explanations (supportive feedback). By that token, the
provision of supportive feedback to student inquiries is not a new
concept all together. Rather, it is a typical teacher reaction to students’
inquiries which is provided in the form of clarifications to new input.
This concept of feedback is beginning to receive some attention in the
psychology of learning (Menezes de Oliveira e Paiva, 2003) and it is
discussed in more detail in section 2 of this paper. It is at this point
that the main questions for this preliminary study are asked: a) what
are the best supportive feedback provision strategies that would assist
short and long term learning? b) Are all the supportive feedback
strategies equally beneficial for all learners irrespective of their
cognitive or learning style? c) Do all feedback provision strategies
equally engage the learner in the learning process? In most empirical
research studies of corrective feedback, student personality factors,
such as the cognitive or learning style of the learners, are not taken
into consideration. It is my view that these personal characteristics
may be worth tested as it is probable that interesting liaisons may be
uncovered of one feedback type over another.
The present study, which contains several pilots, was undertaken to
investigate success to the learner’s short and long-term memory
(dependent variable), a number of different teaching strategies
(independent variable tested) and the role of the learners’ cognitive
and learning style (intervening variable tested). The intervening
variable here is taken into consideration to offer a better, more refined
understanding about the relationship between the two main variables.
This paper initially offers a short presentation of the notion of
feedback and discusses findings of experimental or empirical research
mainly on corrective and less on supportive feedback. In the Method
section the tools and procedures created and followed to test our
hypothesis are presented and the analysis of results. At the last
(Discussion) section, findings are seen in relation to existing
knowledge on the subject.
The research questions aim to address the supportive feedback issue
both quantitatively and qualitatively, i.e. measure the effectiveness of
the specific strategies both in terms of volume (number of words
retained), and number of students engaging in the learning processes
in relation to the learners’ short and long term memory. By that token
189
this research may add to the discussion on the topic, by providing new
data resulting from the experiments conducted, and supply useful
insights to the language teacher or the designer of language teaching
software. Findings of this study and in particular identified patterns of
successful supportive feedback strategies would indirectly be able to
provide information about human brain functions related to language
learning and as such, add to the discussion on human brain operations
and further lead to a more refined research on the topic.
Feedback
In a short definition provided by McDonald (1959:75) of the notion
of feedback, as a “link between an information source and an
information user” one could identify the two major points related to
the behaviourist understanding of education, which seem to be
reappearing in most definitions provided later, i.e. the ‘information
source’ which is the teacher and the ‘information user’ which is the
learner. The idea behind this is that learners can only learn from
teachers, an assumption that was questioned much later. In
communication theory this link develops as a reaction from a receiver
(not necessarily a teacher) which helps the sender of a message “to
check on the efficiency of his communication” (Crystal 1985:119) or
“the response to efforts by the learner to communicate” (Ellis,
1985:296). Although the receiver is then understood not to be the
teacher the notion of feedback still works as a corrective and testing
hypothesis device. Feedback, in the related literature, is often
discussed through a set of binary divisions.
The positive / negative division. Behaviourist feedback operated in
the forms of reward and punishment which was later developed in
parallel as positive and negative feedback. Positive feedback would
then be understood as a reaction that would encourage someone to
repeat or expand on an action. The problem arises when an action is
not correct, accepted or expected. By contrast then, negative feedback
would be any information that would aim to error correction.
According to (Chaudron, 1988:150) this is delivered in different
layers: a) that of informing “the learner of the fact of error”, b) the
next which is “to elicit a revised response,” and finally c) to assure
that the error is corrected and does not reappear in the future. In all the
above layers of corrective negative feedback it becomes apparent that:
a) it requires an initial output from the part of the learner (productive
stage), b) it is provided predominantly by the teacher (or an external
source) and c) it aims at noticing, and then at short and long term
repetition or correction. It may be concluded at this stage that the
target of positive or negative feedback is purely pedagogical as the
final objective is to support the learning process. This division is
190
discussed in more detail in relation to theoretical stances and empirical
research findings in section 2.1 and attempts to answer the question as
to what kind of feedback should one offer.
The internal / external division. It becomes clear from most
references of feedback that this is typically provided by an external
source, i.e. the teacher, a co-speaker, a listener or a machine/computer
(external feedback). Internal feedback may by contrast then be thought
of as an internal mechanism of the individual which self-monitors his
outcome. Evidence for the existence of this mechanism could be the
fact that many people correct themselves automatically when they
speak without any external notice or when they write (rephrase or
edit). External corrective feedback, as it is understood by most
researchers, leaves little space for the internal mechanisms of the
learner to monitor and reformulate his initial hypotheses and
outcomes, although these internal procedures exist in all individuals
and seem to be triggered automatically inside the learners’ brains
(read results of Holley and King, 1971 in 2.1). The fact that these
internal feedback (to add another term to the already existed long list)
potentials of the learner were not taken into consideration is not
coincidental as, the essence of the pedagogy of language learning for
years was based on an understanding of the teacher (and later the
native speaker) as the only and unquestionable source of information
in the language classroom. Today, learners are accepted to be able to
learn by themselves from structured or authentic materials by
decoding and further by comparison with previous knowledge on the
subject, although lower language level learners are claimed to lack
sufficient knowledge for self-correction (Brown, 1991 and the other
citations reported in Ferris, 2006). The ability of self-correction is not
a question that can be answered in a binary (yes/no) approach as there
are other variables that may be intervening, some of which could be
previous linguistic experiences, the cognitive and the learning style or
the age of the learner. Inferencing and success of decoding may be
reasonably expected to increase as the language level and language
learning experiences grow and thus become more effective at later
stages of language instruction or acquisition. The skill and the process
of inferencing, which reveals the full linguistic potential of the learner
and which is “automatically activated in the human brain”, is a strong
indication of the potential of internal feedback (Tsopanoglou,
Ypsilandis and Mouti, 2014:47). The internal / external division refers
to the question of who should provide feedback and brings forward the
next division of direct and indirect feedback which builds on the
potential of the learner for self-correction.
The direct / indirect division. This division is related to the approach
of feedback provision. The terms suggested by Hendrickson (1978)
191
have been given different content by different scholars. Direct
feedback may be understood as a straight and immediate correction
mechanism in the hands of the teacher in various explicit modes,
while its opposite (indirect) operates as an indicator of a flaw without
any specification on the error (for more on this division, see Ferris
2005). Indirect feedback applies to the internal capacities of the
learner for error correction (internal feedback). The learner at this
instance uses his decoding skills and prior knowledge on the subject,
his knowledge of the target language, or his general knowledge of
languages. Self-correction could be activated either automatically or it
could be called to attention by an external source (guided). Indirect
feedback may thus be assumed as a mechanism guiding the learner to
activate his internal feedback capacities for self-correction. Finally,
Ferris (2006) and the citations within suggested the quality of error
type to be a criterion or a determinant for direct or indirect feedback,
while error gravity (weighting) and cognitive and learning style of the
individual could be more criteria added to this list.
The explicit / implicit division. This division can be seen in relation
to the two umbrella areas operating in language pedagogy, i.e. Foreign
Language Learning (FLL) and Second Language Acquisition (SLA).
By definition these two areas see feedback in two different modes.
FLL focuses on the explicit feedback (typically provided by the
teacher) which is expected to enhance the learning processes. SLA on
the other hand proclaims implicit feedback to assist acquisition, which
could be offered by any external source, possibly a co-speaker. The
position scholars have undertaken on this division are in some cases
connected to their initial stance in language pedagogy. Long (1996)
takes a middle stance and argues for environmental input in SLA and
suggests the terms positive and negative evidence (recasts, repetitions,
clarification requests, facial expressions, etc.) which on the surface
look parallels to the terms positive and negative feedback. Long
makes this distinction as in SLA there is not a typical teacher / learner
classroom situation and as a result no formal teaching and learning. In
his positive evidence however, there are no rewards but authentic or
modified (simplified or elaborated) acceptable language which works
by providing the speaker with models of acceptable utterances and
probably acts as a reinforcement device. Negative evidence operates
by offering direct or indirect information about what is unacceptable.
In Long (1991) and later in Long and Robinshon (1998,) a model of
reactive negative evidence follows the explicit / implicit division with
overt error correction (explicit) and communication breakdown or
recasts (simple or complex) for implicit. This is part of Long’s (1991)
and Long and Robinson’s (1998) theory of focus on form instruction
192
(read also Pool, 2005). The division here is related with the feedback
type to be chosen.
The corrective / supportive division. As pointed out earlier the
external corrective feedback (CF) mechanism aims to the noticing of a
flaw, the immediate correction by repetition of an acceptable /
expected version and to a more permanent long term correction of
unacceptable language. Supportive feedback (SF) differs significantly
by CF in a number of ways: a) SF aims to assist the learning process
without having to correct or require an outcome from the learner, b) it
operates at a much earlier stage of the learning process, that of
comprehension, and can be designed or be supplied with initial input,
c) it does not reward or punish, d) it has a pedagogical aim, to assist
the learning process by both quantity (increase the numbers of learners
who learn successfully or increase the amount of material learned
from initial input) and quality (make a better use of acquired
knowledge in practice and keep acquired knowledge in the long term
memory). As argued above SF could also be aimed to be guided and
be supplied internally, and further, it could be provided implicitly
(aiming at inferencing) or explicitly (with morhosyntactic
information). Finally, it could be presented with a direct strategy
approach or with an engaging developmental method (see Design3.1).
It seems necessary at this point to look at some of the findings of
empirical or experimental research on the topic, which concentrate on
the corrective feedback implementation hypothesis, as research on
supportive feedback is comparatively less and focusses on what
researchers in the past called clarifications.
Corrective feedback and research
Despite claims in the literature (Cathcart and Olson, 1976,
Kaufman 1991) of students desiring to receive corrective
feedback, research results are not conclusive as they have produced
mixed views of the effect correction has on learners’ errors. The oldest
view is rather discouraging. Dulay, Burt and Krashen (1982:35) find
student correction to be “immensely frustrating” and further present
some empirical studies to support their claim, which are offered below
in the next paragraph. This claim is also supported by Edge (1989)
who states that overt correction may discourage learning steps by
prohibiting students from experimenting with the language and work
out new and better ways of saying things. Finally, Chomsky (1975) in
his nativist theory also advocates against negative evidence and claims
that any changes resulting from negative evidence would be on
language behaviour and not on the learner’s grammars, which are the
result of positive linguistic evidence.
193
In a study by Cohen and Robbins (1976), error correction of written
university student works was found not to have influenced error
production. The authors attributed this finding to lack of quality and
systematicity of the corrections, supported also by Allwright’s (1975)
and Fanselow’s (1977) observations. In a more systematic study by
Hendrickson (1977) the result was however the same. The author did
not find any significant correlations in students’ written proficiency
between the systematic corrective feedback (all errors or a systematic
selective correction) and their correct use. The same conclusion is
reached by Plann (1977) in speech grammatical and morphological
errors (comparison between oral corrections with repetition and
formal teaching with explanations on the blackboard accompanied by
written exercises and drills). In the above studies: a) there was not any
distinction to error, i.e. between mistakes (lapsus calami) and errors
(lapsus liguae) (the latin terms were originally suggested by
Pertounias, E. in a discussion on errors), that is, between deviant
sentences as a result of processing limitations or speed (mistakes) and
lack of knowledge (errors), b) errors were of phonological or
syntactical origin (language form), c) errors were corrected by an
external source (the teacher) and little attention was paid to the
internal corrective mechanisms of the learner, and d) Dulay, Burt and
Krashen’s, Edge’s and Chomsky’s (to a certain extend) comments
were related to the psychological state (pressure) on learner while the
other studies concentrated on the learning outcome. The strongest
opposition against corrective feedback on grammar was expressed by
Truscott (1996) as reported in Ferris, 2006), who expresses the view
that the time spent on corrections in writing classes is indeed harmful,
as it reduces the time and energy that could be allocated on more
important concerns related to writing. In a study focussing on content
correction by Holley and King (1971) without any correction on form,
it was found that, in more than half of the cases of the sample used for
the study, participants corrected themselves and improved their
performance by being given uninterrupted time to rephrase their
responses (is this an instance of successful internal feedback?). These
studies and in particular the latter by Holley and Kind (1971) advocate
against corrective feedback or to no feedback provision at all while
the last study leaves space for internal feedback to be further tested.
Rebuttals to the above claims in more recent studies on corrective
feedback (negative evidence) theoretically relate to: a) the noticing
hypothesis (external in this case) which is claimed to function as an
attention getting device of the mismatch between learner outcome and
input (Gass, 1991:136). This hypothesis maintains that noticing is
required from the part of the learner for effective learning, which is
triggered by corrective feedback, and leads to a modification of
194
existing L2 (Gass and Varonis, 1994:299), while lack of this external
signalling would make “nothing in the target language…” to be
available “…for intake into a language learner’s existing system
unless it is consciously noticed.” Ellis (1991) claims that this
procedure includes three steps, noticing, comparing, and integrating,
b) the testing model hypothesis of acquisition by which the learner is
believed to formulate hypotheses about the TL which he further tests
vis a vis the target norm. This seems to be an internally triggered
possibly automatic, action which comes in support of Mc Donald’s
(1959:78) initial claim by which he declared the learner to be an
information-processing, goal directed, organism who wishes to
achieve certain desirable states and uses feedback to achieve his
personal goals. The testing model hypothesis denotes the learners’
internal will and active participation in the learning process while the
former (noticing) implies an external more conscious interference.
Ohta (2001) argues that if the correct form is provided, with corrective
feedback, learners are lead to comparison and hypothesis testing,
while if the correct form is not provided learners are directed to use
their own internal resources. Advocates of the above theories believe
that corrective feedback has a crucial role to play in second language
acquisition (Bley-Vroman, 1986, 1989) while frequent feedback can
be of “considerable value in increasing the efficiency of learning”
(Gagne, 1977:298). In support of negative evidence for the benefit of
learning is also White (1991:133) who comes to a conclusion by an
experimental study that “form-focused classroom instruction,
including negative evidence, is more effective in helping L2 learners
to arrive at the appropriate properties of English than positive input
alone.”
Several corrective feedback types have been tested either
empirically or experimentally with positive outcomes: a) students
improve their accuracy in L2 by receiving form-focussed instruction
and corrective feedback (Lightbown and Spada, 1990) or positive /
negative evidence (White 1991), b) explicit and implicit feedback
types were found to be beneficial and both leading to the learning of
abstract linguistic generalizations (Caroll and Swain 1993) with the
latter (providing the learner with implicit metalinguistic information),
scoring higher than the explicit, c) recasts were found to play a
positive role in L2 learning (Brock, Crookes, Day and Long, 1986;
Long, Inagaki and Ortega, 1998; Lyster, 2001), d) immediate
provision of feedback assists to the abandonment of the wrong form
and the acquisition of the correct version (Nicholas, Lightbown and
Spada, 2001), e) intensive recasts were found to present greater
increase at learners of higher developmental levels, than learners who
participated in interaction without intensive recasts (Mackey and
195
Philip 1998), f) fine-tuned feedback is more successful than teachers
corrective feedback (Han, 2001), and g) recasts were found to be the
most widely used form of feedback of the group teachers investigated
in a study by Lyster and Rada (1997).
Supportive feedback and research
Research on supportive feedback is comparatively less. It may be
worthwhile to mention two types of studies, the first under the term
clarifications and the second with the label supportive feedback.
Laboratory and classroom studies on clarifications are reported in
detail in DeKeyser (2006) where from some of the studies are
reviewed and presented in short.
Implicit and explicit explanations of new L2 material were studied
in a laboratory context. One of the earliest studies was N. Ellis (1993)
with three different types of clarifications to three different groups. It
was found that, the group which was offered implicit explanations, in
the form or numerous random examples of the phonological
phenomenon, was the fastest to judge the well-formedness of
sentences seen before, while it was the slowest to generalize this
knowledge in new sentences. The second group, which received
explicit rule explanations, revealed knowledge of the rules but little
ability to apply them in practice. The third group, which received both
explicit rule explanations and the same random examples as the first
group, performed well in explicit rule knowledge and grammaticality
judgements. It was the explicit rule treatment that outperformed the
other two groups in showing awareness of how rules apply to
examples. In an almost analogous experiment Michas and Berry
(1994) and de Graaf (1997), come to the same conclusions of the
advantages of explicit rule presentation in the pronunciation of Greek
and eXperanto words by English natives. The same conclusion is
reached by Alanen (1995) and DeKeyser (1995) in favour of the
explicit rule explanation treatment group.
Classrooms studies of explicit / implicit feedback treatment, reported
in DeKeyser (2006), are very few, namely Scott (1989, 1990),
VanPatten and Oikkenon (1996) and Levin (1969). In Scott’s (1989,
1990) studies the explicit rule groups registered a significant
advantage. Similar findings were witnessed in VanPatter and
Oikkenon (1996) although scores were not significantly different. In
Levin’s (1969) study no difference between the two treatments is
found although the explicit method was registered superior at all the
other intervening variables of the study (age, proficiency and aptitude
levels). For more details and more experimental and classroom
studies, read (DeKeyser, 2006). In Ypsilandis (2006), two supportive
feedback strategies are presented and experimentally tested. In his
196
study Ypsilandis argues that electronically hyperlinked supportive
feedback, proving morpho-syntactic information with the use of off-
screen tasks, seems to assist short and long-term memory. It may be
concluded so far that the explicit rule clarifications as supportive
feedback and negative feedback as a corrective mechanism seem to be
the most successive tools for feedback provision.
Method Design
This preliminary brief study is part of a large longitudinal research
which involves three repetitive experiments conducted in 2004, 2005,
and 2006, all following the same design and procedure with similar
tools (texts), investigating the effectiveness of feedback provision
strategies as a support mechanism for short and long-term memory. In
all experiments there is one group of subjects treated with the same
tool aiming to offer supportive feedback on vocabulary items.
Feedback strategies are tested in twos, the control strategy being the
one typically used in most language learning educational sites or
software (in the past), providing word definition and morphological
information in the target language (English), and the equivalent term
in the subjects’ mother tongue. This is a supportive feedback strategy
used in CDs dedicated language learning in the past, when the tool
was designed for a local market. Today, most dedicated language
learning sites use the same strategy and either present information in
the target language or through the support of several languages where
from the learner could select the one that better suits him. The
experimental supportive feedback strategies tested in various
repetitive experiments involved: a) a successive approximations
strategy attempting to engage the learner in a hybrid discussion (this
strategy is proclaimed to be beneficial by Keislar and McNeil (1962)
in contract to the response easily demonstrated), b) a successive
approximation strategy aiming at inferencing from the part of the
learner, c) a keyword target language / mother tongue method of
vocabulary provision accompanied with target language non-linguistic
image associations, d) awareness and explicit rules with memory
techniques provided (employing synonyms, antonyms, morphology),
e) Inferencing through effort of processing techniques, f) a
meaningfulness of processing technique with personal significance, g)
inferencing in multiple choice format, h) an off screen task, i)
definition and morphological analysis plus one of the following
vocabulary teaching strategies (sound association, effort of processing
with personal experiences and meaningfulness of processing). Some
of these results were presented very briefly at a conference keynote in
Greece (Ypsilandis, 2006). These supportive provision strategies were
hypertext and linked to a number of words equally and evenly
197
distributed in an electronically presented text. Short and long-term
memory is measured by retention of the vocabulary item after one
hour and after one week. Liaisons between success of strategy and
subjects’ cognitive and learning style, preferred feedback strategy,
opinions of best feedback strategy for learning were also registered
and tested. Cognitive and learning styles of subjects were decoded
through the use of relevant questionnaires translated in the subjects’
mother tongue (those in Brown, 1994; Richard and Lockhard, 1996;
Cohen and Oxford, 2001). Strategies from (a) to (h) were used in the
first case, (h) used tested in the second case, and (i) was examined in
the third case. A signalling / attention device was also tested in one of
the cases to measure whether that would have an effect on learning
outcomes.
Procedure
The procedure was divided in different stages:
a) The reconnaissance stage, in which it was attempted to locate,
1) the CS and the LS of the subjects involved, and 2) the list of
vocabulary items (List A) provided to the subjects in order for them to
provide their equivalent in their mother tongue. Proceeding in this
manner allowed us to identify items that were known to the subjects
prior to this experiment. In this case the word was eliminated and
subsequently not considered in the study.
b) The treatment stage, in which subjects read a text (taken from a
textbook of English from a known publisher) which appeared on a
computer screen together with the hypertexted supportive feedback
provision strategies. In this text the words from list A appeared
together with supportive explanatory feedback for each word. Each
time half the words were supported by traditionally provided feedback
while the other half with the experimental. There were no time
constraints.
c) The short memory stage, in which (after an hour) subjects were
asked to provide the equivalent, in their mother tongue of, as many as
they could remember, vocabulary items of the same list used at the
reconnaissance stage.
d) The preference stage which followed immediately the short
memory stage, in which subjects were asked to answer introspective
questions with the use a small questionnaire registering their learning
preferences of supportive feedback, and their views of best feedback
provision strategy for learning.
e) The long term memory stage (after two weeks), in which
subjects were asked to provide the equivalent, in their mother tongue
of, as many as they could remember, vocabulary items of the same list
used at the reconnaissance and short term memory stage.
198
Apparatus and Materials
There were two types of tools that were used in this study, which are
classified into two categories according to the technological means
these were provided. Thus, in no-technology, paper format tools there
were, list A of vocabulary items where subjects were registering the
equivalents in their mother tongue before and after the treatment
period, the questionnaires aiming to locate the participants’ cognitive
and learning style, offered in Brown (1994), Richard and Lockhard
(1996) and Cohen and Oxford (2001), and the introspective
questionnaire registering the subjects’ preferences in receiving
supportive feedback together with their views of best supportive
feedback strategy for learning. In a technologically more advanced
tool there was an html document providing a different text in each of
the three cases, containing the text with the 48 hyper-texted words
with supportive feedback on selected vocabulary items.
The subjects
The subjects were all university students of the foreign languages
departments of the Aristotle University of Thessaloniki. A total of 66
subjects were involved in all three experiments, 40 men and 26
women. 34 subjects in the first experiment, 17 subjects in the second
case, and 15 subjects in the last experiment. Their age varied between
19 and 41 years.
Analysis
A descriptive analysis is presented in 5 sections offering scores in
the form of actual numbers and percentages. Initially the actual
number of words retained after an hour and after one week is
presented for all three experiments, findings in relation to subjects’
individual scores are following, results of comparisons between the
variables (traditional and experimental supportive feedback strategies)
are later offered, scores related to the cognitive and learning style of
the participants and the subjects’ learning preferences are finally
discussed.
1. Scores of the independent variables tested. The following table
presents the results of words retained after one hour and after one
week. The first column shows the study case (experiment), the second
column presents the supportive feedback strategy tested, the third
column gives the 100% of word occurrences, i.e. words (minus known
words) multiplied by number of subjects participated in each study,
the fourth and fifth columns show the words retained after one hour
and after one week together with the relevant percentage from the
total.
199
CASE MODE WORDS ONE
HOUR
ONE
WEEK
1
st
Experiment
Traditional 269
(100%)
96
(35.6%)
47
(17.4%)
Experimental 269
(100%)
82
(30.4%)
47
(17.4%)
2
nd
Experiment
Traditional 270
(100%)
198
(73.3%)
180
(66.6%)
Experimental 270
(100%)
216
(80%)
216
(80%)
3
rd
Experiment
Traditional 240
(100%)
82
(34.1%)
68
(28.3%)
Experimental 240
(100%)
86
(35.8%)
63
(26.2%)
From the above table it is possible to note:
a) There is no case of 100% retainment in all experiments. Words
remembered begin to drop as early as one hour after the treatment and
continue to drop significantly after one week [except the case of the
second experiment which is presented in section (e), below].
b) Drop after an hour. In experiments one and three retainment
after one hour is relatively close, irrespective of the supportive
strategy used. The drop is considerably high in all cases varying from
187 to 154 word occurrences missed. This constitutes a drop between
79.6% and 64.2%. May that be indicative of word retainment for those
who learn a language through dedicated language teaching software?
c) Drop after one week. In all cases of the first and third
experiment word drop continues after one week irrespective of the
supportive feedback strategy employed. The drop is relatively small in
all cases and varies between 5.8% and 18.2%.
d) Final retainment. In all cases of the first and third experiment,
final word retainment is very low, irrespective of the treatment
strategy used. It varies from 17.4% to 28.3% of the initial total of
100%.
e) Experiment two was kept to be analysed separately as
retainment is significantly higher than in the other two experiments.
Initial, one hour later, retainment remains at 73.3% for the traditional
supportive feedback provision strategy and at an 80% retainment for
the experimental method. Interestingly, the retainment after a week
remains high also for the traditional supportive feedback strategy
(TSFS) at 66.6% with a loss of only 6.7%. Finally, notice that the
experimental supportive feedback strategy (ESFS) in this experiment,
which involved an off-screen task remains the same after one week.
200
f) Word retainment after one hour is always higher than after one
week.
g) The TSFS performed equally well to the ESFS in all three
experiments while in the first experiment it outperformed the
experimental in the after one hour retainment.
h) Statistical correlations pursued in twos independently in each
experiment did not seem to favour one strategy over another. The
same result was found for the attention signalling device which
seemed to have no impact on the learning outcomes of the
participants.
2. Findings in relation to subjects’ individual scores. 41.1% of
the subjects scored the same after one hour and after one week, in both
the variables tested, in all experiments, including cases of subjects
who found less than one word. A 70.5% of the subjects participated in
the study, found less than one word with the traditional supportive
feedback strategy while the score is significantly lower at 55.8% for
the experimental variable. Next comparison, which investigated the
difference between subjects who found more than three words showed
scores of 26.4% of the subjects for the traditional TSFS and 47% for
the ESFS.
3. Comparisons between the two variables. A paired sample t-test
was employed with the use of SPSS to determine whether there is a
significant difference between the average values of the same
measurement, made under the two different conditions in each
experiment separately. This did not reveal any statistically significant
differences between the independent variables tested.
4. Scores related to the cognitive and learning style of the
participants. Out of the sixty six (66) subjects participated in all
studies, a number of different cognitive styles were listed. Following
the extroverted / introverted division, it was found that 70.5% of the
participants were extroverted, 5.8% introverted and 8.8%registered as
middle. The intuitive / concrete division provided the following
scores: 35.2% were found to be intuitive, 23.5% concrete and 41.1%
middle. In the brain orientation dominance test: 14.7% were found left
to be brained, 20.5% moderately left brained, 29.4% with no particular
dominance, 23.5% moderately right brained, and an 8.8% with a clear
right brain dominance. As far as the openness / closure division, it was
found that 44.1% were found to be open, 20.5% had both inclinations
and 35.2 were closed. A number of learning styles were also listed. A
47% was found to be visual, 5.8% visual and hands-on, 5.8% visual
and auditory, 23.5% hands-on, 5.8% auditory and hands-on, 2.9%
auditory and hands-on, and finally an 8.8% was found to maintain all
three cognitive styles. Out of those subjects who retained more than
three words after one week with the TSFS 57.1% were visual and
201
14.2% were hands-on. Out of those subjects who retained more than
three words after one week with the ESFS, 28.5% were hands-on,
28.5% were visual and 14.2 used all three. The other percentages are
insignificant to register. Statistical correlations between this variable
and success retainment did not show any statistically significant
correlations, perhaps due to the very low number of participants for
every individual case.
5. Scores related to subject’s learning preferences. 20.5% of the
subjects claimed to learn better with the TSFS while 79.5% selected
the ESFS. It was however recorded that only for a 39.5% of the
subjects their claims were supported by the evidence as the 70.3% was
uncovered to learn better from the other SFS they selected. Only the
29.7% was able to trace the SFS they were actually scoring better
with. 94.1% recognized that engaging feedback was best to assist
knowledge although there were cases of participants scoring higher
with the TSFS.
Conclusion − Discussion
Although the initial hypotheses have not been supported by the
evidence in this preliminary study, a number of significant
conclusions can be made and are presented below in the hope that they
are found fruitful by language teachers and language learning software
designers. The design and the procedure of the study did not present
any problems for the application of the experiments and the collection
of data relating to the hypothesis, although an external and internal
reliability test was not pursued at this stage. Despite the limitations of
this study offered below, a number of conclusions could be made.
1. Results from point (a) in the analysis show that there is a
significant drop of words retained in all pilots. This shows clearly that
the human brain is not able to retain all words encountered,
irrespective of the supportive feedback strategy, or that it (the brain)
selects the words to retain. In either case it becomes clear, and it might
be considered as an unquestionable finding, that not everything taught
remains in the brains of the students, irrespective of the supportive
feedback strategy used.
2. Results from point (f) in the analysis clarify that short term is
always higher than long term retainment. This clearly signifies that
eliciting an immediate revised response from the learner after
corrective feedback is provided, as it is suggested by Chaudron
(1988), does not guarantee long term retainment. It also shows that
again the brain maintains a selective memory in favour of certain
words.
3. The surprisingly high retention of words in the second
experiment, on the surface, it may indicate the success of this ESFS. A
202
closer look however, uncovers that the same result is found for the
TSFS as well. Thus, at this stage it cannot be interpreted to support
our initial hypothesis of expected difference resulting from the SFS
employed. It may relate to the words selected to be tested and the
language level of the subject in this study (difficulty index of words
being closer to the language level of those participants).
4. Although the actual number of words retained was not
significantly higher in terms of statistic comparisons, the number of
learners retaining more words with the ESFSs was significantly higher
in absolute numbers and percentages (almost double). This is a clear
indication that the ESFSs used in all experiments invited more
learners in the learning process while it proved to have a better
distribution in the learning style of the subjects (section four of the
analysis).
5. Findings related to the cognitive and learning style showed that
the citizens of Greece which participated in this study are extroverted,
split between openness and closure, split between intuitive and
concrete with both, left and right brain dominance. The dominant
learning style was registered to be visual and hands-on. It should be
noted here that most subjects respond to this questionnaires by
offering a vision of themselves (how they like to see themselves)
rather than what they truly are.
6. Findings related to the subjects’ actual scores preference, for
SFS and best perceived SFS for learning, clearly indicate that these
learners were not aware of the feedback strategy they learned better.
It should be noted here that the study on feedback (supportive and
corrective) is a key issue in language education research because it
may provide valuable information that would help the language
teacher better shape his teaching and corrective strategies and further,
it may lead to inferences about the processes which take place within
the human brain. This is supported by most learning theorists
discussed in the book by Olson and Hergenhahn (2007: 3) who agree
in that “the learning process cannot be studied directly; instead, its
nature can only be inferred from changes in behaviour.” Olson and
Hergenhahn (ibid.) see this process as an intervening variable which
occurs between the dependent variable (the behavioural changes) and
the independent variables (observed stimuli). It is suggested by the
authors that the “independent variables cause a change in the
intervening variable (learning), which in turn causes a change in the
dependent variable (behaviour).”
Shortcomings. Among the shortcomings of this research are: a) the
words selected to be tested were not all of the same size or number of
syllables, b) the words were different in each experiment and it was
not possible to arrive at solid conclusions with higher validity (results
203
being compatible for all the subjects’ population in this study). Results
would have been clearer if words remained the same as a control
variable in all three cases, c) the total number of subjects involved in
this preliminary study is too small to arrive to any firm conclusions, or
statistically significant results, except for the point (1) made above, d)
the language level of the subjects needs to be controlled and seen in
relation to the difficulty index of the words selected in such
experiments as these may produce faulty results and jeopardize
research reliability and validity, e) external and internal reliability of
the results was not tested, and finally f) there were not enough items
of the same strategy used in all three experiments, mainly in the first
example (too many strategies tested at the same time). It would seem
advisable to test each strategy separately and in comparison to same
traditional.
Further research. In relation to conclusion one, it would be
interesting to find out on what criteria word retainment selections are
made in the human brain, as this finding would provide information of
brain functions to language input in general. In relation to conclusion
point four, the off-screen task as a SFS may need to be further tested
with a greater number of subjects with words of higher index
difficulty (all of the same level) than the language level of the
subjects.
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208
Rita Franceschini
Neurobiologie der Mehrsprachigkeit und didaktische
Umsetzungen: ein Spagat
Die neurobiologische Forschung zur Zwei- und Mehrsprachigkeit
bringt immer mehr Licht in ein komplexes Puzzle, das sich langsam
zu einem Bild zu fügen scheint. Im Verlauf der letzten 20 Jahre, in
etwa, wurde deutlich, dass die genauen Lokalisierungen nach
Sprachen aufzugeben ist und man dem System von Netzwerken
nachgehen muss. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht erwiesen sich
dabei die klassischen ‘aristotelischen’ Grammatikkategorien als
zunehmend brüchig, da das Gehirn mit anderen Prioritäten und
Kategorisierungen zu operieren scheint (schon Damasio et al. 1996).
Es wird zunehmend deutlich, dass Sprachen für das Gehirn primär
Prozesse sind und deshalb ein Modell des Zusammenspiels von
einzeln zu lokalisierenden Einzelsprachen zu verwerfen ist.
Es waren die neuen bildgebenden Verfahren (in den Anfängen
PET, dann fMRI, MEG etc. und kombinierte Verfahren
106
), die
herkömmliche Vorstellungen zur Repräsentation von Sprache im
Gehirn durcheinander gewirbelt haben; und dies umso mehr, wie
Studien zur Sprachverarbeitung von Zweisprachigen publiziert
wurden (bahnbrechend dazu Kim et al. 1997, ausgeweitet auf
Dreisprachige u.a. Wattendorf et al. 2001, 2012, Bloch et al. 2009,
Videsott et al. 2010).
1. Der Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Disziplinen
Die Fülle der Arbeiten – auch nur bezogen auf Forschungen zur
Zwei- und Mehrsprachigkeit – lässt sich heute nicht mehr leicht
zusammenfassen, außer, man grenzt die Fragestellungen stark ein (s.
dazu Versuche: Franceschini/Zappatore/Nitsch 2003, France-
schini/Videsott 2014, Rajani et al. 2011). Viele neurobiologische
Studien lassen Umrisse erkennen, sodass Schritt für Schritt eine
‚Grammatik des Gehirns’ erstellt werden könnte: Vertiefte Kenntnisse
zur Funktionsweise der verschiedenen Netzwerke fügen sich langsam
zusammen (für ein Modell s. Abutalebi/Green 2007).
Einige Erkenntnisse könnten auch für eine praktische Umsetzung
herbeigezogen werden. Wichtig wäre hierzu, dass in einem
106
Häufig verwendet: Zeitlich auflösend: MEG=Magnetenzephalogramm,
ERPs=event-related potentials; räumlich auflösend: fMRI=functional Magnetic
Resonance Imaging (funktionelle Magnetresonanz), PET=Positron Emission
Tomography.
209
Forschungsprojekt von Anfang an in interdisziplinären
Arbeitsgruppen vorgegangen wird, sodass bspw. didaktisch
umsetzbare Perspektiven Berücksichtigung finden könnten. Doch zur
Zeit – wir schreiben das Jahr 2014 – ist eine solche didaktische
Umsetzung neurobiologischer Grundlagen nur in Ansätzen oder mit
Gedankensprüngen möglich, weil die Erkenntnisse aus sehr
unterschiedlichen wissenschaftlichen Welten stammen, die noch
lernen müssen, wie man vertieft miteinander Fragestellungen
entwickelt. Neurobiologische Studien entstehen in einem
naturwissenschaftlichen, experimentellen Paradigma. Die
Fragestellungen müssen dabei unterteilt werden in messbare
Aufgaben, die mit den verwendeten Methoden, die mittels hoch
auflösender Apparaturen operieren (zeitlich wie örtlich
unterschiedlich gut auflösend, s. Fußnote 106), vereinbar sind. Die
Resultate sind meist atomistisch, sehr spezifisch – ‚kleinräumig’
könnte man geneigt sein zu sagen.
Meist brauchten solche neurobiologischen Forschungen und deren
Veröffentlichungen (s. bspw. die Datenbank PubMed) eine
‚Übersetzung’ in die Sprache einer anderen Disziplin, sie bedürfen
eines erklärenden Brückenschlags.
107
Beim Forschungsdesign gilt es,
die Fragestellungen der einen Disziplin mit den Methoden der anderen
umzusetzen, was meiner Erfahrung nach nur selten ohne Abstriche
und Anpassungen möglich ist: Viele Fragestellungen der einen
Disziplin – bspw. Sprachwissenschaft – sind nicht ohne weiteres mit
den o.g. Methoden umsetzbar.
Seit Mitte der 90er Jahre hatte ich die Möglichkeit, in
transdisziplinären Arbeitsgruppen mitzuwirken: in Basel, an der
Universität des Saarlandes und in Bozen. Die Fragestellung war
immer eingegrenzt auf die Erforschung neurobiologischer Korrelate
der Mehrsprachigkeit in gesunden Probanden. Dabei sind wir jeweils
von einem funktionalen Verständnis von Mehrsprachigkeit
ausgegangen, die Mehrsprachigkeit als eine sozial und kulturell in
einem Gebiet verankerte Kommunikationspraxis sieht, die das Leben
und den Umgang mit Sprache prägt.
Eine Definition von Mehrsprachigkeit kann heute etwa wie folgt
formuliert werden:
107
Speziell für die Perspektive, die hier in der Folge interessieren wird – grob
gesprochen: neurobiologische Grundlagen der Mehrsprachigkeit –, sind bspw. die
Zeitschriften „Bilingualism: Language and Cognition“ und „Brain and Language”
spezialisiert, die Studien aus mehreren methodischen Richtungen veröffentlichen.
Für einen gelungenen Brückenschlag s. auch http://www.znl-ulm.de/ (2.9.2014).
210
„The term/concept of multilingualism is to be understood as the
capacity of societies, institutions, groups and individuals to
engage on a regular basis in space and time with more than one
language in everyday life.
Multilingualism is a product of the fundamental human ability to
communicate in a number of languages. Operational distinctions
may then be drawn between social, institutional, discursive and
individual multilingualism.
The term multilingualism is used to designate a phenomenon
embedded in the cultural habits of a specific group, which are
characterised by significant inter- and intra-cultural sensitivity.”
(Franceschini 2009: 33-34)
Nimmt man das Individuum und seine mehrsprachige Kompetenz in
den Fokus, dann sollte der funktional unterschiedliche Gebrauch von
Sprachen berücksichtigt werden, wie bspw.:
den flexiblen Gebrauch mehrerer Sprachen (wie bspw. code
switching, code mixing);
die Fähigkeit zu übersetzen;
die Transferleistungen von einer Sprache in die andere,
u.a.m..
108
In der Studie der Basler Gruppe – und dann auch in den
nachfolgenden Studien –, wurden die Sprachkompetenzen jeder
einzelnen Person eingehend – und nicht nur mittels Sprachtest –
abgeklärt. Die Auswertung qualitativ orientierter, extensiv narrativer
Sprachbiographie
109
haben dazu verholfen, Gruppen zu bilden, die
miteinander auch qualitative Eigenschaften teilen: nicht nur schlicht in
welchem Alter eine Sprache erworben wurde, sondern auch in
welchem Kontext (in der Familie, oder über den Kontakt mit dem
außerfamiliären Umfeld, simultan oder sukzessiv) und auf welche Art
diese erworben wurde (schulisch oder überwiegend außerschulisch
durch Kontakt, sind die Personen eher explizite oder implizite Lerner
etc.). Diese Kategorien schlagen sich – so wie wir nachweisen
konnten – in unterschiedlichen Gehirnaktivitäten der mehrsprachigen
Personen nieder (Bloch et al. 2009, Wattendorf et al. 2001, 2014).
Viele Geschichten gäbe es zu erzählen, von welchen Annahmen
wir jeweils ausgegangen waren und was davon heute noch übrig ist.
Schnelllebig ist dieses Forschungsgebiet, und überaus dynamisch. Es
108
Vivian Cook hat in einem ähnlichen Sinne den Begriff Multi-competence geprägt
(s. Cook 1992, Cook/Li Wei (in press); zur Genese des Begriffs und seiner
Abgrenzung zur Mehrsprachigkeit s. Franceschini 2011).
109
Unter Sprachbiographien verstehen wir narrative Interviews, die sich auf das
eigene Erleben von Sprachen beziehen. S. dazu, auch im spezifischen Falle unserer
Untersuchungen bezogen: Franceschini 2001, Fünfschilling 1998, Miecznikowsi
2001, Franceschini/Miecznikowsi 2004.
211
sollen hier lediglich einige Resultate referiert werden, die – wie uns
scheint – zu umsetzbaren Rückschlüssen für die Schulpraxis führen
können.
2. Die positiven, kollateralen Effekte der Mehrsprachigkeit auf die
Kognition bei Kindern
Wenn sich neurowissenschaftliche Studien mit Mehrsprachigkeit
befassen, ist die Aufmerksamkeit überwiegend – ja fast ausschließlich
– auf die Kompetenz von Zweisprachigen gerichtet. Wenige
Untersuchungen sind dreisprachigen Personen gewidmet (darunter:
Bloch et al. 2009, Wattendorf et al. 2001 und 2012, Videsott et al.
2010, Videsott 2011, Videsott et al. 2012).
Bahnbrechend war für den gesamten Bereich die Studie von Kim et al.
1997 an gesunden Probanden, in welcher erstmals mittels fMRI der
Durchbruch gelang mit dem Nachweis, dass eine zweite Sprache (L2),
die spät erworben wird, auf ein anderes neuronales Substrat zugreift
als die Erstsprache (L1): Bei Zweitsprachen wird ein von der L1 zum
Teil abgesetztes Gehirnreal aktiv.
Darauf aufbauend hatten wir eine Studie mit dreisprachigen Personen
konzipiert.
110
Dabei wurde ersichtlich, dass jene, die vor ihrem dritten
Altersjahr einer zweiten Sprache ausgesetzt waren, über ein Netzwerk
in einem Teil des sog. Broca-Areals
111
verfügen, das sich den später
erworbenen Sprachen anpasst, d.h. dieses Areal ist „sufficiently
adaptable to allow the integration of later learned languages”
(Wattendorf et al. 2001: 624). Mit anderen Worten: Wenn diese
frühen Zweisprachigen später eine dritte Sprache (L3) erwerben,
‚dockt’ diese an die anderen Sprachen an, die früh erworben wurden.
Diejenigen Personen, die hingegen einsprachig aufgewachsen und
später eine zweite und dritte Sprache erwerben (in unserer
Untersuchung nach dem Alter von 9 Jahren), greifen für die L2 und
L3 auf ein davon abgesetztes neuronales Substrat zu. Sie bauen für die
110
Es handelt sich um das Projekt „The multilingual brain“, das 1998 an der
Universität Basel begonnen wurde. Der Forschungsgruppe gehörten an: Constantine
Bloch, Rita Franceschini, Sven Haller, Anelis Kaiser, Esther Kuenzli, Daniela
Zappatore, Birgit Westermann, Elise Wattendorf, Georges Lüdi, Ernst-Wilhelm
Radue. Geleitet wurde die Gruppe von Cordula Nitsch (Anatomisches Institut der
Universität Basel). Cfr. Wattendorf et al. 2001, Bloch et al. 2009, Wattendorf et al.
2014.
111
Genauer: im Brodmann-Areal (=BA) 44. Aufgrund anderer Studien zur Syntax
kann man annehmen, dass hier auch generellere Sprachfähigkeiten repräsentiert
sind: So wiesen schon bspw. Friederici et al. (2000) nach, dass bestimmte Areale,
die man grob zum Broca-Areal rechnen kann (genauer: BA 44) beim syntaktischen
und phonologischen Prozessieren stark involviert sind, während das BA 45 bei
lexikalischen Prozessen und semantischem Prozessieren aktiv wird. Siehe auch früh
Dapretto/Bookheimer 1999.
212
L2 und der L3 ein neues Netzwerk auf, ‚neben’ demjenigen für die
L1. Der Zugriff auf das primäre, in der frühen Kindheit angelegte
Netzwerk ist den ‚Spätlernern’ demnach nicht mehr in gleicher Weise
möglich (s. Wattendorf et al. 2001, 2014, Bloch et al. 2009).
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Areale, die wir
untersucht haben, sich in Bezug auf Unterschiede zwischen früh und
spät erworbenen Sprachen sensibel verhalten: Frühe Mehrsprachige
bauen ein Netzwerk auf, das anpassungsfähig genug ist, um später im
Leben die L3 zu integrieren. Spät mehrsprachige Personen müssen im
Broca-Areal für die L2 und L3 ein zusätzliches Substrat aufbauen. Bei
den Frühmehrsprachigen sind die Sprachsysteme untereinander stark
verbunden, bei Spätmehrsprachigen sind sie getrennt(er). Ob Sprachen
früh oder spät erworben worden sind, scheint deshalb für das Gehirn
eine wichtige Rolle zu spielen; und ebenso spielt eine Rolle, wie gut
man seine Sprachen beherrscht. Dies belegen wiederum andere
Studien (bspw. schon Perani et al. 1998, Perani 2003): Beherrscht man
Sprachen sehr gut, dann sind sie nicht voneinander zu unterscheiden.
Spät erworbene Sprachen können – laut den Ergebnissen dieser fMRI-
Studien – wie eine Erstsprache aussehen, wenn die Kompetenz in der
L2 sehr hoch ist. Auch dies kann als Hinweis auf die hohe Plastizität
des Gehirns gewertet werden: Hier zeigt sie sich beim Umgang mit
Sprache. Der Stellenwert einer Sprache – mitsamt dem dazugehörigen
neuronalen Substrat – kann sich im Laufe des Lebens verändern.
Dass die Prozessierung von Sprache bei zwei- oder mehrsprachigen
Personen anders ausfällt als bei Einsprachigen, kann damit in
Verbindung gebracht werden, dass die Input-Daten für eine bilingual
aufwachsende Person variabler sind (s. aus anderer Sicht dazu
Thomason/Kaufman 1988: 164), da sie ihre sprachlichen Erfahrungen
über zwei oder mehrere Sprachen hinweg macht. Daraus lassen sich
auch einige Defizite von Bilingualen erklären (s. bspw. Luo et al.
2010), wie beispielsweise die längeren Reaktionszeiten beim
schnellem lexikalischen Abruf und beim Benennen von Bildern, weil
beständig Abgleichungen zwischen den sprachlichen Kodierungen in
den beherrschten Sprachen stattfinden müssen.
Sicher ist, dass der Input für mehrsprachig Aufwachsende reicher ist,
somit eine mehrfache Kodierung von gleichen Konzepten stattfindet.
Damit lässt sich auch der positive Transfer erklären, von dem im
Zusammenhang mit der CLIL-Methode (Content and Language
Integrated Learning) öfters gesprochen wird: In dieser Art von
Unterricht wird ein Konzept in der Regel über zwei Sprachen
erworben und gefestigt, nicht nur über den Zugang über eine Sprache.
Die Vernetzung wird somit dichter. Lernen über mehrere Sprachen
hinweg trägt somit zu einer nachhaltigen Verankerung bei, vernetzt
die Konzepte untereinander über mehrere ‚Zugänge’. Was auf den
213
ersten Blick kontraintuitiv und erschwerend erscheint, nämlich über
mehrere verschiedene Sprachen einen Sachverhalt zu erwerben, ist für
die kognitive Verankerung scheinbar effizienter, weil nachhaltiger.
Auch Verhaltensdaten und Lebensberichte können mit obigen
Befunden in Verbindung gebracht werden: In den o.g.
Sprachbiographien erzählen Personen oft, dass ihnen der Erwerb der
vierten fünften etc. Sprache leicht gefallen ist, und dies sagen
vermehrt diejenigen, die früh mit zwei Sprachen aufgewachsen sind
(Franceschini 2002, Franceschini, Rita/Miecznikowski 2004).
In den letzten Jahren hat eine Forschungsfrage viel Interesse geweckt:
Nämlich der Zusammenhang von kognitiven Fähigkeiten und
Mehrsprachigkeit, v.a. seit in Verhaltensstudien, in denen ein- und
zweisprachige Personen verglichen wurden, man auf unerwartete,
kognitive Vorteile gestoßen ist. Die Runde um die Welt hat der
Befund gemacht, dass generell Mehrsprachigkeit im Alter
Demenzerscheinungen verzögert (s. inter alia Bialystock et al. 2004).
Mehrsprachigkeit hat demnach auch Auswirkungen auf nicht-
sprachliche, allgemeine Fähigkeiten, da Netzwerke, die
Sprachfähigkeiten zugrunde liegen, auch mit Netzwerken in
Verbindung stehen, die zur Ausführung anderer Aufgaben genutzt
werden. Auch hier zeigt sich, dass Sprachen für das Gehirn nicht Orte
sind, wie manchmal suggeriert wird, sondern Prozesse. Aktiviert man
mit unterschiedlichen Tests sprachliche Anteile, wird auf
unterschiedliche Netzwerke zugegriffen, welche mit anderen
Fähigkeiten, die auch nicht-sprachlicher Natur sein können, in
Verbindung stehen: Oft und wiederholt ein Netzwerk zu aktivieren
bedeutet deshalb auch weitere Netzwerke mit zu bedienen, die für
andere, bspw. nicht-sprachliche Aufgaben benötigt werden.
So wurde mehrfach bewiesen, dass im Vergleich zu Einsprachigen
bilinguale Personen in Aufgaben, bei der die Aufmerksamkeit und die
Entscheidungsfähigkeit stark genutzt werden, schneller und akkurater
präziser sind. Ein validerter Test, der dies misst, ist der ANT-Test
(Attentional Netwok Test-ANT, auch Flanker-Test genannt). Die o.g.
Untersuchungen wurden dabei jeweils mit Zweisprachigen
durchgeführt, die Resultate dann einer Gruppe von Einsprachigen
gegenübergestellt.
Seit langem wollte man wissen, wie sich diese positiven Effekte
innerhalb von mehrsprachigen Personen auswirken, welche
Zusammenhänge sich dabei ergeben. Nur wenn man innerhalb einer
mehrsprachigen Gruppe weiter differenzieren kann, ist es möglich, die
Frage zu klären, womit es denn nun genau zu tun hat, dass
Mehrsprachige in diesen kognitiven Test besser abschneiden. Und vor
allem: Wie entwickeln sich diese? Um solche Fragestellungen zu
bearbeiten, wäre es ideal, eine mehrsprachig heranwachsende
214
Population untersuchen zu können. Doch wo findet man
mehrsprachige Kinder?
Im Fall Südtirols liegt es nahe, sich auf die ladinischen Täler zu
beziehen, in denen obligatorisch in einem paritätischen Schulsystem
unterrichtet wird. Es wird auf Deutsch, Italienisch und Ladinisch
unterrichtet. In den Grundschulen folgt man dem Klassen-
lehrerprinzip. Die Lehrpersonen unterrichten alle Fächer in allen drei
Sprachen, nach Rhythmen, die relativ frei gestaltet werden können:
Eine Woche kann bspw. Mathematik auf Deutsch, die andere auf
Italienisch unterrichtet werden. In den mittleren und höheren
Schulstufen wird nach dem Fachlehrerprinzip unterrichtet, der Schüler
und die Schülerin durchlaufen aber immer ein dreisprachiges System.
Ziel dieses Schulsystems ist es, sowohl die Minderheitensprache
Ladinisch zu erhalten, als auch am Ende der obligatorischen Schulzeit
eine ausgeglichene (eben ‚paritätische’) Kompetenz in Deutsch und
Italienisch zu erreichen.
112
Glückliche Umstände haben uns
113
die einzigartige Möglichkeit
eröffnet, nicht nur mit 118 Fünftklässlern, die diese Schulen besuchen,
den o.g. ANT-Test durchzuführen, sondern den Ausgang jedes
einzelnen Tests mit allen Schulnoten zu vergleichen.
Verkürzt gesprochen besteht dieser Test darin, dass jeder Proband am
Computer mittels Mausklick entscheiden muss, in welche Richtung
der mittlere Pfeil in einer Reihe von Pfeilen zeigt (ob nach rechts oder
links), und dies in einer schnellen Abfolge von Präsentationen.
Dieser weitum validierte Test misst also kognitive Fähigkeiten, die
mit der Aufmerksamkeit in Verbindung stehen (Warnung,
Orientierung, Konflikt). Es sind alles nicht-sprachliche Fähigkeiten,
die dieser Test misst.
Unsere Frage war, wie gut mehrsprachig aufwachsende Kinder bei
diesem Test abschneiden und ob es v.a. eine Verbindung zu einem
Schulfach gibt: Erzielen die Kinder mit den besten Noten in Musik,
Turnen oder Mathematik die besten Resultate im Test oder einfach
diejenigen, die den höchsten Gesamtnotendurchschnitt haben?
112
D i e s s c h e i nt d e r F al l zu s ein, s . f ür d ie s chriftli c he n K om -
petenz en d i e Untersuc hu n g Comité/Zë nt e r 2012.
113
Die Forschungsgruppe setzt sich aus Mitgliedern der Freien Universität Bozen
(Kompetenzzentrum Sprachen und Fakultät für Bildungswissenschaften) und der
Universität Vita-Salute San Raffaele (Mailand, Fakultät für Psychologie*)
zusammen: Gerda Videsott, Jubin Abutalebi*, Pasquale Della Rosa*, Werner Wiater
und die Verfasserin. Das Projekt mit dem Projekttitel „Is there any cognitive and
cerebral advantage for being bilingual?” (2009-2012) wurde von der zentralen
Forschungskommission der Freien Universität Bozen finanziert. In den
Publikationen Videsott et al. 2012 und Della Rosa et al 2012 werden die
Originaldaten dargestellt.
.
215
Nichts von alledem hat sich bewahrheitet. Die einzige statistisch
aussagekräftige Verbindung ergab sich, auch zu unserem Erstaunen,
allein mit den Sprachfächern: d.h. mit Ladinisch, Deutsch Italienisch
und Englisch (das als Viertsprache hinzukommt). Das war selbst für
die Linguisten unter uns sehr erstaunlich: Wir hätten ein so
eindeutiges Resultat nicht erwartet.
Bei näherer Analyse hat sich zudem herausgestellt, dass diejenigen
Kinder, die in den Sprachfächern die höchsten Noten aufwiesen, beim
Test am besten abschnitten. Eine hohe mehrsprachige Kompetenz
steht demnach mit besseren kognitiven Fähigkeiten in Verbindung. Sie
‚pusht’ diese Fähigkeiten noch weiter nach oben.
Diese Studie war in eine umfassendere Fragestellung eingebettet. In
unserer transdisziplinären Forschungsgruppe (s. Fußnote 113)
verfolgten wir zudem in einer Langzeituntersuchung 17 in Südtirol
zweisprachig aufwachsende Kinder im selben Alter. Sie wachsen mit
Deutsch-Italienisch auf, die meisten davon innerhalb der Familie. Wir
haben sie zu zwei Zeitpunkten mittels Magnetresonanz untersucht. Sie
mussten im Scanner liegend den o.g. ANT-Test vollziehen, sodass wir
messen konnten, wie die Gehirnaktivitäten dabei ausfallen. Zudem
wurde die Dichte der grauen Materie gemessen (mittels VBM-Voxel
Based Morphometry). Wir haben die Scans nach mehr als einem Jahr
wiederholt, um zu sehen, wie sich die graue Materie in der
Zwischenzeit entwickelt hatte; wiederum vollzogen die Kinder den
ANT-Test während der Messung. Unsere Arbeitshypothese war, dass
dadurch, dass zweisprachig aufwachsende Kinder schon sehr früh
lernen, die Sprachen „kontrollieren“ zu müssen, sie ein einzigartiges
Entscheidungssystem entwickeln. Das zerebrale System, das dieser
Funktion untersteht, könnte deswegen effizienter sein als bei
Einsprachigen.
Es hat sich herausgestellt, dass sich in einem präzisen Bereich des
linken unteren Parietallappens (LIPL=left inferior parietal lobule) ein
besonders dichtes Netzwerk entwickelt hat, das wir – enthusiastisch
genug gestimmt! – den Locus für das Sprachtalent genannt haben,
genauer: „A neural interactive location for multilingual talent“: Unter
diesem Titel sind die Ergebnisse in der angesehenen Zeitschrift
„Cortex“ erschienen (s. Della Rosa et al. 2012). Man kann also
nachweisen, dass die Plastizität des Gehirns durch die
Sprachkompetenz erhöht wird.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass dieser Ort, obwohl nun genau
bestimmt, nicht für sich allein besteht, sondern ein Kreuzpunkt von
Netzwerken ist: deshalb ist es eine „interactive location“, wie wir sie
genannt haben. Diese Kontrollfunktionen sind auch im Alltag
allgegenwärtig, sie sind wichtig und grundlegend. Trotzdem haben wir
es hier nur mit einem Teil der vielen kognitiven Fähigkeiten zu tun,
216
nämlich jenen, welche durch den ANT-Test gemessen werden können.
Als nächste Aufgabe gälte es nun, auch andere kognitive Fähigkeiten
dahingehend zu prüfen, ob der Umstand, zweisprachig aufzuwachsen,
damit in Zusammenhang steht. Man kann die Hypothese wagen, dass
bei anderen kognitiven Aufgaben möglicherweise weitere Prozesse
entdeckt werden, die durch das mehrsprachige Erleben im Alltag
speziell befördert werden.
Aus der Verhaltensstudie innerhalb der drei-, ja viersprachigen
ladinischen Kindern ist klar hervorgegangen: Es waren diejenigen
Kinder, die sehr gute Sprachkompetenzen in ihren verschiedenen
Sprachen hatten, welche die besten Resultate im ANT-Test zeigten.
Sehr gute Sprachkompetenzen bringen am meisten kognitive Vorteile.
Mehrsprachig aufwachsende Kinder leben beständig in einer
Umgebung, in der sie Entscheidungen treffen müssen: Sie sind im
Alltag in Familie, Schule, Freizeit fortwährend damit beschäftigt,
sowohl die Aufmerksamkeit zu kontrollieren als auch nicht
Angebrachtes zu unterdrücken: Welche Sprache rede ich mit wem?
Welche Sprachformen sind dabei zu verwenden? Wie kann ich die
nicht-angebrachte Sprache kontrollieren? All diese Aktivitäten führen
dazu, dass im Gehirn Netzwerke gebildet werden, die genau dafür
spezialisiert sind.
Mehrsprachigkeit befördert: das Denken, Reagieren, Agieren.
3. Rückschlüsse für die didaktische Praxis?
Nicht nur auf Grund neurobiologischer Studien lässt sich heute
sagen:
1. Das Gehirn ist für Mehrsprachigkeit immer potentiell
empfänglich, lebenslang.
2. Je früher, desto empfänglicher wird man für später zu
erwerbende Sprachen.
3. Je früher, desto akzentfreier und in gewissen Bereichen
grammatikalisch korrekter (bspw. im dt. Artikelgebrauch) wird
eine Sprache erworben (wenig, resp. gar keinen Einfluss hat
dieser Umstand auf Satzbau oder Wortschatz: dieser entwickelt
sich lebenslang).
4. Je mehr, desto geschickter ist man im Erwerb weiterer
Sprachen (man hat bspw. mehr Erfahrung mit Lernstrategien).
5. Es gibt Barrieren beim Spracherwerb: sie sind sozialer Natur
(Einstellungen, Bildungstradition, Sprachpolitik,
Rahmenbedingungen etc.) und haben nichts mit unseren
neurobiologischen Potential zu tun, das entwickelt werden
kann.
Mit aller Vorsicht, die bei einem Brückenschlag – oder eben ‚Spagat’
– zwischen Forschungsgebieten angebracht ist, deren Methoden sich
217
nicht immer ergänzen, lässt sich zumindest sagen, dass ein
frühkindlicher Erwerb für das Erlernen von Zweit- und Drittsprachen
auch kognitiv nützlich ist, vermehrt dann, wenn die Sprachen gut
beherrscht werden. Obwohl auch Erwachsene schnell und gut lernen
(s.o: wenn auch mit teilweise anderen Lernstrategien und v.a.
phonologisch selten mit größtem Erfolg), so unterstreichen die
bisherigen übereinstimmenden Resultate die Möglichkeit, dass beim
frühkindlichem Erwerb zweier Sprachen Anschlussmöglichkeiten für
andere Sprachen angelegt werden. An diese schon frühe Basis zweier
Sprachen kann später eine Drittsprache unmittelbar mit der
Erstsprache assoziiert werden. Solche Netzwerke schon bei Kindern
aufzubauen scheint demnach sinnvoll. Wie wir gesehen haben,
befördert man damit auch nicht-sprachliche Fähigkeiten mit: Ein
Vorteil, den es als Ressource nachhaltig zu nutzen gilt.
Sehen wir uns diese Ressource in ihrem sozialen Kontext an, dann
können wir sagen, dass wir es in mehrsprachigen Regionen mit einer
Häufung von kognitiven Vorgängen in Individuen zu tun haben, die
sich von anderen unterscheiden. Die europäischen
Rahmenbedingungen stehen zur Förderung dieser mehrsprachigen
Fähigkeiten bereit, und hoffentlich werden diese Ressourcen auf eine
breite soziale Basis gestellt, sodass auch Kinder mit
Migrationshintergrund davon profitieren können.
In der konkreten Schulpraxis wird dies und noch anderes noch
vernachlässigt. So wird bspw. das Potential außerschulischen
(Sprach-)Lernens noch zu sehr vernachlässigt: Das Lernen durch
Handeln, durch die Zusammenarbeit mit anderen, im Freizeitbereich,
wo hoch-emotionale Kontexte vorhanden sind, könnten noch
systematischer genutzt werden. Beim Sprachlernen gälte es, auch
durch Sachfächer andere Sprachen zu erfahren (s. etwa die o.g. CLIL-
Bewegung). Es dürften auch mehr Sprachen in einer Stunde integriert
werden (weshalb soll eine Lehreinheit allein monolingual abgehalten
werden?). Ein flexiblerer Umgang mit Sprachen wäre angebracht,
sowie eine selbstverständliche Wertschätzung der in einer Schulklasse
vorhandenen Sprachen und Dialekte, woher sie auch immer kommen
mögen.
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Susanne Maria Reiterer/Julia Festmann. DOI:
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221
Teilnehmer an der Konferenz:
Alexander Oster
Anna Candioli
Ansgar Batzner
Anton Prochazka
Carl C. Hahn
Daniel Gorin
Franz Schimek
Gabriele Gien
Georgios Ypsilandis
Heiner Böttger
Julia Festman
Lena Heine
Michaela Sambanis
Monika Raml
Nina Rischawy
Rita Franceschini
Romy Höltzer
Sitki Özdemir
Tanja Müller
Thorsten Piske
222
Ausgewählte Workshop-Ergebnisse
223
Julia Festman, Rita Franceschini, Lena Heine, Anton Prochazka und
Thorsten Piske
Die „<10“ Gebote der Mehrsprachigkeit
… für Lehrkräfte:
• Du sollst immer davon ausgehen, dass deine Schüler sich mit
mehreren Sprachen verbunden fühlen!
• Du sollst Mehrsprachigkeit als Ressource schätzen und nutzen
lernen!
• Du sollst die Sprachenvielfalt deiner Schüler als Ressource für
den Unterricht nutzen!
• Deine Schüler sollen neben deiner Sprache noch viele andere
haben!
• Du sollst alle Sprachen ehren.
• Du sollst die Motivation deiner Schüler zu sprechen nicht
abtöten!
• Du sollst mehrsprachige Aussagen nicht abtöten!
• Du sollst deinen Schülern nicht ihre Mehrsprachigkeit stehlen!
• Du sollst die Schüler in ihrer Individualität gewähren lassen!
• Du sollst die Fähigkeiten deiner Schülerinnen und Schüler
erkennen und unterstützen!
• Gestalte deinen Unterricht mehrsprachig!
• Du sollst die Sprache des anderen nicht verbieten!
• Du sollst von deinen Schülerinnen und Schülern Sprachen
lernen!
• Lasse deine Schüler multisensorisch lernen!
• Verzeihe deinen Schülern Fehler beim Sprechen ihrer
Sprachen!
• Du sollst dir ein genaues Bild der Sprachen deiner
Schülerinnen und Schüler machen!
… für Sprecher:
• Halte deine Sprachkenntnisse, die du erworben hast, lebendig,
indem du sie anzuwenden suchst!
• Fürchte dich nicht vor Fehlern, denn niemand – kein Mensch –
ist unfehlbar!
• Du sollst nicht mit deiner eigenen Sprache oder einer anderen
Sprache brechen!
224
• Du sollst andere Sprachen ehren wie deine eigene!
• Du sollst deine Sprache lieben, wie die deiner Freunde!
• Pflege alle Sprachen, als wären sie alle deine eigenen!
• Du sollst andere Sprachen und deren Sprecher wertschätzen!
• Du sollst von einer Sprache in die andere wechseln, wenn es
dir beliebt!
• Beneide andere nicht für ihre Sprachfertigkeiten, sondern
gewinne daraus Motivation!
• Du sollst dein Sprachtalent ausleben dürfen, in Schule und
Freizeit und Familie!
• Du sollst als Vorbild für das gleichzeitige Erlernen mehrerer
Sprachen dienen!
• Du sollst die Sprache des anderen begehren wie deine eigene!
• Du sollst viele andere Sprachen neben deiner eigenen Sprache
zulassen!
• Stehle Wörter und Ausdrücke aus anderen Sprachen, wenn es
dir beliebt!
• Du sollst ein mehrsprachiger Mensch werden, in welchem
Alter auch immer!
• Verehre auch andere Sprachen, nicht nur deine eigene!
• Finde heraus, wie viele Dinge du in der neuen Sprache
benennen kannst!
• Ehre die Sprache deiner Eltern und aller anderen!
• Töte keine Sprache, denn du tötest damit Menschen!
225
Alexander Oster, Sitki Özdemir, Monika Raml und Walter Raml
Vielfalt belebt Talent
226
Ausgewählte Interviews
227
Katharina Stöber und Susanne Münch
Prof. Dr. Thorsten Piske: Autobiographie
Thorsten Piske hat an der Christian-Albrechts-
Universität zu Kiel die Fächer Englisch,
Russisch und Allgemeine Sprachwissenschaft
sowie Pädagogik und Philosophie studiert.
Während seines Studiums hat er 1986/87 ein
Jahr in Wales verbracht, wo er sich neben seiner
Tätigkeit als Fremdsprachenassistent auch mit
Bilingualismus und bilingualem Unterricht in
sogenannten ‚Welsh Medium Schools‘
auseinandergesetzt hat. In den Jahren 1991 und
1992 folgten weitere Auslandsaufenthalte in
Sankt Petersburg. Nach der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an
Gymnasien im Februar 1993 war er vier Jahre lang als
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kiel tätig. In dieser
Zeit arbeitete er auch an seiner Dissertation, die aus einem von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt zum frühen
Erstspracherwerb hervorgegangen war und die sich mit Wechsel-
wirkungen zwischen dem Erwerb der ersten Wörter und der
Entwicklung der Lautproduktion bei Kindern im Alter zwischen 7 und
24 Monaten beschäftigte. Von November 1997 bis September 1999
verbrachte er zwei Jahre am Department of Rehabilitation Sciences
der University of Alabama at Birmingham, USA, um als post-doctoral
research fellow in mehreren, von den National Institutes of Health
geförderten Forschungsprojekten zu untersuchen, welchen Einfluss
Faktoren wie Alter, Geschlecht und Motivation auf den Lernerfolg
von Zweitsprachenlernern haben. Seit dieser Zeit ist er auch als
Gutachter für Fachzeitschriften wie ‚Bilingualism: Language and
Cognition‘, dem ‚International Journal of Bilingualism‘, ‚Language
Learning‘, dem ‚International Journal of Applied Linguistics‘, dem
‚Journal of Phonetics‘ und ‚Phonetica‘ tätig. Bei seiner Rückkehr nach
Deutschland Ende 1999 trat er die Stelle eines wissenschaftlichen
Assistenten am Englischen Seminar der Universität Kiel an und
entwickelte einen weiteren Forschungsschwerpunkt im Bereich des
bilingualen Unterrichts (Immersionsunterrichts) an Schulen sowie der
bilingualen Betreuung an Kindertageseinrichtungen. Ab WS 2004 war
er Professor für angewandte Linguistik und Didaktik des
Englischunterrichts an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch
Gmünd. Seit WS 2011/12 leitet er den Lehrstuhl für
228
Fremdsprachendidaktik an der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg.
Interview mit Prof. Dr. Thorsten Piske
Was macht Ihr Interesse an der englischen Sprache aus?
Mein Interesse an der englischen Sprache hat sich zum ersten Mal
bewusst entwickelt, als ich 9 Jahre alt war und wir Besuch von unserer
kanadischen Verwandtschaft bekamen. Ich konnte mit meiner Cousine
aus Kanada nur sehr begrenzt kommunizieren und habe mir gedacht,
dass ich ihre Sprache schnell lernen sollte. Als ich dann Englisch
gelernt habe, habe ich bald gemerkt, wie hilfreich es im Alltag und auf
Reisen insgesamt ist, über gute Englischkenntnisse zu verfügen.
Später im Studium fand ich dann z.B. Ähnlichkeiten zwischen dem
Englischen und besonders dem Niederdeutschen (ich komme aus
Norddeutschland) sehr spannend, wie wir sie in sprachhistorischen
Kursen besprochen haben. Richtig begeistert war ich im Studium aber
vor allem von Kursen, in denen wir diskutiert haben, wie Englisch als
L2 erworben wird und wodurch bestimmte Schwierigkeiten von L2-
Lernern zu erklären sind.
Aus welchem Grund haben Sie sich für diesen speziellen
Forschungsbereich entschieden?
Ich halte es für unabdingbar, dass Fremdsprachenlehrkräfte vertiefte
Kenntnisse im Bereich des Spracherwerbs haben und verstehen,
welche Faktoren einen Einfluss auf den Lernerfolg ihrer Schülerinnen
und Schüler haben. Wenn Lehrkräfte die tatsächliche Rolle dieser
Faktoren einschätzen können, können sie Lernumgebungen schaffen,
die ihren Schülerinnen und Schülern beim erfolgreichen Erlernen der
Fremdsprache helfen. Für die Forschung ist es dabei besonders
wichtig, die Rolle dieser Faktoren im Detail zu untersuchen. Man
muss z.B. erforschen, ob das Alter für das Erlernen der Aussprache
eine andere Bedeutung haben könnte als für das Erlernen der
Grammatik. Wichtig ist auch, dass man Erkenntnisse darüber gewinnt,
ob sich der Einfluss bestimmter Faktoren auf den Lernerfolg von
Fremdsprachenlernern vom Kindergarten über die Grundschule bis
zum Ende der Sekundarstufe II und später vielleicht ändert.
Welcher Aspekt Ihrer beruflichen Tätigkeit bereitet Ihnen am meisten
Freude?
229
Ich bin sehr froh darüber, in einem Forschungsgebiet zu arbeiten, in
dem man Erkenntnisse gewinnt, die für die Unterrichtspraxis direkt
relevant sind, und es bereitet mir sehr viel Freude, aktuelle
Forschungsergebnisse mit Studierenden in meinen Lehr-
veranstaltungen zu diskutieren und den Studierenden dabei auch
deutlich zu machen, wie wichtig qualitativ hochwertige Forschung ist
– ganz im Sinne einer Aussage eines ehemaligen Kollegen von mir:
„Not all studies are created equal.“
Uns hat erstaunt, dass das Alter keine so bedeutende Rolle spielt, wie
in der Forschung vielfach angenommen. Umso besser finden wir die
Tatsache, dass Sie sich mit der optimalen Gestaltung des
Fremdsprachenunterrichts beschäftigen; eine Variable, auf die wir als
Lehrer
−
im Gegensatz zum Alter
−
konkret Einfluss nehmen können.
Daher unsere Frage:
Wie stellen Sie sich Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen
idealerweise vor? Hat Sie bei Ihren Auslandsaufenthalten ein
bestimmtes Schulsystem besonders inspiriert?
Was das Thema Alter betrifft, geht es mir vor allem um eine
differenzierte Betrachtung des möglichen Einflusses dieses Faktors
auf Lernerfolg. Die eher undifferenzierte Aussage, die man häufig
hört, dass Kinder Sprachen noch aufsaugen wie einen Schwamm hat
u.a. dazu geführt, dass viele Leute geglaubt haben, dass Kinder durch
frühen Fremdsprachenunterricht automatisch sehr schnell große
Lernerfolge zeigen werden. Das hat sich, wie ja auch in den Medien
oft kritisiert wird, vielfach nicht bestätigt. Meines Erachtens liegt das
daran, dass man sich viel zu stark auf den Faktor Alter allein
konzentriert und dabei vergessen hat, die Lernumgebungen so
auszugestalten, dass Grundschulkinder beim Erlernen der
Fremdsprache auch tatsächlich größere Fortschritte machen können.
Unsere Forschung zur Bedeutung des Faktors Alter haben gezeigt,
dass sehr oft nicht das Alter als solches, sondern mit dem Alter
korrelierende Variablen für Lernerfolg entscheidend sind. Besonders
erfolgreich waren Lerner unabhängig von ihrem Lernalter besonders
dann, wenn sie
a) kontinuierlich intensiven Kontakt zur Fremdsprache hatten,
b) die Fremdsprache sehr oft aktiv gebraucht haben und
c) wenn sie ihren Input von Sprechern der Fremdsprache erhalten
haben, die die Fremdsprache auf einem native speaker oder
wenigstens einem annäherndem native speaker Niveau beherrschen.
Solche Bedingungen können Sie in der Schule am ehesten herstellen,
wenn Sie bilingualen Unterricht und dabei am besten bilingualen
Unterricht nach dem Ansatz der frühen Immersion anbieten, wie ich
230
ihn zuerst während meines Auslandsjahres als Fremdsprachenassistent
in Wales kennengelernt habe, wo der Ansatz der frühen Immersion ab
dem Kindergartenalter u.a. dazu genutzt wird, um das „Überleben“ der
Minderheitensprache Walisisch zu ermöglichen. Im Regel-
englischunterricht an deutschen Grundschulen haben die Schülerinnen
und Schüler bei ca. zwei Stunden Englischunterricht in der Woche, die
immer noch zu ca. 80% fachfremd unterrichtet werden, dagegen
weder kontinuierlichen noch intensiven Kontakt zur Fremdsprache.
Durch den starken Fokus auf das Hörverstehen erhalten sie darüber
hinaus in der Regel kaum die Gelegenheit zum häufigen Gebrauch der
Fremdsprache. Und Lehrkräfte, die Englisch nicht studiert haben,
können ihren Schülerinnen und Schülern gewöhnlich natürlich auch
keinen Input auf einem wenigstens annähernden native speaker
Niveau bieten. Das ist beim Immersionsansatz, nach dem mindestens
50% der Fächer von sprachlich und fachlich sehr kompetenten
Lehrkräften ausschließlich in der Fremdsprache unterrichtet werden,
ganz anders.
Manche Eltern sind der Meinung, mit zwei Jahren sollten Kinder noch
ohne bestimmte Zielsetzung spielen dürfen – gibt es nicht auch
Nachteile, wenn die Schulbildung schon im Kindergarten beginnt?
Ich bin in den letzten Jahren an der Einrichtung mehrerer
Studiengänge zur frühkindlichen Bildung beteiligt gewesen, und in
diesem Zusammenhang habe ich diese Frage öfter gehört. Wenn man
über frühkindliche Förderung und Bildung spricht, denken viele
Leute, dass man vorhat, die Schule in den Kindergarten vorzuziehen.
Darum geht es aber gar nicht. In den bilingualen Kinder-
tageseinrichtungen und Krippen, die wir wissenschaftlich begleitet
haben, wird die Fremdsprache in den Kindergartenalltag integriert,
d.h., sie begleitet die Kinder bei allen alltäglichen Routinen und auch
bei speziell geplanten Aktivitäten. Sie wird also z.B. im Morgenkreis,
beim Frühstück, beim Anschauen von Bilderbüchern oder bei
Waldtagen gebraucht. Die Kinder lernen die Sprache also als ein ganz
normales Mittel zur Kommunikation im Alltag kennen, und sie zeigen
schnell viel Freude beim Gebrauch der neuen Sprache. Es findet dabei
keinerlei Art von Unterricht statt, sodass man nicht davon sprechen
kann, dass die Schulbildung schon im Kindergarten beginnt.
Sie erwähnten in Ihrem Vortrag, dass die erste Phase des L2-Lernens
eine besondere Bedeutung hat. Bei Migranten zeigte sich ein
erheblicher Fortschritt in den ersten Monaten nach Ankunft im neuen
Land, wohingegen der gleiche Zeitraum zu einem späteren Zeitpunkt
nur geringe Verbesserungen hervorbrachte. Wenn man diese
231
Beobachtung auf die Schule überträgt, könnte man zu dem Schluss
kommen, dass eine neue Fremdsprache an weiterführenden Schulen
im ersten Lernjahr viel öfter unterrichtet werden sollte (also
beispielsweise 12 Wochenstunden, später noch zwei) als in den
Folgejahren nötig ist.
Was halten Sie davon?
Eine intensive erste Phase des Fremdsprachenunterrichts wäre nach
den Erkenntnissen der Zweitspracherwerbsforschung sicherlich
sinnvoll, aber eben auch nur dann, wenn der Unterricht durch
Lehrkräfte mit einer hohen sprachlichen und natürlich auch
didaktischen Kompetenz erteilt wird. Mir ging es bei meinen
Ausführungen zur Bedeutung der frühen Phase des L2-Lernens vor
allem auch darum, dass die ersten fremdsprachlichen Modelle, die
Schülerinnen und Schüler haben, besonders starken Einfluss auf die
Entwicklung der fremdsprachlichen Fähigkeiten haben. Wenn
Lehrkräfte in dieser frühen Phase eingesetzt werden, die über keine
hohe fremdsprachliche Kompetenz verfügen, dann werden die
Schülerinnen und Schüler die „Fehler“, die diese Lehrkräfte
produzieren, natürlich auch machen, und es wird ihnen
Schwierigkeiten bereiten, sich von Fehlern, die sich früh etabliert
haben, wieder zu „befreien“.
In eine ähnliche Richtung geht die Idee, Fremdsprachen am
Gymnasium geballt statt parallel zu lernen. Damit meinen wir, dass
man beispielsweise Englisch zwei Jahre sehr häufig und intensiv
unterrichtet und sich anschließend in gleicher Weise ausschließlich
Französisch widmet, wobei Englisch nur noch wenigen
Erhaltungsstunden bedarf.
Wie schätzen Sie dies ein?
Ich kenne dazu keine Forschungsergebnisse, kann mir aber vorstellen,
dass ein solches Vorgehen recht erfolgreich sein könnte. Wenn der
Englischunterricht z.B. so gestaltet wird, dass die Schülerinnen und
Schüler bis zum Ende der 6. Klasse ein hohes Niveau im Englischen
erreichen, dann kann ich die Zahl der Englischstunden ab der 7.
Klasse reduzieren und mehr Zeit in das Erlernen des Französischen
investieren. Wichtig scheint nach vorliegenden Forschungs-
ergebnissen aber auf jeden Fall Kontinuität zu sein. Das heißt, es
sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass das Englische weiterhin
ausreichend Unterstützung erhält.
Des Weiteren sprachen Sie von der Effektivität bilingualer Schulen.
Wir können uns gut vorstellen, dass viele Schüler davon sehr stark
232
profitieren würden. Allerdings sehen wir zwei problematische
Aspekte: Zum einen bei Migrantenkindern und zum anderen bei der
Fachsprache.
Vorstellbar wäre, dass Migrantenkinder einen Nachteil beim Erwerb
von Deutsch hätten, da sie in diesem Fall nur sehr geringen Deutsch-
Input bekämen, gerade da sich hoher Sprachinput an der Schule in
Ihren Studien für sehr effektiv erwiesen hatte.
Das ist eine Frage, die wir aktuell gerade an Grundschulen und
Gymnasien untersuchen und z.B. im Rahmen eines größeren EU-
Projekts auch schon in Kindertageseinrichtungen untersucht haben.
Dabei haben wir bisher bis auf einzelne Ausnahmen keine Defizite in
der Entwicklung des Deutschen bei Kindern mit Migrations-
hintergrund in bilingualen Programmen an staatlichen Schulen und in
Kindertageseinrichtungen festgestellt. Wir nehmen an, dass es
mindestens vier Gründe dafür gibt, dass die Kinder mit
Migrationshintergrund auch in Tests zum Deutschniveau
vergleichbare Ergebnisse erzielen wie Kinder aus deutschsprachigen
Familien. Erstens kann es sein, dass die Kinder mit
Migrationshintergrund, die wir bisher untersucht haben, aus Familien
stammen, die besonders großes Bildungsinteresse und einen hohen
sozioökonomischen Status haben. Diesem Punkt gehen wir zurzeit
gerade intensiver nach. Zweitens kann die Qualität des Unterrichts
auch für die Deutschleistungen entscheidend sein. Oftmals
unterrichten die Lehrkräfte, die bestimmte Fächer in der
Fremdsprache unterrichten, auch das Fach Deutsch, und hier
übertragen sie vielleicht Prinzipien des bilingualen Unterrichts wie
Anschaulichkeit und Kontextualisierung auch auf das Deutsche.
Drittens erfordert Unterricht in der Fremdsprache z.B. ein hohes
Ausmaß an Konzentration auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, so
dass sie im Unterricht vielleicht insgesamt konzentrierter sind als
Kinder, die ihren Unterricht in ihrer L1 erhalten. Und viertens
verfügen Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund des frühen
intensiven Kontakts zu mehreren Sprachen wahrscheinlich über ein
höheres Maß an Sprachbewusstheit. Sie vergleichen die Sprachen, die
sie lernen und erweitern dadurch ihr Bewusstsein für die strukturellen
Eigenschaften aller von ihnen erlernten Sprachen.
Auch müsste man bedenken, dass die Schüler in den auf Englisch
unterrichteten Fächern kein deutsches Fachvokabular erwerben
würden.
Inwiefern teilen Sie diese Ansicht oder wie könnte man dieses Problem
umgehen?
233
Diese Bedenken sollte es eigentlich nicht geben. Bilingual
unterrichtende Lehrkräfte sollten immer darauf achten, dass auch das
deutsche Fachvokabular mitgelernt wird. Das kann unterschiedlich
erfolgen. So können Arbeitsmaterialen z.B. von vornherein bilingual
gestaltet sein, d.h., dass neben den englischen Fachtermini auch gleich
die deutschen Termini mitgeliefert werden. Die Lehrkraft kann als
Hausaufgabe aufgeben, dass die Schülerinnen und Schüler zuhause
die deutschen Entsprechungen zu englischen Fachtermini
heraussuchen, die in einer Stunde erarbeitet worden sind. Manche
Lehrkräfte verteilen am Ende einer Unterrichtseinheit auch eine Liste
mit englischen Fachtermini und deren deutschen Entsprechungen, und
sie diskutieren mit ihren Schülerinnen und Schülern dann auch
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den deutschen und den
englischen Fachtermini.
Ihre Studien haben gezeigt, wie wichtig individuelle Förderung ist,
vor allem, wenn die Schüler unterschiedliche Muttersprachen
sprechen.
Wie kann man das im modernen Englischunterricht umsetzen?
Das ist für die Lehrkräfte mit Sicherheit eine größere
Herausforderung. Ich kann ja nicht erwarten, dass eine Lehrkraft jede
in einer Klasse möglicherweise von den Schülerinnen und Schülern
gesprochene Sprache beherrscht. Lehrkräfte müssen aber wissen, dass
bestimmte Schwierigkeiten, die Schülerinnen und Schüler beim
Erlernen einer neuen Sprache haben, durch die spezifische Struktur
der L1 der Schülerinnen und Schüler bedingt sein könnten. Und wenn
bestimmte Schwierigkeiten längere Zeit und vielleicht bei mehreren
Schülerinnen und Schülern auftreten, sollte die Lehrkraft der Frage
nachgehen, inwieweit diese Schwierigkeiten auf die L1 dieser
Schülerinnen und Schüler zurückzuführen sein könnten und dann
Übungen entwickeln, die auf die spezifischen Bedürfnisse dieser
Schülergruppe abgestimmt sind. Ich muss mit Schülerinnen und
Schülern, die Griechisch als L1 sprechen, z.B. nicht die dentalen
Frikative üben, weil diese auch im Griechischen vorkommen. Ich
muss aber eventuell besonders auf die stimmlose Affrikate in Wörtern
wie chicken oder cheap eingehen, weil diese Lernern mit Griechisch
als L1 häufig Schwierigkeiten bereitet.
In Ihrem Vortrag stellten Sie Ihre Studie zum Einfluss der Variable
„Häufigkeit des L1- Gebrauchs“ mit einem Beispiel der Äußerung „I
can read this for you“ vor. Sie machen auf interindividuelle Variation
bezüglich dieser Variable aufmerksam. Trotz erwiesenem
signifikanten Einfluss erzielte der Migrant mit der höchsten
234
Verwendung seiner Muttersprache im Alltag die beste Bewertung in
der Aussprache – welche Faktoren könnten bei solchen Ausnahmen
eine Rolle spielen?
Individuelle Variation ist ein Thema, dem erfreulicherweise
inzwischen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es ist einfach nicht
so, wie im Rahmen mancher Sprachlerntheorien behauptet wird, dass
alle Lerner, die denselben L1-Hintergrund haben, genau denselben
Stadien folgen und dieselben Schwierigkeiten zeigen. Dafür kann es
unterschiedlichste Gründe geben, die man oftmals nur identifizieren
kann, wenn man die persönliche Lernbiografie eines
Fremdsprachenlerners kennt. In dem angesprochenen Beispiel, war es
so, dass die Frau, die – trotz ihres sehr häufigen Gebrauchs der L1 –
eine L2-Aussprache auf L1-Niveau erreicht hatte, als Lehrerin
wahrscheinlich eine besondere Motivation hatte, Englisch auf einem
sehr hohen Niveau zu sprechen. Es kann aber auch sein, dass ein
Lerner im Vergleich zu anderen Lernern deshalb erfolgreicher ist, weil
er in einer bestimmten Phase besonders guten Unterricht hatte.
Vielleicht haben manche Menschen auch tatsächlich so etwas wie eine
besondere Sprachlernbegabung. Leider ist bis heute aber kaum etwas
darüber bekannt, worauf eine solche Sprachlernbegabung beruhen
könnte, ob sie z.B. angeboren ist oder ob sie sich durch bestimmte
Erfahrungen entwickeln kann. Ganz wichtig ist es auf jeden Fall, dass
sich Lehrkräfte darüber bewusst sind, dass es im Fremdsprachen-
unterricht keine one-fits-all solution gibt. Mit anderen Worten, wenn
einige Schüler von einem bestimmten Ansatz des
Fremdsprachenunterrichts profitieren, heißt das noch lange nicht, dass
alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise davon profitieren.
Deshalb haben wir uns in unserer Forschung auch immer auf die
Identifikation von Faktoren konzentriert, die für das Fremd-
sprachenlernen zwar generell von Bedeutung zu sein scheinen, aber
bei unterschiedlichen Lernen trotzdem noch einen unterschiedlich
großen Einfluss auf den Lernerfolg haben könnten.
235
Das Interview führten:
Katharina Stöber, 6. Semester, Lehramt plus Gymnasium,
Fächerkombination: Schulpsychologie/Englisch
Susanne Münch, 6. Semester, Lehramt plus Gymnasium,
Fächerkombination: Englisch/Französisch
236
Julia Grauvogl und Kim Weiler
Jun. Prof. Dr. Lena Heine: Kurzbiographie
Lena Heine ist seit 2010 als
Juniorprofessorin für Sprachlehr-
forschung an der Ruhr-Universität
Bochum (RUB) tätig. Nach ihrem
Studium der Sprachlehrforschung,
Skandinavistik und Germanistik in
Hamburg und Stockholm arbeitete
sie zunächst in der freien Wirtschaft
als Übersetzerin, Texterin und
Konzepterin, bevor sie an der Universität Osnabrück promovierte. Ihr
Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich integriertes Fach- und
Sprachenlernen, insbesondere in Bezug auf mehrsprachige Lerner. In diesem
bisher noch wenig erforschten Bereich besteht die Herausforderung,
Theorien des sprachlichen und nichtsprachlichen Lernens und ihre
didaktischen Implikationen in interdisziplinärer Weise miteinander zu
verbinden. Hier geht sie vor allem Fragen nach der kognitiven
Repräsentation von mehrsprachigem Sprachwissen und der Entwicklung von
schulisch und universitär relevanten Sprachmustern (unter anderem in ihrer
Fachspezifik) nach und arbeitet Implikationen von wissenschaftlich
fundierten Modellierungen für unterrichtliche Kontexte heraus. Ihr Beitrag in
diesem Bereich besteht v.a. in einer Fortentwicklung von theoretischen
Rahmenwerken, die insbesondere für den Bilingualen Sachfachunterricht
und Deutsch als Zweitsprache bzw. Sprachförderung in allen Fächern
wichtig sind.
In diesem Sinne leitet Frau Heine unter anderem Projekte, die sowohl
Sprachförderung gerade in Bezug auf Mehrsprachlichkeit, als auch die
Vernetzung von Schule und Hochschule fördern. Sie ist an der RUB
verantwortlich für Konzeption und Implementierung des Moduls „Deutsch
für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte –
Sprachförderung in allen Fächern“ in der Lehrerausbildung. In diesem
Zusammenhang leistet etwa ihr Förderprojekt „Miteinander – Stärkung
fachspezifischer Sprachförderung in Theorie und Praxis“ einen Beitrag dazu,
Lehrer von morgen auf die Herausforderung vorzubereiten, einen
zeitgemäßen, modernen Umgang mit Schülern mit Migrationshintergrund zu
praktizieren und die Mehrsprachlichkeit von Kindern, deren Muttersprache
nicht Deutsch ist, als Chance statt als Nachteil wahrzunehmen.
237
Darüber hinaus koordiniert Lena Heine das Zusatzstudium „Bilinguales
Lehren und Lernen“, das angehende Lehrerinnen und Lehrer für den
Bilingualen Sachfachunterricht professionalisiert.
Zudem leitet Frau Heine das Projekt „Das Sprachwerk“ – ein integratives,
kooperatives Lehr-Lernprojekt, in dessen Zuge Studierende der sprachlich
ausgerichteten Fächer gemeinsam mit Schülern der gymnasialen Oberstufe
Projekte zu einem sprachwissenschaftlichen Thema durchführen. „Das
Sprachwerk“ hat nicht nur den Anspruch, den Schülern den Übergang an die
Universität und wissenschaftliches Arbeiten zu erleichtern. In einem derzeit
aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie, wie sich ein Fokus auf
sprachliche Form auf fachlich relevante Verarbeitungsprozesse auswirkt.
Interview mit Jun. Prof. Dr. Lena Heine
Frau Heine, Sie sind Juniorprofessorin für Sprachlehrforschung an
der Ruhr-Universität Bochum.
Wie kam es dazu, dass Sie als Sprachwissenschaftlerin in der Didaktik
des Fremdsprachenunterrichts (FSU) forschen?
Ich komme ursprünglich aus der Sprachlehrforschung und habe mich
schon immer gerne mit psycholinguistischen Aspekten von
Mehrsprachigkeit befasst. So war meine Magisterarbeit beispielsweise
eine empirische Studie zum Einfluss von Mehrsprachigkeit auf das
aktuelle Fremdsprachenlernen.
Meine Dissertation habe ich innerhalb eines DFG-Projekts zum
Bilingualen Sachfachunterricht geschrieben, und da hat mich die
kognitive Schnittstelle zwischen sprachlicher und nichtsprachlicher
Wissensverarbeitung interessiert. Ich habe dann zwar mehrere Jahre in
der Englischen Sprachwissenschaft gearbeitet, wo ich auch sprach-
wissenschaftlich gearbeitet habe, komme aber eigentlich aus der
angewandten Richtung.
Wie haben Sie während Ihrer eigenen Schulzeit den FSU erlebt?
Welche positiven und negativen Erfahrungen gab es?
Mein eigener Fremdsprachenunterricht war noch sehr konservativ mit
viel Pattern Drills und Strukturfokus. Gearbeitet wurde mit
Lehrbüchern aus den 70ern und den frühen 80ern. Ich war selber in
Bezug auf das Englischlernen sehr intrinsisch motiviert und habe mir
selbstständig viel Input besorgt, Liedertexte übersetzt und jede
Gelegenheit zur Kommunikation mit L1-Sprechern gesucht. Der
Unterricht selber hat mich nicht sehr angeregt.
238
In der Oberstufe hatte ich dann Englisch-LK und das Glück, eine sehr
motivierende Lehrerin zu haben. Sie war selbst sehr begeistert vom
Englischen und der angelsächsischen Literatur und Kultur und hat
hohe Ansprüche gehabt. Ich habe sie als sehr authentisch in ihren
Anliegen erlebt, die Gruppe zu Erkenntnissen zu leiten. Hier haben
wir schon relativ viel Literaturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaft
gemacht und damit auch schon wirklich eine Hinführung auf
universitäres Denken und Arbeiten erlebt.
Welche wesentlichen und konkreten Unterschiede sehen Sie zur
heutigen Praxis des FSU?
Soweit ich das beurteilen kann, erscheint mir hier schon ein deutlicher
Fortschritt sichtbar zu sein. Insbesondere die didaktisch-methodischen
Prinzipien sind selbstverständlicher, verschiedene Sozialformen und
kommunikative Ansätze finden mehr Anwendung.
Frau Heine, Ihre Präsentation verdeutlichte, dass die Prinzipien des
modernen FSU mehr Potenzial als gängige Spracherwerbstheorien
hinsichtlich ihrer Integration von neusten neurologischen
Erkenntnissen aufweisen. Kamen Sie zu diesem Schluss durch
konkrete Unterrichtsbeobachtung an Schulen oder aufgrund der heute
gelehrten FSU-Didaktik?
Für meinen Vortrag habe ich überlegt, was eigentlich der Mehrwert
von neurodidaktischer Forschung ist. Im Grunde sind ja nicht sehr
viele Erkenntnisse, die wir aus der Neurologie auf die
Fremdsprachendidaktik übertragen können, komplett neu – vielmehr
wird in den meisten Fällen neurologisch noch einmal zusätzlich
abgesichert, was aus anderen Zusammenhängen schon als
wirkungsvoll erkannt worden ist. Ich habe keine Unterrichts-
beobachtungen zur konkreten Umsetzung von Prinzipien im
Unterricht durchgeführt, sondern basiere meine Überlegungen auf der
Omnipräsenz der methodisch-didaktischen Prinzipien in der
universitären Lehrerausbildung, wie sie z.B. in fremds-
prachendidaktischen Lehrwerken abzulesen ist.
Woran liegt es, dass all diese Spracherwerbstheorien, die Sie
vorstellten, mit neurologischen Erkenntnissen nur teilkompatibel
sind?
Sie stammen zu einem großen Teil aus anderen Interessenlagen. Die
universalgrammatisch-generativen Theorien beispielsweise betrachten
Sprache bewusst in reduzierter Weise als isoliertes Modul, was
239
bestimmte Herangehensweisen bei der Beschreibung erlaubt und
weniger „Störgeräusche“ für eine theoretische Modellierung
produziert – allerdings nicht auf die faktische Interaktion zwischen
Sprachwissen und dem Rest des kognitiv-emotionalen Apparates
Bezug nehmen kann. Hier wird also bewusst ein enger Bezugsrahmen
gewählt und abstrahiert, um die „messiness“ der menschlichen
Verarbeitung von Kognitionen für eine theoretische Modellierung zu
reduzieren.
Dazu kommt, dass viele Spracherwerbstheorien sich lediglich für ganz
bestimmte Teilbereiche von Sprachwissen interessieren und nicht den
Anspruch erheben, Spracherwerb in seiner Gesamtheit abzubilden.
Auch bestimmen die methodischen Möglichkeiten der Erkenntnis-
gewinnung, was untersucht wird. Minimale Verarbeitungs-
mechanismen unter streng kontrollierten Bedingungen zu untersuchen,
wie es die Psycholinguistik zumeist tut, liefert besser zu handhabende
Ergebnisse, lässt sich allerdings nur schwer auf eine reale
Unterrichtssituation übertragen und hat dann in den Ergebnissen eben
auch nur eine begrenzte Reichweite.
Hier muss man also auch aufpassen, dass man nicht Begrenzungen
kritisiert, die die jeweilige Theorie ganz bewusst gesetzt hat.
Insgesamt kann man sagen, dass wissenschaftliche Theorien ja immer
Komplexität reduzieren und die Entscheidung umsetzen, was jeweils
als besonders relevant und was als weniger relevant betrachtet wird.
Neurodidaktische Ansätze sind wahrscheinlich, weil sie sich ja stärker
an den realen Mechanismen des Gehirns orientieren, per se immer
schon von vornherein komplexer angelegt.
In Ihrer Präsentation stellten sie dar, dass der moderne FSU hingegen
zentrale neurologische Erkenntnisse unbewusst integriert.
Gehen Sie sogar so weit, zu sagen, dass Lehrer sozusagen intuitiv
wissen, wie es besser geht, oder führen Sie diese Tatsache eher auf die
Bemühungen der modernen FSU-Didaktik zurück?
Nein, ganz so weit würde ich nicht gehen. Ich kann mir aber schon
vorstellen, dass die Notwendigkeit, mit der unterrichtlichen
Wirklichkeit umzugehen, schon ein gewisses Erfahrungswissen
schafft, dass sehr wertvoll sein kann. Trotzdem glaube ich, dass eine
wissenschaftlich fundierte Wissensbasis notwendig ist, um wirklich
professionelle Entscheidungen in Unterrichtssituationen fällen zu
können.
Die neurologisch kompatiblen Bestandteile in der Fremdsprachen-
forschung sind häufig schon ohne neurowissenschaftliche Basierung
über andere Ansätze erforscht worden und haben dann Eingang in die
Didaktik gefunden. Also zum Beispiel die Forschung zu Strategien,
240
Motivation etc. – die argumentieren ja nicht neurologisch, sind aber
durchaus mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen kompatibel.
Gibt es überhaupt DAS Modell für einen gelungenen
Fremdsprachenunterricht?
Wohl nur in einer vagen Form. Grundsätzlich kann man sagen, dass
der Individualität des Fremdsprachenlernens und der Faktoren-
komplexion, die es bestimmt, wohl am besten durch einen Unterricht
begegnet werden kann, der eben auf die Heterogenität der Lerngruppe
ausgerichtet ist.
Die Tagung fand unter dem Motto „The Multilingual Brain“, also
„Das mehrsprachige Gehirn“, statt – sind Sie der Meinung, dass
Mehrsprachigkeit heute an Schulen mehr geschätzt wird als früher,
besonders im Hinblick auf Schüler mit Migrationshintergrund?
Es gibt derzeit wichtige Entwicklungen, so ist beispielsweise in NRW
mittlerweile auf gesetzlicher Grundlage für alle Lehramtsstudierende
(unabhängig vom Fach) ein Modul „Deutsch für Schülerinnen und
Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ obligatorisch. Insgesamt ist
meine Einschätzung hier aber, dass dies zwar ein wichtiger Anfang ist,
allerdings noch viel Luft nach oben ist. Insbesondere gibt es noch zu
wenige konkrete Ansätze, die zeigen, wie man den sprachlichen und
kulturellen Wissensschatz von SchülerInnen mit Migrations-
hintergrund wertschätzend für die Ziele der einzelnen Fächer
wahrnimmt und einbezieht. Insgesamt scheinen mir noch immer sehr
viele Missverständnisse über den Zusammenhang zwischen
Mehrsprachigkeit und Schulerfolg in den Köpfen von Entscheidungs-
trägern herumzugeistern. Hier ist noch viel Raum für Wissenschaft,
die dann auch konkret in die Praxis übertragen werden muss.
Was haben Sie im Hinblick auf diese Thematik für die Zukunft
geplant?
Momentan bin ich dabei zu erforschen, wie ein wechselnder Fokus auf
(Fremd-)Sprache die Verarbeitung von nichtsprachlichen
Informationen beeinflusst. Dazu bereite ich unter anderem eine Studie
vor, bei der Blickbewegungen gemessen werden.
241
Das Interview führten:
Julia Grauvogl, 6. Semester, Gymnasiallehramt, Fächerkombination:
Deutsch/Englisch
Kim Weiler, 6. Semester, Grundschullehramt
242
Anita Graeff und Stephanie Lindner
Prof. Mag. Anton Prochazka: Kurzbiographie
Anton Prochazka scheint zu den Menschen
zu gehören, die für den Beruf des Lehrers
wortwörtlich berufen sind. Bereits im Alter
von 19 Jahren, nach Absolvierung des
einjährigen freiwilligen Präsenzdienstes beim
Bundesheer, begann er an einer Wiener
Hauptschule Englisch zu unterrichten. Die
Erzählungen eines Freundes über dessen
Anglistikstudium hatten ihn dazu motiviert,
sich selbst seiner Liebe für die Englische
Sprache bewusst zu werden und ebenfalls
Anglistik und Amerikanistik an der Wiener Universität zu studieren.
Gleichzeitig passierte es, dass Anton Prochazka zusätzlich aufgrund
eines akuten Lehrermangels eine Anstellung an einer Österreichischen
Hauptschule erhielt und dort mit seiner herzlichen Art sowie der
Auffassung, dass Lernen Spaß und nicht Angst machen sollte, die
Schüler und Schülerinnen zum Lernen anhielt. Da ihm wegen seines
Quereinstiegs als Sprachlehrer nur das Unterrichten des Faches
Englisch erlaubt war, wurde Anton Prochazka vor allem in
sogenannten „Problemklassen“ als Fachkraft eingesetzt, was ihn dazu
veranlasste, sich alternative Unterrichtsmethoden zu überlegen.
Im Laufe der folgenden Jahre trug es sich zu, dass Anton Prochazka
zusammen mit zwei Freunden von einem Verlag eingeladen wurde,
ein englisches Lehrwerk für die Sekundarstufe I in Österreich zu
adaptieren. Bald wurde er auch vom Verlag gebeten, an der
Entwicklung eines neuen, modernen Grundschullehrwerkes,
mitzuarbeiten. Nach vielen Jahren in der Schulpraxis und Tätigkeit in
der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, gründete und
leitete er dann 20 Jahre lang ein Informations- und Fortbildungs-
zentrum für Fremdsprachenunterricht an der späteren Pädagogischen
Hochschule in Wien. Aufgrund seiner bisherigen Ausbildung zum
Ernährungs-und Wellness-Coach möchte er die Lehre über die Risiken
einer ungesunden Ernährung auch in den CLIL-Unterricht einbauen.
Es bleibt weiterhin spannend, welche die nächsten positiven
Entwicklungen sein werden, die Anton Prochazka in den zukünftigen
Schulalltag integriert.
243
Interview mit Prof. Mag. Anton Prochazka
Die Mehrsprachigkeit zum Ziel
Herr Prochazka, welche Sprachen sprechen Sie fließend und in
welchem Alter haben Sie sie erlernt?
Hier stellt sich zunächst natürlich erst einmal die Frage, was man
unter ‚fließend‘ versteht. Mit 10 Jahren habe ich im Gymnasium
begonnen, Englisch zu lernen. Mit 13 lernte ich dann Latein und ein
wenig später in der Sekundarstufe II dann Französisch. Dadurch habe
ich auch keine Probleme, leichtere Formulierungen des Italienischen,
Portugiesischen und Spanischen zu verstehen.
Woher rührt Ihr Interesse für die frühe Mehrsprachlichkeit?
Mit 17 Jahren besuchte ich bereits meine erste Brieffreundin in
London. Auf einer Militärpilgerreise nach Lourdes geschah es, dass
sich einer meiner Freunde in eine Französin verliebte. Da weder er
selbst Französisch noch seine Freundin Deutsch sprechen konnte,
ersuchte er mich, für ihn zu dolmetschen, um ein Rendezvous für ihn
auszumachen. Dies war für mich das 1. große Erlebnis von
Mehrsprachigkeit, das mich auch mit großem Stolz erfüllte, da ich
bereits bei meinem ersten Aufenthalt in Frankreich Englisch,
Französisch und Deutsch verwenden konnte.
Ich habe bereits früh an der Entwicklung von Schulbüchern für die
Sekundarstufe I mitgewirkt, weil es damals noch keine modernen
Lehrwerke gab. Als dann Englisch auch Eingang in die Grundschule
fand, wurde ich 1980 zusammen mit einem Freund von einem Verlag
gebeten, auch ein modernes Lehrwerk für die Grundschule zu
entwickeln, das u.a. bereits Aktivitäten zur Schulung des Hör- und
Leseverstehens enthielt. Erst in diesem Jahrtausend konnte ich meine
Vorstellungen eines CLIL-Lehrwerkes für die Grundschule
verwirklichen.
Herr Prochazka, Sie erklären in Ihrem Vortrag, dass nur fast die
Hälfte der Wiener Grundschulkinder deutsche Muttersprachler sind.
Welche Sprachen werden den Kindern an Ihren bilingualen Schulen
dann zusätzlich gelehrt? Werden diese mehrheitlich an den
Muttersprachen der Kinder ausgerichtet?
Ja, das ist richtig. Studien zeigen, dass gute Kenntnisse der
Muttersprache das Erlernen jeder weiteren Sprache begünstigen. Aus
diesem Grunde wird allen Kindern in Österreich, deren
244
Muttersprache/Erstsprache/Familiensprache nicht Deutsch ist − in den
Schulen in Wien sind das über 16.000 Kinder − muttersprachlicher
Unterricht angeboten. Das Sprachangebot umfasst aktuell 20
verschiedene Sprachen: Albanisch, Arabisch, Bosnisch, Kroatisch,
Serbisch, Bulgarisch, Dari, Farsi, Koptisch, Kurdisch, Pashto,
Polnisch, Portugiesisch, Romanes, Rumänisch, Russisch, Slowakisch,
Somali, Türkisch und Tschetschenisch. Zum überwiegenden Teil
erfolgt der Unterricht im gemeinsamen Unterricht in Koordination mit
den jeweiligen Klassenlehrerinnen und -lehrern. Diese Kinder
fungieren später oftmals als Dolmetscher für ihre Eltern, weil sie
selber Deutsch meist viel besser sprechen als ihre Eltern.
In Wien gibt es sogar eine Grundschule mit sogenannten
Sprachateliers, wo die SchülerInnen für 6 Wochen eine neue Sprache
erlernen können. Dann können sie entweder ihre Sprachkenntnisse
weitere 6 Wochen lang vertiefen oder eine weitere Sprache
kennenlernen. Dies ist sehr häufig die Sprache ihres Freundes/ihrer
Freundin, da sie gerne sich mit ihm/ihr in seiner/ihrer Muttersprache
unterhalten wollen. Erfahrungen aus der Praxis haben gezeigt, dass
Kinder mit Migrationshintergrund eine Fremdsprache besser lernen,
weil sie ja bereits in jungen Jahren Deutsch (als Zweitsprache) erlernt
haben. Diese Kinder haben also scheinbar schon gelernt, wie sie sich
am schnellsten eine neue Sprache aneignen können, d.h. ihr Gehirn
hat bereits für ihre Zweitsprache (D) ein neues Nervensystem
aufgebaut, das mit dem muttersprachlichen System verbunden ist und
kann deshalb umso leichter (insofern dies noch in der Grundschule
passiert − etwa bis zum 8. Lebensjahr) und ähnlich der Muttersprache
eine neue Sprache erwerben. Aus diesem Grunde sollten wir auch
dieses Potential rechtzeitig nützen.
Was bedeutet es, wenn die Lernenden durch die frühe
Mehrsprachigkeit selbst bessere „Experten“ in dieser Sprache sind
als die Lehrkraft? Inwiefern könnte dieser Wissensvorsprung der
Schüler genutzt werden?
Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn die Lehrkraft mal etwas nicht
weiß. Sie ist ja auch schließlich kein Wörterbuch oder Computer! Ich
sage immer zu meinen Schülern, dass ich das Wort gerade nicht weiß,
es aber gerne nachschlage und es ihnen beim nächsten Mal sage.
Meine Studenten sind mittlerweile immer so flink, dass sie bereits
nach einer Minute mit ihrem Smartphone die englische Übersetzung
des Wortes nachschlagen. Manchmal ist es dann aber die falsche
Bedeutung, dann schlagen wir das Wort gemeinsam noch einmal
nach. Aber generell ist es toll, wenn man einen Native Speaker in der
Klasse hat. Diese Schüler können dann anderen noch etwas erklären
245
oder selbst teilweise die Lehrerrolle übernehmen. So kann jeder von
dem anderen lernen − „Tandem-Lernen“. Trotzdem hängt es natürlich
dann vom pädagogischen und didaktischen Geschick der einzelnen
Lehrkraft ab, wie sie die Muttersprachler am besten den Unterricht
mitgestalten lassen.
Herr Prochazka, Sie erläutern sehr viele eingängige Vorteile des
frühen Fremdsprachenlernens. Gibt es im Rahmen Ihrer Studien auch
Nachteile, die sich zum Beispiel durch eine Überforderung der
Schüler zeigt?
Nun ja, Nachteile gibt es eigentlich kaum. Natürlich kann es beim
CLIL-Unterricht mitunter zu Überforderungen der Schüler kommen,
wenn die Lehrkraft nicht durch geschicktes „Scaffolding“ und
verschiedene andere Unterstützungen den Sachverhalt klärt, ständig
motiviert und das Verständnis herstellt. Das einzige, was manchmal
vorkommen kann, ist, dass Schüler in bilingualen Klassen mitunter für
gewisse Zeit die Sprachen vermischen und ein Wort in einer anderen
Sprache sagen. Aber das ist ja weiter nicht schlimm. Kindern, die z.B.
im Kindergarten eine neue Sprache lernen, ist es sowieso nicht
bewusst, dass das Wort jetzt zu einer anderen Sprache gehört. Sie
lernen eigentlich nur, dass es ein anderes, neues Wort/eine andere
Redewendung gibt, um ein schon bekanntes/einen bekannten
Sachverhalt auszudrücken. Zum Beispiel ist das Wort apple nur ein
anderes Wort für Apfel. Es ist aber dann nicht falsch, wenn die Kinder
dieses englische Wort (meist für kurze Zeit) in einem deutschen Satz
verwenden. Man muss als Lehrkraft nicht immer mit dem Rotstift
hinter allen Fehlern her sein. Wir korrigieren ja auch nicht unsere
Kinder in der Muttersprache, wenn sie mal einen „Fehler“ machen,
sondern zeigen ihnen durch die Art, wie wir antworten, wie der
richtige Satz gelautet hätte. Genauso müssten wir es auch beim
Fremdsprachenerwerb machen.
Außerdem ist es ja so, dass wir eigentlich bloß zehn Prozent unseres
Gehirns tatsächlich nutzen, was zeigt welches Potential noch in
unserem Gehirn vorhanden wäre. Wenn wir also durch das Erlernen
einer neuen Sprache unser Gehirn nur um 1 Prozent mehr nutzen,
können wir die Kapazität des Gehirns um ein Vielfaches auch steigern
und selbst dabei flexibler und offener werden.
Wie stellen Sie sich die österreichische und deutsche Schullandschaft
in 50 Jahren vor? Wird es dann noch einen Englischunterricht per se
geben?
246
Das kann ich schwer sagen. Aber wenn ich es mir aussuchen dürfte,
dann würde ich bereits im Kindergarten damit anfangen, den Kindern
mehrere Sprachen beizubringen. Und zwar nicht nur so einfache
Sprachen wie Englisch, sondern vielmehr die meist schwierigeren
Sprachen der Nachbarländer, zu denen die Kinder auch mehr Bezug
haben. Zum Beispiel denke ich da – auf Österreich bezogen − an
Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch, welche nicht so leicht zu
erlernen sind. Wenn aber bereits früh mit solchen Sprachen
umgegangen wird, dann werden sie von den Schülern leichter und
ohne große Anstrengungen erlernt. Dann würde ich erst später
Englisch im schulischen Kontext dazukommen lassen, da man
englische Wörter ja so oder so nebenbei über die Medien immer
wieder aufschnappt. Dann kann so circa im Alter von 15 Jahren
Englisch nicht mehr im klassischen Sinne unterrichtet werden,
sondern es sollten dann andere Fächer auf Englisch (CLIL)
unterrichtet werden. Die freigewordene Zeit in der Stundentafel
könnte stattdessen zum Erlernen weiterer Sprachen benutzt werden.
Dies müsste auch von Schüleraustausch, Auslandsaufenthalten und
verschiedenen fremdsprachlichen Projekten (inner- und außerschu-
lisch) begleitet werden. Aufgrund dieser Entwicklungen denke ich,
dass in Zukunft jeder Schüler und auch jeder Lehramtsstudent
zumindest einmal für längere Zeit in ein anderes Land geht, um neue
Sprachen und Kulturen kennen zu lernen.
247
Das Interview führten:
Stephanie Lindner und Anita Graeff, 6. Semester, Lehramt
Gymnasium, Fächerkombination: Mathematik/Englisch
248
Simone Huber und Nicole Scheuerpflug
Prof. Dr. Michaela Sambanis: Kurzbiographie
Michaela Sambanis kam schon
äußerst früh mit mehreren Fremd-
sprachen in Berührung. Da beide
Elternteile im Ausland studiert hatten,
unterhielten sie sich oft in der
Fremdsprache. Angetrieben von der
Motivation, die Eltern verstehen zu
können, war bei Michaela Sambanis
die Faszination für Fremdsprachen in
gewisser Weise schon von Kindesalter
an vorgezeichnet. Ihre eigene
Grundhaltung hinsichtlich einem
gelingenden Fremdsprachenlernen ist
klar: „Die beste Erfahrung ist es, wenn Lernen Spaß macht!“ Nach
einem Lehramtsstudium in den Fächern Englisch, Französisch und
Deutsch sowie einem ergänzendem Studium der Psychologie
herrschte aber weiterhin eine enge Verzahnung zwischen
akademischer Theorie und schulischer Praxis vor. Durch
eine Teilabordnung wurde sie an die Hochschule zurückgeholt, wo sie
im Bereich Didaktik der englischen und französischen Sprache lehrte
und forschte.
Die meisten Fragen ihres Forschungsspektrums zielen darauf ab, wie
das Lehren und Lernen von Fremdsprachen erfolgreich und mit viel
Freude von statten gehen kann. Ihre allgemeine Neugierde gemeinsam
mit anderen Menschen über noch unbeantwortete Fragen
nachzudenken, entfachten ihre Faszination für die „Blackbox Gehirn“.
Nach der Promotion folgte die Habilitation (2006) mit den Themen
„Lernen in der sozialen Interaktion“ und „Emotionen und Lernen“, in
denen sich Sambanis größtenteils auf eigene empirische Studien im
Englisch- und Französischunterricht in der Grundschule stützt.
Danach folgte eine mehrjährige Tätigkeit am TransferZentrum für
Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, an dem der Grundstein für
die spätere Erforschung vom Wechselspiel zwischen Bewegung und
Fremdsprachenaneignung gelegt wurde. Im Bereich der
Bildungsentwicklung bemüht sie sich vor allem um eine reflektierte
„Übersetzung“ von Erkenntnissen der Neurowissenschaften in die
Fremdsprachendidaktik. Eines ihrer Hauptanliegen ist heute die
249
Erweiterung der empirischen Erkenntnisbasis zum Lehren und Lernen
von Sprachen.
Interview mit Prof. Dr. Michaela Sambanis
Wie müsste das Klassenzimmer (bzw. das Schulgebäude) gestaltet
sein, um bewegtes Lernen zu ermöglichen?
Selbstverständlich ist es angenehm, wenn ein Klassenzimmer
genügend Raum bietet, damit eine Bewegungszone eingerichtet
werden kann oder zumindest so viel Platz ist, dass auch ausladende
Bewegungen zwischen Tischen und Bänken jederzeit möglich sind.
Gerade in Schulen mit weniger großzügigem Raumangebot ist es
wichtig, Bewegung zu ermöglichen, − in ausgleichender und, wann
immer sinnvoll, auch in lernförderlicher Funktion (zu verschiedenen
Funktionen von Bewegung im FSU siehe Sambanis 2013: 93). Als
Lehrkraft sähe ich mich herausgefordert, Bewegungsmöglichkeiten zu
finden, die auch in engen Klassenräumen möglich sind, denn
einerseits ist es zwar wichtig, auf Verbesserungsmöglichkeiten, z.B.
des Raumangebotes und der Raumgestaltung, aufmerksam zu machen
und Vorschläge an geeigneter Stelle engagiert vorzubringen,
andererseits wäre es im pädagogischen Alltag fatal, stets zuerst auf die
Schaffung optimaler Rahmenbedingungen zu warten. Tatsächlich sind
auch in kleinen Räumen Bewegungsangebote möglich und sie tun den
Lernenden in mehrerer Hinsicht gut. An vielen Schulen finden sich
auch Ausweichmöglichkeiten für kompakte Bewegungs-Lernphasen,
z.B. im Außenbereich.
Manche Bewegungen (Gestik, Mimik) können auch im Sitzen
durchgeführt werden, dennoch habe ich es als noch wirksamer erlebt,
wenn die Schülerinnen und Schüler zum Bewegungslernen aufstehen,
ihren Stuhl an den Tisch heranschieben, um so zumindest den kleinen
Bewegungsspielraum ausnutzen zu können, der in jedem
Klassenzimmer geschaffen werden kann. Durch das Aufstehen wird
dem Gehirn signalisiert: Jetzt kommt etwas Neues! Das fühlt sich
erfrischend an, weckt Neugierde und führt dazu, dass das Gehirn die
Aufmerksamkeit erhöht (vgl. Sambanis 2013 sowie Korte 2011).
Ein besonders bewegungsfreundliches Klassenzimmer sollte eine
Bewegungszone bieten, die auch z.B. für Rollenspiele oder als
Bühnenbereich genutzt werden kann. Außerdem wäre ein
Klassenzimmer wunderbar, in dem verschiedene Zonen eingerichtet
werden können, z.B. einige Einzelarbeitsplätze, an die sich SuS, die
ungestört arbeiten wollen, zurückziehen können, eine Hör- und
250
Freiarbeitsecke usw. als Zonen, die jederzeit genutzt werden können,
ohne die sonstige Sitzordnung aufheben und Tische rücken zu müssen.
Sollte man Schüler, die mit dem Stift spielen oder mit dem Stuhl
kippeln überhaupt ermahnen? Warum?
Bewegungen, die mit einer erhöhten Verletzungsgefahr einhergehen
(z.B. mit dem Stuhl kippeln), müssen unterbunden werden (Stichwort:
Nutzen-Risiko-Abwägung, Verantwortung der Lehrkraft). Dennoch ist
das Kippeln mit dem Stuhl oftmals ein Zeichen dafür, dass dem S/den
SuS gerade etwas Bewegung gut täte, oder dass das Unterrichts-
geschehen ihn nicht besonders anspricht und er sich schlichtweg
langweilt (dann: Schüleraktivierung, Anschaulichkeit, Methoden-
vielfalt usw.). Lehrkräfte entwickeln oftmals ein sehr gutes Gespür
dafür, wann den SuS etwas Bewegung als Ausgleich zum Stillsitzen,
z.B. ein Energizer oder auch eine beruhigende Zwischenphase, gut
täte. Auch das Einrichten von Arbeits- oder Präsentationsphasen, die
mit Bewegungen in Verbindung stehen, wie z.B. ein Gallery Walk,
können genutzt werden, um dem Bewegungsdrang
entgegenzukommen.
Als Lehrkraft steht man vor der Aufgabe, allen SuS in der Klasse das
Lernen zu ermöglichen. Wenn sich umsitzende Kinder gestört fühlen,
ist es nicht in Ordnung, einem Kind z.B. das Klicken mit dem Kuli zu
erlauben, nur weil dieser S meint, dadurch besser lernen zu können.
Eine Alternativlösung könnte wie folgt aussehen: In bestimmten
Unterrichtsphasen scheint es unproblematisch den SuS das Kritzeln
auf einem Schmierpapier ganz offiziell zu erlauben. In Applied
Cognitive Psychology ist vor einigen Jahren die Studie eines
britischen Forscherteams erschienen, die förderliche Effekte des
Kritzelns beim Zuhören nachweisen konnte. Es scheint, als gelänge es
Hörern dadurch besser, nicht in Gedanken abzuschweifen, sondern für
Gesprochenes aufnahmefähig zu bleiben, sich aber zugleich durch die
motorische Tätigkeit ein Ventil zu verschaffen. Nachzulesen sind die
Ergebnisse der Studie in knapper Zusammenfassung u.a. in Die Welt:
http://www.welt.de/wissenschaft/article3287073/Kritzeln-beim-
Zuhoeren-unterstuetzt-Erinnerung.html).
Werden Schüler von zu viel Bewegung nicht unruhig?
In diesem Zusammenhang halte ich es für wichtig bei Bewegungen,
ähnlich wie bei Musik, zwischen aktivierenden und eher beruhigenden
Formen zu unterscheiden. Außerdem bedeutet der Einsatz von
Bewegungen im FSU nicht, dass man ständig im Zimmer
herumspringen müsste. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, was
251
den SuS gut tut und dabei zu bedenken, dass Bewegung als
Lernunterstützer genutzt werden kann.
Braucht man für jede Vokabel, die gelernt wird, eine neue Bewegung?
Werden Bewegungen genutzt, um zusammengehörende Inhalte z.B.
die neuen Vokabeln zu einem Text, einzuführen, dann sollte
tatsächlich jedem Wort oder jeder Wendung eine eigene, sinnvolle
Bewegung zugeordnet werden, und man sollte beim Üben auch bei
der Zuordnung bleiben, d.h. die Bewegungen nicht mehr verändern,
denn sonst versucht das Gehirn, die Widersprüchlichkeit, die durch
wechselnde Bewegungen erzeugt wird, aufzuklären. Dadurch werden
Kapazitäten, die sonst für die eigentliche Enkodierungsarbeit zur
Verfügung stünden, unnötiger Weise blockiert, sodass das Einprägen
eher behindert als gestützt wird (vgl. hierzu Studien von Macedonia,
Hinweise bei Sambanis 2013).
Dennoch muss man nicht befürchten, fast zwanghaft zu jedem neuen
Wort eine passende Bewegung finden zu müssen. Auch die SuS
können Bewegungen vorschlagen – oftmals finden diese sogar mehr
Anklang bei den Lernenden als Bewegungsvorschläge der Lehrkraft.
In einigen Unterrichtsversuchen wurde z.B. neues Vokabular auf SuS-
Gruppen aufgeteilt (zeitlich auf wenige Minuten begrenzte Findungs-
und Einigungsphase!), sodass die Kinder mit dem Wortschatz in
Berührung kamen, sich damit auseinandersetzten und sofort eine
Teilverantwortung übernahmen, indem sie geeignete Bewegungen
auswählten, die dann vorgeführt, von der Klasse übernommen und
zusammen mit dem Sprachmaterial beim Chorsprechen mehrfach
zusammen geübt wurden. Angesichts der hohen Behaltenseffekte hat
sich die überschaubare Zeitinvestition fürs Bewegungsfinden gelohnt!
Auch wenn für Bewegungen sehr erfreuliche Effekte nachgewiesen
werden konnten, sollten sie nicht die einzige Strategie im
Klassenzimmer werden, sondern vielmehr das Spektrum an Zugängen
und Strategien bereichern. SuS können Bewegungslernen auch
unabhängig voneinander nutzen, zu Hause oder, wie gesagt,
Bewegungslernen muss nicht ständig, sondern kann in der Klasse bei
Bedarf genutzt werden (z.B. bei besonders wichtigen Inhalten, wenn
die SuS bereits einen langen Schultag mit viel Stillsitzen hinter sich
haben, wenn im Wortschatz ähnliche Wörter sind, die einander
behindern könnten).
Inwiefern unterscheiden sich Jungs und Mädchen bei diesen
Bewegungen? Sind Mädchen da Ihrer Erfahrung nach zum Beispiel
verhaltener?
252
Dazu liegen zumindest (noch) keine systematisch erhobenen Daten
vor, und ich bin nicht sicher, ob Studien tatsächlich zu
aussagekräftigen Ergebnissen führen, da es m.E. eine ganze Reihe
weiterer Variablen gibt – abgesehen bzw. in Kombination mit dem
jeweiligen Geschlecht –, die mir eine eindeutige Beantwortung dieser
Frage eher nicht realistisch erscheinen lassen. Ein wesentlicher Faktor
neben dem Geschlecht (das übrigens als Variable durchaus auch
überschätzt wird), ist z.B. das Alter (Pubertät oder nicht? etc.) und
natürlich Persönlichkeitsvariablen. Aus eigenen Erfahrungen,
Unterrichtsbeobachtungen und Rückmeldungen von Lehrkräften kann
jedoch berichtet werden, dass die Bereitschaft, sich am
Bewegungslernen zu beteiligen, maßgeblich von der Haltung der
Lehrkraft und der Information darüber, warum Bewegungslernen
ausprobiert wird, abhängt. Zweifel und Unsicherheiten der Lehrkraft
werden von SuS bemerkt, und sie deuten diese Signale. Verbale und
nonverbale Signale der Lehrkraft beeinflussen unbewusst u.a. die
emotionale Eingangsbewertung, die ständig im Gehirn (limbisches
System) vonstattengeht, was wiederum auf Akzeptanz und
Bereitschaft der SuS rückwirkt.
Bei Lehrkräften, die mit Überzeugung und Selbstverständlichkeit
bewegtes Lernen in den FSU gebracht haben, konnten wir keine
Unterschiede beobachten, die sich eindeutig auf das Geschlecht
zurückführen ließen. Da es beim Bewegungslernen jedoch nicht
darum geht, möglichst dramatisch zu inszenieren, ist letztlich das
ganze Spektrum von eher verhalten bis expressiv in Ordnung. Denn,
das sollte auch den SuS bewusst sein: Es geht bei alldem schließlich
darum, das Gehirn bei seiner Lernarbeit zu unterstützen und nicht
darum, aufzufallen, andere zu stören und sich in den Vordergrund zu
spielen. Unsere Unterrichtsbeobachtungen weisen in dieser Hinsicht
übrigens bei der Geschlechterverteilung in eine ähnliche Richtung wie
Studien zu LRS und ADHS: Es sind häufiger Jungen, die auf die Idee
kommen, beim Bewegungslernen auszubrechen als Mädchen, aber
unsere Erfahrungen haben auch gezeigt, dass die Information über die
Zusammenhänge (Gehirn-Bewegung-Lernen), also das Betreten einer
Metaebene, gerade in solchen Fällen neben der Kommunikation
unverzichtbarer „Spielregeln“ ein wirksamer „Kontrollfaktor“ sein
kann.
Müssen die Bewegungsspiele an das Alter angepasst sein? Haben Sie
es schon erlebt, dass Schülern bestimmte Bewegungen unangenehm
waren?
Auch in diesem Fall rate ich dazu, sich auf seine Wahrnehmung und
sein Gespür zu verlassen. Außerdem ist es möglich, die SuS um
253
Rückmeldung zu bitten und sich als Lehrkraft Feedback einzuholen.
Es wundert nicht, dass Hatties Studie eine hohe Effektstärke für
wechselseitiges Feedback nachweisen konnte: Schließlich kann
niemand besser beurteilen, ob sich für die SuS Aktivitäten akzeptabel,
ansprechend und sinnvoll anfühlen als sie selbst!
Das Zuordnen von Bewegungen zu Lerninhalten trägt bei jüngeren
Lernern tatsächlich oftmals kindlichere, spielerische Züge – der ganze
Körper wird einbezogen und auch stimmlich gestalten jüngere Kinder
gerne eindrucksvoll aus. Heranwachsende empfänden das
möglicherweise als peinlich, können sich aber z.B. auf
Handbewegungen einlassen. Auch aus diesem Grund befürworte ich
die Idee des Einbezugs der Lerngruppe beim Finden von
Bewegungen. Durch die Mitwirkung der Lernenden wird ein Teil der
Verantwortung, aber auch ein Mitspracherecht in ihre Hände gelegt
(Stichwort: Selbstwirksamkeit), sodass das Einnehmen einer
Ablehnungshaltung gewissermaßen überflüssig wird. Man kann als
Lehrkraft aber auch zum Üben in Kleingruppen oder Tandems
anregen, denn meistens sind nicht die Bewegungen unangenehm,
sondern der Gedanke, dabei beobachtet zu werden und albern
auszusehen. In einer meiner Erprobungsklassen hatte ich einige SuS,
die die Bewegungen zunächst nur mitmachen wollten, wenn sie diese
in einer Ecke mit Blick zur Wand ausführen durften.
Natürlich lassen sich Wort-Bewegungs-Zuordnungen auch wunderbar
in spielerische Übungen übertragen, z.B. Simon says (eher für
Grundschüler und jüngere Sekundarschüler) oder, auch für ältere
Lerner geeignet, das Erraten von pantomimischen Darstellungen (zu
weiteren Impulse für den Unterricht vgl. Sambanis 2013:
„Praxisfenster“ in Kapitel III, IV und V).
Welche Bereiche/Prozesse werden im Gehirn aktiviert, wenn man sich
beim Lernen bewegt? Warum genügt also schon bloßes Herumlaufen
ohne sinnvolle Bewegung?
Beim Bewegungslernen werden motorische Areale aktiviert, die bei
anderen Enkodierungsformen gar nicht oder nicht im selben Ausmaß
aktiviert würden. Bei sinntragenden, stimmig zugeordneten Gesten
konnten Forscher z.B. „brain activation in the premotor cortex“
(Macedonia et al. 2011: 12) nachweisen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Bewegungslernen (Sambanis
2013: 131)…
- „nutzt die natürliche Verbindung von Sprache und Bewegung; etwa
zwei Drittel unserer Kommunikation spielen sich nonverbal ab – in
Mimik, Gestik und Blickverhalten“ (Vogeley 2013: 70)
254
- führt zur Anlage sogenannter motorischer Gedankenspuren, die
sich auf die Schnelligkeit des Lernens und auf das langzeitliche
Behalten günstig auswirken können […]
- Physische Erfahrungen ermöglichen unterschiedliche sensorische
Eindrücke und führen zu einer vernetzten Speicherung der Inhalte […]
- Vielfältige Gründe sprechen für Bewegung im Unterricht […],
darunter auch die mögliche Begünstigung von Konsolidierungs-
prozessen […].“
Bloßes Herumlaufen führt allerdings nicht automatisch zu
vergleichbaren Aktivierungsmustern im Gehirn. Die nachgewiesenen
Effekte sind dennoch vielfach ermutigend, bedürfen aber einer
anderen Erklärung: durch (Ausdauer-)Laufen kommt der Kreislauf in
Schwung, Durchblutung und Sauerstoffzufuhr verbessern sich, wovon
auch das Gehirn (vor allem die Großhirnrinde) und damit das Lernen
profitieren kann.
Obschon durch bloßes Laufen ein günstiger Aktivierungszustand
erreicht werden kann, werden dadurch, anders als bei sinnvoller
Bewegungszuordnung, keine zusätzlichen, informationstragenden
Knotenpunkte im Gehirn angelegt und diese erfüllen oftmals die
Funktion der entscheidenden Erinnerungshilfe: Durch das Erinnern
/Wiederausführen der Bewegung springt das Netzwerk an, d.h. erst die
spezifische Bewegung ermöglicht den SuS in vielen Fällen den
Zugriff auf die zugeordneten Inhalte.
Auch für Yoga hatten Sie sich in Ihrem Vortrag ausgesprochen.
Inwiefern trägt Yoga dazu bei, dass das Gehirn aufnahmefähiger ist?
Über den Einsatz von Yoga als entspannende Bewegungstechnik im
Englischunterricht mit ggf. konzentrations- und aufnahme-
förderlichem Nachhalleffekt möchte ich an dieser Stelle noch keine
Prognosen abgeben. Dazu läuft aktuell eine erste kleine, an der FU
Berlin verortete Studie.
Die im Vortrag referierten Daten zu Yoga hingegen dienten der
Klärung einer anderen Frage: In zahlreichen Studien konnten wir die
förderlichen Effekte von sinnvoll zugeordneten Bewegungen
besonders aufs langzeitige Behalten nachweisen und zwar bei
unterschiedlichen Fremdsprachen und bei jungen, heranwachsenden
wie auch erwachsenen Lernern. Uns interessierte in diesem
Zusammenhang dann ergänzend die Frage, ob die Effekte
möglicherweise auf das Ausführen von fließenden Bewegungen
zurückzuführen waren und sich nicht zeigten, wenn stattdessen
standbildartige Positionen eingenommen würden. Die im Vortrag
referierte Studie gab jedoch Hinweise darauf, dass die Langzeiteffekte
255
auch z.B. durch die Verbindung mit Yoga-artigen Stellungen und
Sprache erreicht werden können, was beispielsweise bei zappeligen
Kindern oder hellhörigen Schulhäusern eine gute Alternative zu eher
geräuschvollen Bewegungen sein kann.
256
Das Interview führten:
Simone Huber, 6. Semester, Lehramt Realschule, Fächerkombination:
Englisch/Französisch
Nicole Scheuerpflug, 7. Semester, Lehramt Gymnasium,
Fächerkombination: Englisch/Italienisch
257
Sandra Göllner und Kristina Petri
Interview with Prof. Dr. Georgios Ypsilandis
George Ypsilandis is an associate
professor on CALL, Second
Language Acquisition, and
Teaching and Learning Theories at
the department of Italian Language
and Literature of the Aristotle
University of Thessaloniki, Greece.
He holds an M.A and a Ph.D. in
Applied Linguistics.
Ypsilandis published several
articles in international journals and
presented papers in conferences in
Greece, Italy, UK, USA, France,
Germany, Belgium, Poland,
Austria, FYROM, Hungary,
Cyprus, Serbia and Saudi Arabia.
Furthermore, Ypsilandis received a
visiting professorship in 2012 from the King Saud University in Saudi
Arabia and acted as a teacher trainer in Greece, Italy, Cyprus, UK and
Albania. He has also worked for almost two years as a consultant for
Oxford University Press and an ESP teacher at the University of
Macedonia and the Technological University of Thessaloniki. He has
been a keynote in several occasions in Greece, Italy, Albania and
Spain and an ad hoc referee for papers submitted to Language
Awareness (published by Multilingual Matters, Clevedon, U.K.) and
the Compiegne (France) conference on CALL.
Ypsilandis was the EUROCALL representative in Greece from 1998
to 2013 and organized a conference on ESP and IT at the University
of Macedonia (year 2000). He used to run a one-year (250 hours)
teacher training course on CALL (the first in Greece) for 5 years while
at the University of Macedonia. In 2007 he designed the educational
scenario and internal structure of an on-line distance teacher training
course which received the European Label Award for innovative
projects in language teaching and learning of that year.
258
Important aspects concerning feedback and its potential
to transform the way we teach
You have been working in the area of feedback for the last 17 years.
What was the reason for your commitment to this field?
There are two periods which helped me shape my interest in
supportive feedback. The first was the one that triggered my curiosity
and the second the one that shaped my unsteady steps in the world of
applied linguistics.
When I was a young student at the High School of my hometown in
Greece (Kilkis), I was sitting at the back rows of the classroom. There,
with the riff raff, those students who typically received low marks and
typically had low motivation to follow the educational system as it
was at the time. I am very glad to have spent time with those persons
who became my friends, because I realized how intelligent they were,
and still are. May I just say here that, although they never opened their
books on any subject, they still managed to pass quite a few of their
exams. It struck me back then: Why was the educational system
rejecting them, without inviting them into the world of learning? It
became my belief that part of the aims of an educational system is to
create the proper environment for ALL students to learn.
The second period that helped me shape my initial observations was at
the University of North Wales, Bangor, where I did my MA in applied
linguistics and a first part of my Ph.D. There, with the support of Carl
James and Phil Scholfield, I developed an interest in experimental
research. I wrote my dissertation on Computer Assisted Language
Learning, and one of the findings that came out of it was that, any
negative attitude in the use of computers for language learning was a
result of the low quality of the feedback that was provided by the
machine. Remember that most software at that time provided simply a
‘yes’ or ‘no’ answer after an attempt was made by a student to find the
expected/correct answer to a number of tests. I had the opportunity to
discuss that over and over again with Phil Scholfield (who was my
supervisor and gave me ample time for discussion – I’d like to take
the opportunity to thank him in public for that), and began to shape
my thoughts in understanding feedback in a new conception, i.e. not
only as a control and corrective mechanism, but also as a supportive
mechanism, which could assist towards a better quality of learning.
Later I thought that feedback could also aim at engaging the student in
the learning process and, thereupon, improve the quality of learning
that is taking place in the individual.
259
Which aspects of this field of study do you consider most fascinating?
The first one relates to supportive feedback strategies. Locating
feedback strategies that can be absorbed better by the human mind
may help us design much better courses, learning software or offer
much better services as teachers in general.
At a second stage this study may add to the discussions aiming to
provide a better understanding of human brain functions. Most would
agree today that the human mind is a very complex learning organism
which we do not entirely understand (more and more introspective
studies provide data in this direction) and control, at least to the extent
to which we control other parts of our body. It seems to have a mind
of its own! Investigating or attempting to understand the complexities
of human mind operations is a truly fascinating experience. Shaping
the right hypotheses, at the beginning of a study, and analyzing data
can be particularly euphoric, when findings are not expected.
Which major changes could you observe concerning the
implementation of feedback in schools?
Schoolteachers have always provided both types of feedback,
supportive and corrective. My studies are aiming at providing more
concrete information about successful and unsuccessful feedback
strategies in relation to short and long-term memory. One major
change − rather revolutionary in my view − is our focus on learning
instead of teaching. Many teaching theories, that where shaped for
many years, took comparatively little consideration of findings
coming from experimental studies on learning. So far, it is truly too
soon to make any claims, I could only say that providing feedback of
better quality may invite more students to the world of learning,
particularly for those students with different cognitive and learning
styles.
In your study, you have classified the participants in their learning
styles. How did you achieve that? What method did you use?
Today there are many tests in the form of questionnaires, that help
those interested to locate their cognitive or learning style. Rebecca
Oxford’s work and the work of others can be found in the literature.
Quite a few appear on the internet, such as Google’s ‘on line cognitive
style questionnaire’ or on line learning style questionnaire’.
Furthermore, morphological explanations showed the best results,
whereas pictures performed worse. Usually pictures are very helpful,
260
depending on the word it depicts. How come the pictures in your study
confused most of the participants?
You are probably very right to say this. Often it is said that pictures
assist in vocabulary learning, and perhaps in learning in general. The
problem in that study I presented in Nei Poroi was the picture I had
selected. Not only it was not clear (as to clarify the word), but it
proved to be misleading. So, the problem was me, really, and the
picture I had selected. It could be stated, however, that when pictures
are chosen to clarify meaning, the selection has to be very careful,
particularly with abstract words, i.e. freedom, life, death, etc.
Morphological explanations and pictures were some of the feedback
strategies. Which other strategies did you use in your study?
I have used different strategies by repeating the same process with
different students over the years. Let me mention here a few. (1) Ask
the students to write on paper three examples, which include the new
item/word, (2) provide a definition in the target language and (3) give
the equivalent word in the mother tongue of the students.
Your findings reveal that words at the beginning and at the end of a
text are remembered better than those in the middle. Can this
psychological primacy-recency-effect be applied on the structure of
our school lessons?
I must say that the number of subjects in this study, and in other
studies, is very small to make claims for the entire student population.
It is a confining variable, if you would like to use the proper term. In
the near future, I intent to collaborate with Heiner Böttger in a study
investigating different feedback strategies and correlating data to
receive more concrete results from a larger sample.
Currently, the beginning and ending of a lesson are the introduction
and the conclusion, while the important facts are presented in the
middle of the lesson. How should we, according to your findings,
restructure our school lessons?
My studies on feedback are not related to the structure of a lesson. I
understand, however, that by analogy you are transferring findings
from my talk, which registers a tendency related to new vocabulary
and its location in a text, where new words presented at the beginning
and at the end of a text seem to remain in the long-term memory. I
suspect that your analogy may be a good hypothesis that you could
261
test and support by experimental data in the future. Now, should that
experimental study provide concrete results matching my findings
related to vocab placement in a text, this would indeed provide a
revolution to lesson class planning.
Students have to manage different tasks aiming at testing their skills in
pronunciation, verbal fluency, grammar, vocabulary or
communication. Which tasks require which kind of feedback?
May I initially direct you to the works of Falchikov, N. (1993).
“Group Process Analysis: Self & peer assessment of working together
in a group” Educational & Training Technology International Vol. 30
(No 3), pp. 275. and Long, M. H. (2005) “The delivery of negative
feedback in natural, classroom, and artificial environments” Keynote
at the UNTELE 2005 conference, Compiegne, France, where you
could find interesting comments about different feedback strategies.
In addition, I could offer a few comments that may assist you to
shape your thoughts on this matter and relate to the provision of
feedback in general.
a) Decide whether it is supportive or corrective feedback that you
wish to offer.
b) Relate feedback content to the initial targets of the task, i.e. if
it is a task where form is important, then feedback on form should be
offered. If the task is aiming at communication, then minor mistakes
or errors on form, which do not affect meaning, may be left aside.
c) Determine what feedback strategy to employ. Different
feedback types can be found in the literature (in one of my slides, you
could find many of those). Remember to focus on task aims without
insulting or intimidating students. Be kind!
d) Think of the amount of feedback that is necessary for the
completion of the task. Try not to give too much, but also not too
little.
Communication tasks often include group discussions. Is it possible
for the teacher to give individual feedback to each group member?
What form of feedback would be appropriate here?
In group discussions it is indeed difficult to provide individualized
feedback, as that would probably ruin fluency and jeopardize the flow
of discussion. As pointed earlier, on tasks aiming at improving
communication skills, minor errors on form that do not affect meaning
may not be corrected. These could be written down by teachers and
corrected later (individually or in groups). Errors that may affect
communication may be corrected on the spot, without pointing to the
262
error. Pragmatic failures, which are often neglected, may be corrected
as well. May I direct you to an attached article on pragmatic
infelicities and their treatment? The technique, referred to in the
literature as ‘expansion’, may be ideal for this purpose. This is a
technique often used by mothers to correct their children. Mothers
simply repeat the correct version without pointing to the error, e.g.
when the child says ‘dasser’, mothers reply ‘Magst du Wasser?’.
Mothers are doing an excellent linguistic job if you consider that;
although, most do not have the relevant training, they still manage to
assist language development to a high level before the child receives
any formal education.
What about written tasks? Should students receive feedback on written
tasks? Should this feedback then be provided in written form?
Early studies on feedback in the 60s showed clearly that absence of
feedback does not help the learning process. It may be possible to add
that the sooner feedback is provided, the better it is for the learner.
When feedback comes with a delay, students may forget or trouble not
to return to the task. In this light, written tasks (same as oral tasks)
would require the provision of feedback as well. Whether it should be
written or oral is another interesting hypothesis that you may wish to
pursue. Typically, feedback is provided in written format. The
question here is: ‘Is it read by those who receive it?’
Your research confirms that feedback is an important instrument to
influence the students’ performance in a positive way. How can we
ensure that these findings are considered in the structure of our oral
and written tests?
My research is a study of small scale to produce any concrete
results, at the moment. The term I would use is that it lacks validity,
i.e. the sample is too small to represent a population. It is on a pilot
level as yet. Next year, I shall be conducting more thorough studies
with larger groups in Eichstätt, and perhaps have more to say on this
topic.
Students not only receive feedback to tests, they are also graded
according to their performance. Can we include your findings
concerning feedback here? Does the grading system then have to be
altered to respond to a student’s performance in a more individual
way?
263
That is a very complicated question. Yes, feedback could be
provided individually. Yes, it could be shaped to lead to a higher
quality of learning (another hypothesis here?). Marks provided at the
end of a semester could also be perceived as a form of feedback. I
have two problems there: a) it may be too late, because a final passing
or failed mark is then given (most students do not return to the test), b)
this mark is too general to help students shaping their learning.
Clearly, in final exams this is often wanted, as every test has a
political function. It determines who gets what. I have recently written
a paper on that with the assistance of a colleague, who provided
funding for the research, and a Ph.D. student of mine. The title is,
‘Piloting a polychotomous partial-credit scoring procedure in a
multiple-choice test’. It was published in the ‘Journal of Language
Learning in Higher Education’ and was released this May. In this
article I discuss, in more detail, the ethics of multiple choice testing
and propose an alternative marking system.
If feedback should be given individually and should be considered in
the grading system, isn’t this system then based on individuality and
subjectivity, thus possibly being considered unfair by the students?
Students often feel they are treated ‘unfairly’ (smiles). Teachers as
students are probably even worse! I should think it is a human reaction
to an evaluation process, particularly when this process has a
gatekeeping function. While feedback can be provided individually to
offer more personalized assistance to the student, the marking system
would need to be the same to all in order to guarantee objectivity.
However, one should keep in mind that there are different feedback
types related to the stage of learning, which the test aims or targets.
For example, in the case of cloze tests, frequently used to offer
practice with newly presented material in class, (should that be vocab
or grammar) feedback could focus on assisting the learner to improve
and correct his learning. Marking there is not important. When tests
are offered at the end of a course, upon which a political decision will
be made in terms of placing students in a certain rank or deciding who
passes and who does not, feedback takes a different deed. The former
aim is to assist (no marks are needed here), while the latter to declare
a result, upon a decision will be made. A marking system would need
to be selected here, that would have to be the same for all.
Corrective feedback helps the students to critically review their
performance. Is there a difference between supportive and corrective
feedback concerning the students’ emotional response?
264
Great question, that would certainly need to be tested through an
experimental study. I could hypothesize and expect differences in the
emotional reaction of students, which could be recorded in a scale. I
would be happy to supervise a research on that.
265
Das Interview führten:
Sandra Göllner, 4. Semester , Lehramtsgeeigneter Zwei-Fächer-
Masterstudiengang, Fächerkombination: Anglistik/Amerikanistik-
Hispanistik
Kristina Petri, 12. Semester, Lehramt Gymnasium,
Fächerkombination: Englisch/Geographie
266
Nadine Tschurtschenthaler und Kai Meyer
Prof. Dr. Rita Franceschini: Kurzbiographie
Frau Prof. Dr. Rita Franceschini
promovierte 1992 nach ihrem
Studium der Romanistik und
Germanistik in Zürich. Sieben
Jahre später habilitierte sie mit
ihrer Arbeit zu „Gelebtem
Sprachkontakt in einer Schweizer
Stadt“ an der Universität Basel. In
den Jahren von 2000 bis 2004 hatte sie eine Professur am Lehrstuhl
für angewandte Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der
Universität des Saarlandes inne. Anschließend wurde sie 2004 zur
Professur für Sprachwissenschaft an der Freien Universität Bozen
berufen, wo sie zugleich die Stelle der Rektorin antrat. Weiterhin war
die Sprachwissenschaftlerin von 2004 bis 2012 Mitglied der
Expertengruppe des Nationalen Forschungsprogramms zum Thema
„Sprachkompetenzen in der Schweiz“. Im Zuge ihrer zahlreichen
weiteren Forschungsarbeiten arbeitet Franceschini auch an der
Erforschung neurobiologischer Aspekte der Mehrsprachigkeit. Diese
waren auch Gegenstand ihres Beitrages zur TMB-Tagung, in welchem
sie auch kurz auf ihren aktuellen und durchaus vielversprechenden
Forschungsbereich, dem Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und
der Demenzerkrankung einging.
In einem an diesen Vortrag anknüpfenden Interview greift Frau
Franceschini noch einmal ausgewählte Aspekte der Thematik heraus,
präzisiert diese und gewährt auch persönliche Einblicke in ihre Arbeit.
Interview mit Prof. Dr. Rita Franceschini
Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Franceschini, inwieweit hat Ihre
persönliche Spracherwerbsbiographie die Wahl Ihres Forschungs-
schwerpunktes beeinflusst?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr so genau, doch ich kann mich
erinnern, dass ich mich schon seit früher Kindheit für Sprachen
interessiert habe. Als 7-8-Jährige habe ich mir bspw. überlegt, wie
man anderen Kindern am besten Sprachen beibringt. Vor allem trieb
mich um, wie man anderen zu einer guten Aussprache verhelfen kann:
267
Auf dem Schulweg überlegte ich mir Lektionen dazu! Das hört sich
vielleicht verrückt an, aber so war es! In der Schule mochte ich
Grammatikunterricht vorerst gar nicht. Ich wollte Architektin werden,
das Konservatorium besuchen oder Botanik studieren. Nun: Es wurde
dann doch ein Studium der modernen Sprachen: Romanistik und
Germanistik. Und im Übrigen: Die Phonetik – und was sonst noch mit
Aussprache zu tun hat – hat mich im Studium nie mehr so sonderlich
gepackt. Aber Grammatik, das hat mich dann besonders interessiert,
vor allem die Grammatik der mündlichen Sprache.
Wie haben Ihre zahlreichen Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet
Ihren Blick auf die Mehrsprachigkeit verändert?
Jede Forschung verändert den Blick auf ein Forschungsgebiet. Mir
haben vor allem die bescheidenen Einsichten in die Organisations-
weise des Gehirns, die ich erfahren durfte, die Sichtweise auf die
traditionelle Grammatik nachhaltig verändert. Man muss sich
vorstellen, dass das Gehirn nach anderen Kategorien funktioniert als
diejenigen, die wir sonst aus dem Grammatikunterricht kennen. Es ist,
als hätte sich unsere Grammatikschreibung über Jahrhunderte nach
philosophischen Prinzipien ausgerichtet und als wäre sie ganz andere
Wege gegangen als diejenigen, welche die Funktionsweise des
Gehirns nahe legen würde. Doch es wird noch lange dauern, bis wir
die diversen Puzzlestücke zusammenfügen können, um eine mögliche
‚Grammatik des Gehirns’ nachzuzeichnen.
In ihrem Vortrag deuteten Sie an, dass Mehrsprachigkeit nicht
ausschließlich Vorteile in Bezug auf kognitive Fähigkeiten nach sich
zieht und dass Sie diese Nachteile auch bei sich selbst feststellen
könnten. Würden Sie diese und Ihre persönliche Erfahrung mit diesen
Nachteilen noch einmal kurz umreißen?
Die Wortsuche hat es in sich: Zweisprachige haben für ein Konzept
meist zwei Benennungen (man denke bspw. an Katze und cat, Tisch
und table, Fahrrad und bicycle, etc.), Einsprachige nur eines. Fragt
man nun in einem Test nach dem Namen eines Gegenstandes nur in
einer der beiden Sprachen, sind die Zweisprachigen in der Regel
langsamer: Es ist, wie wenn sie die eine Sprache unterdrücken
müssten, um das richtige Wort zu finden, was bei der Wortsuche Zeit
kostet.
Zwei- und Mehrsprachige sind es gewohnt, sich in sprachlich
komplexen Umgebungen zu bewegen. Sie sind sozusagen dauernd
‚auf Draht’, um in einem Gespräch mit jeder Person die richtige
Ausdrucksweise zu treffen. Sie kontrollieren sich, sie passen sich an.
268
So sind sie etwa für Aufgaben, die komplexes Denken benötigen, in
der Regel besser gerüstet. Wird es aber zu einfach, dann machen
Zweisprachige mehr Flüchtigkeitsfehler. Dazu gibt es einige
Untersuchungen. Und ich muss sagen, dass ich mich da ganz gut
wiederfinde, leider: Wie habe ich mich schon in der Primarschule über
dumme Flüchtigkeitsfehler geärgert, die ich bestens hätte vermeiden
können – und so ist es auch heute noch.
Sind Ihnen Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf soziale
Kompetenz bekannt? Ungeachtet dessen, ob in diesem Bereich bereits
Forschungsergebnisse erzielt wurden, wie würden Sie diese
persönlich einschätzen?
Mehrsprachige sind in der Regel ‚kommunikative Experten’, da sie oft
jahrelang in der Situation leben, sich mit unterschiedlichen Gesprächs-
partnern unterhalten zu müssen. Sie lernen, sich kommunikativ
anzupassen, auf den anderen einzugehen, darauf zu achten, dass der
andere die Botschaft gut verstehen kann. Sie können sich durch ihren
Erfahrungsraum, der mehrere Sprachen umfasst – auf eine andere
Person und andere Sichtweisen besser einstellen oder diese
antizipieren. Soweit ist es in der Regel – doch kennen wir nicht auch
Ausnahmen? Trotz kommunikativ reicher Umgebung gibt es immer
wieder Personen, die kommunikativ unsensibel agieren. Es liegt also
bei vielen Personen ein Potential vor – sozusagen ein Schatz, den man
heben könnte, beispielsweise in der Schule.
Die Institution Schule stellt sich im Bezug auf sprachdidaktische
Neuerungen bekanntermaßen immer wieder als sehr stur heraus. Wie
hoch schätzen Sie die Chance ein, dass Ihre Forschungsergebnisse auf
den Sprachunterricht effektiven Einfluss nehmen? Wie könnte dieser
Einfluss Ihrer Meinung nach konkret aussehen?
Es braucht in der Regel lange, bis sich Forschungsergebnisse bis in die
Amtsstuben, in denen wichtige Entscheidungen für die
Schulentwicklung fallen, vordringen. Ganz persönlich muss ich aber
gleich hinzufügen, dass ich mich, v.a. in den letzten Jahren, nicht
beklagen kann: Aus der Schulwelt kommen viele Anfragen in Sachen
Mehrsprachigkeit, das Interesse an Forschungsergebnissen ist groß,
die Lehrpersonen sehr willig, sich auch auf das Thema einzulassen.
Vor allem in Südtirol, wo ich seit 2004 lehre und forsche, mache ich
gute Erfahrungen, aber auch anderswo.
Mein gegenwärtiger Eindruck ist, dass Forschung zu
Mehrsprachigkeit immer mehr wahrgenommen wird. Und unsere
Studierenden, die sich dafür interessieren, sind ja die
269
Entscheidungsträger von morgen. Deshalb bin ich, was diese Agenda
anbelangt, nicht so pessimistisch gestimmt wie einige meiner
Kolleginnen und Kollegen. Es wird so viel über die Vorteile der
Mehrsprachigkeit diskutiert, in der Öffentlichkeit wie an
Fachtagungen. Bei letzteren treffe ich auch immer auf Bildungs-
verantwortliche, die großes Interesse daran haben, die Vorteile der
Mehrsprachigkeit für alle Schüler umzusetzen. Vor 10-20 Jahren
wurde noch nicht so viel und nicht so differenziert über Mehr-
sprachigkeit gesprochen, glauben Sie mir!
Abseits des Bildungskontextes untersuchen Sie in Ihrem aktuellen
Projekt den Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Demenz –
Sprache als potentielles „Allheilmittel“ also, würden Sie uns da
zustimmen?
Mehrsprachigkeit bedingt, dass man mit einem reichen
kommunikativen Umfeld zu tun hat, sich flexibel verhalten muss, dass
man beständig Entscheidungen über die Angepasstheit von
Ausdrücken und Wendungen, Sätzen und dergleichen treffen muss.
Dies alles hält das Interesse wach, bedingt eine Art Training, von dem
viele Bereiche des Gehirns betroffen sind, und nicht nur die
Netzwerke, die für rein Sprachliches zuständig sind.
Doch wir bleiben im Alter anfällig, trotz Mehrsprachigkeit: Man weiß
bisher, dass bei mehrsprachigen Personen der Ausbruch bspw. von
Alzheimer sich im Durchschnitt um 4,5 Jahre verzögert einstellt. Man
kann dabei das halb volle oder das halb leere Glas sehen: Denn diese
degenerativen Krankheiten können uns alle treffen, bei den einen
vielleicht später. Das Allheilmittel „Mehrsprachigkeit“ gibt es also
nicht, doch sind durch Mehrsprachigkeit einige mental gesunde Jahre
mehr statistisch durchaus möglich.
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Das Interview führten:
Nadine Tschurtschenthaler, 7. Semester, Lehramt Gymnasium,
Fächerkombination:
Englisch/Schulpsychologie
Kai Meyer, 7. Semester, Lehramt Gymnasium, Fächerkombination:
Englisch/Geographie