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Schulentwicklung unter dem Fokus der Inklusion

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Abstract

Die Schule Rottenschwil hat sich vor sechs Jahren auf den Weg von einer separati-ven zu einer inklusiven Schule gemacht. Im Zentrum der verschiedenen Schulent-wicklungsschritte stand jeweils das persönliche Lernen der Schülerinnen und Schü-ler. Als ‚lernende Schule’ passt sich die Schule den Bildungsbedürfnissen der Schü-lerinnen und Schülern an. Nicht nur die Heterogenität der Schülerinnen und Schü-lern, sondern auch diejenige unter den Lehrerinnen und Lehrern sollen als Chance genutzt werden. Der Autor beschreibt die verschiedenen Entwicklungsschritte, wel-che die Schule Rottenschwil in den letzten Jahren durchlaufen hat und diskutiert die Frage, wie Schulentwicklung im Zeichen der Inklusion gelingen kann.
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Niels Anderegg
Schulentwicklung unter dem Fokus der Inklusion
Der Weg der Schule Rottenschwil von der Separation zur Inklusion.
erscheint in ‚Journal für Schulentwicklung’ 4/2013
Zusammenfassung
Die Schule Rottenschwil hat sich vor sechs Jahren auf den Weg von einer separati-
ven zu einer inklusiven Schule gemacht. Im Zentrum der verschiedenen Schulent-
wicklungsschritte stand jeweils das persönliche Lernen der Schülerinnen und Schü-
ler. Als ‚lernende Schule’ passt sich die Schule den Bildungsbedürfnissen der Schü-
lerinnen und Schülern an. Nicht nur die Heterogenität der Schülerinnen und Schü-
lern, sondern auch diejenige unter den Lehrerinnen und Lehrern sollen als Chance
genutzt werden. Der Autor1 beschreibt die verschiedenen Entwicklungsschritte, wel-
che die Schule Rottenschwil in den letzten Jahren durchlaufen hat und diskutiert die
Frage, wie Schulentwicklung im Zeichen der Inklusion gelingen kann.
Die Schule Rottenschwil ist eine kleine, öffentliche Dorfschule im Kanton Aargau
(Schweiz), in der Agglomeration von Zürich gelegen. Heute beheimatet die Schule
einen Kindergarten und vier altersgemischte Primarklassen (1.-3. Klasse und 4.-6.
Klasse). Sie entwickelte sich in den letzten fünf Jahren von einer separativen zu ei-
ner inklusiven Schule. Ausschlag für den Wechsel zur Inklusion war die Einführung
der Schulleitung vor sechs Jahren. Mit der Einsetzung der Schulleitung wünschte
sich die Schulpflege (verantwortliche Behörde), dass die Schule Rottenschwil ein
einheitliches pädagogisches Konzept erhält. Die Schulleitung führte eine breite und
sorgfältige Evaluation durch. Wichtig war ihr, dass Diskussionen über pädagogische
und nicht organisatorische Themen stattfinden. Es wurde nicht über die Gestaltung
des Pausenplatzes oder über abstrakte Leitbildsätze, sondern über das persönliche
Lernverständnis, über Fragen von gutem Unterricht und über den Sinn und Zweck
von Schule gesprochen. In der Diskussion zeigten sich mehrere Themenfelder, wel-
che aus Sicht der Betroffenen verändert werden sollten bzw. in welche Richtung die
Schule sich entwickeln soll. Der wichtigste Wunsch war die Einführung der ‚integrati-
ven Schulungsform’. Bis anhin besuchten Schülerinnen und Schülern mit Lern-
schwierigkeiten oder einer Behinderung eine Kleinklasse oder Sonderschule aus-
serhalb des Dorfes. Sowohl von den Lehrerinnen und Lehrern als auch von den Be-
rden kam der Wunsch, dass alle Kinder in der Gemeinde Rottenschwil geschult
werden können. Im Herbst 2007 setzte die Schulpflege mit dem Leitsatz ‚Eine Schule
für alle’ das strategische Ziel fest. Bewusst wurde dabei der Leitsatz ‚Eine Schule für
alle Kinder’ gekürzt. Die Schule Rottenschwil soll eine Schule für alle Menschen sein.
Damit war der Wunsch verbunden, dass die Schule ein generationsübergreifender
Lern-, Arbeits- und Begegnungsort wird. Mit diesem strategischen Entscheid erhielt
die Schulleitung den operativen Auftrag das Ziel umzusetzen und zu konkretisieren.
Im Unterschied zu vielen anderen Schulen setzte die Schule Rottenschwil damit be-
wusst den Unterricht und nicht die Organisation in den Mittelpunkt der Entwicklung.
Im Rückblick scheint die breite Evaluation, die intensive Auseinandersetzung mit pä-
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1 Der Autor ist Schulleiter der Schule Rottenschwil
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dagogischen Themen und der klare Entscheid der politischen Behörden ein wichtiger
Gelingensfaktor für die erfolgreiche Implementierung der Inklusion gewesen zu sein.
Schulprogramm
In einem fünfjährigen Schulprogramm wurden die einzelnen Entwicklungsschritte
definiert und auch terminiert. Damit wurde sichergestellt, dass die einzelnen Bereiche
gestaffelt eingeführt und die Belastung für die einzelnen Akteure leistbar waren. Der
Schulleitung war es von Beginn an wichtig, dass die Energien der Lehrerinnen und
Lehrer vorwiegend für die Unterrichts- und Personalentwicklung und nicht für das
Projektmanagement aufgewendet wurden. So bestand das Schulprogramm aus einer
einzelnen Tabelle auf einem A4-Blatt. Die Beschränkung auf wenige Punkte und die
Einfachheit führte dazu, dass die einzelnen Punkte klarer auf den Punkt gebracht
werden mussten und Gestaltungsspielraum blieb. Niemand wusste wohin die Ent-
wicklung im Detail auch tatsächlich führte. Das Schulprogramm gab die Richtung an
und beinhaltete die drei Bereich Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwick-
lung. Im Bereich Unterrichtsentwicklung ging es darum den Unterricht so zu gestal-
ten, dass jedes Kind auf seinem Niveau arbeiten und lernen kann. Die beteiligten
Personen gingen der Frage nach, wie sie persönlich und die Institution Schule Rot-
tenschwil generell mit der Heterogenität der Schülerinnen und Schülern umgehen. Es
bestand das Ziel ein vom Kindergarten bis zur Mittelstufe einheitliches Konzept und
Verständnis zu entwickeln. Das Konzept sollte die verschiedenen Altersstufen und
Bedürfnisse der einzelnen Kinder in den einzelnen Stufen berücksichtigen. Es stellte
sich die Frage wie homogen kann und wie heterogen muss ein Konzept sein, wel-
ches der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler gerecht wird. Unter anderem
wurde in diesem Bereich definiert, dass die Schule ‚altersgemischtes Lernen’ einführt
und die Klassen in Mehrjahrgangsklassen organisiert werden. Die Lehrerinnen und
Lehrer begannen den Unterricht ‚neu zu denken’ (in Anlehnung an von Hentig 1993).
Die zweite Aufgabe für die Lehrerinnen und Lehrer betraf den Bereich der Personal-
entwicklung. Die Aufgabe der Klassenlehrerin bzw. des Klassenlehrers sollten neu
auf zwei Personen aufgeteilt werden. Gleichzeitig sollte die Anzahl der Fachlehrerin-
nen und Fachlehrer reduziert werden. Mit der Funktion der Schulischen Heilpädago-
ginnen bzw. dem Schulischen Heilpädagogen kam zudem eine neue Rolle hinzu. Die
Schülerinnen und Schüler sollten mehr als eine Bezugsperson haben. Gleichzeitig
sollen es aber auch wenige Bezugspersonen sein. Die Lehrerinnen und Lehrer orga-
nisierten sich in ‚Professionellen Lerngemeinschaften’ (Bonsen & Rolff 2006) und die
Schulleitung stellte ihnen für die Unterrichts- und Personalentwicklung genügend
Zeitgefässe zur Verfügung. Der Schulleitung fiel die Aufgabe der Organisationsent-
wicklung zu. Sie war dafür verantwortlich, dass die verschiedenen Abläufe möglichst
einfach und klar definiert und die Entwicklungsprozesse dokumentiert wurden. Die
Schulverwaltung hatte das Ziel den Lehrerinnen und Lehrern die administrativen Ar-
beiten abzunehmen bzw. so zu vereinfachen, dass sie wenig Zeit in Anspruch neh-
men. Kernaufgabe der Schule ist das Lernen der Schülerinnen und Schüler.
Gemeinsamer Lernbegriff als pädagogische Leitplanken
Der Unterrichtsentwicklung wurde die höchste Priorität beigemessen. Kernaufgabe
der Schule ist die Bildung der Schülerinnen und Schüler. Alles Handeln innerhalb
einer Schule muss durch diese Kernaufgabe begründet sein. Selbst die Schulleitung
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hat die Aufgabe ihr Tun immer wieder kritisch an der Kernaufgabe zu messen. Dient
ihr Handeln (direkt oder indirekt) nicht der Kernaufgabe, so hat sie dieses zu unter-
lassen und es kann weggelassen werden. An diesem Prinzip haben sich alle an der
Entwicklung beteiligten Personen orientiert. Für die Lehrerinnen und Lehrer war es
ein wichtiges Signal. Zu Beginn stand die Frage, wie muss Unterricht organisiert und
durchgeführt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben auf
ihrem Leistungsniveau zu lernen und sich zu entwickeln. Sowohl die Lehrerinnen und
Lehrer, als auch die Schulleitung und die Behördenmitglieder hospitierten gemein-
sam und individuell an diversen Schulen mit unterschiedlichen Lernkonzepten. Die
verschiedenen Lernkonzepte wurden diskutiert, ausgewertet und auf die Frage, was
kann an der Schule Rottenschwil davon übernommen werden, untersucht; Werkspi-
onage auf die freundliche Art. Schnell zeigte sich, dass ein teleologisches Lernver-
ständnis (vgl. Mitgutsch 2008, S. 22ff.) für die Beteiligten nicht in Frage kam. Teleo-
logische Lernkonzepte zielen darauf ab, dass die Lehrerin oder der Lehrer weiss,
welches der nächste Entwicklungsschritt eines jeden einzelnen Schüler und jeder
einzelnen Schülerin ist. „Appelle wie ‚Man muss die Schüler dort abholen wo sie ge-
rade stehen’ gehen ins Leere, wenn das Dilemma übersehen wird, dass LehrerInnen
gar nicht wissen können, wo ihre Lernenden (biografisch, psychologisch, emotional
und kognitiv) überhaupt stehen.“ (Schratz et al. 2012, S. 27). Weiter zeigte sich, dass
verschiedene Konzepte mit Planarbeiten die Lehrerinnen und Lehrer und die Schul-
leitung nicht überzeugen konnten. Lernen soll an der Schule Rottenschwil möglichst
wenig als ‚Lernen als Erledigung’ (vgl. Rumpf 2008, S. 23), sondern möglichst oft
eine Auseinandersetzung mit einem Gegenstand bedeuten. Am Ende der Diskussio-
nen entstanden die folgenden Visionen:
An der Schule Rottenschwil wird möglichst oft mit leeren Blättern und Arbeits-
mitteln und möglichst wenig mit Arbeitsblättern oder Lehrmitteln gearbeitet.
Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten mit dem was von den Kindern entsteht,
sie verwenden ‚Autographen’ (vgl. Gallin & Ruf 1998b, S. 145).
Alle Schülerinnen und Schüler sollen (wenn immer möglich) den gleichen Auf-
trag erhalten und können innerhalb des Auftrages differenzieren. Die Aufträge
können auf verschiedene Arten geöffnet werden, so dass sie für alle Schüle-
rinnen und Schüler anspruchsvoll sind.
Die Schülerinnen und Schüler sollen zum Denken und nicht zum Wis-
sensabruf geführt werden. Der Metakognition wird ein grosses Gewicht bei-
gemessen. Frage wie ’Wie hast du dies gemacht?’ oder ‚Welche Strategie
hast du verwendet?’, aber auch Aufforderungen im Sinne von ‚Du denkst laut
und ich bin deine Schreibmaschine und schreibe deine Gedanken auf’ gehö-
ren zum Schulalltag.
Die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist die Begleitung der Lernenden. Mit
Lernendenbegleitung wird eine aktive Auseinandersetzung der Lehrenden mit
dem Handeln der Lernenden und dem Lernenden selbst verstanden. Die Leh-
rerin oder der Lehrer beobachtet das Kind, reagiert auf dessen Handeln und
bietet ihm neue Impulse bzw. äussert die eigene Wahrnehmung.
Mit der Auseinandersetzung des Lernbegriffes wurde allen Beteiligten bewusst, dass
dieser sehr viel komplexer ist, als ursprünglich angenommen. So dauert sowohl die
persönliche als auch die kollektive Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff und der
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Frage der Umsetzung an der Schule bis heute an. Aktuell beschäftigt die Lehrerinnen
und Lehrer die Unterscheidung von ‚lehrseits’ und ‚lernseits’ (vgl. Schratz 2009).
Von den Worten zu den Taten
Mit der Auseinandersetzung des Lernbegriffs und den unterschiedlichen Unterrichts-
konzepten findet noch kein Unterricht statt. „Je mehr wir über die Verbesserung von
Schule und Unterricht wissen, um so anspruchsvoller ist das Bemühen dieses Wis-
sen auch zielgerichtet zu nutzen.“ (Schratz 2009, S. 16). Die Auseinandersetzung ist
das eine, die Umsetzung das Andere. Die Lehrerinnen und Lehrer organisierten sich
stufenweise (Kindergarten, Unterstufe, Mittelstufe) als ‚Professionellen Lerngemein-
schaften’ (vgl. Bonsen & Rolff 2006). Diese hatten den Auftrag innerhalb der oben-
stehenden Visionen ihren Unterricht weiter zu entwickeln, durchzuführen und zu eva-
luieren. Dazu erhielten sie von der Schulleitung einen grossen Anteil an ausserunter-
richtlicher Arbeitszeit zur Verfügung. Der Stundenplan wurde so gelegt, dass am
Montagnachmittag alle Schülerinnen und Schüler keinen Unterricht hatten. Dieser
Nachmittag wurde für alle Mitarbeitenden zur Sperrzeit und stand für gemeinsame
Sitzungen und Weiterbildungen, vorwiegend aber als freies Zeitgefäss für die Arbeit
in den ‚Professionellen Lerngemeinschaften’ zur Verfügung. Die organisatorischen
Sitzungen wurden auf ein Minimum reduziert und so weit als möglich durch Verant-
wortungsdelegation und die Information durch ein wöchentliches Informationsmail
kommuniziert. Die gemeinsame Arbeitszeit soll für pädagogische Themen und Aus-
einandersetzungen und nicht für Diskussionen über die Verpflegung am Sporttag
verwendet werden. Ein Teil der Sitzungszeit wurde für die Weitergabe von mündli-
chen Informationen aus den einzelnen ‚Professionellen Lerngemeinschaften’ und
Klassen verwendet. So wurde es (zum Beispiel) zur Gewohnheit, dass sich die Leh-
rerinnen und Lehrer kleine ‚Bonmots’ (ähnlich wie Vignetten (vgl. Schratz et al.
2012)) aus dem Unterricht und von einzelnen Kindern erzählten. Die Lehrerinnen und
Lehrer sprechen darüber was sie tun, was sie erleben und tauschen sich aus. „Spre-
chen wir über inklusive Erziehung, so sprechen wir über die Barrieren die verhindern,
dass Jungen und Mädchen im Klassenzimmer lernen.“ (Melero 2012, S. 49).
Es zeigte sich sehr schnell, dass Entwicklungen nur bei diesen Lehrerinnen und Leh-
rer möglich sind, welche definierten Visionen anstreben und Sinnhaftigkeit erkennen
können. „Wer verändern will, findet immer einen Weg und kann mit den Stolperstei-
nen auf diesem Weg umgehen. Und wer keine Veränderung will, findet auf dem Weg
immer Steine, ja sogar Felsen, die angeblich nicht überwundern werden können.“
(Lanfranchi & Steppacher 2012, S. 13). Es stellte sich die Frage, wie geht eine Schu-
le mit der Heterogenität der Lehrerinnen und Lehrer um. Wichtig war, dass die oben-
beschriebenen Visionen als pädagogische Leitplanken definiert wurden und in ihren
Grundgedanken für die nächsten fünf Jahre nicht mehr verändert werden durften.
Innerhalb dieser Leitplanken hatten die Lehrerinnen und Lehrer ihren Gestaltungs-
spielraum bzw. es wurde von der Schulleitung gewünscht und gefordert innerhalb
dieser Leitplanken auszuprobieren und zu entwickeln. Alle ausserunterrichtlichen
Zeitgefässe wurden als freiwillige Angebote definiert. Im Sinne des ‚Empowerment’
(vgl. Gather Thurler & Dascher 2009) entscheiden die Lehrerinnen und Lehrer selbst,
an welchen Sitzungen und Weiterbildungen sie teilnehmen und welche Zeiten sie
lieber für ihre persönliche Entwicklungszeit verwenden. „Empowerment zielt auf die
(Wieder-)herstellung von Selbstbestimmung der Arbeitsabläufe im persönlichen (Ar-
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beits-)alltag und findet statt in einer Dynamik der Selbstbefähigung und Selbster-
mächtigung, in der die Stärke der Eigenmacht und Handlungsautonomie im Vorder-
grund steht und damit vielseitige Gelegenheiten für persönliche und kollektive Erfah-
rungen von Selbstwirksamkeit bietet.“ (Gather Thurler & Dascher 2009, S. 5). Hier
schliesst sich der Kreis. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler werden als Lernende
verstanden, auch die Schule selbst wird als ‚lernende Organisation’ (vgl. Schratz &
Steiner 1999, Senge 2003) verstanden. Dazu muss sie Erfahrungen machen können.
Ein wichtiges Element in der Entwicklung der Schule Rottenschwil sind die ‚kritischen
Freunde’. Von Beginn an wurde die Entwicklung auf alle Seiten hin transparent ge-
macht und der Kontakt zu Fachpersonen und Freunden gesucht. Verschiedene Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler sind immer wieder Gäste an der Schule Rot-
tenschwil. Sie melden ihre Beobachtungen aus dem Unterricht an die Schule zurück,
unterstützen die Lehrerinnen, Lehrer, Schulleitung und Behördenmitglieder in ihrer
Entwicklung und nehmen Praxisbeispiel und Erfahrungen mit, welche sie für ihre
Forschung wieder verwenden können. Im Schuljahr 2012/13 arbeitete die Schule
Rottenschwil (zum Beispiel) mit Peter Gallin im Bereich Mathematikdidaktik zusam-
men. Während verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen und pädagogischen
Sitzungen wurden theoretische Inputs von Peter Gallin, konkrete Aufträge der Lehre-
rinnen und Lehrer aus dem Mathematikunterricht und Autographen der Schülerinnen
und Schüler diskutiert und bearbeitet. Am Ende des Schuljahrs stand mit der Veran-
staltung ‚Pädagogik Live’ eine öffentliche Auseinandersetzung statt. 50 Fachperso-
nen besuchten an einem Nachmittag den Mathematikunterricht in den Klassen und
diskutierten diesen anschliessend gemeinsam. Die Schule Rottenschwil beteiligt sich
am Projekt ‚Zaungäste’ (vgl. Rüttimann 2013). Sechs Schulen hospitieren sich ge-
genseitig und geben einander auf zuvor definierte Fragestellungen im Sinne der
‚Peer-Review’ Rückmeldungen. Rückmeldungen, welche dazu verwendet werden
den Unterricht weiter zu entwickeln. Erst die kritische Auseinandersetzung mit dem
was im Unterricht tatsächlich passiert, hilft der Entwicklung der Schule.
Auf die Tragfähigkeit kommt es an
Mit der Einführung der Integrativen Schulungsform wurde eine Schulische Heilpäda-
gogin angestellt. Im ersten Schuljahr war diese (wie an anderen integrativen Schulen
üblich) für alle Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf verantwort-
lich und zog von Klasse zu Klasse. Sehr schnell zeigte sich, dass dieses ‚Flying-
Teacher’-Modell nicht sinnvoll und hilfreich ist. Die Schule Rottenschwil ging dazu
über die Rolle der Schulischen Heilpädagogin abzuschaffen und die Funktion in den
Aufgabenbereich der Klassenlehrerinnen zu übergeben. Ziel war, dass an jeder
Klasse zwei Lehrerinnen bzw. Lehrer die Klassenverantwortung tragen. Eine der bei-
den Personen hat die Funktion der Schulischen Heilpädagogin zusätzlich inne. So
arbeiten zum Beispiel an den beiden Mittelstufenklassen (4.-6. Klasse) je eine Pri-
marlehrerin an jeder Klasse. Eine dritte Primarlehrerin arbeite an beiden Klassen;
teilweise alleine, teilweise im Teamteaching. Diese dritte Primarlehrerin hat die Aus-
bildung als Schulische Heilpädagogin und bringt ihr spezifisches Wissen mit in die
Klasse und in die ‚Professionelle Lerngemeinschaft’ mit ein. Durch dieses System
sind wenige Lehrerinnen und Lehrer an einer Klasse tätig (2 Lehrerinnen an jeder
Klasse), die Lehrerin, welche die Funktion der Schulischen Heilpädagogik mit ein-
bringt, hat eine hohe Präsenz in den einzelnen Klassen und kann dadurch sehr viel
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stärker Beziehungen aufbauen und längerfristige Prozesse mitgestalten, und in den
Professionellen Lerngemeinschaften kann ein intensiver Austausch und konkrete
Entwicklungsarbeit geleistet werden. Der entscheidende Punkt ist aus Sicht des Au-
tors, dass durch dieses enge Kooperationssystem die Lehrerinnen und Lehrer der
einzelnen Lerngemeinschaften eine hohe Tragfähigkeit erreichen. Sie sind gemein-
sam für den Unterricht und die Förderung der Schülerinnen und Schüler verantwort-
lich. In schwierigen Situationen wird das einzelne Teammitglied von den anderen
getragen oder andere Teammitglieder können übernehmen. Dadurch können zum
Beispiel auch Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten gut in der
Gemeinschaft mitgetragen und gefördert werden. Bei den Rollen und Funktionen
wird unterdessen nicht mehr zwischen Primarlehrerinnen und –lehrer bzw. Schuli-
sche Heilpädagoginnen und Heilpädagogen unterschieden. An der Schule Rotten-
schwil arbeiten Lehrerinnen und Lehrer mit verschiedenem Wissen und verschiede-
nen Hintergründen. Auch die Lehrerinnen und Lehrer sind heterogen. Und diese He-
terogenität gilt es zu nutzen. Um möglichst allen Schülerinnen und Schülern gerecht
zu werden, sollte in jeder Klasse eine Lehrerin oder ein Lehrer unterrichten, der oder
die eine Ausbildung in Schulischer Heilpädagogik hat. Kinder lassen sich nicht in
Schemata und auch nicht in Verantwortungsbereiche einreihen. Die Verantwortung
wird gemeinsam getragen und situativ zugeteilt. „Solange einige Lehrpersonen wei-
terhin von ‚Sonderpädagogik’ oder ‚Integration’, von ‚sonderpädagogischem Förder-
bedarf’ und ‚angepassten Lehrplänen’ sprechen, wird Segregation weiterhin als Pra-
xis anerkannt. Wir benötigen eine andere Schule, eine gerechtere, demokratischere,
humanere Schule. Eine Schule, in der sich niemand ausgeschlossen fühlt.“ (Melero
2012, S. 60). An dieser Vision arbeiten wir auch weiterhin.
Literatur
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Senge, P.M. (2003). Die fünfte Disziplin. Stuttgart: Klett-Cotta. 9. Auflage.
Niels Anderegg, M.A., Schulleiter an der Schule Rottenschwil und wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich.
Chapter
Der Beitrag betrachtet die Leib-Körper-Differenz unter dem Aspekt des diskriminierungskritischen Potenzials phänomenologischer Forschung. *** The article considers the difference between the body as subject (Leib/lived body ) and the body as object (Körper) under the aspect of the discrimination-critical potential of phenomenological research.
Article
Full-text available
Während Schulpolitik, Schuldirektionen, Lehrkräfte und auch Eltern in vielen europäischen Ländern durch die UN-Behindertenrechtskonvention vor einen Paradigmenwechsel gestellt sind, kann das italienische Schulsystem auf eine rund 40jährige Erfahrung mit einer integrativen und im Ansatz auch schon inklusiven Einheitsschule im Pflichtschulbereich zurückgreifen. Dies ermöglicht eine kritische Analyse der Grenzen und noch ungenutzten Potenziale für inklusive Strategien. Der vorliegende Beitrag versucht, die Diskurse um nötige und mögliche Weiterentwicklungen mit phänomenologischen Einblicken in die gelebte Inklusion an Südtiroler Schulen zu verbinden. Mit „Vignetten“ (Schratz, Schwarz, Westfall-Greiter, 2012) werden exemplarisch Momente von Einschluss und Ausschluss im Unterrichtsgeschehen eingefangen und zur Reflexion angeboten.
Article
Die Fähigkeit, schneller zu lernen als die Konkurrenz, ist heute der vielleicht wichtigste Wettbewerbsfaktor. In seinem Klassiker, zu dem es auch ein Fieldbook gibt, beschreibt Peter Senge, Direktor des Center für Organizational Learning an der MIT Sloan School of Management, jene fünf Disziplinen, die Lernen im Team und in der Organisation ermöglichen. Originaltext vom Verlag; nicht vom SfBS bearbeitet.
Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. 2. Band: Spuren legen-Spuren lesen. Unterricht mit Kernideen und Reisetagebüchern
  • P Gallin
  • U Ruf
Gallin, P. & Ruf, U. (1998b). Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. 2. Band: Spuren legen-Spuren lesen. Unterricht mit Kernideen und Reisetagebüchern. Seelze-Velber: Kallmeyer.
Lernen als Vollzug und als Erledigung Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive
  • H Rumpf
  • Mitgutsch
Rumpf, H. (2008). Lernen als Vollzug und als Erledigung. In: Mitgutsch et al. (Hrsg.) (2008). Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zaungäste – eine Peer-Review. Ein Praxisbericht
  • D Rüttimann
Rüttimann, D. (2013). Zaungäste – eine Peer-Review. Ein Praxisbericht. In: Journal für Schulentwicklung 1/2013. S. 37-42.