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Abstract

Am Beispiel von zwei Vignetten der Innsbrucker Forschungsgruppe zeigt der Artikel die Unterscheidung von lehrseits und lernseits als die beiden Seiten des Unterrichts und diskutiert dabei die Frage nach einem pädagogischen Behinderungsbegriff. Durch den Perspektivenwechsel, so die These des Autors, zeigen sich ein pädagogischer Lernbegriff und damit ein Zugang zum Umgang mit Heterogenität. Wenn das Handeln eines Schülers, einer Schülerin der Ausgangspunkt für die schulische Intervention ist, dann entfällt der Begriff der Behinderung. Die Selbstreferenzialität des eigenen Lernens benötigt keine Unterscheidung zwischen Behindert/Nichtbehindert. Das Lernen misst sich an der eigenen Auseinandersetzung.
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Niels Anderegg
Lernseitige Perspektiven auf Unterricht
Zusammenfassung
Am Beispiel von zwei Vignetten der Innsbrucker Forschungsgruppe zeigt der Artikel
die Unterscheidung von lehrseits und lernseits als die beiden Seiten des Unterrichts
und diskutiert dabei die Frage nach einem pädagogischen Behinderungsbegriff.
Durch den Perspektivenwechsel, so die These des Autors, zeigen sich ein pädagogi-
scher Lernbegriff und damit ein Zugang zum Umgang mit Heterogenität. Wenn das
Handeln eines Schülers, einer Schülerin der Ausgangspunkt für die schulische Inter-
vention ist, dann entfällt der Begriff der Behinderung. Die Selbstreferenzialität des
eigenen Lernens benötigt keine Unterscheidung zwischen Behindert/Nichtbehindert.
Das Lernen misst sich an der eigenen Auseinandersetzung.
Résumé
Am Beispiel von zwei Vignetten der Innsbrucker Forschungsgruppe zeigt der Artikel
die Unterscheidung von lehrseits und lernseits als die beiden Seiten des Unterrichts
und diskutiert dabei die Frage nach einem pädagogischen Behinderungsbegriff.
Durch den Perspektivenwechsel, so die These des Autors, zeigen sich ein pädagogi-
scher Lernbegriff und damit ein Zugang zum Umgang mit Heterogenität. Wenn das
Handeln eines Schülers, einer Schülerin der Ausgangspunkt für die schulische Inter-
vention ist, dann entfällt der Begriff der Behinderung. Die Selbstreferenzialität des
eigenen Lernens benötigt keine Unterscheidung zwischen Behindert/Nichtbehindert.
Das Lernen misst sich an der eigenen Auseinandersetzung.
Vignetten als ‚Klangkörper des Lernens1
Die schriftliche Darstellung der gelebten Lernerfahrungen der Schülerinnen und
Schüler bleiben immer distanziert von der gelebten Erfahrung. Sie ist entfernt, ent-
fremdet und doch nur durch Sprache ausgedrückt vermittelbar. Gerade die leibliche
Erfahrung des Lernprozesses zum Beispiel in der kraftvollen Stiftführung entfällt oft
und kommt nicht zum Ausdruck. Die Innsbrucker Forschungsgruppe des Projektes
‚Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen’2 hat mit den Innsbrucker Vig-
netten ein phänomenologisch empirisches Instrument entwickelt, das sich als Reso-
nanzraum versteht, in dem [...] Lernerfahrungen verkörpern, nachklingen und mit-
schwingen“ (Schwarz et al 2013, S. 13) können. Forscherinnen und Forscher neh-
men als Subjektive miterfahrend am Unterricht teil und spüren ohne eine objektivie-
rende distanzierende Haltung einzunehmen die im Moment gelebten Lernerfahrun-
gen einzelner Kinder nach. Fokuslos im Sinne der phänomenologischen Epoché
(Husserl 1959) lassen sich die Forscherinnen und Forscher affizieren (Husserl 1985).
Die Innsbrucker Vignetten (Schratz et al 2012) sind sprachlich verdichtete Lernerfah-
rungen von Schülerinnen und Schülern. Sie sind kurze, prägnante Erzählungen, wel-
che persönliche Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler aufzeigen. „Sie glei-
chen Schnappschüssen, die dynamisches Handeln von Personen in konkreten Situa-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
1 Käte Meyer-Drawe prägte für die Innsbrucker Vignetten die Metapher ‚Klangkörper des Lernens’.
(2012a, S. 11)
2!Das Projekt steht unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Schratz und wird vom FWF (Fonds zur
Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich) gefördert. Der Autor ist Mitglied der For-
schungsgruppe.!
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tionen herausnehmen und im Festhalten fixieren.“ (Schratz et al, S. 35). Dabei hat
die Vignette die Aufgabe prägnant zu sein. Sie beschreibt nicht, sondern zeigt. Hier
tritt auch das ‚Überschüssige’, welches in der gelebten Erfahrung enthalten ist und
nicht in Sprache gefasst werden kann, hervor. Über einen phänomenologischen Zu-
gang versuchen die Forscherinnen und Forscher „so nahe wie möglich an die geleb-
te Erfahrung der Kinder im Unterricht zu kommen und achtsam, taktvoll und sensibel
damit umzugehen.“ (ebd., S. 36).
Priska rechnet mit Holz
Vignette 1
Priska kehrt schwer beladen mit vielen 1er Würfel, 10er Stangen und 100er Platten
an ihr Pult zurück. Sie hat den Auftrag eine schwierige Additionsaufgabe zu erfinden
und zu lösen. Die Würfel, Stangen und Platten schiebt sie achtsam mit ihrem Unter-
arm auf die linke Seite ihres Pults. Das Arbeitsblatt kommt genau in die Mitte. Mit
ernster Miene setzt sie sich und betrachtet einen kurzen Moment andächtig ihre Vor-
bereitungen. Dann macht sie sich an die Arbeit. Einige Würfel, Stangen und Platten
werden auf die rechte Seite gestapelt: Vier 1er Würfel, sieben 10er Stäbe und fünf
100er Platten. Mit der Bleistiftspitze berührend wird jeder Würfel, jede Stange und
jede Platte einzeln gezählt. Sie schreibt die Zahl 574 auf ihr Arbeitsblatt. Ein kurzes
Innehalten, ausatmen. Dann, werden die benützten Materialien auf die linke Seite
geschoben. Erneut nimmt Priska wieder einige Würfel, Stangen und Platten, zählt
und schreibt die Zahl 365 auf. Auf ihrem Arbeitsblatt entsteht die Rechnung 574 +
365. Eine erneute, kurze Pause mit Blick auf alle Seiten. Nun werden die Materialien
wiederum auf die linke Seite geschoben. Ein kurzes Zögern, Seufzen; dann beginnt
das Rechnen im Kopf.
Beim Lesen der Vignette fällt das Rhythmische auf. Nach der ‚Ouvertüre’, der Vorbe-
reitung folgen die Takte ‚erste Zahl herstellen’, ‚zweite Zahl herstellen’, ‚ausrechnen’.
Unterbrochen werden die einzelnen Takte von Pausen des Ausatmens, des Innehal-
tens. Neben dem künstlerischen, musikalischen hat das Lernen auch eine handwerk-
liche, arbeitssame Seite. ‚Schwer beladen’ kehrt Priska an ihr Pult zurück. Wie ein
Schreiner, der seine Werkzeuge und Materialien auf der Werkbank vorbereitet, berei-
tet Priska ihre Werkzeuge auf ihrem Pult aus. Dabei achtet sie penibel auf die Ord-
nung. Ein Schreiner, der etwas auf sich hält, achtet auf eine sorgfältige Arbeitsvorbe-
reitung und einen gut organisierten Arbeitsplatz. Die von Richard Sennett (2008) ge-
stellte Frage nach dem Unterschied zwischen Handwerk und Kunst (vgl. S. 92) stellt
sich auch beim Lernen von Priska. Die hohe Kunst des mathematischen Rechnens
und die handwerkliche Arbeit des Legens der Rechnung mit Holzstücken. Priska tut
beides. Sie verwendet das von der Lehrerin ausgewählte didaktische Material zum
Erfinden der Zahlen, um danach das ‚Holz’ beiseite zu legen und sich der hohen
Kunst der Mathematik zuzuwenden. Ohne Arbeitsmittel, mittels einer eigenen Strate-
gie, löst Priska die Aufgabe ‚im Kopf’. Das handwerkliche Legen und das kunstvolle
Ausrechnen. Zwei verschiedene Tätigkeiten mit unterschiedlicher Anerkennung und
Wertung.
Liest man die Vignette aus didaktischer Sicht, so zeigen sich die lehrseitige und die
lernseitige Sicht auf Unterricht. Die Lehrerin, so ist zu vermuten, verfolgte das Ziel,
dass die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe des Arbeitsmittels die schriftliche Additi-
on enaktiv bearbeiten und so ein Verständnis für das Zehnersystem entwickeln kön-
nen. Priska hätte, so die Planung der Lehrerin, beide Ausgangszahlen mit Hilfe des
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Arbeitsmittel darzustellen können, um danach die Menge der beiden Zahlen auch
physisch zu vereinen und neu zu ordnen. Handelnd und zählend könnte so die Addi-
tionsrechnung gelöst werden. So die lehrseitige, ‚handwerkliche’ Absicht der Lehre-
rin. Priska hält sich jedoch nicht an den Plan der Lehrerin, sie entwickelt ihren eige-
nen. Die Zahlen werden zwar handelnd dargestellt. Das Berechnen der Summe voll-
zieht sich jedoch ‚im Kopf’, in künstlerischer Manier.
Türim und der springende Punkt
Vignette 2
‚Eisbär’ lautet das Wort des Tages. Es steht gross an der Wandtafel geschrieben und
wird nach möglichen Schwierigkeiten der Rechtschreibung untersucht. Frau Koller
steht vorne an der Tafel, die Schülerinnen und Schüler sitzen an ihren Pulten. „Wo
hat es im Wort noch einen weiteren ‚springenden Punkt’?“, fragt Frau Koller die Klas-
se. Sofort gibt Türim das Zeichen. Mit den Füssen zappelt er ganz aufgeregt bis er
es nicht mehr aushält und aufsteht. Sein Körper ist bis zur letzten Muskelfaser wie
ein Pfeilbogen gespannt. Der Blick von Frau Koller geht in der Klasse reihum und
bleibt bei Türim stehen. „Das ‚Ei’“, ruft er mit begeisterter Stimme, bevor er überhaupt
aufgerufen wird. Dann setzt er sich zufrieden auf seinen Stuhl. „Gut“, lobt Frau Koller,
lächelt zufrieden und umkreist das ‚Ei’ des Wortes ‚Eisbär’ mit roter Kreide. „Kannst
du uns auch noch sagen, weshalb das ‚Ei’ ein springender Punkt ist?“ „Das kann ich
jetzt nicht so richtig erklären“, antwortet Türim und strahlt weiterhin glücklich vor sich
hin.
Bei der Lektüre der Vignetten fällt die Leiblichkeit auf. Kaum steht die Frage der Leh-
rerin im Raum, hält es Türim nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Er weiss die Antwort
und will dies unbedingt der Lehrerin zeigen. Sein ganzer Körper spannt sich wie ein
Pfeilbogen. Er wartet auf den Moment des Loslassens, auf den Moment der Ent-
spannung. Ob und wann diese möglich ist, entscheidet eigentlich die Lehrerin durch
Aufrufen des auserwählten Kindes. Sie entscheidet über richtig oder falsch, über Er-
folg und Misserfolg. Türim sieht seine Chance auf Erfolg und gibt diese nicht mehr
aus der Hand. Sein ganzer Körper, seine ganze Energie haben nur noch ein Ziel: Der
Lehrerin zeigen, dass er diese Frage beantworten kann. Und er nimmt sich den Er-
folg. Ohne aufgerufen zu werden antwortet er. Und er konnte die Frage der Lehrerin
richtig beantworten, die Lehrerin lobt ihn, nennt seine Antwort ‚gut’ und lächelt ihn an.
In diesem Moment ist es Türim wohl, er ist glücklich und strahlt in die Welt. Ent-
spannt lässt er sich auf seinem Stuhl nieder. Er ist ein erfolgreicher Schüler. Dass er
die zweite Frage nicht beantworten kann, scheint ihn nicht zu stören. Zu dieser hat er
sich auch nicht gemeldet. Sein Körper bleibt in der wohligen Entspannung.
Türim erlebt in diesem kurzen Unterrichtsmoment Erfolg. Die Vignette endet mit ei-
nem glücklich vor sich hin strahlenden Jungen. Er scheint mit sich und der Welt zu-
frieden. Nach dem kurzen intensiven Moment der Anspannung, folgt die Ruhe, die
Zufriedenheit. Betrachtet man die Vignette lernseitig, so scheint die Lernstrategie von
Türim‚ das ‚richtige Beantworten der Fragen der Lehrerin’ zu sein. Nicht die inhaltli-
che Auseinandersetzung mit dem Wort ‚Eisbär’, sondern die Reaktion der Lehrerin
auf sein Verhalten sind ihm in diesem Moment zentral. Sein Erfolg misst sich an der
Zufriedenheit der Lehrerin, an ihrer Reaktion.
Betrachtet man die Situation aus der Perspektive der Lehrerin, so erhält man ein an-
deres Bild. Die Absicht der Lehrerin war, so ist zu vermuten, am Beispiel des Wortes
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‚Eisbär’ den Schülerinnen und Schüler exemplarisch verschiedene Schwierigkeiten
der Rechtschreibung aufzuzeigen. Der ‚springende Punkt’ soll als Metapher ein Hin-
weis sein, dass diese Stellen im Wort besondere Aufmerksamkeit benötigen. Wenn
die Schülerinnen und Schüler diese ‚springenden Punkte’ kennen und beim Schrei-
ben ihnen die nötige Aufmerksamkeit geben, unterlaufen ihnen weniger Rechtschrei-
befehler.
Lehrseits und lernseits als die beiden Seiten der Medaille Unterricht
Michael Schratz (2009) prägte die Begriffe lernseits und lehrseits als die beiden Sei-
ten der Medaille ‚Unterricht’. Betrachtet man den Unterricht aus Sicht der Strategie
der beiden Lehrerinnen und dem didaktischen Setting, erhält man einen lehrseitigen
Blick auf Unterricht. Lehrerinnen oder Lehrer planen ihren Unterricht, führen diesen
durch und die Schülerinnen und Schüler reagieren auf diesen Unterricht. Die Reakti-
on, so die Vorstellung, ist Lernen. Dreht man jedoch den Blickwinkel und schaut, was
die Schülerinnen und Schüler tun, so blickt man lernseits. Eine Schülerin oder ein
Schüler arbeitet an einem Auftrag oder an einer Aufgabe. Die Lehrerin oder der Leh-
rer beobachtet sie oder ihn dabei und reagiert auf dieses Tun. Sie oder er handelt
lernseits.
Die Lehrerinnen in den beiden ‚Vignetten verwenden lehrseitig je eine Strategie, wie
sie den Schülerinnen und Schüler am besten den dargebotenen Unterrichtsstoff leh-
ren. Ist es in einem Fall das enaktive Arbeiten mit einem Arbeitsmittel (dem Holz), ist
es im anderen die Verwendung der Metapher ‚springender Punkt’. Sowohl Petra als
auch Türim halten sich jedoch nicht an diese geplanten Strategien. Sie gehen ihre
eigenen Wege und verwenden das Arbeitsmittel bzw. die Metapher auf ihre individu-
elle Art und Weise. Nun kann das didaktische Setting der beiden Lehrerinnen oder
aber ihre Interaktion mit den beiden Kindern kritisiert werden. Beide Kritikpunkte, so
berechtigt sie allenfalls von verschiedenen Standpunkten aus sein könnten, laufen
ins Leere. Weder die Didaktik noch die Interaktion können das Paradox der beiden
Zugänge auflösen. „Das Bemühen, über Optimierung didaktischen Handelns zu einer
Verbesserung des Lernens der Schülerschaft zu erreichen, geht oft vom Kurzschluss
aus, dass Lernen das Ergebnis von Lehrern sei.“ (Westfall-Greiner et al. 2012, S.
107). Lernen ist keine direkte Reaktion auf Lehren, sondern ein individueller, Pro-
zess, eine Aktivität, ein ‚Vollzug’ (vgl. Rumpf, 2008, S.23).
Ob Petra die von der Lehrerin gesetzten Ziele erreicht, kann aus der Vignette nicht
geschlossen werden. „Lernen wird nicht länger als ein progressiver Prozess vom
Sinnlichen zum Abstrakten betrachtet, sondern als ein Differenzierungsgeschehen, in
dem Wissensformen auseinandertreten und unter Umständen miteinander konkurrie-
ren.“ (Meyer-Drawe 2012b, S. 96). Gut möglich, dass Petra die Ziele erreicht. Sie
verwendet zwar nicht den vorgegebenen Lernweg, erfüllt aber die Lernziele, die
Normansprüche. Tatsächlich erreichen rund 80 % der Schülerinnen und Schüler die
von den Lehrerinnen und Lehrer angestrebten Lernziele unabhängig vom didakti-
schen Setting und der gewählten Methode (Grünke, 2014).
Auf das Nachfragen der Lehrerin weiss Türim keine Antwort. Er hat die Absicht der
Lehrerin nicht verstanden und konnte dem Unterricht in diesem Sinne nicht folgen.
Paradoxerweise erlebt sich Türim in diesem Moment als sehr erfolgreich. Er verfolgt
eine andere Zielsetzung als die Lehrerin sich für ihn ausgedacht hat. Die Folge da-
von ist ein Nichtverstehen, das beiden verborgen bleibt.
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Pädagogischer Lernbegriff als Zugang
So lange Lehrerinnen und Lehrer lehrseitig planen und unterrichten und Schülerin-
nen und Schüler lernseitig darauf respondieren, ist ein gemeinsames Fortschreiten
und Verstehen nicht möglich. Lernen ist keine direkte Folge von Lehren. Erst wenn
Lehrerinnen und Lehrer ein Lernfeld darbieten, in welchem sich die Schülerinnen und
Schüler lernend bewegen, und die Lehrerinnen und Lehrer lernseitig auf das indivi-
duelle Lernen der einzelnen reagieren, ist ein individualisierender Unterricht möglich.
Hier zeigt sich ein pädagogischer Zugang zum Lernen der Schülerinnen und Schüler
und zur sonderpädagogischen Frage des besonderen Förderbedarfes. Behinderung
definiert sich aus pädagogischer Sicht nicht mehr als eine Abweichung von Normali-
tätsvorstellungen, sondern als eine Frage von Behinderung oder Nichtbehinderung
(Weisser 2005). Der besondere Förderbedarf misst sich nicht daran ob ein Kind eine
Norm erreicht, ob es sich ausserhalb des ‚Normfeldes’ (Link 2013) bewegt, sondern
ob ein Kind beim Lernen behindert wird bzw. auf welche Art und Weise die Schülerin
oder der Schüler mit dieser Behinderung umgehen kann. Lernen wird zu einer per-
sönlichen Auseinandersetzung, ein Respondieren mit der Welt, mit sich selbst und
mit dem eigenen Lernen. „Lernen das sich dem Neuen öffnet, hebt an mit einem
Staunen, zu dem man sich nicht entschliessen kann, das einem widerfährt, weil man
von etwas wie von einem Blitz getroffen und unerwartet behelligt wird, etwas dass es
mir, während mir meine Hände beim Waschen fremd werden, nicht gelingen will,
wirklich zu begreifen, warum Wasser fliesst, was genau das Fliessende im Unter-
schied zum Stäubenden eines Puders ausmacht, was es eigentlich heisst, dass
Wasser triefen kann, obgleich das Molekül H2O nicht nass werden kann.“ (Meyer-
Drawe, 2013, S. 93). Betrachtet man Lernen aus der Sicht der Lernenden, nimmt
man eine lernseitige Perspektive ein, entfällt aus pädagogischer Sichtweise der Be-
griff der Behinderung. Nicht mehr die Frage ‚Macht die Schülerin / der Schüler es
richtig?’ steht im Zentrum. Vielmehr wird gefragt: ‚Was macht die Schülerin / der
Schüler und was hat dies mit der Auseinandersetzung mit dem Thema zu tun?’. Die
Antwort ist ein Verstehen und damit ein Werkzeug zur Begleitung der Lernenden in
ihrem individuellen Lernen.
Aus lehrseitiger Perspektive ist die Chance hoch, dass Türim und Petra ein besonde-
rer Förderbedarf zugesprochen wird. Beide bewegen sich ausserhalb der Vorstellung
der Lehrerin, wie die Aufgabe zu lösen ist. Wiederholt sich dies und erreichen die
beiden die vorgegebenen Lernziele nicht, würden wohl entsprechende Massnahmen
eingeleitet und die Schülerinnen und Schüler erhielten einen ‚IF-Status’. Aus lernsei-
tiger Perspektive stellt sich diese Frage gar nicht. Die Lehrerinnen interessieren sich
für das, was Petra und Türim tun und begleiten diese in ihrem Lernen. Die Frage
nach einem Status überlassen sie als Pädagoginnen den Bürokraten. „Solange eini-
ge Lehrpersonen weiterhin von ‚Sonderpädagogik’ oder ‚Integration’, von ‚sonderpä-
dagogischem Förderbedarf’ und ‚angepassten Lehrplänen’ sprechen, wird Segrega-
tion weiterhin als Praxis anerkannt.“ (Melero, 2012, S. 60).
Literatur
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gleiches Paar? Massstäbe lernseits betrachten. Friedrich Jahresheft 2012,107-
109.
Niels Anderegg, MA
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik
Schaffhauserstrasse 239
Postfach 5850
8050 Zürich
niels.anderegg@hfh.ch
... Betrachtet man die Szenerie von aussen, so scheint entscheidend, ob und wie die Lehrerin die Irritation von David aufnimmt. Wechselt sie in ihrem Handeln von der «Anforderung der Aufgabe» in die Sichtweise des «Lernprozesses von David», so wechselt ihre Orientierung von «lehrseits» auf «lernseits» (Schratz, 2009;Anderegg, 2014 als Ausgangszahl der nachfolgenden Division verwendet werden, weil dadurch zwei ungleiche Zahlen (36 und 18 resp. 72 und 24) gleichgesetzt würden. ...
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Am Beispiel einer Vignette und eines Autographen (Originalarbeit einer Lernenden) spürt der Autor möglichen Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern im Mathematikunterricht nach und diskutiert Konsequenzen für das Handeln von Lehrerinnen und Lehrern. Wenn, wie im Projekt KeyCoMath angestrebt wird, die Inklusion in den Schulzimmern ankommen soll, dann braucht es weder die Individualisierung noch die Differenzierung, sondern die Personalisierung und Lehrpersonen, welche lernseits lehren.
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Der Beitrag betrachtet die Leib-Körper-Differenz unter dem Aspekt des diskriminierungskritischen Potenzials phänomenologischer Forschung. *** The article considers the difference between the body as subject (Leib/lived body ) and the body as object (Körper) under the aspect of the discrimination-critical potential of phenomenological research.
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John F. Kennedy soll kurz vor seinem Tod in Dallas gesagt haben: „Leadership and Learning are indispensable to each other“ (Swaffield and MacBeath 2009, p. 32). Er drückte damit etwas aus, was kaum bestritten werden kann. Betrachtet man den Zusammenhang jedoch genauer, wird es komplizierter.
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In diesem Beitrag wird am Beispiel des österreichischen Projekts IMST (Innovationen Machen Schulen Top) die Entwicklung von Regionalen Netzwerken als intermediäre Strukturen im Bildungsbereich vorgestellt. Diese Netzwerke werden in jedem österreichischen Bundesland vor allem von Gruppen bestehend aus Lehrer*innen, Vertreter*innen der Bildungsverwaltung und von Hochschulen koordiniert. Neben der Vorstellung der Ziele und Gestaltungsprinzipien der Regionalen Netzwerke des Projekts IMST werden die zugrundeliegenden theoretischen Hintergründe und Konzepte erläutert.
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Während Schulpolitik, Schuldirektionen, Lehrkräfte und auch Eltern in vielen europäischen Ländern durch die UN-Behindertenrechtskonvention vor einen Paradigmenwechsel gestellt sind, kann das italienische Schulsystem auf eine rund 40jährige Erfahrung mit einer integrativen und im Ansatz auch schon inklusiven Einheitsschule im Pflichtschulbereich zurückgreifen. Dies ermöglicht eine kritische Analyse der Grenzen und noch ungenutzten Potenziale für inklusive Strategien. Der vorliegende Beitrag versucht, die Diskurse um nötige und mögliche Weiterentwicklungen mit phänomenologischen Einblicken in die gelebte Inklusion an Südtiroler Schulen zu verbinden. Mit „Vignetten“ (Schratz, Schwarz, Westfall-Greiter, 2012) werden exemplarisch Momente von Einschluss und Ausschluss im Unterrichtsgeschehen eingefangen und zur Reflexion angeboten.
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Zusammenfassung Neben einem kritischen Blick auf lehrseitige Zeigehandlungen im padagogischen Diskurs sucht dieser Beitrag Zeigendes und Sich-Zeigendes vor allem lernseits zu betrachten und Lehren und Lernen als einander entgegengesetzte, sich aber gegenseitig bedingende Erfahrungen zu denken. Anhand einer beispielhaften Lekture aus der erfahrungsbasierten, phanomenologischen Innsbrucker Vignettenforschung wird ein Weg vorgestellt, das Zu-Entdeckende in den Blick zu bringen, das haufig im Raum zwischen Lehrenden und Lernenden verborgen bleibt. Schlagworte: Sich-Zeigendes; lernseits; Innsbrucker Vignettenforschung; Phanomenologie ----- The Emerging in the Space between Teaching and Learning Abstract While critically reviewing the debate on teaching as demonstration, this contribution reconsiders that which demonstrates itself in the space between teaching and learning. From a perspective that is mindful of learning, teaching and learning are understood as both interdependent and opposed experiences. By drawing on exemplary readings from the experience-based, phenomenological vignette research developed at the University of Innsbruck, this contribution introduces an alternative approach to access what is hidden in the space between teaching and learning. Keywords: The emerging; being mindful of learning (lernseits); vignette research (Innsbruck); phenomenology ----- Bibliographie: Schwarz, Johanna F./Schratz, Michael/Westfall-Greiter, Tanja: Was sich zeigt und wie. Lernseits offenen Unterrichts, ZISU, 1-2013, S. 9-20. https://doi.org/10.3224/zisu.v2i1.17407
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Die politischen Erfolge der Behindertenbewegung, die Überarbeitung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die zunehmende Etablierung der Integrationspädagogik haben ein neues Verständnis von Behinderung etabliert: Behindert ist man nicht, behindert wird man. Die vorliegende Theorie der Behinderung zieht daraus die Konsequenzen und stellt ein Dispositiv für die Beobachtung von Behinderungen bereit. Sie macht aus der Differenz von behindert/nicht behindert ein anregendes Element der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Aufgrund seiner breiten Orientierung ist der Band als Einführungstext in die Disability Studies geeignet.
Chapter
Zu den wichtigsten „diskursiven Ereignissen“, die zu studieren die Diskurstheorie im Anschluß an Michel Foucault empfohlen hat, gehört das Auftauchen und Proliferieren diskurstragender Kategorien. Diskurstragende Kategorien sind solche, durch deren ‘Entfernung’ — wenn man sie sozusagen aus dem betreffenden Diskurs ‘herauszöge’ wie die Stahlteile aus einer Betonkonstruktion — der betreffende Diskurs nicht länger ‘halten’ könnte und in sich zusammenbräche wie ein Kartenhaus. Unter solchen Kategorien sind in der Regel nicht isolierte einzelne Wörter zu verstehen, sondern ganze semantische Komplexe einschließlich ihrer Praxisbezüge, wiederum vergleichbar mit kreuzweise angeordneten Stahlteilen in Beton. Eines der auffälligsten Beispiele der letzten Zeit ist der Komplex „normal“, „Normalität“, „normalisieren“, „Normalisierung“ usw. Zöge man diesen Komplex etwa aus dem Diskurs der deutschen mediopolitischen Klasse seit 1989 heraus, so könnte dieser Diskurs keinen Augenblick länger ‘tragen’. Besonders interessant sind nun Fälle — und dazu gehört der in der folgenden Untersuchung zu behandelnde Fall der „Normalität“ -, in denen der proliferierende Komplex zwar durchaus als „Reizwort“ wahrgenommen wird und allerlei polemischen Lärm auslöst, dabei aber gleichzeitig hartnäckig im toten Winkel der theoretischen Reflexion verharrt, als ob es entweder überflüssig oder riskant wäre, explizit die Frage zu stellen: Wie definieren Sie eigentlich Ihren Grundbegriff „Normalität“, ohne den Ihre Argumentation auf der Stelle kollabieren würde?