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Heft
1/2011
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Inhalt
Maximiliane Wilkesmann,
Uwe Wilkesmann,
Alfredo
Virgillito
an luteresseu-
vertretungelt aus
de1'
JJon
abhängig
Michael Buestrich,
Frank-Peter Oltmann
Die
Förderung der Besch1fti-
gu
.ngifcihigkeit Älterer zwischen
politischen Ansprüchen und
den veränderten Bedii1jnissen
der
"jungen
Alten"
:
Die
"InitiatitJe
so
plu
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Lars
Borgmann, Jens Rowold
Eine
Taxonomie organisationaler
Strukturdimensionen und ihre
Anwmdung
in
der
Fiihrungs-
forschung
Hartmut Seifert
Atypische
Beschäftigung in Japan
und
Deutschland
Rezensionen
ISSN
0941-5025
Abhandlungen
Maximiliane
Wilkesmann,
Uwe
Wilkesmann,
Alfredo Virgillito
Erwartungen an Interessenvertretungen aus der Perspektive
von abhängig Beschäftigten1
Abstract
In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, welche Erwartungen abhängig Beschäftigte
an
ihre
Interessenvertretung haben. Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, skizzieren wir
den Stand der Forschung
zu
Interessenvertretungen und Erwartungen
an
Interessenvertretungen.
Bis
auf
einige wenige Hinweise stellen sich Erwartungen
an
Interessenvertretungen als ein blinder
Fleck in der Erforschung industrieller Beziehungen dar, den wir mit Hilfe einer qualitativen Studie
explorativ erforschen. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass vier Erwartungstypen unterschieden
werden können:
(I)
Weitergabe von Informationen, (2) persönliche Unterstützung, (3) Sprachrohr
der Belegschaft und (4) Kontrolle von kollektiven Regulierungsgegenständen. Darüber hinaus
wurden von den Befragten Erwartungen zu persönlichen Eigenschaften und zum Verhältnis zur
Geschäftsleitung genannt. Ein geringes Wissen zu Interessenvertretungen führt oftmals zu Erwar-
tungen, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen.
Schlagwörter: Erwartungen, lnteressenvertretung, industrielle Beziehungen
Expectations towards works councils from the employees'
point
of
view
In this article
we
pursue the question, what employees expect regarding works councils . Referring
to
this question we give a short summary on the existing Iiterature
on
works councils. Except for a
few studies, employees' expectations towards works councils turn
outtobe
a blind spot
of
industrial
relations research. In order to fill this gap we conducted a qualitative exploratory study. Our results
show that four types
of
expectations can be differentiated: (1) communication
of
information, (2)
personal support (3) spokesperson
ofthe
employees, and ( 4) control
of
collective regulation issues.
Moreover, the interviewees remarked some expectations with regard to personal characteristics
of
works councils. A low Ievel ofknowledge about works councils Ieads to some expectations, which
are beyond the scope
of
legal requirements.
Keywords: expectations, works councils, industrial relations
Die vorliegende explorative Studie ist Teil eines größeren Forschungsprojekts (Projekt-Nr. S-2008-1 08-2),
das von der Hans Böekler-Stiftung dank enswerterweise gefördert wurde. Für die kooperative Betreuung
bedanken wir uns bei Dr. Karsten Schneider. Wir danken auch Dip!. Soz.-Wiss. Tobias Bröcker ftir die
Mitarbeit an dieser Studie.
Arbeit, Heft I, Jg.
20
(2011),
S.
5-17
6 Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann, Alfredo Virgillito
1 Forschung zu Interessenvertretungen
Betriebliche Interessenvertretungen als eine Form der Mitbestimmung in Deutschland
haben vor allem den Zweck, die demokratische Teilhabe von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in Unternehmen zu gewährleisten. Seit Beginn der 1980er Jahre ist der
Wandel der betrieblichen Interessenpolitik
auf
der Interaktionsebene zwischen Betriebs-
räten und Geschäftsführung in zahlreichen Untersuchungen erforscht worden (Kotthoff
1981, 1994; Müller-Jentsch/Seitz 1998; Bosch/Ellguth/Schmidt/Trinzczek 1999; Artus
u.a. 2001; Piorr/Wehling 2002; Schumann 2004; Weitbrecht/Braun 1999). Herauskri-
stallisiert haben sich Betriebsratstypologien, die über das Spektrum sowie über einzelne
Typen hinweg ein hohes Maß an Übereinstimmung zeigen (Kotthoff 1981, 1994; Müller-
Jentsch u.a. 1998; Bosch/Ellguth/Schmidt/Trinzczek 1999; Artus u.a. 2001; Nienhüser
2005; Minssen/Riese 2005). Seit den 1990er Jahren wird die Debatte über betriebliche
Arbeitsbeziehungen vor allem von der Frage dominiert, inwiefern sich die veränderten
Rahmenbedingungen (z.B. durch Globalisierung, Shareholder Value , Arbeitsmarktkrise)
auf
die Arbeit betrieblicher Interessenvertretungen ausgewirkt haben (Trinczek 2010).
Insgesamt liegt der Wandel der betrieblichen Interessenregulierung vor allem darin, dass
Betriebsräte neben den klassischen Schutzaktivitäten verstärkt gestalterische Aufgaben
(Minssen/Riese 2005) wahrnehmen können bzw. müssen. Schon Mitte der 1990er Jahre
vermutete Baethge (1994) im Zuge des Wandels industrieller Beziehungen nicht nur
steigende Anforderungen an Gewerkschaften, sondern auch steigende Anforderungen an
Betriebsräte: Neben Anforderungen an kommunikative Kompetenzen werden "die An-
forderungen an detaillierte konkrete Informationen in der Verbindung von allgemeinen
Regelungen (insbesondere im Tarif- und Betriebsverfassungsrecht) sowie deren betriebs-
spezifische Umsetzung" (Baethge 1994, 724) steigen. Auch Wassermann (2002) stellt
fest, dass spätestens mit Beginn der 1980er Jahre "immer mehr Regelungsbereiche von
der überbetrieblich-tariflichen
auf
die einzelbetriebliche Ebene verlagert" (Wassermann
2002, 59) und neue Aufgabenbereiche übernommen wurden, wie etwa die Einführung
neuer Technologien, Arbeitsgestaltung, Umstrukturierung und Standortsicherung. So
kommt Müller-Jentsch (2007) zu dem Schluss, dass Betriebsräte stetig ihre Kompetenzen
und Aufgaben erweitert haben und dies insgesamt ein Zugewinn sei, "der das Selbstbe-
wusstsein gestärkt hat, aber nicht von wenigen auch als Last empfunden wird" (Müller-
Jentsch 2007, 1 07). Im Zuge der Aufgabenerweiterung von Interessenvertretungen wurde
Mitte der 1990er Jahre der Begriff des sogenannten Co-Managements (Müller-Jentsch
1995; Müller-Jentsch/Seitz 1998; Artus u.a. 2001; Minssen/Riese 2007) geprägt. Unter
diesemBegriffversteht man, dass Betriebsräte in unternehmenspolitische Entscheidungen
miteinbezogen werden und "mit am Tisch der Spitzenmanager" (Wassermann 2002, 60)
sitzen. Typischerweise werden Interessenvertretungen als Co-Manager vor allem im Zuge
von Umstrukturierungen miteinbezogen und können somit personal- und sozialpolitische
Folgen frühzeitig erkennen und gegebenenfalls lenken (Kotthoff 1995).
Bei der Durchsicht der einschlägigen Literatur fällt allerdings auf, dass die Sichtweise
der abhängig Beschäftigten und ihre Erwartungen an Interessenvertretungen bis
auf
wenige
Ausnahmen-
etwa Becke (2008), der zu sozialen Erwartungsstrukturen in Unternehmen
geforscht hat oder Holtrup (2008), der sich mit Beschäftigten und ihren Ansprüchen an
Betriebsräte beschäftigt hat-kaum systematisch erfasst und empirisch erforscht wurden.
Dies scheint aber gerade mit der viel diskutierten Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
Erwartungen an Interessenvertretungen aus der Perspektive von abhängig Beschäftigten 7
und der neuen Bedeutung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Keller/Seifert 2007)
immer wichtiger. Wir vermuten, dass die zu vertretende Belegschaft immer vielfältiger
in ihren Bedürfnissen wird und damit wahrscheinlich auch in ihren Erwartungen. Daher
gehen wir in diesem Beitrag der Frage nach, welche Erwartungen abhängig Beschäftigte an
ihre Interessenvertretung haben. Bevor wir dieser Forschungsfrage explorativ nachgehen,
werden wir zunächst die bisherige Forschung zu Erwartungen an Interessenvertretungen
kurz skizzieren.
2 Erwartungen
an
Interessenvertretungen
Erwartungen werden vornehmlich in der Lern- und Motivationspsychologie (Heckhausen
1989), der Betriebswirtschaft im Hinblick aufKundenerwartungen (Bruhn/ Richter/Georgi
2006) aber mit der Entwicklung der Rollentheorie auch in der Soziologie (Becke 2008;
Luhmann 2003, 104) thematisiert. All diese Ansätze können zusammengefasst werden,
indem Erwartungen als eine sozial gelernte subjektiv wahrscheinlicheArmahme über das
eigene Handeln und das Handeln anderer Akteure aufgrund von verbindlichen Regeln,
Normen und geteilten Sinnzusammenhängen definiert werden (Wilkesmann/Wilkesmann/
Virgillito/Bröcker 2011). Erwartungen können sich aufgrund eigener oder vermittelter
Erfahrungen durchaus verändern. Der Erwartungsbegriff sagt demnach nichts über die
Angemessenheit der Erwartung in einer sozialen Situation aus. Erwartungen werden
immer dann enttäuscht, wenn andere sie nicht teilen oder nicht erfüllen. Vordergründig
erwarten abhängige Beschäftigte die Vertretung ihrer Interessen von den jeweiligen In-
teressenvertretungen, aber die eigentliche Frage lautet, wie diese "Interessen" inhaltlich
gefüllt werden können. Hier können Beschäftigte zum einen verschiedene Interessen
zum Ausdruck bringen und zum anderen können sich diese Erwartungen auch in ihrer
Intensität unterscheiden.
Hinweise zu Interessen von Beschäftigten bietet zum einen die Studie von Freeman
und Rogers (1999), in der die Autoren u.
a.
untersuchen, welche demografischen und
beruflichen Kriterien die Haltung der Beschäftigten zu Gewerkschaften beeinflussen.
Erwartungen werden jedoch nicht explizit abgefragt und darüber hinaus sind die Er-
gebnisse
auf
deutsche Verhältnisse kaum übertragbar. Zum anderen liefert die Studie zu
Ansprüchen von Beschäftigten an Arbeit und Interessenvertretung von Holtrup (2005;
2008) konkretere Hinweise
auf
die von uns gewählte Perspektive. Im Rahmen seiner
explorati v angelegten qualitativen Studie wurden 3 5 Beschäftigte in Betrieben der Metall-
und Elektroindustrie und der Banken- und Versicherungsbranche befragt. In Betrieben,
in denen ein Betriebsrat existiert, wurden diese gefragt: (1) Ob sie Kontakt und Bezug
zu ihrem Betriebsrat haben, und wenn
ja,
wie dieser aussieht? (2) Welchen Stellenwert
sie ihrem Betriebsrat zumessen oder ob sie ihn für wichtig oder evtl. für überflüssig hal-
ten (Holtrup 2008, 131). Die Ergebnisse zeigen, dass Beschäftigte ihren Betriebsräten
unterschiedliche Funktionen zubilligen und daher auch die Relevanz der Betriebsräte
bei den Befragten variiert. Insgesamt benennt er vier unterschiedliche Funktionstypen:
advokatmische Funktion, Informationsfunktion, Ordnungs- und Partizipationsfunktion
sowie die Funktion als Tarifakteur. Diese Funktionen werden bei der Formulierung von
Leitfragen im Rahmen unserer Studie aufgegriffen.
8 Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann, Alfredo Virgillito
3 Methode, Feldzugang und Sampie
Erwartungen von abhängig Beschäftigten an ihre Interessenvertretungen sind bisher
kaum erforscht worden, so dass die Wahl
auf
eine qualitative Methode fallt, um diesen
Gegenstand
im
Rahmen von teilstrukturierten, leitfadengestützten Interviews mit abhän-
gig Beschäftigten zu explorieren (Flick 2007). Der Leitfaden gliederte sich in zwei Teile.
Zunächst wurden allgemeine Fragen zu den Erwartungen gestellt (z.B. , Was erwarten Sie
von Ihrem Betriebs-/Personalrat?'). Hierbei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die
Befragten von der theoretisch gemachten Differenzierung von Erwartungen abweichen und
hierunter auch Wünsche oder Ansprüche zum Ausdruck bringen. Daher wurden weitere
Ad-hoc-Fragen mit dem Ziel einer allgemeinen Sondierung der subjektiven Problemsicht
spontan während des Interviews gestellt.
Im
zweiten Teil wurden konkrete Annahmen
aus der Studie von Holtrup (2008) als Leitfragen entwickelt
und
im
Interview themati-
siert, sofern sie im ersten Teil nicht bereits angesprochen wurden (Flick 2007, 210 ff).
Hierunter fallen die advokatarische Funktion (z.B. , Würden Sie Ihren Betriebs-/Perso-
nalrat zu Gesprächen mit Vorgesetzten, der Geschäftsleitung oder der Personalabteilung
hinzuziehen?'), die Informationsfunktion (z.B. , Welche Informationen erwarten Sie
von Ihrem Betriebs-/Personalrat?'), die Ordnungs-
und
Partizipationsfunktion (z.B.
,An
welchen Entscheidungen (der Geschäftsleitung)
im
Unternehmen sollte Ihr/ein Betriebs-
/Personalrat beteiligt werden?'), die Funktion als Tarifakteur (z.B. , Was erwarten Sie
von
ihrem Betriebs-/Personalrat in Bezug
aufihre
Entlohnung
und
aufihre
Arbeitszeit?'). Die
Interviews wurden in Teilen transkribiert
und
einzelne, weniger relevante Passagen wurden
paraphrasiert. Die Auswertung der Mitschriften erfolgte nach Prinzipien der qualitativen
Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) mit den drei Grundformen des Interpretierens, d.h.
Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung (Flick 2007, 410ft).
Insgesamt wurden 29 Interviews mit abhängig Beschäftigten geführt.
Der
Feldzugang
wurde mit Unterstützung von ver.di
und
einigen Unternehmen, die bereits aus anderen
Forschungskontexten bekannt waren, realisiert. So konnte gewährleistet werden, dass der
Zugang zu den befragten Personen sowohl über die Arbeitnehmerseite als auch über die
Interessenvertretungen vermittelt wurde. Eine Voreingenommenheit der so ausgewählten
Interviewpartner machte sich
jedoch
in keinem Fall bemerkbar. Wie Keller und Schnell
(2005) zu Recht bemängeln, wurden
in
der Vergangenheit Untersuchungen zumeist in
zentralen Branchen der Privatwirtschaft durchgeführt.
In
unserem Sampie wurden daher
nicht nur abhängig Beschäftigte der Privatwirtschaft, sondern auch Beschäftigte im öf-
fentlichen Dienst befragt. Die Befragten sollten darüber hinaus verschiedene (Aus-)Bil-
dungshintergründe aufwiesen, aus unterschiedlich großen Betrieben stammen, gemischten
Alters und von der Geschlechterverteilung ausgewogen sein. Der Ausbildungsabschluss
scheint uns ein geeignetes Indiz für die Selbstaushandlungsfahigkeit der Befragten zu sein.
Wir vermuten, dass mit steigender Selbstaushandlungsfahigkeit weniger häufig erwartet
wird, dass die Interessenvertretung sich für einen persönlich einsetzt. Mit steigender Be-
triebsgröße wird die Interessenvertretung in der Regel professioneller, was einen Einfluss
auf
die Erwartungen haben könnte. Alter
und
Geschlecht sind typische Merkmale, nach
denen unterschieden wird, wenn noch keine ausgereifte Theorie vorliegt.
Im
Sampie der abhängig Beschäftigten befinden sich
15
Personen mit einer abge-
schlossenen Lehre, fünf Personen mit einem Meister- oder Technikergrad sowie neun
Interviewte mit einem Hochschulabschluss. Drei Personen gehörten der Altersgruppe bis
Erwartungen an Interessenvertretungen aus der Perspektive von abhängig Beschäjiigten 9
30 Jahren an,
18
Personen der Altersgruppe
31
bis 50 Jahren und acht Personen waren
zum Zeitpunkt der Interviews älter als
51
Jahre. Insgesamt arbeiteten
zwölf
Personen in
Betrieben mit weniger als 100 Mitarbeitern und
17
Personen in Betrieben mit mehr als 100
Mitarbeitern.
Von
den Interviewten arbeiteten
elf
Personen
im
öffentlichen Dienst und
18
in der Privatwirtschaft. Alle Betriebe, in denen die Interviews durchgeführt wurden, sollten
einen Betriebs- oder Personalrat besitzen, damit überhaupt Erwartungen an die jeweilige
Interessenvertretung formuliert werden konnten. Zudem waren
13
Personen weiblich
und
16
Interviewte männlich. Alle relevanten Kategorien wurden somit abgedeckt. Die
Interviews fanden im Zeitraum November 2008 bis Januar 2009 statt.
4 Ergebnisse
DieAuswertung der 29 Interviews mit den abhängig Beschäftigten
hat-
zum Teil entgegen
den theoretischen Vorannahmen
-f
olgende vier inhaltlichen Kategorien an Erwartungen
ergeben:
1.
Weitergabe von Informationen,
2. persönliche Unterstützung,
3.
Sprachrohr der Belegschaft und
4.
Kontrolle von kollektiven Regulierungsgegenständen.
Die inhaltsanalytische Auswertung ergab zudem eine weitere Kategorie, welche sich
auf
die Eintrittswahrscheinlichkeit der Erfüllung der vier Erwartungsdimensionen bezieht.
Hier haben die Interviewten Aspekte zu persönlichen Eigenschaften der Interessenver-
tretung und zum Verhältnis der Interessenvertretung zur Geschäftsleitung beschrieben.
Darüber hinaus können wir Erwartungen differenzieren, die den Rahmen der gesetzlichen
Bestimmungen überschreiten. Letztere resultieren meist aus einer Überschätzung des
Machtpotenzials der Interessenvertretung, aus konträren persönlichen Präferenzen der
Erwartungssteiler und-stellerinnen oder aus Unkenntnis des Betriebsverfassungsgesetzes.
Die Ausdifferenzierungen der vier Hauptkategorien sowie Erwartungen, die den Rahmen
der gesetzlichen Bestimmungen überschreiten, werden in den folgenden Abschnitten
detailliert beschrieben.
4.1 Weitergabe von Informationen
Ein Teil der Erwartungen, welche die Befragten häufig im offenen Teil des Interviews
nannten, bezieht sich
auf
den Aspekt der Weitergabe von Informationen. Erwartet wird
vor allem, dass die Interessenvertretung den innerbetrieblichen Kommunikationsfluss
gewährleistet und insbesondere die Belegschaft über wichtige Aspekte informiert. Hier
werden vor allem Informationen in wirtschaftlicher Hinsicht erwartet. Neben der wirt-
schaftlichen Lage des Betriebs werden vornehmlich Informationen über leistungsorien-
tierte Bezahlung, Informationen über Sparpläne sowie über die im Betrieb verhandelbaren
Lohnkomponenten genannt (z.B . Prämien und Weihnachtsgelder, die Eingruppierung
einzelner Beschäftigter oder Beschäftigungsgruppen in spezielle Entgeltstufen).Insgesamt
soll die Interessenvertretung die "Übersicht über finanzielle Sachen im Blick behalten"
(Interviewparter/in 28; nachfolgend IP28) und diese Informationen auch gegenüber der
Belegschaft transparent machen. Informationen dieser Art werden von den Befragten vor
allem immer dann erwartet, wenn es aus ihrer Sicht Probleme gibt und die Informations-
10
Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann, Alfredo Virgillito
Iage als unzureichend empfunden wird. In diesem Fall wird erwartet, dass die Interes-
senvertretung für Transparenz im Betrieb sorgt und die Beschäftigten mit Informationen
versorgen
soll"
bevor man sie aus der Presse erfahrt" (IP18, weiblich,
33
Jahre, Hoch-
schulabschluss). Über diese innerbetrieblichen Informationen hinaus, die eher top-down,
d.h. von der Geschäftsleitung an die Interessenvertretung vermittelt werden, erwarten
viele der Befragten auch Informationen über die Pläne ihrer Interessenvertretungen selbst,
denn "der Betriebsrat muss transparent sein" (IP27, weiblich,
52
Jahre, Lehre). Unter
dem Gesichtspunkt Transparenz der eigenen Arbeit der Interessenvertretung lassen sich
weitereAussagen subsumieren: So zum Beispiel IP
17
(männlich, 32 Jahre, Techniker), der
fordert, dass seine Interessenvertretung nicht
"im stillen Kämmerlein mit den Arbeitgebern
irgendwas verhandelt, entscheidet und dem Arbeitnehmer das dann hinterher vorlegt".
Er möchte, dass seine Interessenvertretung der Belegschaft seine Beweggründe darlegt
und Rücksprache hält. IP20 bringt seine Erwartung
auf
den Punkt: "Wenn
michjemand
vertritt, dann muss auch ich wissen: Was hat der denn für eine Meinung überhaupt? Wie
steht er zu dieser Firma? Wie steht er zu seinen Kollegen? Wie ist er überhaupt?". Neben
den innerbetrieblichen Informationen werden Informationen zu verschiedenen über-
betrieblichen Aspekten erwartet. Die Interessenvertretung wird hier als Vermittler von
überbetrieblichen Informationen vorwiegend aus den Bereichen Tarif und Arbeitsrecht
gesehen und soll beispielsweise über den "aktuellen Stand von Tarifverhandlungen"
(IP14, weiblich, 49 Jahre, Hochschulabschluss) und über "tarifliche Änderungen" (IP12,
weiblich 30 Jahre, Hochschulabschluss) informieren. Die Erwartungen beziehen sich
darüber hinaus auch
auf
die Dosierung und die Aktualität der Informationen sowie
auf
die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle. Idealtypisch soll die Kommunikation
mit der Belegschaft durch Sprechstunden oder Betriebs- bzw. Personalversammlungen
sichergestellt werden. Hinsichtlich der Weitergabe von Informationen gab es keine sozio-
strukturellen Unterschiede der Erwartungsäußerungen seitens der Befragten. Es entstand
allerdings der Eindruck, dass Befragte, deren Wissen über Interessenvertretungen- nach
subjektiver Einschätzung -eher gering ausgeprägt zu sein schien, öfter erwarteten, dass
die Interessenvertretung über sich selber informieren solle.
4.2 Persönliche Unterstützung
Persönliche Unterstützung seitens der Interessenvertretung wird meist in Konfliktfallen
erwartet. Einige der interviewten Personen erwarten lediglich Beratung und möchten
sich anschließend selbst vertreten, andere Personen hingegen verlangen eine Beratung
und die Anwesenheit der Interessenvertretung in Gesprächsrunden mit den beteiligten
Konfliktpartnern, weil "es einfach besser ist, wenn noch mal zwei Ohren mehr da sind"
(IP13, weiblich, 24 Jahre, Lehre). IP6 (männlich43 Jahre, Techniker) erwartet von seiner
Interessenvertretung, dass "wenn innerbetriebliche Probleme auftreten, ich irgendwelche
Schwierigkeiten habe, ob mit Vorgesetzten, mit Kollegen oder mit der Geschäftsfüh-
rung, dass man da Beratung bekommt, Unterstützung, Hilfestellung". Die individuelle
Unterstützung vonseiten der Interessenvertretung wird insbesondere dann in Anspruch
genommen, wenn es "wirklich hart kommt" (IP8, männlich, 36 Jahre, Lehre) und es um
Kündigungen oder Ahmahnungen geht. Einige der Befragten, die die Interessenvertretung
als IetztenAusweg betrachten, würden ihren direkten Vorgesetzten als Streitschlichter der
Interessenvertretung vorziehen. Des Weiteren wurde über Fälle der Unterstützung und
Vermittlung der Interessenvertretung bei individuellen Konflikten berichtet (z.B. Tarifein-
Erwartun
ge
n an Interessenvert
re
tu
ngen aus der Perspektive von abhängig Beschäftigten
11
gruppierung, Mobbing). Lediglich fünf der 29 Befragten würden
in
Konfliktfallen ihre
Interessenvertretung außen vor lassen. Die Selbstvertretung der Interessen wurde in den
Interviews unabhängig von Bildungshintergrund und Geschlecht (zwei davon männlich,
drei weiblich) geäußert. Die beiden männlichen Befragten (49 Jahre, Techniker und 44
Jahre, Lehre) würden sich lieber selbst an den Vorgesetzten wenden. Zwei Befragte, bei-
de weiblich, mit Lehrabschluss, 24 bzw. 44 Jahre alt, begründeten ihre Selbstvertretung
aufgrund negativer Erfahrungen mit ihrer Interessenvertretung in der Vergangenheit.
Die Befragte
(IPI)
wurde beispielsweise vonseitender GeschäftsführungArbeitsverwei-
gerung unterstellt, weshalb sie eine Ahmahnung erhielt. Daraufhin hat sie sich an ihre
Interessenvertretung gewandt, die ihr allerdings nicht weiterhelfen konnte, woraufhin
sie ihren Rechtsschutz eingeschaltet hat.
Auf
diesem Wege wurde der Arbeitnehmerin
Recht zugesprochen. Nun äußert sie, dass sie sich
in
Zukunft
auf
keinen Fall mehr an
ihre Interessenvertretung wenden wird. An diesem Fall zeigt sich exemplarisch, wie eine
mangelnde Unterscheidung von Gewerkschaft und Betriebsrat zu Erwartungen (s. Kap.
4.6) führen kann, die über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen. Die betroffene
Person wünschte sich juristische Unterstützung vom Betriebsrat, der jedoch antwortete,
dass ein Anwalt nur Gewerkschaftsmitgliedern zur Verfügung gestellt werden könne.
4.3 Sprachrohr der Belegschaft
Der Belegschaft Gehör zu verschaffen, stellt eine weitere Erwartung dar, damit "die
Belegschaftsmeinung
mit
in Entscheidungen der Geschäftsleitung einfließt" (IP4, männ-
lich, 58 Jahre, Techniker). Diese Erwartung wird von zehn Personen als elementarer
Bestandteil der Interessenvertretung genannt. IP23 (männlich, 37 Jahre, Lehre) erwartet,
"dass er [der Betriebsrat] einfach mal ein Ohr [dafür] hat, wenn Probleme da sind und die
Probleme vielleicht auch mal nach oben weiter gibt". Wenn ein Thema viele Mitarbeiter
betrifft oder interessiert, meint IP12 (weiblich, 30 Jahre, Hochschulabschluss), dass ihre
Interessenvertretung für die größeren Probleme
im
organisatorischen Kontext zuständig
sein soll: "Wenn das weitreichender ist, was eventuell auch andere Kollegen beschäfti-
gen könnte, dann wäre ich klar der Meinung, dann ist es nicht mein Ding, sondern das
des Betriebsrats". Viele Beschäftigte erwarten, dass die Interessenvertretung vor allem
Mitspracherechte, bezogen
auf
Gruppen- oder Gesamtinteressen, wahrnehmen soll. Diese
erwartete kollektive Interessenregulierung soll sich vor allem
auf
die ThemenArbeitsorga-
nisation UndArbeitskonditionen erstrecken. Die im Bereich Arbeitsorganisation genannten
Erwartungen betreffen die Themen Gesundheit, Arbeitssicherheit, Arbeitsplatz (vor allem
Mitspracherecht zu Bildschirmarbeitsplätzen) undArbeitsumfeld (z.B. Gestaltung Kantine,
Parkplatznutzung etc .) und decken sich größtenteils mit den im Betriebsverfassungsgesetz
festgelegten Mitbestimmungsrechten.
4.4 Kontrolle kollektiver Regulierungsgegenstände
Am Ende eines betrieblichen Interessenregulierungsprozesses steht idealerweise eine
Betriebsvereinbarung2, deren Umsetzung aber kontrolliert werden muss. Dies meint die
Erwartung der Kontrollekollektiver Regulierungsgegenstände. Unter dem Motto "Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist vielleicht besser" (IP29, weiblich 29 Jahre, Hochschulabschluss)
lassen sich einige Aussagen subsumieren, wie auch die von IP18 (weiblich,
33
Jahre,
Hochschulabschluss ), die meint, dass eine Interessenvertretung der Unternehmensleitung
2 Äquivalent im öffentlichen
Di
ens
t:
Dienstvereinbarung.
12
Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann, Alfredo
Vir
gillito
auf
die Finger schauen soll, so "dass es hier mit dem Arbeitgeber nicht aus dem Ruder
läuft, dass nicht jeder machen kann, was er will".
DieN
achfrage riach Kontrolle durch die
Interessenvertretung bleibt solange latent, bis der Betrieb in Schwierigkeiten kommt. Die
Kontrollerwartung bezieht sich vor allem
auf
kollektive Regulierungsgegenstände, z.B.
Dienstvereinbarungen oder Einhaltung von Tarifverträgen oder Gesetzen. Hier scheint
der einzige sozio-kulturelle Einfluss
auf
eine Erwartung vorzuliegen: Zumindest in dem
Sampie wurde die Kontrolle besonders von Personen mit hoher Qualifikation erwartet. Ob
hier ein Zusammenhang vorliegt,
kannjedoch
erst eine quantitative Studie überprüfen.
4.5 Persönliche Eigenschaften der Interessenvertretungen
Interessenvertretungen sollen bestimmte persönliche Eigenschaften und Kompetenzen
mitbringen, um ihre Ziele letztendlich
zu
erreichen. Dazu zählen fachliche Kompe-
tenzen, auch soziale Kompetenzen und Umgangsformen, die
je
nach Beziehungspartner
variieren. Besonders oft werden die Beziehungskompetenzen zur Belegschaft und zur
Geschäftsführung thematisiert, während Beziehungskompetenzen zu den Gewerkschaften
eher selten genannt werden. In fachlicher Hinsicht wird immer wieder genannt: " ... dass
der oder die schon
auf
dem Level des aktuellen Standes ist, der letzten Nachrichten oder
Tarifabschlüsse oder TVÖD ist" (IP13, weiblich, 24 Jahre, Lehre) oder auch schlicht:
"Fachlichkeit ist eigentlich das A und
0"
(IP27, weiblich, 52 Jahre, Lehre). Um dieses
Wissen zu erhalten, soll sich der Personalrat in diesem Fall weiterbilden,
damit"
... er
auf
dem Laufenden bleibt" (IP13). Die Interessenvertretung soll sich, wenn sie nicht weiter
weiß, Hilfe von den Gewerkschaften einholen: "Dass man sich unter Umständen auch
nicht zu schade dafür ist, Hilfe zu holen, dann bei Gewerkschaften, wenn man sich der
Sache nicht sicher ist" (1P14, weiblich, 49 Jahre, Hochschulabschluss
).
Neben den harten
Fakten sollte der Betriebsrat
in
diesem Fall auch die wirtschaftliche Lage des Unterneh-
mens im Auge behalten: "Man muss Firn1enverständnis haben.
Wo
der Hase hinläuft, im
Groben-
nicht in der Feinheit. Weil sonst gibt es Probleme. Man muss das
ja
irgendwie
abschätzen können. Da muss der Betriebsrat dann Gedanken rein stecken" (IP20, männ-
lich,
43
Jahre, Techniker). Insgesamt wird
auf
eine Zusammenarbeit
"auf
drei Ebenen, die
sehr intensiv miteinander arbeiten, d.h. Chefetage, Betriebsrat und Belegschaft" (IP29,
weiblich, 39 Jahre, Hochschulabschluss) Wert gelegt. Dabei soll die Interessenvertretung
ein Gegengewicht zur Geschäftsführung bilden und die Mitarbeiter auch miteinander
verbinden. Einer der wichtigsten Aspekten -im Sinne von meistgenannten Aspekten
der Form der Arbeit von Interessenvertretungen -ist die Präsenz und Ansprechbarkeit:
"Die Leute müssen ansprechbar sein. Und das nicht nur innerlich, das müssen sie nach
Außen tragen" (IP16, männlich, 47 Jahre, Hochschulabschluss). Viele Befragte gaben
auch an, dass es ihnen wichtig sei, dass es einen guten zwischenmenschlichen Kontakt
zu den Mitgliedern der Interessenvertretung gibt: "Funktion ist nicht wichtig, sondern
dass es nette, offene Kollegen sind, dass ich zum Personalrat gehe, wenn ich etwas
auf
dem Herzen habe" (IP 16). Viele der Befragten wenden sich an ihre Interessenvertretung,
um nicht persönlich mit der Geschäftsführung verhandeln zu müssen. Insgesamt sollen
Angelegenheiten anonym und diskret behandelt werden, was nicht immer so gehandhabt
wird, wie der folgende Ausnahmefall zeigt: "Also ich brauch eine spezielle Dienstverein-
barung, die ungünstigerweise nur beim
Chef
abgelegt ist, was nicht sein sollte, weil die
für uns alle zugänglich sein muss bzw. der Betriebsrat müsste die haben, hat er
jetzt
auch
Dank mir, haha [lacht] und dass das der Betriebsrat einfach an den
Chef
weitergeleitet
Erwartungen an Interessenvertretungen aus der Perspektive von abhängig Beschäftigten
13
hat: Mitarbeiterin so und so braucht das und das -das kann einfach nicht sein, weil der
Chef
da schon vorab etwas weiß.
So
etwas darf einfach nicht passieren" (IP 13, weiblich,
24 Jahre, Lehre). Ein Interviewpartner aus einemmittelständischen Betrieb ging explizit
auf
die Vorbildung ein, damit die Interessenvertretung dem Arbeitgeber
auf
gleicher Au-
genhöhe begegnen kann:
"Er
muss eigentlich geschult sein, was den Umgang mit dem
Arbeitgeber angeht. Als Otto-Normal Angestellter oder Arbeiter kommt man gegen eine
solche Hierarchie nicht an, also muss man dem entsprechend [
...
] gebildet sein, in dem
Sinne, dass man geschult ist, weil sonst machen die Herren [die Geschäftsführung] was
sie wollen und man kommt nicht dagegen an" (IP20, männlich,
53
Jahre, Techniker).
Viele der Befragten betonen auch eine gewisse Durchsetzungsstärke der Interessen-
vertretung gegenüber der Geschäftsführung: "Dass er das Gesamte im Blick hält. Aber
auch wirklich in Konfrontation gehen kann und sich auch durchsetzt" (IP28, männlich
43 Jahre, Hochschulabschluss). Diese Durchsetzungsstärke wird teilweise relativiert,
beispielsweise mit: "Natürlich nicht mit der Pistole an der Brust" (IP27, weiblich, 52
Jahre, Lehre) und oft auch anerkennend ergänzt: "Also das erfordert schon Geschick"
(IP27). Interessenvertretungen sollen "Positionen erkennen können und unter Umständen
mit Charme und Kompetenz die dann auch vorbringen können, ohne dabei allen
auf
die
Füße zu treten und die eigene Position vielleicht auch noch zu untergraben. Ich denke,
da gehört viel Fingerspitzengefühl dazu, aber auch das Bewusstsein, dass man irgendwo
auch Macht hat" (IP14, weiblich, 49 Jahre, Hochschulabschluss). Um diese potenzielle
Macht gegertüber der Geschäftsführung auszuspielen, sollten Interessenvertretungen
mit mehreren Mitgliedern "als Einheit" (IP26, weiblich, 30 Jahre, Hochschulabschluss)
gegenüber der Geschäftsführung auftreten.
Zusätzlich sollen Interessenvertretungen flexibel
auf
die Erfordernisse im Betrieb re-
agieren können und im Zweifelsfalle im Sinne des Betriebswohles agieren. Oft schwingt
auch die Angst vor dem Arbeitgeber mit: "Mit Gewalt ist es eigentlich nie gut. Ein Kom-
promiss, bei demjeder mit einbezogen wird, ist dann ein gerechter Kompromiss, weil dann
der Interessenausgleich geschaffen wird" (IP7, männlich, 54 Jahre, Techniker). Insgesamt
überwiegt sehr stark, dass die Interessenvertretung mit der Geschäftsführung zusammen-
arbeiten und Lösungen erarbeiten soll, die am Gemeinwohl aller orientiert sind.
4.6 Unrealistische Erwartungen
Zusätzlich wurden in den Interviews Erwartungen an die Interessenvertretungen gerichtet,
die aufgrund von Unwissenheit oft über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen.
Einige der Befragten kennen sich nicht genau im Betriebsverfassungsgesetz aus und/oder
unterscheiden nicht zwischen Gewerkschaft und Interessenvertretung. Beispielsweise
erwarten die Befragten von ihren Interessenvertretungen Informationen, die diese jedoch
unter Umständen aufgrund der Geheimhaltungspflicht laut § 79 Abs. 1 des Betriebsver-
fassungsgesetzes nicht verbreiten dürfen. Zusätzlich werden von der Interessenvertretung
Informationen gefordert, die eigentlich durch die Geschäftsleitung bereitgestellt werden
müssten, z.B. das Informieren der Belegschaft über die wirtschaftliche Lage des Betriebs.
Diese Erwartung hatten nur die Beschäftigten in der Privatwirtschaft. Oftmals angespro-
chen wird von den Beschäftigten das Thema Arbeitsplatzsicherheit und Entlassungen.
In dieser Hinsicht wird beispielsweise erwartet, dass die Interessenvertretung tätig wird,
wobei die Einflussmöglichkeiten
jedoch
häufig überschätzt werden. Es wird entweder
erwartet, dass die Interessenvertretung Entlassungen verhindem soll. Sollte dies nicht
14
Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann, Alfredo Virgillito
realisierbar sein, soll die Interessenvertretung laut IP7 (männlich, 54 Jahre, Techniker) für
"Gerechtigkeit bei der Auswahl von Personen
im
Falle von Entlassungswellen" sorgen.
Mehrere Interviewpartner erwarten, dass die Interessenvertretung über Kündigungen
mitentscheiden soll. Es ist
jedoch
zu bezweifeln, ob es so etwas wie Gerechtigkeit bei
Kündigungen geben kann. Denkbar ist, dass die Interessenvertretung als mitverantwort-
lich betrachtet wird.
Das Problem der letztgenannten Erwartungen besteht hauptsächlich darin, dass die
Interessenvertretung in die Rolle der Geschäftsführung oder in die Rolle der Gewerkschaft
und den damit verbundenen Erwartungen an diese gedrängt wird.
Da
diese Erwartungen
aus politischen Gründen nicht erfüllt werden sollten und/oder aus rechtlichen Gründen
nicht erfüllt werden dürfen, geraten sie dadurch in eine gewisse Dilemmasituation.
5 Fazit
Als Ergebnis unserer explorativen Studie lässt sich festhalten, dass die Erwartungen an
Interessenvertretungen folgende Dimensionen umfassen: Erstens die Informationsfunk-
tion, d.h. die Gewährleistung des Informationsflusses zwischen Interessenvertretung
und Geschäftsführung und zwischen Interessenvertretung
und
Belegschaft, inklusive der
Information über die eigene Arbeit selbst. Ähnliche Ansprüche stellt Tietel (2006, 10)
fest, indem die Belegschaft vom Betriebsrat erwartet, dass
"er
in seinen eigenen Reihen
transparente Strukturen schafft und seine Ziele und Interessen der Belegschaft gegenüber
diskursiv begründet". Zweitens wird persönliche Unterstützung erwartet, die allerdings
an die eigene Einschätzung der Selbstaushandlungsfahigkeit und
an
die Fähigkeiten der
Interessenvertretung gekoppelt ist.
Auf
kollektiver Ebene wird drittens erwartet, dass
Interessenvertretungen als Sprachrohr der Belegschaft fungieren, d.h. Informationen und
Bedürfnisse bottom-up transportieren und in Entscheidungsprozesse einbringen sowie
viertens die Kontrolle von Regulierungsgegenständen (z.B. Dienstvereinbarungen oder
Einhaltung von Gesetzen) im Blick haben. Zur Erfüllung dieser Erwartungsdimensionen
sind als persönliche Eigenschaften der Interessenvertretungen vor allem fachliche und
soziale Kompetenzen wichtig. Als soziale Kompetenz ist hier insbesondere das Auftreten
der Interessenvertretung gegenüber der Geschäftsführung relevant, welches allerdings
im Hinblick
auf
das Betriebswohl dosiert werden sollte.
Mit
Ausnahme von speziellen
Informationserwartungen (z.B. wirtschaftliche Lage, Lohnaushandlungen) vonseiten der
Befragten, die in der Privatwirtschaft beschäftigt sind, lässt sich keine Aussage
im
Hin-
blick
auf
die soziostrukturelle Zuordnung (Geschlecht, Alter, Betriebsgröße) machen. Hier
bedarf
es einer breiter angelegten quantitativen Studie
auf
Basis dieser ersten Ergebnisse.
Obwohl wir bewusst Interviewpartnerinnen und Interviewpartner befragt haben, die
in
Betrieben mit Interessenvertretung arbeiten, verfügen diese über einen sehr unterschied-
lichen Wissensstand zu Interessenvertretungen und potenziellen Erwartungen an diese.
Ein hoher Grad
an
Nichtwissen
zu
Interessenvertretungen führt zu Erwartungen, die über
die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehen, so dass Enttäuschungen vorprogrammiert
sind. Durch gezielte Informationen können unrealistische Erwartungen vermieden und so
auf
den Prozess der Erwartungsbildung Einfluss genommen werden. Geringeres Wissen
über Interessenvertretungen scheint auch dazu zu führen, dass Informationen über die
Interessenvertretungsarbeit häufiger genannt wird.
Erwartungen an Interessenvertretungen aus der Perspektive von abhängig Beschäftigten
15
Ein Aspekt, der in unserer Studie von den Interviewten nicht genannt wurde, ist die
Funktion des Co-Managements, über die es in der Literatur eine breite Debatte gibt
(z.B. Müller-Jentsch/Seitz 1998; Minssen!Riese 2007). Weder im ersten freieren Teil
des Interviews noch
aufNachfragen
3, schien der Aspekt des Co-Managements relevant.
Wie sich in der Forschung gezeigt hat (s.o.) kann dies ein wichtiger Aspekt der Interes-
senvertretungsarbeit sein, der jedoch eventuell schwer zu vermitteln ist und somit trotz
seiner Stellung in der Wahrnehmung der Beschäftigten untergeht.
Da
wir nicht wissen,
ob es keine Erwartungen der Beschäftigen
im
Sinne eines solchen Co-Managements an
die Interessenvertretung gibt oder ob dies an unserer Sampleauswahlliegt, müsste dieser
Aspekt in einer breiter angelegten quantitativen Studie erforscht werden. Daher ist an dieser
Stelle einschränkend anzumerken, dass die hier vorgestellte qualitative Studie lediglich
einen ersten Einblick in verschiedene Kategorien von Erwartungen an Interessenvertre-
tungen gewährt und weitere Forschungsschritte
auf
quantitativer Basis notwendig sind,
um Einflussfaktoren
auf
die verschiedenen Erwartungen analysieren zu können.
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Anschrift der Autor/innen:
JProf.
Dr.
Maximiliane Wilkesmann
Technische Universität Dortmund
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Juniorprofessur Soziologie
D-44221 Dortmund
maximiliane. wilkesmann@tu-dortmund.
de
Prof.
Dr.
Uwe Wilkesmann
Dipl.-Soz. Wiss. Alfredo Virgillito
Technische Universität Dortmund
Lehrstuhl für Organisationsforschung, Weiterbildungs-
und Sozialmanagement
Hohe Straße
151
D-44139 Dortmund
uwe.wilkesmann@tu-dortmund.de
al
fredo. virgi llito@tu-dortmund.
de