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508 Olson, Mancur: The Logic of Collective Action
Olson, Mancur (1965): The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of
Groups. Cambridge: Harvard University Press.
Auf Deutsch: Olson, Mancur (2004): Die Logik des kollektiven Handelns. 5. Auflage. Tübingen:
Mohr Siebeck.
Die Organisationsforschung hat implizit oder explizit immer nur einen Organisations-
typ behandelt, die Arbeitsorganisation. Bei diesem Organisationstyp wird die Arbeits-
motivation der Mitglieder » gekau «, das heißt ein Mitglied arbeitet zum Beispiel in
einem Unternehmen, weil es Geld dafür bekommt. Olson hat mit seinem 1965 erschie-
nenen Buch die bis heute wirkmächtigste eorie der Interessenorganisation entwi-
ckelt. Als interdisziplinär arbeitender Ökonom basiert seine eorie auf dem Ansatz
des homo oeconomicus und soll die Frage klären, warum es Interessenorganisationen
wie beispielsweise Gewerkschaen, Fußballverbände oder Autofahrerclubs gibt.
Der Unterschied zwischen Arbeitsorganisationen und Interessenorganisationen liegt
im Verhältnis von individuellen und organisationalen Zielen. In der Arbeitsorganisa tion
fallen individuelle und organisationale Ziele auseinander, deshalb muss die Arbeitsor-
ganisation mittels Geldzahlung die individuelle Motivation der Mitarbeiter einkaufen.
Bei Interessenorganisationen hingegen existiert eine Übereinstimmung zwischen indi-
viduellen und organisationalen Zielen: Jemand ist Mitglied einer Gewerkscha, weil die
Ziele höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen geteilt werden. Allerdings lassen
sich diese Ziele nicht individuell durchsetzen, deshalb ist die Organisation der Gewerk-
schaen notwendig.
Aus der Interessenkonvergenz folgt aber für ökonomisch rational handelnde Akteu-
re nicht, dass sie sich auch in der entsprechenden Organisation (Gewerkscha) enga-
gieren, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Um diesen Sachverhalt genau zu erklären,
grei Olson auf die eorie der öentlichen Güter zurück. Schließen sich Personen zu-
sammen, um gemeinsam ein Interesse durchzusetzen, so produziert diese Gruppe ein
öentliches Gut. Ein öentliches Gut ist deniert als ein Gut, von dessen Konsum nie-
mand ausgeschlossen werden kann, egal ob diese Person an der Produktion des Gutes
beteiligt war oder nicht. Das Nicht-Ausschlussprinzip muss sich aber nicht auf eine un-
endlich große Anzahl von Personen beziehen, sondern kann auch nur die Mitglieder der
Organisation umfassen.
Gewerkschaen produzieren das öentliche Gut eines Tarifvertrages, in dem ein
höherer Tariflohn oder bessere Arbeitsbedingungen erzielt werden. Jede abhängig be-
schäigte Person, die in dem Tarifgebiet arbeitet, kommt in den Genuss des höheren
Lohns oder der besseren Arbeitsbedingungen und zwar vollkommen unabhängig davon,
ob diese Person Gewerkschasmitglied ist oder nicht. Ebenso spielt es keine Rolle, ob
diese Person aktiv an einem Streik beteiligt war oder nur » Karteileiche « ist. Rationale
Akteure, die ihren individuellen Nutzen maximieren, würden die Trittbrettfahrer-Posi-
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tion (free-rider) wählen, das heißt selbst keine Kosten aufwenden und das Engagement
der Anderen ausbeuten, da der höchste Nutzen erzielt wird, wenn der höhere Tariflohn
bezogen, aber nichts für seine Produktion investiert wird. In diesem Sinne wäre es ratio-
nal, keine Kosten auf sich zu nehmen, in der Form von aktiver Streikbeteiligung oder
auch nur in Form einer Gewerkschasmitgliedscha, da der höhere Lohn auch ohne
diese individuellen Kosten » produziert « wird. Wenn aber alle Akteure so denken, dann
würde es überhaupt keine Gewerkschasmitglieder geben und somit keinen kollektiv
ausgehandelten Tariflohn, das heißt das öentliche Gut wird nicht produziert. Aus die-
sem Grunde fragt Olson, warum es dann überhaupt Interessenorganisationen wie zum
Beispiel Gewerkschaen gibt.
Die zentrale Antwort, unter welchen Bedingungen öentliche Güter produziert wer-
den, das heißt Interessenorganisationen existieren, besteht in der Dierenzierung der
Gruppengröße. Olson unterscheidet drei Größen. Erstens sehr kleine Gruppen: In sehr
kleinen Gruppen kann es sein, dass schon ein Akteur alleine solch einen hohen Nutzen
aus dem Konsum des öentlichen Gutes zieht, dass für ihn immer ein Gewinn bleibt,
auch wenn er ganz alleine die Produktionskosten übernimmt und alle anderen die Tritt-
brettfahrer-Position einnehmen.
Zweitens mittelgroße Gruppen: Bei dieser Organisationsgröße ist noch eine face-
to-face Kommunikation möglich, das heißt jedes Mitglied kann das Verhalten aller an-
deren Mitglieder beobachten und/oder würde einen Ausfall an den Produktionskosten
eines Mitglieds spüren. Aus der individuellen Perspektive ist es rational, die anderen die
Arbeit machen zu lassen und selbst nur das Gut zu konsumieren. Aufgrund der Grup-
pengröße können die anderen dieses unkooperative Verhalten (Defektion) beobachten
oder der Ausfall der Leistung dieses Mitglieds bei der Produktion des öentlichen Gutes
ist für alle anderen direkt spürbar. Trittbrettfahrer können von den anderen Gruppen-
mitgliedern sanktioniert werden. Diese Sanktion muss so groß sein, dass es individuell
für den Trittbrettfahrer nicht mehr rational ist, weiter zu defektieren. Hechter (1987) hat
Olsons eorie an diesem Punkt weiterentwickelt und spricht von Überwachungs- und
Sanktionskapazität. Eine Gruppe dieser Größenordnung muss also genügend Überwa-
chungs- und Sanktionskapazität besitzen, um Defektion zu vermeiden. Allerdings stellt
die Sanktion ein Trittbrettfahrer-Problem zweiter Ordnung dar (Coleman 1990): Das
Sanktionieren verursacht wiederum Kosten, zum Beispiel in Form psychischer Kosten.
Der Trittbrettfahrer muss zur Rede gestellt werden, Sanktionen müssen ausgesprochen
und vollzogen werden. Diese Kosten zu übernehmen ist individuell nicht rational und
stellt somit ein eigenes öentliches Gut dar. Nach Coleman (1990) ist aber das Tritt-
brettfahrer-Problem zweiter Ordnung einfacher zu überwinden als das Problem erster
Ordnung, da die Restgruppe den Sanktionierer/in einfach belohnen kann, in dem sie
ihn/sie beispielsweise als informellen Gruppenführer/in anerkennt und somit einen hö-
heren Status und damit verbunden höheren Nutzen gewährt. Das öentliche Gut wird
also bei dieser Gruppengröße dann produziert, wenn genügend Sanktionskapazität vor-
handen ist.
510 Olson, Mancur: The Logic of Collective Action
Drittens sehr große Gruppen: Interessenorganisationen, wie Gewerkschaen, beste-
hen aber aus Millionen von Mitgliedern, zwischen denen eine face-to-face Kommunika-
tion aller Mitglieder nicht möglich ist. Für sie ist Größe wichtig, denn je mehr Mitglieder
sie haben, desto durchsetzungsstärker sind sie. Damit fällt ein Trittbrettfahrer-Verha l-
ten überhaupt nicht auf. Eine einzige » Karteileiche « schwächt nicht die Schlagkra einer
Gewerkscha mit Millionen Mitgliedern. In dieser Logik ist es also unwahrscheinlich,
dass große Gruppen existieren. Olsons Antwort, warum Gewerkschaen dennoch exis-
tieren, ist einfach: Die individuellen Kalküle der Akteure werden durch selektive An-
reize verändert. Selektive Anreize können monetärer oder nicht-monetärer Natur sein
(und dabei jeweils negativer oder positiver Art). Monetäre Anreize können im Falle
der Gewerkschaen Streikgelder für Mitglieder, spezielle Versicherungen oder sonsti-
ge monetäre Vergünstigungen für Mitglieder sein, welche die Kosten im individuellen
Kalkül aufwiegen. Ein monetärer Anreiz kann auch eine Bezahlung als Funktionär/in
sein, sodass die Arbeit für die Interessenorganisation zum Beruf wird. Nicht-monetäre
Anreize können das soziale Prestige und die öentliche Bekanntheit sein, die jemand
als Gewerkschasaktivist/in erlangt. Häuger in der Zeitung zu erscheinen, in wichtige
politische Entscheidungsprozesse eingebunden zu sein oder von allen Kolleg/innen er-
kannt zu werden, kann das individuelle Kalkül zugunsten eines Engagements verändern.
Für die Vergabe der selektiven Anreize ist eine formale Organisation notwendig. Olson
rekonstruiert die Geschichte der amerikanischen Gewerkschaen mithilfe dieses Ansat-
zes und erläutert dabei insbesondere den Anreiz des closed shops. Nach Olson können
diese selektiven Anreize ein Eigenleben entwickeln und dazu führen, dass Interessenor-
ganisationen nur noch aufgrund ihrer Anreize existieren und niemand mehr Mitglied
ist, weil es um die Vertretung des ursprünglichen Interesses geht. In Deutschland wäre
der ADAC ein Beispiel dafür. Die meisten Mitglieder des ADAC sind dies, weil sie die
selektiven Anreize des speziellen Services für Mitglieder (gelbe Engel) in Anspruch neh-
men wollen und nicht, weil sie die politische Lobby-Arbeit für Autofahrer unterstützen.
Die » Logik des kollektiven Handelns « ist zum einen in der politikwissenschalich
orientierten Public Choice Forschung (für den anglo-amerikanischen Diskurs siehe
Mueller 2003; für Deutschland siehe Schubert 1992) sowie im Kontext der Forschung
zu den Industriellen Beziehungen rezipiert worden. Im letzten Diskurs ist insbesondere
herausgestellt worden, dass große Interessenorganisationen nicht nur dem gerade be-
schriebenen Dilemma unterliegen, sondern zusätzlich auch dem Dilemma zwischen der
Heterogenität des Interesseninputs verschiedener Mitglieder und der notwendigen Eini-
gung auf wesentliche Organisationsziele (Oe und Wiesenthal 1980). Ein weiterer wich-
tiger Einuss von Olsons Ansatz ndet sich im Werk von Elinor Ostrom (•1990) wie-
der. Sie analysiert das kollektive Handeln bei knappen natürlichen Ressourcen, welche
gemeinschalich genutzt werden (Allmende). Zum anderen ist die » Logik des kollek-
tiven Handelns « in der Soziologie im Rahmen des Rational Choice Ansatzes (Coleman
1990; •Coleman 1974) sowie der Gruppensoziologie verwendet worden. Letztere ana-
lysieren zum Beispiel den Einuss von Status-Hierarchien auf das kollektive Handeln in
511Ostrogorski, Moissei Jakowlewitsch: La démocratie et les partis politiques
Gruppen (Simpson et al. 2012). Ebenso ist Olsons Ansatz auf Fußballvereine und -ver-
bände angewendet worden, um Dilemmata der Finanzierung zu analysieren (Wilkes-
mann und Blutner 2007).
Uwe Wilkesmann
Literatur
Coleman, J. S. (1990). Foundations of Social eory. Cambridge: e Belknap Press of Harvard
University Press.
Hechter, M. (1987). Principles of Group Solidarity. Berkeley: University of California Press.
Mueller, D. C. (2003). Public Choice III. Cambridge: Cambridge University Press.
Oe, C. & Wiesenthal, H. (1980). Two Logics of Collective Action. Political Power and Social
eory 1, 67 – 115.
Schubert, K. (Hrsg.). (1992). Leistungen und Grenzen politisch-ökonomischer eorie. Eine kriti-
sche Bestandsaufnahme zu Mancur Olson. Darmstadt: Wissenschaliche Buchgesellscha.
Simpson, B., Willer, R. & Ridgeway, C. L. (2012). Status Hierarchies and the Organization of
Collective Action. Sociological eory 30, 149 – 166.
Wilkesmann, U. & Blutner, D. (2007). Brot und Spiele. Zur Produktion und Allokation von
Clubgütern im deutschen Profußball. Soziale Welt 58, 55 – 74.
Ostrogorski, Moissei Jakowlewitsch (1903): La démocratie et les partis poli-
tiques. Calmann-Lévy.
Auf Englisch: Ostrogorski, Moissei Jakowlewitsch (1902): Democracy and the Organization
of Political Parties (Band 1). London: Macmillian. (Die Seitenangaben beziehen sich auf diese
Ausgabe)
Diese Studie Moissei Jakowlewitsch Ostrogorskis’ stellt den Gründungsakt der Partei-
ensoziologie dar. So entstammt dem Werk zum einen die berühmte ese eines Hangs
der Parteiorganisation zur Entdemokratisierung beziehungsweise Oligarchisierung, die
unter anderem von Max Weber und Robert Michels aufgegrien wurde. Diese ese bil-
det den maßgeblichen Fluchtpunkt europäischer Parteienkritik des 19. und 20. Jahrhun-
derts (vgl. Siri 2012, S. 47 ff., S. 113 ff.). Zum anderen – und dies erscheint vom heutigen
Standpunkt aus wohl noch relevanter – ist die Studie die erste empirische Studie zu Par-
teien und damit sowohl der Klassiker der empirischen Wahlforschung als auch der kom-
parativen Parteienforschung.
Während ältere Texte zu Parteien, beispielsweise von David Hume (1741/42) oder
Edmund Burke (1770), den Sinn und Zweck dieser Gebilde normativ oder für den deut-