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Patenschaften für ü,e
go sp alt on e G e s ells ch aft
Utopie oder Modell der ZukunftP
aiv, wernoch dem sozialen Op-
timismus der 70er Jahre anhin-
ge. Die Deklassierten zu Freiheit
und Selbstgestaltung erheben? Etwa
durch schulische Bildung? Wer so-
zial desintegrierte Heranwachsende
unterrichtet hat, kann ein Lied von
Lernverweigerung, Motivations-
verlust, zugleich hohen Alimentie-
rungsansprüchen, dem Ringen um
humane Werte singen.
Bei der euphorischen Beschwö-
rung schulischer Standards wird je-
ner Rand des Bildungssystems ger-
ne vergessen. Aus Ratlosigkeit?
Sind es gar tickende Zeitbomben,
die da auf Psychiatrien, Gefängnisse
oder Sozialprojekte zusteuern? Sug-
geriert die oftmals minimale Aus-
stattung der Einrichtungen nicht
eine preiswerte Verwahrung von
längst Aufgegebenen? Hat auch die
Separation in Restschulen zur
misslichen Lage beigetragen und
zugleich emotionale Venohung ge-
fiirdert? Hätten wir die Integration
dieser Jugend in Regelschulen
schaffen können?
Im abgekühlten sozialen Klima
wollen wir allenfalls noch Hilfe zur
Selbsthilfe geben. Runtervom Fem-
sehsofa, rein in eine Arbeit, in ir-
gendeine. Doch ohne Rücksicht auf
SGHUTE
IM UMBRUCH (1OI
ihre Lebenslagen können wir solche
Jugendliche nicht mehr eneichen.
Und ohne den Geldtransfer von
oben nach unten haben wir bald wie-
der Bettler und Diebe auf den Stra-
ßen, Alarmanlagen und Wachmann-
schaften in den besseren Vierteln.
Wirhaben das ja schon längst. Die
Verwüstungen in den französischen
Vorslädten waren ein aufschrecken-
der Wamschuss. Wäs-tm?Es gibt an
wissenschaft lichen Instituten und in
der Praxis entwickelte Handlungs-
modelle. Doch all dies bleibt Flick-
werk, ist nur ein Tropfen aufden hei-
ßen Stein. Maria Paulowna standen
als Petersburger Zarentochter er-
kleckliche Summen zur Verfügung.
Sie untersttitzte bedtirftige Solda-
tenfrauen durch die Beschaffung
von Arbeit, begründete eine Schule
mit Spinnrädem, Websttihlen, Kü-
chen, auch eine Einrichtung für ver-
waluloste Kinder.
Brauchen wir also Mäzene, die
Stiftungen eröffnen? Wir haben sie,
denken wir an Heinz Hoenigs erleb-
nispädagogische Projökte. Das ist
schon viel. Was aber fehlt, ist das
breite Bewusstsein, dass die sozia-
len Gruppen nicht noch weiter aus-
einander fallen därfen. Die pädago-
gischen Institutionen allein werden
diese Anstrengung nicht vollbrin-
Kölner Stadt-Anzeiger - Nr. 86 - Dienstag, 11. April 2006
gen können, auch nicht in FoIm von
Ganztags-Betreuung. Der Riss
durch die Gesellschaft wird eher
noch größer werden. Wenig gebil-
dete, als ökonomisch nutzlos be-
trachtete Unterstützungsempfdnger
hier und Anivierte und einigerma-
ßen Wohlhabende da? Letztere wei-
ter zur Kasse zu bitten, wärde die
eine Schicht nur noch melu von der
anderen trennen, wie Ö1 und Was-
ser.
Ein Emulgator muss her, der'bei-
de verbindet. Dies könnte gelingen
über persönliche Bindungen, über
ein innergesellschaftliches Paten-
schaftssystem, die sozialen Schich-
ten umspannend. Der Wirtschafts-
managerkümmert sich um einen Ju-
gendlichen, der wegen seines Pro-
blemverhaltens eine Förderschule
besucht. Die Millionenerbin über-
nimmt die Patenschaft für ein Mäd-
chen mit Lembehinderung. Dabei
ginge es weniger um matei,elle Zu-
wendungen als um Beachtung, Auf-
merksamkeit, einen gemeinsamen
Konzertbesuch, ein Gespräch. Je-
denfalls um das Signal : Wir gehören
doch zusammen.
Anfangs sicher nur irgendwie.
Aber aus der Unbeholfenheit ließe
sich herauskommen mit der Zeit.
Weil es in meinen Möglichkeiten
lieg und weil ich Wertschätzung er-
falue flir mein Tun. Das wäre doch
der innere Motor. Allein das könnte
die Saturierten im großen Stil zu
Mäzenen machen. Und danach kä-
me vielleicht: Weil es gut flir das so-
ziale G arue, fut unsere gemeinsame
Zukunft ist. Natürlich müsste zu-
nächst viel Unsicherheit abgebaut
werden, müssten sichernde Struktu-
ren geschaffen werden. Doch auf
lange Sicht könnte ein neuer gesell-
schaftlicher Diskurs entstehen, jen-
seits der öden politischen Debatten
um peinliche Sparzwänge und der-
gleichen. Es gab-Zeiten,da wurde-
durchaus mehr quer gedacht als
eben heute. Die Politik ist gefangen
in einem überholten Denkmuster.
Appellieren wir doch an das Edle
und Gute! Die gesellschaftliche An-
erkennung solchen Engagements
gehört freilich dazu. Ach ja, denkt
man vielleicht, angesichts dieser
Zeilen, was flir ein Idealismus, was
für eine Utopiel
Ende der Serie. Alle Folgen im lnter-
net unter:
@ www.t<sta.delschule
Unser Autor
Joachim Brö-
cher ist stell-
vertretender
Lelter einer För-
derschule und
lehrt als Privatdozent an der Uni-
versität zu Köln.