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Sternstunden der Hochbegabungspädagogik:
Die Erfolgsgeschichte der Skylight-Camps
Joachim Bröcher
erschienen in:
Labyrinth: Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind
Ausgabe 87, 2006, 31-33
Es ist interessant zu sehen, dass jetzt zu Beginn des Jahrtausends, mit der Hoch-
begabtenförderung eine Thematik erneut auf die pädagogische Tagesordnung
kommt, die bereits seit Anfang der achtziger Jahre Gegenstand universitärer
Forschung/ Lehre sowie gleichzeitig Gegenstand praktischer Umsetzung und
Konzeptentwicklung gewesen ist. Es geht um die durch Karl-J. Kluge, seine
Frau Eva und ein engagiertes Team an Mitarbeitern ins Leben gerufenen und
über nahezu zwei Jahrzehnte, zeitweise in enger Kooperation mit Doris Meyer,
fortgeführten und weiter entwickelten Universitären Sommercamps, heute: Sky-
Light-Campus. Diese besaßen in der Tat etwas Pionierhaftes, weil hier erstmalig
in Deutschland völlig neue Wege des Lernens mit begabten und motivierten
Heranwachsenden erkundet wurden.
Eine ganze Serie von Publikationen wurde auf den Weg gebracht. Schon 1981
erforschten Karl-J. Kluge und Karin Suermondt-Schlembach den Zusammen-
hang von hoher Begabung/ Intelligenz und Verhaltensauffälligkeit. Klaus
Bongartz, Ulrich Kaißer und Karl-J. Kluge (1985) lieferten zunächst eine grund-
sätzliche Einführung in die Begabungsthematik. Dov Gafni, Karl-J. Kluge und
Klaus Weinschenk (1985) brachten eine Zusammenschau von theoretischen
Einzelaspekten und Möglichkeiten der pädagogisch-therapeutischen Interventi-
on. Anna Grobel (1988) untersuchte die Familienbeziehungen von hochintelli-
genten Kindern und Jugendlichen, die an den ersten Camps teilnahmen. Eva-
Maria Saßenrath (1989) entwickelte ein Modell zur Elternberatung und unterzog
dieses zugleich einer empirischen Prüfung. Joachim Bröcher (1989) führte in
den Universitären Sommercamps eine empirische Untersuchung zur Kreativen
Intelligenz durch und entwickelte ein Fördermodell, das insbesondere divergen-
tes/ schöpferisches Denken, in Verbindung mit einer ganzheitlichen Persönlich-
keitsförderung, betonte. Ulrich Pinnow (1989) stellte das auf dem Enrichment-
Ansatz basierende Camp-Programm in seiner begabungspädagogischen Breite
dar.
Dass grundsätzlich etwas geschehen muss, mit Blick auf die begabten und
motivierten Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zweifeln heute nur
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noch wenige an. Da ich, neben etlichen Jahren Unterrichtstätigkeit mit lernfrus-
trierten Heranwachsenden an Sonderschulen, auch fünf Jahre als Integrations-
lehrer an Grundschulen tätig war, habe ich neben all den lernschwachen und
verhaltensauffälligen Schülern, die ich dort förderte, etliche gesehen, die obwohl
im ersten Schuljahr, schon längst den Stoff des dritten Schuljahres gerechnet
hätten. Statt ein vorgegebenes Übungsblatt zu bearbeiten, hätten sie stärker
selbstständig und entdeckend gelernt und der Gruppe anschließend ihre Ergeb-
nisse präsentiert.
In den meisten Grundschulen langweilen sich diese Kinder jedoch und ihre
Kreativität, ihr Lerneifer bleibt auf der Strecke. Das Lehrpersonal orientiert sich
entweder am Klassendurchschnitt oder aber es ist, trotz des Vorhandenseins der
besten pädagogischen Absichten, durch die zum Teil horrenden Verhaltensauf-
fälligkeiten und Lernschwierigkeiten einer immer größer gewordenen Gruppe
von Schülern absorbiert. Dazu kommt, dass manche lernmotivierte Kinder mit
ihren ungewöhnlichen Ideen „anecken“, indem sie vielleicht „quer“ zu den Er-
wartungen der Lehrkräfte denken. Adäquat gefördert werden die hochintelligen-
ten, und mit der Zeit vielleicht schon weniger motivierten Schüler, jedenfalls
selten.
Wie konflikthaft/ störanfällig sich hochbegabte/ hochintelligente Kinder nun
in pädagogischen Beziehungen und Kontexten verhalten, darüber besteht in der
Fachöffentlichkeit kein Konsens. Detlef Rost stellt sich mit seiner Marburger
Untersuchung in die Tradition der oft zitierten Langzeit-Studie von Terman und
betont die psychische Stabilität hochbegabter Kinder. Sie seien gut ins Schulsys-
tem integriert, sozial unauffällig, im schulischen Lernen erfolgreich und selbst-
bewusst, heißt es in der Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Ledig-
lich jene 15 Prozent, die als Underachiever ermittelt wurden, Doris Meyer und
Karl-J. Kluge sprechen im Sinne einer humanistisch geprägten und an die Po-
tenziale eines jungen Menschen glaubenden Beziehungspädagogik wahrschein-
lich zutreffender von Partly Achievern, diejenigen also, die ihr Leistungspoten-
zial nicht voll ausschöpfen, müssen nach Rosts Studie Anlass zur Sorge geben.
Zieht man andere Publikationen heran, die oftmals auf der Erfahrung von
Therapeuten oder Psychologen in Beratungsstellen basieren, ergibt sich ein völ-
lig anderes Bild. Das Leben hochbegabter Kinder und Jugendlicher erscheint
zum Teil erheblich überschattet von Krisen und Konflikten. Auch stellt sich die
Frage, was mit all den begabten/ motivierten Kindern geschieht, die direkt un-
terhalb der Marke der zwei Prozent Höchstleister liegen, die ja lediglich in die
Marburger Studie eingegangen sind? Wer soll der pädagogische Anwalt dieser
Gruppe sein? Auch scheint es aufgrund meiner eigenen empirischen Beobach-
tungen eine beachtliche Gruppe an kreativen oder begabten jungen Lernern zu
geben, die aufgrund demotivierender Lern-Vorerfahrungen, Kränkungen usw.
gar nicht mehr daran interessiert sind, im Unterricht oder in schuldiagnostischen
Untersuchungen ihr Bestes zu geben.
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So stimmig Rosts Untersuchungsdesign auf den ersten Blick unter methodo-
logischem Gesichtspunkt auch erscheint, so werden doch die Tiefendimensio-
nen, die schon seit Jahrhunderten die Biographien intelligenter, kreativer, begab-
ter Menschen - von Schriftstellern, Erfindern oder Künstlern - bestimmen, wahr-
scheinlich mit diesem Testdesign kaum erfasst. Menschen, die in unserer Welt
tatsächlich etwas bewegt und verändert haben, kamen alles in allem doch eher
selten aus einer solch geordneten, integrierten, leistungswilligen und leistungs-
fähigen schulischen Lebenswelt, wie sie auf der Basis der Marburger Untersu-
chungsergebnisse „konstruiert“ worden ist. Wie oft war es gerade ein tief sitzen-
der Lebenskonflikt, der den Motor für das Generieren eines „Lebens-Werkes“
darstellte, eines Werkes, das dann „allen“ zugute kam oder, auch in seinen
Schattenseiten, zumindest alle „betraf“.
Karl-J. Kluge zieht nach nahezu zwanzig Jahren Kölner Begabungspädagogik
das Fazit, dass die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die Jahr für Jahr wäh-
rend ihrer Sommerferien in die SkyLight-Camps kommen, „seelisch verstimmt“
seien. Das Bedürfnis, an einem begabungspädagogischen Programm teilzuneh-
men, ist bei den Heranwachsenden offenbar vorhanden, sonst hätten die Sky-
light-Camps ihre Erfolgsgeschichte in der für sie typischen Form nicht schreiben
können. Kai Schloesser hat im Sommer 2002, als das SkyLight-Camp auf dem
schleswig-holsteinischen Schloss Rohlstorf stattfand, einen bemerkenswerten
Film gedreht. Dieser Film trägt den Titel „Lernen in Neuen Dimensionen“ und
zeigt somit den durch Karl-J. Kluge begründeten L.i.ND. –Ansatz „in Aktion“.
Im Untertitel des Films heißt es weiter: „Ein pädagogischer Weg. Wenn Kinder
ihr Lernen mitgestalten.“ Der Film präsentiert nun im Wechsel szenische Aus-
schnitte aus den Lerngruppen und kurze, präzise Interviews mit den Teilneh-
mern, den Counselors und den Camp-Begründern. Auf diese Weise entsteht ein
authentisches und facettenreiches Gesamtbild, eine filmische Montage zur
Camp-Wirklichkeit, nämlich wie sie von den verschiedenen beteiligten Personen
erlebt und gesehen wird. Die Stärke von Kai Schloessers Film besteht vor allem
im Herausheben/ Sichtbarmachen von Zwischentönen und feinsten Nuancierun-
gen, die die innere Welt des Einzelnen und das pädagogische Beziehungsge-
schehen in der Camp Community betreffen.
Im Jahre 1987 erschienen nun im Münchener K.G. Saur Verlag (Minerva
Publikation) zwei Dokumentationen zu den beiden ersten Camps von 1985 und
1986. Diese Bände sollten die spezifischen, in diesen internationalen Program-
men entwickelten Formen des Lernens in der Praxis und an lebendigen Beispie-
len zeigen. Sie enthalten Photos, Zeichnungen, Briefe, Zeitungsausschnitte, Tex-
te zur Vorbereitung der Camps, Texte und Gedichte von den Campteilnehmern
und Counselors, zu ihren Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrücken, ferner Be-
richte zur pädagogischen Arbeit in den verschiedenen Themengruppen, Reakti-
onen seitens der Eltern und der Presse. Es handelt sich um eine vielseitige
Sammlung von Materialien aus der frühen Anfangsphase. Sie besitzen den be-
sonderen Vorzug, noch nicht in ein allzu ambitioniertes oder theoretisch durch-
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komponiertes pädagogisches/ didaktisches Modell gepresst worden zu sein. Auf
diese Weise vermitteln sie etwas vom Pioniergeist jener Jahre, der durch die er-
neute Publikation im LIT-Verlag wieder aufleben wird.
Die vorläufigen Ergebnisse, Ideen und Konzepte aus den Universitären Som-
mercamps wurden damals bereits auf internationalen Kongressen in Hartford,
Connecticut, USA (Confratute 1988), Salzburg (Needed the gifted! 1988), oder
Zürich (Echa 1988) vorgestellt, während es in Deutschland diese Möglichkeit
gar nicht gab. Die Medien reagierten zwar sehr wach, denn das Thema eignete
sich für die allgemeine Öffentlichkeit offenbar als Schlagzeile (Superhirne, In-
telligenzbestien, die klugen Kinder, kleine Einsteins usw.). Doch die pädagogi-
sche Fachöffentlichkeit hüllte sich in Schweigen. Insbesondere die sonderpäda-
gogische Fachöffentlichkeit zeigte sich irritiert. Niemand, außer den „Insidern“,
verlor ersichtlich oder nachweislich ein Wort über unsere Ideen, über unsere
Lernphilosophie, über unsere methodischen und didaktischen Versuche/ Ergeb-
nisse, über unsere Forschungen.
An möglichen Hintergründen für diese Reaktionen bzw. für das Ausbleiben
derselben ziehe ich einmal in Betracht, dass die bundesdeutschen Bildungswis-
senschaften aufgrund politischer/ historischer Faktoren nie unbefangen mit dem
Thema Begabung/ Hochbegabung umzugehen vermochten. Es wurde immer zu
schnell mit dem ambivalenten Begriff der „Elite“ hantiert und diesbezüglich ein
Distanzierungsbedürfnis geäußert. Hätte man nicht vielleicht stärker von der aus
dem künstlerischen Feld stammenden Kategorie der „Avantgarde“ aus denken
können? Zweitens, dass man nie recht wusste, sofern man sich überhaupt zu ei-
ner Konzeptionalisierung und Installierung einer „Begabtenpädagogik“ durch-
rang, wo in den bildungswissenschaftlichen Fächerdisziplinen diese unterzu-
bringen sei.
Drittens erschien es vermutlich vielen inakzeptabel, dass die Kölner Bega-
bungspädagogik sich ausgerechnet vor sonderpädagogischem Hintergrund kon-
stituierte, definiert doch der größte Teil dieser Scientific Community Sonderpä-
dagogik immer noch eher „eng“, nämlich als Pädagogik für Behinderte, sozial
Benachteiligte, Desintegrierte, Schwache usw. Wer etwas Besonderes konnte
oder über besondere Fähigkeiten verfügte, konnte sich doch allein schon glück-
lich schätzen, auch wenn er oftmals nicht weit mit der Realisierung der eigenen
Potenziale und Lebensentwürfe gekommen ist. Einen sonderpädagogischen
Handlungsbedarf wegen ausgeprägter Begabung/ Intelligenz/ Kreativität gab es
aus der Sicht der allermeisten jedoch nicht.
Die neuerdings in Fachkreisen angemahnte Internationalisierung der pädago-
gischen Forschung/ Konzeptentwicklung war in den Universitären Sommer-
camps von Anfang an mitbedacht. Es gab schon in den 1980er Jahren intensive
Kontakte mit Instituten in USA, Polen, Frankreich, Israel, Ungarn, Niederlande,
Dänemark, Russland usw. und diese bestehen bis heute. Kinder und Jugendliche
aus den genannten Ländern nahmen teil. Im Gegenzug fuhren deutsche Jugend-
lichen in die Camps von Partnerorganisationen in USA, Polen, Frankreich oder
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Israel. Auch das Team der Counselors war und ist international besetzt. Konzep-
te, Ideen und Ergebnisse wurden ausgetauscht. Es fanden Arbeitstreffen, Konfe-
renzen, Trainings, Besichtigungen von Einrichtungen etc. in Connecticut, Mi-
chigan, Polen, Frankreich und Israel statt.
Ich selber ging 1984 nach Amerika, um für zwei Monate in den Summer
Workshops der High/Scope Educational Research Foundation als Counselor
mitzuarbeiten. Es handelt sich um international bekannte und gebuchte Förder-
programme für hochintelligente/ hochmotivierte Jugendliche. Diese Sommer-
programme, die auch begabte Heranwachsende aus sozial schwächeren Familien
durch die Vergabe von Stipendien berücksichtigen, werden seit Anfang der
sechziger Jahre von Professor David Weikart von der University of Michigan,
seiner Frau Phyllis und einem Team an Counselors durchgeführt. Ich arbeitete
dort mit, um das dort vorhandene Know-How in die Entwicklung der Universi-
tären Sommercamps in Deutschland einzubringen.
1988 ging ich nach Connecticut, um das durch Joseph Renzulli und seine
Mitarbeiter entwickelte Enrichment Triad Model aus der Nähe kennen zu lernen.
Diese Berührungen mit der amerikanischen Gifted Education waren sehr prä-
gend für mich. Die gesamte Haltung gegenüber hoher Intelligenz/ Kreativität/
Begabung erlebte ich in den USA als viel freier, offener, dynamischer, unbelas-
tet von Vorurteilen. In jedem Kind, das etwas Besonderes kann oder von sich
zeigt, spiegelt sich aufs Neue der American Dream, der Traum von der Mach-
barkeit des Erfolgs. Ist diese Lebensphilosophie inzwischen auf Deutschland
übertragbar? Auch nicht jetzt, nach Pisa, wenigstens im Ansatz? Ein wenig von
dem Schwung der amerikanischen Gifted Education vermochten wir allerdings
in den Universitären Sommercamps/ SkyLight-Camps zum Leben zu erwecken.
In den Folgejahren wurden diese international bekannt als eine kreative Ideen-
schmiede für unseren Führungsnachwuchs, als eine pädagogische Adresse ersten
Ranges, die vor allem Individualität und Persönlichkeitsbildung sowie Sinn für
das soziale und kulturelle Ganze fördert.
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