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Forum -
Joachim Bröcher
Stress und Belastung
bei Sonderpädagogen
Anregungen zur Prävention und aktiven Bewältigung
In Anbetracht höchster beruflicher
Anforderungen in der Lern- und
Erziehungshilfe scheint für Sonderschul-
lehrerinnen und -lehrer ein aktives
Gesundheitsmanagement unumgänglich.
Die Verausgabung von Energien,
der körperlich-seelischen Belastung,
Verletzung oder Traumatisierung lässt
sich durch die »aktive Sorge um sich«
begegnen. Eine Reihe von Möglichkeiten
diesbezüglich werden aufgezeigt.
Blessuren und
Zusammenbrüche
Zwei Kolleginnen brachen kürzlich in
einer integrativen Hauptschule, an der
ich bis ztietzt gearbeitet habe, zusam-
men. Eine der beiden fiel bewusstlos
vom Stuhl auf den Boden. Reglos lag sie
da, bis der Notarzt eintraf. Die andere
wurde im Lehrerzimmer von all ihren
Kräften verlassen. Zitternd und schluch-
zend sackte sie in sich zusammen. Er-
neut Arbeit fur den Notarzt.
Die gesundheitlichen Belastungen und
Risiken in diesem Beruf sind groß. Ein
Kollege sägt sich im Werkunterricht
den halben Finger ab. Eine Kollegin ist
unterwegs zu diagnostischen Tests in
einem Schulzentrum und fällt mit
ihren Taschen kopfuber eine Freitreppe
nach unten und schlägt sich das Ge-
sicht auf.
Als vor kurzem einer meiner Sonder-
schulkollegen nach einer Herzattacke
tot in der Klasse zusammenbrach, wur-
de mir mit einem Schlag klar, dass wir
letztlich, trotz der geistigen Welt, die
wir in uns tragen mögen, nichts als
bloßer Körper sind.
Der Lehrerkörper als
didaktisches lnstrument
Allzu leichtfertig gehen wir davon aus,
dass uns unser Körper bis auf un-
bestimmte Zeit erhalten bleibt: Funk-
tionsfähig in einem anerkannt an-
Förderschul m agazln 2 I 2OO2
spruchsvollen, belastenden und kräfte-
zehrenden Beruf. Sicher, viele unserer
beruflichen Belastungen, die sich un-
mittelbar körperlich niederschlagen
können, finden sich auch in anderen
Berufsfeldern in ähnlicher Form wie-
der. Doch so manches scheint, unter
dem Aspekt des Körperlichen, fur un-
sere Arbeit in den Sonderschulklassen
spezifisch und einzigartig zu sein:
In ein hoch komplexes pädagogisches
und soziales Geschehen hineingestellt,
sind wir immerfort konfrontiert mit
der Gleichzeitigkeit von so vielen Ab-
läufen und Notwendigkeiten, die un-
sere Reaktion oder Initiative erfordern.
In den naturgemäß offeneren Unter-
richtssituationen geht unser Blick in
schnellem Wechsel von einem Schüler
zum anderen. Während wir in die eine
Richtung Lernmaterialien austeilen,
müssen wir schon an einer anderen
Stelle einen Streit schlichten oder eine
verhaltensbezogene Intervention star-
ten. Je nach sonderpädagogischer Dis-
ziplin ist unser Körper auch Medium
oder Werkzeug der Didaktik, der För-
derung oder Therapie. Wir müssen
nicht nur pausenlos sprechen, zeiger',
herbeiholen, sondern auch halten,
festhalten, auseinander zerren, durch
leichte Berührung ermutigen, Zunei-
gung, Wärme, Pflege, Schutz geben
oder Trost spenden,
indem wir ein Kind an
die Schulter fassen
oder es in den Arm
nehmen.
Besonders im Bereich
von Erziehungs- und
Lernhilfe fungieren
unsere Körper ja oft-
mals als Ersatz für die
außerhalb der Schule
nicht oder unzurei-
chend vorhandenen
Vater- oder Mutter-
Körper. Die Suchbe-
wegungen der Schüle-
rinnen und Schüler
vollziehen sich dabei
in ambivalenter Form.
Ihre Sehnsucht nach körperlicher
Nähe ist oftmals durchsetzt von ag-
gressiven Abwehrmechanismen und
verzweifelten Loslösungsversuchen.
Ein Erziehungshilfe-Schüler hatte die
Angewohnheit, sich stets nah an mich
zu schmiegen und mir das Flanell-
hemd zu zerbeißen.
Die Leiden des Lehrerkörpers
Unsere Ohren leiden unter der Laut-
stärke, viele von uns wissen bereits um
das Geräusch im Ohr, das Kreuz
schmerzt, Muskeln verspannen und
verhärten sich, der Blutdruck steigt,
wir beißen die Zähne zusammen, um
diese Stunde noch zu überstehen.
Statt einer stillen Regenerationsmög-
Iichkeit wartet vielleicht eine Pausen-
aufsicht auf uns. Schnell noch ein paar
Fotokopien machen, den Bestellzettel
für die Filme ins Körbchen, dem Kon-
rektor eine Vertretungsstunde zusagen,
ein Telefonat. Nach der Pause mit dem
Unterrichtsmaterial unterm Arm die
Treppe rauf, überall Schülerinnen und
Schüler um einen herum, vor der Klas-
sentür staut es sich schon. Während ich
den Schlüssel ins Schloss stecke, bin
ich von einer Gruppe rangelnder ]u-
gendlicher umgeben. Ich werde nervös.
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r-- Forum
Auf dem Schulhof wurde eine Koilegin
versehentlich von tobenden Schülerin-
nen und Schülern buchstäblich zu Fall
gebracht. Sie muss zum Röntgen. Wer
geht in ihre Klasse?
Schrammen, Blessuren und blaue
Flecken
Eine andere Kollegin schleppte im Ge-
wühl ein verletztes Kind über die Trep-
pe und kam dabei selbst über den Stu-
fen aus dem Gleichgewicht. Wir rut-
schen, stolpern, fallen, holen uns biaue
Flecken, Blessuren und Schrammen.
Viele von uns haben irgendwann in ih-
rer Lehrer-Biografie solche Erfahrungen
gemacht. Es trifft nicht alle. Manche
Lehrerinnen und Lehrer scheinen Na-
turtalente zu sein. Durch einen ruhigen
und besonnenen Charakter sind sie
schon von sich aus gegen die übertrie-
bene körperliche Verausgabung ge-
schützt. Man könnte sie vielleicht die
»Unverwundbareno nennen.
Unser Körper kann auch zum Gegen-
stand von Schimpf und Spott, Aggressi-
on und Gewalt von Seiten der Schüle-
rinnen und Schüler werden: »Die AIte
fällt doch schon fast auseinander«, sagt
ein Jugendlicher über eine Kollegin.
»Ich stech dich ab ...« droht ein hitz-
köpfiger Schüier einem Kollegen, mit
dem er Streit hat. Münder sprechen,
Ohren hören, Augen sehen, Füße lau-
fen, Schultern tragen, Hände greifen,
Körper hasten, funktionieren - mehr
oder weniger. Manch einer schleppt
sich halb krank zur Schule, ohne auf
sich und seine Energiereserven zu ach-
ten, treibt Raubbau mit seiner Gesund-
heit. In der sechsten Unterrichtsstunde,
kurz nach Mittag, kommt er dann, der
Schmerzpunkt. Weii die Schülerinnen
und Schüler kaum noch arbeiten kön-
nen, lasse ich sie spielen und sich be-
wegen. Einige fahren Rollbrett auf der
Terrasse draußen vor dem Klassen-
raum. Andere machen Spiele an Tisch-
en. Wieder andere rennen herum. Es ist
laut. Um Ruhe zu rufen wäre völlig
sinnlos. Mein Kopf dröhnt. Ich gehe auf
einige Kinder zu, die sich gar nicht
mehr steuern können, um einzugreifen,
trete versehentlich gegen ein Rollbrett,
das sich unten zwischen zwei Tischen
verkeilt hat. Das ist der Schmerzpunkt.
Die Suche nach
Veränderungsmöglichkeiten
So ist es glücklicherweise nicht immer,
doch so oder so ähnlich, kann es immer
mal wieder sein, wenn ich nicht acht-
sam genug bin. Möglichkeiten der Ver-
besserung liegen sicher in einer Verän-
derung der pädagogischen Strategien
und der unterrichtlichen Methodik.
Ich möchte hier iedoch die Aufmerk-
samkeit auf das lenken, was mit dem
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Körper einer Lehrperson an sich, im ne-
gativen wie im positiven Sinne, gesche-
hen kann. Was können wir den an den
Schulen und Sonderschulen um sich
greifenden Prozessen körperlicher
Traumatisierung und Fragmentierung
entgegensetzen?
Spannungen abbauen, fit bleiben
Eine erste Möglichkeit des Ausgleichs
wurde für mich der Sport. Und zwar
wählte ich jeweils Sportarten, die mir
ein Maximum an Alleinsein ermöglich-
ten wie Radfahren, Schwimmen, Lau-
fen oder Wandern. Die berufliche Über-
beanspruchung durch menschliche An-
Iiegen, Verhaltensweisen, Konflikte
und Krisen machte mich über fahre im
Freizeitbereich zu einem vereinzelten
Menschen, der kaum noch soziale Kon-
takte und Kommunikation ertrug. Als
|unglehrer ging ich mit dem Rennrad
auf die Landstraßen, mit den fogging-
schuhen ins Gelände oder mit der
Chlorbrille in die Schwimmbäder, um
den während der Vormittage erlebten
Stress abzubauen, zu vergessen, wieder
zu mir zu kommen, neue Kräfte zu sam-
meln für den nächsten Schultag in der
Erziehungs- oder Lernhilfe.
Der Sport war ein notwendiges Ventil,
ein unverzichtbarer Ausgleich, doch
ich führte auch ein gehetztes, unruhi-
ges, isoliertes Leben. ganz im Dienste
der Sonderpädagogik und der eigenen
Familie. Es war das Leben eines Hams-
ters im Laufrad. Mit zunehmendem AI-
ter jedoch ist mehr Gelassenheit einge-
treten. Das Rennradfahren habe ich we-
gen der Verkehrsrisiken nahezu aufge-
geben. Beim Waldlauf habe ich heute
auch gerne die Gesellschaft eines
Freundes, was wesentlich zur Entspan-
nung und Regeneration beizutragen
vermaS.
Achtsamkeit und EntsPannung
Eine weitere Möglichkeit der Regenera-
tion des Körpers ist für mich schon seit
Iangem das Yoga. Ich hatte schon
während der Studentenzeit das Glück,
eine gute Yoga-Lehrerin zu finden. Sie
hat mich nicht nur in die körperlichen
Praktiken, sondern auch in die Philoso-
phie des Yoga eingeführt (fur die Ver-
mittlung der Kenntnisse des Hatha-Yo-
ga bedanke ich mich bei Dr. Katja See-
baum-Luckhardt, Hamburg).
Ich lernte Achtsamkeit für den Körper,
eine Intensivierung der Wahrnehmung
innerer und äußerer körperlicher und
geistiger Vorgänge. Ich lernte Möglich-
keiten der Entspannung, der Konzen-
tration, der Linderung von Schmerzen,
des Beweglichwerdens bei Verhärtun-
gen und Blockierungen. Die Praxis des
Hatha-Yoga vor dem Hiniergrund der
beschriebenen beruflichen Stresssitua-
tionen neu zu aktivieren, bedeutete für
mich den Rückzug in ein Refugium der
Stille, aus dem ich dann gestärkt und
erfrischt hervortrat, um es erneut mit
den Anforderungen des Schulalltags
aufzunehmen.
Biografische Konditionierungen de§
Körpers ergründen
Weiterhin kann es sehr erhellend sein,
den biografischen Prägungen des eige-
nen Körpers nachzugehen. Dies kann
etwa geschehen im Rahmen einer der
heute vielfältig verfügbaren Körper-
oder Atemtherapien (für die auf der Ba-
sis von Atem- und Körpertherapie nach
S. Grov gewonnenen Erkenntnisse habe
ich insbesondere Meinolf Schnier,
Köln, zu danken).
Viele Menschen, die sich als Helfer im
sozialen oder pädagogischen Feld enga-
gieren, neigen dazu, die eigenen kör-
nerlichen Bedürfnisse und Befindlich-
teiten zu übergehen. oftmals unter dem
Diktat überhöhter moralisch-ethischer
Vorstellungen und Leitbilder, die uns
in der tagtäglichen Arbeit antreiben.
Die tiefenanalytische Körper- und
Atemarbeit kann uns helfen, die Ursa-
chen für Verspannungen, psycho-soma-
tische Erkrankungen, hektische, un-
achtsame und unökonomische Verhal-
tensweisen aufzuspüren und die ent-
sprechenden, seit Kindheitstagen'"t'irk-
samen Prägungen und Konditionierun-
gen schrittweise auszuschalten.
Die Wahrnehmung schärfen,
Einstellungen verändern
Einen Schritt weiter gelangte ich
schließlich durch meine Erfahrungen
mit der Praxis der Vipassana-Meditati-
on, einer stillen, äußerst asketischen
und ausdauernden Meditation. Es han-
delt sich hier um eine von S. N. Goenka
und seinen Assistenzlehretn schwer-
punktmäßig in Indien, inzwischen ie-
doch weltweit gelehrte Meditations-
technik.
Förderschulm agazin 2 I 2OO2
Forum
Leer-werden, Schärfung der Aufmerk-
samkeit, bloßes Wahrnehmen und
Nicht-Bewerten von Empfindungen
und Gedanken, gleich welcher Art,
sind das Ziel dieser Praxis. Die Philoso-
phie des Vipassana kreist um die Vor-
stellung von Entstehen und Vergehen.
Diese Meditationstechnik bereitet vor
auf das gelassene und gleichmütige Er-
tragen von seelischen und körperlichen
Irritationen, Empfindungen oder
Schmerzen. Der Tod verliert seinen
Schrecken. Er erscheint als langsamer,
fließender Übergang. Nach solchen Er-
fahrungen hört man zumindest auf,
sich wegen der oftmals kleinen und
kleinkarierten schulischen Alltagspro-
bleme zu erhitzen.
Solcherart geläutert, betrat ich nun die
Sonderschulklasse, Körper und Geist
stärker als Einheit wahrnehmend, die
energetischen Eruptionen innerhalb
der Schülergruppe, die Turbulenzen
auf dem Pausenhof, die oftmals irratio-
nalen Diskussionen und Strategien der
Kollegen als relativ belanglose, bedeu-
tungslose Oberflächen eines fundamen-
talen kosmischen Geschehens betrach-
tend. Ich entrückte meinen Körper der
Wirklichkeit, ein erneuter Versuch der
Selbstrettung. Vipassana, die Kunst des
Sterbens, ein verlockender Weg.
Doch dieser Weg ist schwer zu gehen,
wenn man pädagogische Verantwor-
tung als Lehrer und als Vater hat und
diese weitertragen will (und muss). Ich
suchte daher nach einer Möglichkeit, es
meditativ und zugleich aktiv mit der
zweifellos belastenden Sonderschul-
realität aufzunehmen.
Die Kunst des lai-Chi
In der Begegnung mit der Lebens- und
Bewegungskunst des Tai-Chi fand ich
einen neuen Ansatzpunkt der über al-
Ies bisher genannte hinausführte (frir
die Vermittlung der in diesem Aufsatz
erwähnten theoretischen und prakti-
schen Tai-Chi-Kenntnisse bedanke ich
mich bei Detlef Klossow, Meister für
Tai-Chi und Chi-Gong, Düsseldorf.
Man setze nur einmal das Tai-Chi-Prin-
zip der langsamen und achtsamen Be-
wegung in Beziehung zu den anfangs
genannten Stresssituationen im Kon-
text der Schule, wie z. B. Fallen auf der
Treppe, gegen das verkeilte Rollbrett
treten usw. Tai-Chi-Schüler üben zuerst
einmal das sichere Gehen und feste Ste-
hen, zweitens das Tai-Chi-Prinzip der
Mühelosigkeit.
Gezieltes Energiemanagement
Jetzt lerne ich: So viel Mühelosigkeit
wie möglich, so viel Kraft aufwenden
wie tatsächlich nötig; müheloses Leis-
ten. AIs nächstes das Prinzip, die eige-
nen Energien in Fluss zu halten, in Be-
Förderschulm agazin 2 /2OO2
wegung zn bieiben, den eigenen
Schwung zu nutzen. Beim Tai-Chi neh-
me ich den eigenen.Fnergiehaushalt ins
Visier. AIItag und _Uben fließen stärker
ineinander. Die Ubung findet nicht
mehr Iediglich im abgeschiedenen Me-
ditationsraum statt, sondern tagtäglich
zwischen Pult und Tafel, Pausenauf-
sicht und Konferenz. Was mein Körper
tut, was er hebt, schiebt, bewegt, wo er
steht oder sitzt und die Art wie er alle
diese Dinge tut, wird einer immer
gründlicheren Betrachtung unterzogen.
Bezogen auf negative Energien und
Strategien, die mir entgegenkommen,
Ierne ich einerseits das Ausweichen
und Nachgeben, andererseits Intensität
und Durchsetzungskraft.
Das anhaltende und regelmäßige Tai-
Chi-Training fuhrte mich zu mehr Ru-
he, Gelassenheit, Erdung, Wurzelung,
Zentrierung und einem verbesserten
Gleichgewicht in den tagtäglichen un-
terrichtlichen Situationen, wenngleich
ich mich immer noch als einen Schüier
betrachte, der diesbezüglich noch viel
zu lernen hat.
Das Tai Chi lehrt uns mit seinen Bewe-
gungsabfolgen den natürlichen Wech-
sel von Anspannung und Kraft einer-
seits, Entspannung und Loslassen an-
dererseits. Um die Energien in
Schwung zu halten, ist es notwendig,
frei und ohne Unterbrechung zu atmen.
Zum Atmen braucht man freilich Luft
und Bewegungsfreiheit, Spiel- und
Handlungsspielräume - ein zirkulärer
Prozess. Energiereiche Lehrkräfte sind
zweifelsfrei eher in der Lage, ihre Be-
wegungsspielräume zu erweitern. Wir
müssen achtsam mit unseren Energien
umgehen, angemessen viel und doch
nicht zu viel von unserer begrenzten
Lebenskraft zur effizienten Bewälti-
gung der sich täglich im Umgang mit
\rnseren Schülern und Kollegen stellen-
den Aufgaben einsetzen.
Genauso wichtig ist es, den eigenen
Raum durch Nachgeben/Ausweichen
und intelligente Offensive zu bewahren
und zu schützen, sich zu öffnen und
Energien abzugeben, nur so weit, wie es
die eigenen Kraftreserven erlauben,
sich rechtzeitig wieder zu verschließen
und abzugrenzen.
Die "Sorge um sich«
Alle bisher genannten Körper-Prakti-
ken vermögen dem oftmals malträtier-
ten Lehrer im Sinne der ,S61gs um
sich« (Foucault) zu dienen. Mal basie-
ren die Körperpraktiken auf Erholung
und Entspannung, mal auf Bewegung
oder Ruhig-Werden, mal auf Selbster-
kenntnis und aktivem Energiemanage-
ment. Gemeinsam ist allen exempla-
risch genannten Praktiken, denn meine
Aufzählung wäre ja um weitere Sport-
arten, Meditations- und Ubungstechni-
ken zu erweitern, das Prinzip der posi-
tiven, der mehr oder weniger explora-
tiv-erforschenden Hinwendung zum ei-
genen Körper. So fundamental diese
Prinzipien auch für eine erfolgreiche
Bewältigung des Sonderschulalltags
und für die Gesunderhaltung des Kör-
pers der Lehrerinnen und Lehrer sein
mögen, so existieren doch auch andere
Formen, das körperliche Erleben zum
Gegenstand von Reflexion und positi-
ver Veränderung ztt machen und
(womöglich) Regeneration und Linde-
rung zu erfahren, sich neue Energie-
quellen zu erschließen.
Nähe und Austausch mit anderen
Zunächst sei hier das Feld von Liebe,
Leidenschaft und Freundschaft ge-
nannt, in dem es zu einem, wie auch
immer gearteten, gefühlsmäßigen und
körperlichen Austausch kommen kann.
Wer seibst Kindern und Jugendlichen,
denen oftmais so manches an Zuwen-
dung fehlt, so viel geben will, muss
sich selber Quellen erschließen, indem
er persönliche Beziehungen und
Freundschaften pflegt, was jedoch
nicht immer im eigentlich erforderli-
chen Maße gelingt.
Der gelungene körperliche Austausch,
sei es in Form von bloßem Miteinander,
von körperlich-emotionaler Nähe, in
Form von zärtlichen oder intensiveren
sexuell-erotischen Begegnungen, ver-
mag uns vor dem Abgleiten ins mecha-
nische Funktionieren auf dem Gebiet
des sozialen Berufes zu bewahren. Das
Aufgehobensein in guten freundschaft-
Iichen Beziehungen schützt uns davor,
unseren Körper auf dem Altar der so-
zialen Institutionen zu opfern.
Der gelungene körperliche Austausch
mit einem uns nahe stehenden Men-
schen umgibt uns mit einem Schutz-
schild, indem er uns mit einer anderen
körperlichen Seinsqualität versorgt.
Was in dieser Hinsicht noch nicht oder
nicht mehr vorhanden ist, lässt sich
doch immerhin in kleinen Schritten er-
arbeiten oder zurückgewinnen.
Kontemplation
Schließen möchte ich meine Betrach-
tungen mit einigen Gedanken zu einem
ebenfalls sehr traditionsreichen Verfah-
ren, zu mehr innerer Ruhe und Gelas-
senheit, zu mehr Einheit von Körper
und Geist zu gelangen, nämlich der
Kontemplation.
Ein Kollege geht nach dreißig Berufs-
jahren in sein Sabbat-Jahr nach Süd-
westfrankreich und renoviert ein altes
Landhaus, das er dort erworben hat.
Jeder Handgriff bei dieser Arbeit wird
zur Meditation. Nach ]ahrzehnten des
Umwälzens von sozialen und päda-
gogischen Problemen in der Lern-
und Erziehungshilfe bedeutet ein zeit-
lich ausgedehnter Aufenthalt in einer
solch sonnenbeschienenen Landschaft
7
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1!
,: wie der Charente und
das tagtägliche Umgehen
mit so stillen Materialien
wie Stein, Holz oder
Dachziegeln den Zugang
zu einer völlig neuen
Seinsqualität. Wer kann,
sollte sich so etwas gön-
nen. Gelegentlich gelan-
gen auch mir solch stille
Rückzüge, zeitlich be-
trachtet jedoch kürzer
und punktueller.
In einigen Fällen fuhrten
dieses Eintauchen in die
Stille z:ut Produktion
von künstlerischen Wer-
ken, die mir einiges zum
Zusammenhang von Be-
ruf und körperlichen
Leidenserfahrungen zu-
rückzumelden vermoch-
ten. Es war Prof. Dr.
Hans-Günther Richter
(emerit., Universität zu
Köln), der mich fur die
Zusammenhänge von
Symbolisierung und Lei-
den, Kontemplation und
bildnerischer Reflexion
sensibilisierte.
Künstlerisches Arbeiten
Das reproduzierte Ge-
mälde (Mischtechnik, 63
cm x 93 cm), eine meiner
eigenen Arbeiten, the-
matisiert in symboli-
scher Form den Zustand
der Kontemplation (sie-
he Abbildung). Die Zeit
scheint stillzustehen.
Der äIter gewordene, in-
zwischen hinreichend schmerz- und
lusterfahrene Körper kommt zur Ruhe.
Er fügt sich ein in ein zugleich bergen-
des und sinnlich anregendes Ambiente,
angedeutet durch Blumen und Wein.
Ein Hauch von Melancholie und Mor-
bidität durchweht den Bildraum. Die
kalendarische Zeit des eigenen Lebens
läuft immer weiter ab. Der im Bild dar-
gestellte Lehrer tritt heraus aus den al-
ten institutionellen Ordnungen. Es geht
ihm nicht mehr darum, zu herrschen.
Als äußeres Zeichen hat er seine Krone
auf dem Stuhl vor sich abgelegt. Er
sieht sich als Medium, das Orientie-
rung und Halt bietet, Erkenntnisprozes-
se fördert. Dieser Lehrer ist sich der Re-
Iativität seines eigenen Tuns und der
Vergänglichkeit seiner Existenz bewusst.
Interessanterweise ist dies genau der
Satz, den ich am stärksten von jenem
Kollegen in Erinnerung habe, der vor
kurzem - im Alter von 49 Jahren - in
der Klasse zusammenbrach und vor
den Augen seiner Schülerinnen und
Schüler an einer Schule fur Lernhilfe
verstarb. Der Kollege sagte diesen Satz
8
bei einem Mittagessen, mit dem wir ei-
ne Ganztagskonferenz unterbrochen
hatten. Der Tod warf also schon seinen
Schatten voraus.
Doch zurück zum Bild: Hier in seinem
Refugium, seinem der Kontemplation
dienenden Rückzugsort, dem Garten,
Iebt der Pädagoge ganz im Einklang mit
der ihn umgebenden Natur. Schutzme-
chanismen und rollenbedingte Strategi-
en sind, zumindest für eine begrenzte
Zeit, nicht mehr erforderlich, weshalb
er durchaus nackt, d. h. schutzlos, sein
darf, denn er ist nur bei sich selbst' Das
Leben erscheint vor dem symbolischen
Hintergrund iahreszeitlicher Verände-
rungen, die ja besonders im Garten
sichtbar werden, als das, was es ist:
Entstehen und Vergehen.
Plädoyer für eine intensivierte
,Sorge um sich«
Auch wenn es leider immer wieder Le-
bensläufe gerade unter Pädagogen gibt,
die unaufhaltsam ihrem eigenen trauri-
gen PIan folgen: Ein
Mensch. der sein berufli-
ches Leben, seinen eige-
nen Körper und sein
geistiges Vermögen in
den Dienst der Bildung
benachteiligter und be-
hinderter Heranwach-
sender stellt bzw. gestellt
hat, müsste am Ende
doch die Chance haben,
seinen Körper halbwegs
unbeschadet den einmal
gewählten Berufsweg ge-
hen zu lassen - welche
Hilfsmittel, Techniken
oder Einstellungen er in
der »Sorge um sich«
auch z:ut Anwendung
bringt.
Was für die Kollegin
Tanz oder Step-Aerobic
ist, sind für den anderen
|udo, Body-Building,
Saunabaden oder Fuß-
ball. Nur sollten Sonder-
schullehrer, genauso wie
alle anderen Lehrerin-
nen und Lehrer, die kör-
perliche Basis ihres En-
gagements und ihres
pädagogischen Schaf-
fens nicht aus den Au-
gen verlieren, damit sie
nicht von Unfällen und
Schicksalsschlägen er-
eilt werden, wie sie am
Anfang exemplarisch
aufgezeigt worden sind.
]eder, der diese Notwen-
digkeit anerkennt, wird
sich das für ihn bzw. sie
Passende aus dem der-
zeitigen Angebot heraussuchen, wie
.ruclis"hopenhauer: »Für sein Tun und
Lassen darf man keinen anderen zum
Muster nehmen, weil Lage, Umstände,
Verhältnisse nie die gleichen sind und
weil die Verschiedenheit des Charak-
ters auch der Handlung einen verschie-
denen Anstrich gibt, daher: Wenn zwei
dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe.
Man muss nach reiflicher Überlegung
und scharfem Nachdenken seinem ei-
genen Charakter gemäß handeln. AIso
äuch im Praktischen ist Originalität un-
erlässlich: Sonst Passt, was man tut,
nicht zu dem, was man ist.«
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen mög-
lichst stressarme, unbeschadete und er-
fullte Berufsjahre in der Sonderpädago-
gik - und pflegen Sie die »Sorge um
iichu. Auch der pädagogisch engagierte
Mensch hat ein Anrecht auf Wellness.
Er ist sogar dazu verpflichtet, wenn er
seine zuBeginn des Berufslebens anvi-
sierten soziälen und humanitären Ziele
erreichen will.
Kontemplation
Förderschulm agaÄn 2 I 2OO2