Und der Neuanfang und das Handeln desjenigen, der neu in die Welt kommt, sind dann wie Fäden, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden, wodurch das vorgegebene Gewebe verändert wird. Andererseits wird das Handeln des Neuankömmlings durch die bereits bestehenden Lebensfäden, mit denen es innerhalb des Gewebes in Berührung kommt, beeinflußt. Sind die Fäden innerhalb eines solchen Bezugsgewebes erst zu Ende gesponnen, so ergeben sich wieder klar erkennbare Muster, die als Lebensgeschichten erzählbar sind. Diesen Geschichten, in die uns das Leben verstrickt, können wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind. Der „Held“ der jeweiligen Lebensgeschichte, ihr „Wer“, stellt sich, wie Hannah Arendt betont, nur im Medium des Erzählbaren und daher erst in der geschichtlichen Rückschau dar. Auf diese Weise ermöglicht es unser Bewußtwerden des Tatbestands, daß wir Geborene sind, daß jeder ein Neuankömmling auf dieser Welt ist, die Fäden zur Vergangenheit aufzunehmen, die Spuren, die unsere Vorfahren in den sich stets verändernden Bezugsgeweben zwischen Menschen hinterlassen haben, aufzunehmen. Genau das nehmen Joachim und Siegfried Bröcher im vorliegenden Band in Angriff. Anhand der Geschichte ihrer Familie und deren Verflechtungen in strukturelle, geschichtliche, politische, soziale, ökonomische und religiöse Gegebenheiten präsentieren sie eine Mikrogeschichte des ländlichen Raums über mehrere Generationen, über mehrere Jahrhunderte hinweg und erschaffen auf diese Weise einen Mikrokosmos von Alltagsstrukturen, in den einzutauchen nicht nur höchst informativ, sondern ebenso spannend und unterhaltsam ist.
Professor Dr. Friedhelm Decher