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Joachim Bröcher
Didaktische Variationen
bei Schulverweigerung und
Verhaltensproblemen
lmpulse fiir Schul- und Untenichtsentwicklung,
sozialpäda-eogische Projekte und Coaching
Band | : Beziehungsaufnahmen
Verlag Videel
Joachim Bröcher
Didaktische Variationen bei Schulverweigerung
und Verhaltensproblemen
Impulse für Schul- und Unterrichtsentwicklung,
sozialpädagogische Projekte und Coaching
Band 1: Beziehungsaufnahmen
1
Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, bedürfen
der schriftlichen Zustimmung des Verlages.
In das montierte Titelbild (von J.B.) gingen ein: Die durch einen
Schüler ausgemalte Vorlage aus der Serie „Dragon Ball Z“ und
eine Bleistiftskizze aus der Hand von Friedrich von Bömches (mit
freundlicher Genehmigung des Künstlers).
Alle Rechte liegen beim Autor.
ISBN 3-89906-985-4
© 2005 by Verlag Videel OHG, Niebüll
Schmiedestr. 11 – 25899 Niebüll
Tel.: 04661-90010, Fax: 04661-900179
EMail: info@videel.de
http:/www.videel.de
Umschlaggestaltung und Seitenlayout: Joachim Bröcher
2
INHALT
VORWORT 5
I. DISKURSE, TRAKTATE
Motive, Ideale, Leitbilder 9
Schreiben und Publizieren 14
Pädagogischer Beruf als Erkenntnisweg 17
Intensivstation Klassenzimmer? 21
Schuldistanziertes Verhalten 40
Schulmüdigkeit bei hoher Intelligenz 56
Etablierte und Außenseiter 61
Theorie und Praxis 67
Erkenntnisse sammeln, weiterentwickeln, anwenden 73
Schulpädagogik und Sozialpädagogik 77
Revisionen, Korrekturen, Überarbeitungen 80
Interdisziplinarität 84
Macht und Norm 88
Forschungsmethodik 94
Handlungsorientierungen 101
Humanität als Maßstab 103
Orientierung an Chancen 105
Erkenntnissuche, Applikations- und Belastungsforschung 108
Scientia Sexualis 115
II. BEZIEHUNGSAUFNAHMEN
Persönlichkeit und Beziehungsfähigkeit von Pädagogen 129
Raum für Selbst-Thematisierungen anbieten 131
Förderliches Kommunizieren 135
Pädagogik der Achtung 140
Die Grenzen der Disziplinierung 148
Beziehungsgestaltung und Beziehungsethik 194
Aufbau von Bindekräften 202
Produktives Denken und Handeln fördern 219
Lernen und Lernen begleiten 236
Wechselseitige Bezogenheit 246
Aufzeichnungen zu einem Neuanfang, Teil I 255
3
4
VORWORT
Die vorliegende Arbeit versucht, den Raum zweier Jahrzehnte
(1984 – 2004) pädagogischen Engagements des Autors zu
durchmessen, auszuloten und auszuwerten. Ziel ist, die Essenz,
den tieferliegenden Sinngehalt der in den verschiedenen Kapiteln
angesprochenen oder dokumentierten pädagogischen Erfahrungen
aus Schulen, Sonderschulen und außerschulischen Projekten her-
auszufiltern und in Handlungskonzepte zu übertragen.
Es war der lange Sommer des Jahres 1984, ich arbeitete in ei-
nem Programm der High/Scope Educational Research Foundation
in Michigan, ein zweimonatiges internationales Projekt zur Bil-
dung von hochintelligenten und hochmotivierten Jugendlichen.
Dies war ein Sommer, der für mich ein besonderes Schlüsseler-
lebnis darstellte und der für die Analysen, Rekonstruktionen, Er-
kundungen und Entwürfe, die ich in diesem Buch vornehmen
werde, den zeitlichen Einstieg markiert.
Am anderen Ende dieser berufsbiographischen Epoche steht,
neben meinem stets parallel laufenden theoretischen Reflektieren,
Dokumentieren, Analysieren, Diskutieren, Publizieren usw. und
einer gewissen Verwicklung in universitäre Ausbildung und be-
rufliche Weiterbildung, die raue pädagogische Wirklichkeit einer
Sonderschule für Erziehungshilfe in einer deutschen Großstadt.
Doch innerhalb des durch diese Eckpunkte markierten Zeitraums
liegt so manches andere. All diese Zwischenstationen werden
nach und nach, oft jedoch nur indirekt, zur Sprache kommen und
ihre jeweilige Bedeutung für das Gesamte, um das es mir hier
geht, beisteuern.
Eine zwanzig Jahre währende Reise durch pädagogische Pro-
jekte und die Mega-Organisation Schule, ein beständiges Durch-
queren, Durchwandern, immer wieder neu vor Herausforderungen
stehen, sich im Übergang zu etwas anderem befinden, sich entwi-
ckeln an neuen Aufgaben und Anforderungen, die eigenen Sicht-
weisen überschreiten, erweitern, was auch bedeuten kann, zu
einer tiefergehenden Betrachtung der Dinge zu gelangen. Das
archetypische Bild der Reise vermag vielleicht am ehesten auszu-
drücken, dass hier aktiv nach dem Neuen und Unbekannten Aus-
5
schau gehalten wurde, und dass auch einiges an Entdeckungen
gemacht worden ist.
Ich schreibe meine Bücher vorzugsweise im Golf von Neapel
zuende. Vielleicht ist es die spürbare und sichtbare Nähe der bro-
delnden Kammern des Erdinneren, was ja durchaus metaphori-
sche Bedeutung für die hier zur Diskussion stehende Bildungs-
problematik, die letztlich eine gesellschaftliche, ja eine existenzi-
elle Problematik ist, haben könnte. Und doch blüht und wächst es
auf vulkanischem Boden ja wie auf kaum einem anderen.
„Le isole del nostro arcipelago, laggiú, sul mare napoletano
[…] sono per grande parte di origine vulcanica; e, specialmente in
vicinanza degli antichi crateri, vi nascono migliaia di fiori spon-
tanei, di cui non rividi mai piú i simili sul continente”, schreibt
Elsa Morante, die neben Ibsen und vielen anderen bevorzugt in
dieser Gegend an ihren Texten arbeitete, in ihrem Roman “L´isola
di Arturo”.1
Blüht und wächst es also auch mit solcher Kraft und in solcher
Vielfalt auf den extremen pädagogischen Feldern, von denen in
diesem Buch die Rede sein wird? Eines der Hauptmotive des
genannten Romans ist die freiwüchsige Kindheit des Halbwaisen
Arturo auf der Insel Procida, zu großen Teilen unbehütet, doch
immerhin völlig unberührt von jeder organisierten erzieherischen
Beeinflussung. Einerseits zeichnet der Roman der Morante das
farbenprächtige Bild eines fast vergessenen Italien. Vor allem ist
er das suggestive Gegenbild zu der hochinstitutionalisierten Le-
benswirklichkeit heutiger Kinder und Jugendlicher, in die sich
eine offenbar größer werdende Gruppe nicht mehr einfügen kann
oder will...
Aber mehr noch ist es wohl die Berührung mit der süditalieni-
schen leggerezza, die ein wenig Distanz zur Ernsthaftigkeit des
pädagogischen Alltags schafft. In diesem anderen Ambiente ent-
1 Morante, Elsa (1957): L´isola di Arturo. Torino 1995, S. 12. Die zitierte Text-
stelle lautet in deutscher Übersetzung: „Die Inseln unseres Archipels dort unten
im Meer von Neapel sind [...] zum großen Teil vulkanischen Ursprungs, und
besonders in der Nähe der einstigen Krater sprießen Tausende von Blumen wild
empor, wie ich sie ähnlich niemals auf dem Festland wiedersah“ (deutsche
Ausgabe [1959]: Arturos Insel. Berlin 2002, hier: S. 8)
6
steht eine fast heitere Betrachtungsweise der Dinge. Die an sich
sehr schwere Materie ist plötzlich leichter zu handhaben. Bedeu-
tungen kommen wie von selbst an die Oberfläche. Ein spieleri-
scher Umgang mit den Themen und Problemen erscheint viel eher
möglich. Und genau hierin wurzelt das tiefere Wesen der Variati-
on, auch der didaktischen Variation, als eines geistigen Prinzips,
das den roten Faden all dieser pädagogischen Bemühungen, Pro-
zesse, Erfahrungen und Erkenntnisse darstellt.
Durch die Anwendung des Prinzips der Variation wird Päda-
gogik, gerade dort, wo sie mit extremen Ausgangsbedingungen zu
tun hat, sei es in Richtung Verweigerung, Verhaltensproblematik
oder Lernproblematik, sei es in Richtung hoher Begabung, hoher
Motivation, hoher Intelligenz (oder Mischformen all dessen) zum
adaptive enterprise – hoffentlich aufgeladen mit neuer Lebendig-
keit und Bedeutungshaftigkeit für alle am Bildungsgeschehen
Beteiligten.
Joachim Bröcher, Ischia-Ponte, im Oktober 2004
7
8
I. Diskurse, Traktate
MOTIVE, IDEALE, LEITBILDER
Wie lässt sich ein Einstieg in diese Materie finden? Muss er so
schnell gefunden werden? Lässt sich eine pädagogische Anschau-
ung im Hinblick auf Themen wie Schulverweigerung und Verhal-
tensprobleme überhaupt zusammenhängend und systematisch
vortragen? Was könnte eine Struktur, eine sinnvolle Vorgehens-
weise sein? Treten wir einen Schritt zurück und schlagen wir das
Buch wieder zu, um ein kleines Gedankenexperiment zu unter-
nehmen. Denn wie flüchtig der Mensch doch ist und wie klein der
Mensch denkt, wenn er sich für das Maß aller Dinge hält. Dies
entgeht ihm freilich, solange er darauf vertraut, dass Sehen, Hö-
ren, Riechen und Fühlen adäquate Mittel der empirischen Welter-
fahrung sind. Jenseits unserer Grenzen aber eröffnen sich neue
Wirklichkeiten, die wir mit ein bisschen Nachhilfe von Telesko-
pen oder Mikroskopen entdecken können...
Schauen wir also von einem beliebigen Punkt im All auf die
Erde und blicken aus großer Entfernung auf unseren Planeten, der
in einem letztlich unergründlichen System kreist. Stellen wir uns
doch einmal vor, wir säßen in einer Zeitmaschine, aus der heraus
wir wie in einem Film sehen könnten, wie seit Jahrtausenden die
verschiedenen Völker auf der Erdkruste zu überleben versuchen,
wie sie sich dabei kultivieren und zivilisieren, wie sie soziale
Ordnungen entwickeln, damit diese Überlebensanstrengungen
gelingen. Vor diesem Hintergrund kommt es zu technischen Ent-
wicklungen, Produktionsabläufen, kulturellen Überlieferungen,
auch zu sozialen Spannungen, Konflikten und Konfliktlösungen
zwischen den verschiedenen Völkern, aber auch innerhalb der
jeweiligen Gesellschaften, Prozesse, in die nach und nach auch
die nachgeborenen Kinder und Jugendlichen einbezogen werden
sollen und müssen, um das Überleben aller zu sichern und mög-
lichst geordnete Verhältnisse und eine Zukunft für alle zu garan-
tieren.
Hierzu werden Bildungsanstrengungen unternommen und in
Form eines zunehmend hochinstitutionalisierten und ver-
pflichtenden Systems an die Kinder und Jugendlichen herangetra-
9
gen. Nun gibt es Heranwachsende, die aufgrund eines dichten
Gewirrs an Faktoren somatischer, biochemischer, psychischer,
sozialer oder kultureller Art nicht in der erwarteten Weise lernen
oder arbeiten, sich im Unterricht nicht in der erwarteten Weise
verhalten, sich mehr als üblich mit ihren Klassenkameraden strei-
ten oder prügeln, vielleicht sogar herumstreunen, stehlen, verbo-
tene Waffen mit sich führen und andere damit verletzen. Manche
kommen zwar in die Schule, verweigern jedoch die unterrichtli-
che Belehrung, indem sie alles an sich abprallen lassen oder nicht
mitarbeiten, Konflikte mit anderen Schülerinnen und Schülern
verursachen, keine Hausaufgaben machen, ihre Schulbücher und
Hefte nicht in Ordnung halten und nach und nach ihre Arbeitsma-
terialien ganz verlieren.
Andere gehen vielleicht gar nicht mehr zur Schule und begin-
nen ein Eigenleben, irgendwo in den Städten. „Heranwachsende,
die sich auf Grund biographischer Niederlagen und Versagenskar-
rieren schulischen und außerschulischen Fördermaßnahmen ent-
ziehen, leben überwiegend in den subkulturellen Milieus der Met-
ropolen. Diese Milieus sind von Drogen, Prostitution, Gewalt und
Kriminalität geprägt.“2 Es etablieren sich „Zwischenwelten“, die
von Jugendlichen „zwischen Schule und Straße3“ bevölkert wer-
den.
Solche Verhaltensweisen und Entwicklungen versetzen die
Gesellschaft zunehmend in Unruhe und Besorgnis. Im Idealfall
treten Sponsoren aus der Wirtschaft in Erscheinung, jetzt, wo die
Staatskassen nur noch ihre Leere demonstrieren, um mit ihren
finanziellen Mitteln Modellprojekte zur Reintegration von Schul-
verweigerern zu entwickeln.4 Es muss wieder Ruhe und Ordnung
im Land herrschen, denken wir vielleicht, und dass morgens jeder
schulpflichtige Heranwachsende in einem Klassenzimmer sitzen
und lernen und dass er sich Berufschancen erarbeiten soll. Ein
2 Herz, B.: Emotionale und soziale Entwicklung – Heranwachsende in einer
zerrissenen Welt. Zeitschrift für Heilpäd., 55. Jg., H. 1, 2004, 2 – 10, hier: S. 7
3 Marquardt, A.: Zwischenwelten. Münster 2001
4 vgl. das Projekt „Coole Schule“, Deutsche Bank Stiftung in Zusammenarbeit
mit dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt am
Main 2002
10
Plädoyer für Disziplinierung, für Vernunft. Natürlich wünschen
wir uns geordnete Lernbiographien, nicht Abbrüche und, hieraus
resultierend, soziales Chaos, Fürsorgebedürftigkeit und wirt-
schaftliche Unselbstständigkeit einer ins Bodenlose wegbrechen-
den, offenbar immer größer werdenden Gruppe.
Tatsächlich ist alles noch wesentlich komplizierter und vielge-
staltiger. Es geht nicht immer um den Totalausstieg aus der Ge-
sellschaft. Es gibt mitunter sehr subtile evasive und eskapistische
Reaktionen, auch und gerade bei Kindern und Jugendlichen, die
als sehr begabt oder hochintelligent gelten. Auch von dieser Ziel-
gruppe wird im Laufe meiner Untersuchung die Rede sein. Ich
beschäftigte mich etliche Jahre intensiv mit der Persönlichkeits-
entwicklung und den Lernprozessen von hochbegabten Heran-
wachsenden, die zum Teil sehr viel Frustration an Schulen erlebt
und sich daher in eine Art innere Resignation zurückgezogen
hatten, dies oftmals unabhängig von ihren soziokulturellen Hin-
tergründen.
Im Anschluss an diese Zeit des Erfahrungen Sammelns, Be-
obachtens, Konzepte Entwickelns usw., zuerst in einem speziellen
Programm der High/Scope Educational Research Foundation5,
anschließend in den Universitären Sommercamps, heute: Sky-
Light-Camps, veranstaltet von der erew-Akademie Viersen, ging
ich dann für einen recht langen Zeitraum in den Schuldienst. Dort
machte ich Erfahrungen an verschiedenen Sonderschulen für Er-
ziehungshilfe, an einer Sonderschule für Lernbehinderte und an
zahlreichen integrativ arbeitenden Grundschulen und einigen
Hauptschulen.
Insgesamt ist mit diesen Tätigkeiten nun ein Zeitraum von
zwanzig Jahren gefüllt. Was ist die Summe dieser praktischen
Erfahrungen im pädagogischen Feld? Wo könnte es einen roten
Faden geben? Ich sehe diesen am ehesten in meinem Versuch,
mich immer wieder neu auf besondere Kinder und Jugendliche
einzustellen, ihre jeweiligen Lernbedürfnisse und Lernvorausset-
zungen zu ergründen und mit den Heranwachsenden gemeinsam
5 mit Sitz in Ypsilanti, Michigan und den Sommerworkshops in Clinton, Michi-
gan
11
individuell adäquate oder auf bestimmte Kleingruppen zuge-
schnittene Lernaktivitäten zu entwickeln, individuelle Ziele zu
formulieren, Lösungen zu erarbeiten und Lebensperspektiven zu
entwerfen. Haben Hochbegabte, Verhaltensauffällige und Lern-
behinderte also unter pädagogischer Perspektive etwas gemein-
sam?
Selbstverständlich, denn es handelt sich stets um Kinder und
Jugendliche, die sich entwickeln und ihre Möglichkeiten verwirk-
lichen wollen. Sie haben außerdem gemeinsam, dass sie von be-
stimmten Verhaltensnormen oder als durchschnittlich errechneten
Quotienten (etwa hinsichtlich ihrer Intelligenz, bestimmter Per-
sönlichkeitsmerkmale usw.) mehr oder weniger abweichen. Und
sie haben gemeinsam, dass sie häufig besonders viele Hindernisse
auf ihrem persönlichen Weg überwinden müssen.6
Insbesondere das Thema der hohen Intelligenz oder Hochbe-
gabung führt immer noch ein Schattendasein in Pädagogik und
Sonderpädagogik. Ich werde mich an späterer Stelle genauer da-
mit auseinandersetzen. Mit diesen noch sehr knapp ausfallenden
Hinweisen auf einige der hier heranzuziehenden pädagogischen
Kontexte hätte ich allererste Markierungen des Feldes vorge-
nommen, aus dem ich bei meiner hermeneutisch und rekonstruie-
rend ausgerichteten Untersuchung schöpfen werde.
Chi ha passato il guado, sá quanta acqua tiene, lautet ein altes
italienisches Sprichwort. Wer den Fluss durchwatet hat, weiß wie
hoch das Wasser steht. Das soll durchaus realistisch (besonders
bezüglich des Erziehungshilfe- und Schulverweigererbereichs)
und zugleich ermutigend klingen.
Was kann einen Pädagogen heute veranlassen, sich der Mühe
zu unterziehen, eine solche Abhandlung zu schreiben? Eine Ab-
handlung über das Bemühen bestimmter Kinder und Jugendli-
cher, sich den Bildungssystemen und Bildungsbestrebungen die-
6 M. Vernooij hat eine gemeinsame Diskussion der Phänomene Lernbehinderung
und Hochbegabung mit Blick auf eine adäquate schulische Förderung und das
Verhindern von Auffälligwerden geführt: vgl.: Lernbehinderung, Hochbegabung
und Verhaltensstörung. In: Rolus-Borgward, S., Tänzer, U., Wittrock, M.
(Hrsg.): Beeinträchtigung des Lernens und/ oder Verhaltens. Unterschiedliche
Ausdrucksformen für ein gemeinsames Problem. Oldenburg 2000, S. 39 - 54
12
ser Gesellschaft zu entziehen oder aber es den Erziehern zumin-
dest möglichst schwer zu machen? Eine Abhandlung schließlich
über die Versuche der professionellen Pädagoginnen und Pädago-
gen, innerhalb und außerhalb der Schule, die genannten Gruppen
von Heranwachsenden aufzufangen, auf dem Weg zu halten oder
erneut auf einen gangbaren Weg zu bringen und sie zumindest
über einen Teil der Schwierigkeiten, die auf diesem Weg auftre-
ten können, hinwegzubringen.
Nun, ich bin einerseits Praktiker und ordne auf diese Weise
Erfahrungen, die sich aufgrund meiner eigenen beruflichen Tätig-
keit ergeben haben. Ich befrage diese Erfahrungen auf ihren Sinn
für meine bisherige, meine gegenwärtige und weitere Arbeit mit
den als schwierig eingestuften Kindern und Jugendlichen. Gibt es
Leitbilder?
Vielleicht die Bremer Volksschullehrer Fritz Gansberg und
Heinrich Scharrelmann, die im reformpädagogischen Sinne tätig
waren und mit Berichten aus ihrer Arbeit in der Schule und kriti-
schen Beobachtungen der Schulwirklichkeit, lebendig geschrie-
ben, oft zugespitzt, doch nicht ohne Humor, hervorgetreten sind,
Pädagogen, die sich für die Entwicklung der schöpferischen Kräf-
te des Kindes eingesetzt haben... Pädagogen wie Fritz Redl, Au-
gust Aichhorn, Bruno Bettelheim...
Und was das Schreiben betrifft, so ließe sich vielleicht eine
Parallele zu dem Reformpädagogen Hugo Gaudig, dem Landpfar-
rerssohn ziehen. Auch er ist ja stets im Schuldienst geblieben.
Unter erheblichem Zeitdruck, hat Gaudig seine pädagogischen
Ideen und Erfahrungen niedergeschrieben.
Konnte ich meine pädagogischen Ideale in fünf Jahren außer-
schulischer Hochbegabtenförderung und fünfzehn Praxisjahren
im Schuldienst (und wer weiß wie viele noch folgen werden)
einlösen? Welche von Theorie und Wissenschaft angebotenen
Modelle und Konzepte waren für mich handlungsleitend und mit
welchem Erfolg? Was funktionierte? Und welche Rolle spielten
in alldem die institutionellen Rahmenbedingungen?
Was sagen meine pädagogischen Erfahrungen aus über Chan-
cen und Schwierigkeiten, über den Sinn einer solchen Berufsent-
scheidung, nachträglich? Zugegeben, es handelt sich im Kern bei
13
einer solchen phänomenologisch-beschreibenden und hermeneu-
tisch-rekonstruierenden Untersuchung immer um eine subjektive
Methode und es gilt von Alters her: Niun vede il sacco, che porta
su´l dorso. Keiner sieht den Sack, den er auf dem Rücken trägt.
Ein Wanderer im Nebel seiner eigenen Projektionen? Was schon
Leibniz lehrte, dass nämlich alle Erkenntnis vom Standpunkt des
Erkennenden bestimmt ist. Natürlich, wozu dies auch abstreiten
oder durch wissenschaftliche Konstruktionen vernebeln?
Die Kraft und das Veränderungspotenzial eines einzelnen Pä-
dagogen, seine Versuche, seine Projekte und Interventionen, seine
Sorgen, seine Ratlosigkeit, oftmals Schlaflosigkeit, die Fragilität,
die Bedeutungslosigkeit und am Ende doch die Bedeutung einer
letztlich für sich allein zurecht kommen müssenden Subjektivität,
trotz des (immer nur partiell gelingenden) kollegialen Austau-
sches und des Engagements in Netzwerken. Reflexionen zu einem
nie zur Ruhe kommenden professionellen Leben, das sich nicht
aufgeben noch sich verfestigen darf, weil ohne die Funken der
Subjektivität das bearbeitete pädagogische Feld zu einer unbe-
weglichen, unfruchtbaren Masse erstarrt. Ich will versuchen, den
Horizont so weit wie möglich zu öffnen, die subjektive Sicht zu
objektivieren durch das Aufnehmen, Nachvollziehen, Diskutieren
auch anderer Sichtweisen und Forschungsergebnisse, bilanzieren,
was ist und antizipieren, was sein könnte.
SCHREIBEN UND PUBLIZIEREN
Publizierte Texte können auch zum Ort des offenen oder verdeck-
ten Austragens von Konflikten mit bestimmten Personen oder
Gruppen und ihren Ideen oder Theorien werden. Ich glaube, dass
auch ich, noch jung und mit spitzer Feder schreibend, dieser Ver-
suchung gelegentlich erlegen bin. Das Schreiben und das Lesen
oder Rezensieren theoretischer Texte gleicht auch der Suche nach
einer beruflichen Heimat, dem Wunsch nach Zugehörigkeit, nach
Identifikation. Der Versuch, eine eigene Identität als Pädagoge
oder Wissenschaftler auszuformen, kann umgekehrt auch durch
das Prinzip Abgrenzung unternommen werden.
Beginnt das Denken schließlich sich freiere Bahnen zu ver-
schaffen, inspirierend kann hier etwa die Lektüre von Paul Feyer-
14
abends Abhandlung „Wider den Methodenzwang“ wirken, wird
sich möglicherweise zunächst einmal so etwas wie Heimatverlust
einstellen. Ich gerate ins Schwimmen, was jedoch auch etwas
Produktives an sich hat.
Ich gehe hier selbst, wie ich glaube, einen Mittelweg. Es ist so
Vieles an Wissen vorhanden, was zum tiefergehenden Verstehen
der Erziehungswirklichkeit in Zusammenhang mit Verweigerung,
Konflikten usw. und zu Interventionen und Veränderungsversu-
chen herangezogen werden kann.7 Zugleich versuche ich auf
meine eigene Art, vor dem Hintergrund meiner individuellen
pädagogischen Erfahrungen die Dinge anzuwenden, zu verknüp-
fen, zu variieren, zu ergänzen usw. Warum bevorzugt der eine
Erziehungshilfe-Forscher die Psychoanalyse, der andere die Ver-
haltenstherapie und wieder ein anderer den klientenzentrierten
Ansatz oder die Bindungstheorie? Zwar werden stets sachbezoge-
ne Argumentationen bemüht und angegeben, warum die jeweilige
Theorie besonders bedeutungsvoll für das Fachgebiet ist oder sein
soll, doch was motivierte die Forscherin oder den Forscher per-
sönlich, diesen und keinen anderen Weg einzuschlagen?
Geht es bei diesen Denkweisen, neben dem Bedürfnis nach
Zugehörigkeit oder Abgrenzung, nicht immer auch um Selbstbil-
der und Selbstdeutungen? Am Ende schreibt vielleicht doch jeder,
wenigstens zum Teil, über sich selbst, indem die eigenen subjek-
tiven Konstruktionen von Wirklichkeit erschaffen und kommuni-
ziert werden. Indem wir über die sozialen und pädagogischen
Wirklichkeiten schreiben, philosophieren wir im Grunde über
unsere eigenen Zugänge zu diesen vermeintlichen Wirklichkeiten.
Vielleicht lässt sich von hier aus auch erklären, woher die Ener-
7 Vgl. die Überblick gebenden Publikationen, etwa: Goetze, H. & H. Neukäter
(Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Bd. 6: Pädagogik bei Verhaltensstö-
rungen. Berlin 1989 - Goetze, H.: Grundriss der Verhaltensgestörtenpädagogik,
Berlin 2001 - Hillenbrand, C.: Didaktik bei Unterrichts- und Verhaltensstörun-
gen. München, Basel 1999 - Hillenbrand, C.: Einführung in die Verhaltensge-
störtenpädagogik. München, Basel 1999 - Mutzeck, W.: Verhaltensgestörtenpä-
dagogik und Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn 2000 - Myschker, N.: Verhaltens-
störungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen – Ursachen –
Hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart 1999, 3. Aufl. - Opp, G. (Hrsg.): Arbeitsbuch
schulische Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn 2003 u.a.
15
giepotenziale, die das Schaffen von Texten und Werken antrei-
ben, stammen. Die Motivation wurzelt wahrscheinlich, neben
dem sozialen Engagement, auch im Wunsch nach dieser Art von
Selbstdeutung, Selbsterkenntnis und Sinnkonstruktion.
Auch wäre es ein recht interessantes wissenschaftstheoreti-
sches Thema, zu erforschen, zu welchen Zeitpunkten im Verlauf
einer beruflichen Biographie es zu Schwerpunktverlagerungen,
Veränderungen, Wechseln, gar Abbrüchen oder Neuanfängen
hinsichtlich der eigenen Theoriebildung, der verwendeten Metho-
de oder der bearbeiteten Forschungsthemen kommt und welche
Faktoren für solche Prozesse ausschlaggebend sind. „Ich selber
habe deutlich das Gefühl der Einheit und Kontinuität meiner Tä-
tigkeit, auch der damit verbundenen und sich daran entwickeln-
den Theorie“, sagt H. von Hentig im Gespräch mit R. Winkel.8
„Meine Pädagogik ist eine gegenhaltende Pädagogik. Sie ver-
sucht, den übergroßen Druck, woher er auch komme, vom Kind
abzuhalten. Sie will das Individuum stärken, gegen die Über-
macht der Institutionen, der Organisationen, der anonym wirken-
den Verhältnisse und Denkgewohnheiten. Insofern bin ich ein
hoffnungsloser Rousseauist“ (ebd.).
Für mich ist das eine sehr sympathische Textstelle. Das noch
nicht zuende geführte Thema war ja das wissenschaftliche Reflek-
tieren und Schreiben, darin die Praxiserfahrungen aufzuklären,
die Veränderungen und Richtungswechsel, wenn es sie denn gibt,
in diesem Prozess des Verarbeitens und Entwickelns auszu-
machen, die Tiefenschichten des eigenen Schreibens für sich
selbst zu ergründen und die Ergebnisse dieser Selbstanalysen um
der Aufrichtigkeit und Verständlichkeit willen auch den Rezipien-
ten der entstehenden Texte mitzuteilen.
8 Hentig, H. v. (im Gespräch mit R. Winkel): Phänomene klären und Verhältnis-
se ändern. Westermanns Pädagogische Beiträge 12, 1985, 590 – 594, hier S. 592
16
PÄDAGOGISCHER BERUF ALS ERKENNTNISWEG
Mehr als alles andere ist ein solcher Beruf, und jetzt spreche ich
vom wissenschaftlich orientierten Praktiker, ein Erkenntnisweg,
eine innere Expedition. Es handelt sich um eine unendlich facet-
tenreiche Selbsterfahrung. Man wird ja weder besonders wohlha-
bend in diesem Arbeitsfeld, weshalb man diese Art von heraus-
fordernder Arbeit nie allein gegen Geld wird machen wollen und
können, auch wird man nicht viel Spielraum darin finden für un-
ternehmerische Initiative und Selbstverwirklichungsbedürfnisse.
Auch bin ich in den öffentlichen institutionellen Strukturen nicht
als freier Künstler tätig, was vielleicht manch einem von uns gut
oder besser bekommen würde. Nein, der Handlungsrahmen ist
überaus eng gefasst. Der tatsächliche Verhaltensspielraum, be-
sonders wenn wir vom Schuldienst sprechen, ist sehr stark durch
administrative Vorgaben bestimmt.
Doch so absurd es sich anhört, gerade darin liegt der besonde-
re Charakter einer solchen Berufstätigkeit, im Sinne eines Er-
kenntnisweges, begründet. Solche Jahre des Eingepresstseins sind
Passagen, die mir immer neu abverlangen, die eigenen Grenzen
zu bestimmen, sowohl das Verschmelzen mit dem System als
auch eine ostentative Unangepasstheit zu vermeiden. Durch die
ständige Konfrontation mit Grenzsituationen, etwa in der Arbeit
an einer Schule für Erziehungshilfe, bekommen wir die Chance,
Wahrhaftigkeit zu lernen und zu leben, verstehen wir darunter
einmal die Bewusstheit dessen was ist, selber Position zu bezie-
hen, andere zu akzeptieren, selbst mitzuspielen, Bedrohungen und
Spannungen auszuhalten, Illusionen aufzugeben. Letztlich gibt es
ja doch so etwas wie eine charakterbildende, sinnstiftende und
zufriedenstellende Erfahrung des Helfens und Gebrauchtwerdens,
worin am Ende eine Art höhere Form der persönlichen Entschä-
digung für die eigenen Mühen liegen könnte.
Sicherlich kommt es zwischenzeitlich einmal zu wehmütigen
Seitenblicken auf Industrie- und Wirtschaftswelten und die dort
möglichen Karrieren, vor allem dann, wenn ich das eigene Tun
gelegentlich als Mich-Abarbeiten-im-sozialen-Sektor erlebe. Be-
merkenswert fand ich in dieser Hinsicht die folgenden Äußerun-
gen von Wolfgang Joop:
17
„Ich werde meine Wohnungen in New York und Monte Carlo
verkaufen. Ich war über Ostern in St. Petersburg bei einem Aids-
Kinder-Projekt, das ich fördere. Ich war tief bestürzt, als der Arzt
sagte, dass ich der Einzige bin, der die HIV-infizierten Kinder zu
berühren wagt. Die Kinder haben sich richtig an mich geklam-
mert. Da fragte ich mich, was mache ich eigentlich noch für einen
Scheiß? Wozu noch diese Villa hier in Potsdam? Kann ich nicht
einen Kindergarten finanzieren – irgendwas tun, was mir
Selbstrespekt gibt? Wir können nicht alles ändern, aber uns selbst
[...]. Angesichts dieser Kinder, werden dir deine ganzen Mankos
so klar: dein Geiz, deine Kleinkariertheit und Mutlosigkeit [...].
Wir müssen uns den Themen zuwenden, die wirklich relevant
sind. Dabei ist das Entwerfen von Visionen oder Utopien durch-
aus euphorisierend.“9
„Ethische Existenz“ versus „ästhetische Existenz“, um das
Thema einmal vor dem Hintergrund der Philosophie Kierkegaards
zu betrachten, wie er sie in „Entweder–Oder“ entwickelt? Ver-
zicht auf vielerlei Bedürfnisbefriedigungen und Engagement auf
der einen, die immerwährende Suche nach dem Interessanten,
Raffinierten und Spektakulären, ein grenzenloser Hedonismus auf
der anderen Seite? Wer sich für ein (quasi lebenslanges) Engage-
ment auf dem sozialen oder pädagogischen Sektor entschieden
hat, und dabei auch wirklich die existenziellen Anliegen der ihm
anvertrauten Subjekte im Blick hat, hat sich, so meine These,
zugleich für eine „ethische Existenz“ im Sinne von Kierkegaard
entschieden. Vielleicht kommen wir am Ende zugleich durch eine
solche Entscheidung, durch einen solchen Lebensentwurf und die
hierin zwangsläufig enthaltenen Grenzerfahrungen, einer solch
ethischen Existenz näher, Seinsebenen wie sie in den Aussagen
des erklärten Ästheten Wolfgang Joop durchschimmern, im
Grunde sukzessive wieder neu entdeckt worden sind, denn im
Bemühen, brüchigem Leben Sicherheit, einsamem Leben Ge-
meinschaft, fraglichem Leben Sinn zu verleihen, sind solche Be-
züge vielleicht unverzichtbar.
9 „Ich fühlte mich oft als Marionette“, Wolfgang Joop im Gespräch mit Corinna
Emundts, Brigitte 17, 2003, 107 – 110, hier: S. 110
18
Es gibt Leidenssituationen und belastende Kontexte im Ar-
beitsfeld der Erziehungshilfe- und Lernbehindertenpädagogik, in
denen wissenschaftlich abgeleitete Handlungssysteme nachweis-
lich nicht mehr greifen (können), denn vor Vielem, was in diesen
Grenzwelten geschieht, steht auch die Wissenschaft mit ihren
Erklärungshintergründen und Handlungsmodellen mehr oder
weniger sprachlos da. Es ist am Ende nur noch der Mensch, der
handelt, der theoriegeleitete Pädagoge muss in Extremsituationen
durchaus zurücktreten. Was am Ende oftmals bleibt, ist vielleicht
eine Art von Barmherzigkeit, eine Haltung, die ja eine sehr ur-
sprüngliche religiöse Emphase besitzt, ohne dass diese mit wis-
senschaftlichen Mitteln nur sehr schwer fassbare Ebene hier wei-
ter ausgeleuchtet werden soll.
Je enger nun der mir gesetzte Rahmen ist, desto größer ist die
Herausforderung an mich, zu passenden, institutionell akzeptier-
ten und situationsangemessenen Entscheidungen und Handlungen
zu kommen und insgesamt zu einer Arbeitsweise zu gelangen, die
mich von meinen eigenen pädagogischen Idealen her betrachtet,
(noch) zufrieden stellen kann.
Das Niederschreiben ist daher zunächst eine Art Selbstverge-
wisserung. Was mache ich? Was erlebe ich? Was habe ich ver-
sucht? Mit welchem Ergebnis? Was will ich als nächstes probie-
ren? Welche Hindernisse bauen sich auf? Unterricht sowie das
gesamte Schulleben sind Kraftfelder, in denen ich lernen muss,
mich zu bewegen. Offensiv sein, defensiv sein, ausweichen, mit-
schwimmen, Macht aufbauen, auf Macht verzichten, aktiv steu-
ern, auf die Selbststeuerungskräfte der anderen vertrauen, produk-
tiv sein, sich vernetzen, sich gegenseitig unterstützen. Hier lassen
sich vielfältige, durchaus ambivalente Erfahrungen machen.
Allerdings brauchte man einen Text, der den Charakter einer
Selbstsupervision trägt, wahrlich nicht zu veröffentlichen. Woher
also die Idee, anderen etwas mitteilen zu wollen oder zu sollen?
Ehrlich gesagt, ein besonderer Mitteilungsdrang ist nicht (mehr)
der antreibende Motor. Es wäre sicher genauso legitim, über alles
zu schweigen (Und ich werde auch über manches schweigen
müssen). Arbeiten, niederschreiben, reflektieren, erneut arbeiten,
das könnte schon genug sein.
19
Allenfalls hätte ich Grund dann und wann einige gelungene
Unterrichtsbeispiele und didaktische Ideen zu veröffentlichten,
um sie anderen Interessierten, insbesondere jedoch der jungen
Pädagogengeneration, im Sinne eines Handwerkszeugs zur Ver-
fügung zu stellen, wie bereits an verschiedenen Stellen gesche-
hen.10 Diese didaktischen Studien sind getragen von dem Glau-
ben, dass sich unterrichtliches und erzieherisches Handeln opti-
mieren und auf die besonderen Lernbedürfnisse von Kindern und
Jugendlichen mit diversen Problemen im Bereich des Verhaltens,
der Kommunikation oder der Motivation ausrichten lassen, dass
nur genug gute und adäquate Ideen entwickelt, verbreitet und
umgesetzt werden müssen, damit alles besser wird, mit den Kin-
dern und den Jugendlichen, mit der Pädagogik, auch unter extre-
men Bedingungen und bei außergewöhnlich schwierigen Aus-
gangsbedingungen.
Diesen, von einem gewissen Erziehungsoptimismus getrage-
nen Texten stehen Diskurse, Texte, Textfragmente gegenüber, die
eher von praktischen Umsetzungsschwierigkeiten in den Lern-
gruppen, aber auch von institutionell verankerten Konflikten,
kollegialen Differenzen und Auseinandersetzungen handeln.11
10 Vgl. Bröcher, J.: Bearbeiten von Erfahrung durch collage-unterstütztes Zeich-
nen. Therapieorientierter Kunstunterricht an der Schule für Erziehungshilfe.
Kunst + Unterricht 158, 1991, S. 51 - 53. - Ders.: Sonderentwicklungen begeg-
nen. Kunst + Unterricht 163, 1992, S. 42 – 43, Nachdruck in Constanze Kirch-
ner (Hrsg.): Kinder- und Jugendzeichnung, Friedrich Verlag, Seelze, 2003, 134
– 135. - Ders.: Ästhetisch-praktische Zugänge zum Thema Mittelalter. Kunst +
Unterricht 171, 1993, S. 40 – 41. - Ders.: Abenteuer auf einer geheimnisvollen
Insel. Identifikationsfördernde Themen als Chance zum Abbau von Lern- und
Verhaltensstörungen in der Grundschule. Zeitschrift für Heilpädagogik, 51. Jg.,
H. 3, 2000, S. 121 – 125. - Ders.: Eigene Lebenswelt in bunten Farben. Ein
Projekttag mit Künstlern an der Schule für Lernhilfe. Förderschulmagazin, 22.
Jg., 2000, Heft 5, S. 31 – 32. Ders.: „... aber an dir ist Hopfen und Malz verlo-
ren.“ Märchen im gemeinsamen Unterricht zur Integration von Schülern mit
Verhaltensauffälligkeiten und/ oder Lernstörungen. Grundschulunterricht, 47.
Jg., 2000, H. 4, S. 25 – 28 u.a.
11 vgl. Bröcher, J.: Der Schuh der Grundschullehrerin oder: Wie erotisch sind
Interaktionsübungen? PÄD Forum, 1999, H. 4, 311 - 314. - Ders.: Lehr-Kräfte
zwischen Bewegung, Erstarrung und Zusammenbruch. Aufzeichnungen aus dem
Sanatorium. Satire und Gedankenexperiment. In: PÄD Forum, 14. Jg., 2001, H.
3, 164 – 172
20
Würden solche Erfahrungen und Beobachtungen nicht zu Papier
gebracht, publiziert und kommuniziert, würde dies gleichzeitig
bedeuten, dass die typischen Praxisabläufe immerzu wiederholt
werden müssten, immer wieder neu von den aufeinanderfolgen-
den Generationen von Pädagoginnen und Pädagogen am eigenen
Leib erlebt werden müssten, als sei dies alles unabänderlich und
dem sich sozial engagierenden Teil der Menschheit als ewige
Bürde auferlegt. Die zum Teil sehr belastenden Erfahrungen, ja
Grenzerfahrungen im pädagogischen Feld hätten dann jedoch
immer nur Sinn im Kontext einer individuellen Biographie, in der
Lebensgeschichte und persönlichen Entwicklungsgeschichte eines
einzelnen Kindes, einer einzelnen Lehrkraft.
Zugleich erscheinen mir die meisten Ereignisse, Vorkommnis-
se, Phänomene im pädagogischen Arbeitsfeld von so grundlegen-
der und allgemeiner Bedeutung, dass wir gut daran tun, sie in das
Einzelschicksal übergreifenden Diskursen zu reflektieren. Was ist
typisch für den lernenden und den lehrenden Menschen unter
relativ engen, vorstrukturierten, zum Teil gar extremen Bedin-
gungen? Was ist typisch für die sozialen und pädagogischen Sys-
teme, wenn sie mit Besonderheiten oder Abweichungen konfron-
tiert werden? Was sind die typischen Mechanismen, nach denen
die Dinge funktionieren, man denke nur an die vielen Kommuni-
kationskonflikte auf allen Ebenen des Erziehungssystems und wo
zeigen sich Ansätze für produktive Veränderungen?
INTENSIVSTATION KLASSENZIMMER?
Geben wir einleitend einem der großen Wegbereiter der moder-
nen Pädagogik das Wort, Hartmut von Hentig: „Als ich 1976 [...]
fragte: `Was ist eine humane Schule ?´, ging es mir darum, zu
zeigen, dass die moderne Schule das Leiden der Kinder und Ju-
gendlichen an ihr zwar gemindert, aber ihre elementare Unbe-
kömmlichkeit für die Menschen nicht überwunden hat. Sie konsti-
tuiere ein unentrinnbares und unheimliches, ein entfremdendes
und entmündigendes Verhältnis - `gleich, ob sie reformiert oder
antiquiert ist.´ [...] Die Schule müsse anders werden, weil die
Kinder anders geworden seien. Deren Lebensprobleme überlager-
21
ten deren Lernprobleme; wenn die Schule es nicht ernst mit jenen
aufnehme, werde sie an diese gar nicht herankommen [...].“12
Dass die „Lebensprobleme die Lernprobleme überlagern“, wie
H. von Hentig feststellt, gilt mittlerweile als unbestritten, sofern
wir es mit Kindern und Jugendlichen einer Schule für Erzie-
hungshilfe, Lernhilfe usw., zumindest aber mit Heranwachsenden
vom Rande des Bildungssystems zu tun haben.
Ein Ziel meiner bisherigen Untersuchungen war, bestimmte
Grundfiguren oder Kernthemen dieser Lebensprobleme herauszu-
arbeiten. Es stellt sich auch die Frage, ob sich die von v. Hentig
kritisierten Zustände an unseren allgemeinen Schulen in den ver-
gangenen fünfundzwanzig Jahren geändert haben, insbesondere,
was die Bereitschaft der Schule angeht, sich mit den Lebensprob-
lemen der Schülerinnen und Schüler zu befassen. Von hier aus
könnten dann Prognosen gewagt werden, ob unsere Gesellschaft
immer weiter auffällige Schülerinnen und Schüler produzieren
wird oder ob wir damit rechnen dürfen, dass sich die am Rande
der Bildungswelt angesiedelten Förderschulen und Sonderschulen
genauso wie die speziellen sozialpädagogischen Projekte für
Schulabbrecher, Schulschwänzer oder Schulverweigerer eines
Tages zugunsten einer inklusiven Pädagogik für alle erübrigen
könnten.
Doch haben wir hier noch einen weiten Weg vor uns, denn die
gegenwärtige Schule wird offenbar immer stärker zwischen „sys-
temstrukturellen Zwängen und lebensweltlicher Dynamik“13 zer-
rieben. "Intensivstation Klassenzimmer" ist etwa ein Artikel über-
schrieben, der diese Problematik auf den Punkt bringt.14 Die Au-
torin, Lehrerin an einer kombinierten Haupt- und Realschule in
einer deutschen Kleinstadt, berichtet aus ihrem Schulalltag. Unter
anderem beschreibt sie die von ihr als belastend erlebten Verhal-
tensweisen vieler Schülerinnen und Schüler, das heißt diese prü-
12 Hentig, H. v.: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft.
München & Wien 1993, S. 9
13 Thimm, K.: Schulverweigerung. Zur Begründung eines neuen Verhältnisses
von Sozialpädagogik und Schule. Münster 2000, S. 47
14 Szillis-Kappelhoff, B.: Intensivstation Klassenzimmer. Die Zeit Nr. 44, 29.10.1993
22
geln und beschimpfen sich, machen keine Hausaufgaben, lärmen
und behindern einen reibungslosen Unterrichtsablauf.
Im Ansatz führt Szillis-Kappelhoff die beobachteten Auffäl-
ligkeiten auf die Lebensprobleme vieler heutiger Schüler zurück.
Viele der hier beschriebenen Kinder und Jugendlichen leben in
zerrütteten Familien und tragen ihre seelischen Spannungen in
das schulische Leben hinein. Die Autorin nimmt auch Stellung zu
ihrem persönlichen Belastungsempfinden. Sie nennt eine Vielzahl
an körperlichen und seelischen Belastungssymptomen. Zu dem
Artikel ist ein Photo abgedruckt. Es zeigt einen zertrümmerten
Klassenstuhl, versehen mit dem Untertitel: "Nicht immer ist die
Überleitung zu Rilke ganz einfach."
Dieser Artikel mit seiner metaphorischen Rede vom Klassen-
zimmer als einer „Intensivstation“ macht in aller Kürze deutlich,
woran unser gegenwärtiges Schulsystem krankt, um hier den me-
dizinischen Sprachjargon der Autorin fortzuführen. Die vielfälti-
gen psychischen und sozialen Probleme auf Seiten der Schülerin-
nen und Schüler einerseits und die durchaus verständlichen und
nachvollziehbaren (da im Ansatz selbst erfahrenen) Belastungs-
symptome auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer andererseits
werden von vielen fatalerweise nur von ihrer Oberflächenstruktur
her erkannt. Weil aber die Tiefenstruktur der angewachsenen
unterrichtlichen Schwierigkeiten nicht aufgedeckt wird, gibt es
auch keine wirkliche Lösung für diese.
Die medizinorientierte Rede von der „Intensivstation Klassen-
zimmer“ wirkt deshalb wie ein letzter Ausweg, wie die Beschwö-
rung eines längst überwunden geglaubten Paradigmas im Umgang
mit als auffällig erlebten Heranwachsenden. Es ist ja keineswegs
so, dass an dieser Normalschule die vermeintlichen Defizite, Stö-
rungen oder Auffälligkeiten der Schüler in einer Art kompensato-
rischen oder therapeutischen Unterricht behandelt und kuriert
würden oder zumindest der Versuch dazu gemacht würde. Es soll
ja nach wie vor "zu Rilke übergeleitet werden." Das heißt die
Stofforientiertheit des Unterrichts wird, trotz erheblicher Start-
schwierigkeiten, an sich nicht in Frage gestellt.
Diese Didaktik hält einerseits nach wie vor an Rilke, hier wohl
stellvertretend für viele, dem Lehrplan (bzw. einem traditionellen
23
Bildungskanon) entnommene Zielsetzungen und Inhalte gemeint,
fest. Gleichzeitig kommt sie nicht mehr vom Fleck und ver-
braucht sich bereits in der Herstellung einer hinreichend ruhigen
Atmosphäre, wie sie für das Lernen und Lehren benötigt wird.
Die Energien von Lehrenden und Lernenden bleiben schon im
Vorfeld der eigentlich zu bearbeitenden Sache in zähen Diskussi-
onen und mehr oder weniger fruchtlosen Interventionen bezüglich
des nicht angebrachten Verhaltens vieler Schüler, das eben nicht
das erwünschte Lernverhalten ist, hängen.
Außerdem muss von einer Lehrkraft, erst einmal mit Mühe bei
der Rilke-Bearbeitung angekommen, eine dauernde psychische
(und körperliche) Grundspannung ausgehalten werden, weil stän-
dig ein Rückfall in eine undisziplinierte Situation befürchtet wird
und wohl auch werden muss, eine nie endende Situation der An-
spannung, die immer wieder neue lernverhaltensbezogene Dis-
kussionen oder Interventionen erfordert.
Wer hat hier eigentlich die Macht? Die Lehrerin? Ja und nein.
Die Schüler? Ja und nein. Michel Foucault formuliert es in seiner
Abhandlung „Die Macht und die Norm“15 wie folgt: „Die Macht
ist niemals voll und ganz auf einer Seite. So wenig es auf der
einen Seite die gibt, die die Macht haben, so wenig gibt es auf der
anderen Seite jene, die überhaupt keine haben. Die Beziehung zur
Macht ist nicht im Schema von Passivität - Aktivität enthalten.
Macht ist niemals monolithisch. Sie wird nie völlig von einem
Gesichtspunkt aus kontrolliert. In jedem Augenblick spielt die
Macht in kleinen singulären Teilen.“ Mit anderen Worten: Lehre-
rin und Schüler ringen hier um die Macht, die sich in bestimmten,
wechselnden Anteilen, durchaus auf beiden Seiten befindet.
Zur Aufrechterhaltung der Disziplin und zum Ausschalten un-
erwünschter Initiativen von Seiten der Schüler wie auch zum
Reduzieren der eigenen Ängste vor einer unkontrollierbaren Situ-
ation, muss nun aus der Sicht vieler Pädagoginnen und Pädago-
gen ein Herrschaftssystem installiert werden. Doch die Durchset-
zung eines solchen Kontrollsystems hat ihren Preis: "Widerstand
15 Foucault, M.: Die Macht und die Norm. In: Ders.: Short Cuts. Frankfurt am
Main 2001, S. 39 – 55, hier: S. 41
24
gegen die Schul-Lehre wird also wahrgenommen, doch nur als
Kraft, die ihre Herrschaft bedroht. Mit dem Widerstand, der nur
mehr als externe Störbedingung verstanden wird, zugleich wird
ausgegrenzt, was ihn hervorbringt: gesellschaftliche Erfahrungen
von Schülern, die durch die Schullehre nicht aufgenommen wer-
den".16
Sucht man den Artikel von Szillis-Kappelhoff nach Lösungs-
ansätzen ab, wird man enttäuscht sein. Es werden lediglich auf
eine diffuse Weise Vorstellungen evoziert, die an medizinische
Intensivbehandlungen geknüpft sind, um überhaupt etwas an Ret-
tung oder Hilfe für die offenbar aussichtslose Lage an vielen un-
serer Schulen anzubieten. Hier wurde sich ein enormer Leidens-
druck von der Seele geschrieben, was ja durchaus seine Berechti-
gung hat. Doch konstruktive Ansätze für Veränderungen sind
noch nicht in Sicht. Die Ausgangsbedingungen für Unterricht
haben sich einfach verändert. Der durch das Curriculum vorgese-
hene Inhalt greift nicht mehr ohne weiteres. Die Schüler sind
weniger leicht zu lenken. Die oben beschriebene Situation darf
mit hoher Wahrscheinlichkeit als repräsentativ für die aktuellen
Lern- und Arbeitsverhältnisse in vielen Schulklassen an deut-
schen Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen, im Ansatz auch
an Gymnasien, gelten.
Meine Beobachtungen an diesen Schulformen in Zusammen-
hang mit sonderpädagogischen Untersuchungsverfahren, Testter-
minen, Verhaltensbeobachtungen in den Klassenräumen sowie
meine Erfahrungen aus mehrjähriger eigener Unterrichtstätigkeit
an integrativen Grund- und Hauptschulen, ferner eine Vielzahl
von Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern der verschiedenen
Schultypen, und nicht zuletzt die Erfahrungen mit meinen eigenen
Kindern, die ich ja durch ihre Zeit an Grundschule, Gymnasium
bzw. Gesamtschule mitbegleitet habe und noch begleite, stützen
diese Annahme.
Glaubt man den immer häufiger zu hörenden Aussagen von
Lehrerinnen und Lehrern an diesen regulären Schulformen, ist das
16 Thiemann, F.: Schulszenen. Vom Herrschen und vom Leiden. Frankfurt am Main
1985, S. 59 f.
25
Unterrichten aufgrund des inzwischen sehr hohen Ausmaßes an
psychosozialem Konfliktpotenzial, aber auch des unglaublichen
Autoritätsverlustes, den die Institution Schule auf der ganzen
Breite erlitten hat, schwieriger geworden. Auch die Institution der
Kirche hat ja zu erheblichen Teilen ihre gesellschaftliche Bedeu-
tung eingebüßt und fragt sich, wie sie die Heranwachsenden neu
für ihre Glaubensinhalte gewinnen kann.17 Wir haben es folglich
mit einer Krise der gesellschaftlichen Institutionen im Allgemei-
nen zu tun.
In den Erziehungswissenschaften hat in Anbetracht dieser Kri-
senerscheinungen eine breite Diskussion eingesetzt. Beispielswei-
se hat H. v. Hentig18 versucht, den Zusammenhang zwischen den
gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und der erschwerten
Situation an unseren Schulen zu ergründen. Weite Teile unseres
Schulsystems scheinen sich zur Zeit in einem unaufhaltsamen
Erosionsprozess zu befinden. Wie zahlreiche Untersuchungen
belegen, nimmt mit dem Sinnverlust und der Perspektivelosigkeit
der Heranwachsenden vor allem die Gewalt an Schulen, aber auch
in den außerschulischen Lebenswelten weiter zu.19
Der zertrümmerte Klassenstuhl auf dem Photo zum Artikel
von Szillis-Kappelhoff kann daher als ein Symbol für diese Ten-
denz gelten. Viele Jugendliche entwickeln rechtsextreme Einstel-
lungen und Verhaltensweisen, die gegen schwächere Mitglieder
dieser Gesellschaft, wie zum Beispiel gegen Ausländer, Asylan-
ten, Behinderte oder Schwarze gerichtet sind. Aber auch viele
ausländische Jugendliche engagieren sich auf der Schattenseite
des Lebens, indem sie sich Banden anschließen und kriminelle
Aktivitäten entwickeln.
17 vgl. E. Feifel: Religiöse Erziehung im Umbruch. München 1995
18 v. Hentig, Die Schule neu denken, 1993
19 z.B. Bründel, H. & K. Hurrelmann: Gewalt Macht Schule. München 1994 -
Bründel, H. & K. Hurrelmann: Zunehmende Gewaltbereitschaft von Kindern
und Jugendlichen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38, 1994, S. 3 – 9. -
Claus, T. & D. Herter: Jugend und Gewalt. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung
an Magdeburger Schulen. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/ 94, S. 10 - 20. - Hur-
relmann, K.: Aggression und Gewalt in der Schule. Pädextra 5, 1993, S. 7 – 17. -
Spreiter, M. (Hrsg.): Waffenstillstand im Klassenzimmer. Vorschläge, Hilfestel-
lung, Prävention. Weinheim 1993
26
Die multikulturelle Gesellschaft erscheint vor allem durchsetzt
von sozialen Gegensätzen und Konflikten, die in den interaktiven
Beziehungen der Schüler untereinander, sicher nicht nur in Son-
derschulklassen, sehr konkret werden können: „Heh, Spaghetti,
mach´ die Tür zu!“ Oder: „Verpiss Dich Du Türke!“ Oder: „Wir
brauchen hier keine Russenschweine!“ „Wir werden euch Kana-
ken schon noch ausrotten!“
Der zertrümmerte Klassenstuhl steht möglicherweise für noch
mehr, nämlich dass allmählich eine ganz bestimmte Bildungstra-
dition im Verschwinden begriffen ist. Bildung war einst das erst-
rangige Symbol im historischen Aufbruch des Bürgertums zur
politischen Existenz. Unvergessen war den gebildeten Ständen
des frühen 19. Jahrhunderts Lessings „Erziehung des Menschen-
geschlechts“, jene Vision eines teleologisch ablaufenden Erzie-
hungs- und Bildungsfortschritts der Menschheit, die von einer
Schulklasse zur nächst höheren aufrückt, vom orthodoxen Den-
ken zur Aufklärung, von der Volksschule zum Abitur. Eine solche
Bildungsutopie hatte ja ihren Vorläufer in Schillers „Briefen über
die ästhetische Erziehung des Menschen.“20
Diese Briefe waren der Gründungstext eines Bildungsideals,
das für das 19. Jahrhundert orientierungsgebend war und das im
Spannungsverhältnis von Geist und Macht bis heute fortlebt. Für
eine neue Gesellschaft, für den neuen Staat, geboren aus dem
Geist der Vernunft und der Freiheit, entwickelte Schiller ein Bil-
dungsprogramm mit einem ausgesprochen antirevolutionären
Charakter. Es ging etwa nicht darum, das Volk zum politischen
Handeln zu bewegen, sondern den Einzelnen, genau an jenen
seelischen Punkt zu bringen, an dem er reif sein würde für den
künftigen Vernunftstaat, quasi auf der Basis der durch Bildung
erzielten kulturellen Veredelung des Menschen. Hierin setzte
Schiller alle Hoffnung auf die ästhetische Erziehung, auf die ka-
thartische Wirkung von Kunsterfahrung. Diese Utopie, nämlich
über Bildung frei zu werden, war schließlich das, was Winckel-
mann, Goethe, Humboldt, Fichte, Schelling, Hegel und eben
20 Schiller, F. (1795): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer
Reihe von Briefen. Stuttgart 1965
27
Schiller an das nachgeborene deutsche Bürgertum weitergaben.
Müssen wir uns nun völlig von dieser Bildungsutopie verabschie-
den? Gibt es nicht immer mehr unübersehbare Hindernisse, die
solcherart beflügelten pädagogischen Idealen in den Weg treten,
insbesondere an den Rändern der Bildungswelt?
Auch aus der Sicht der Religionspädagogik wird eine funda-
mentale Krise wahrgenommen. E. Feifel21 konstatiert eine „zu-
nehmende Entkirchlichung als [...] Gleichgültigkeit gegenüber
Kirche und Konfession, ja eine zunehmende Entchristlichung im
Sinne der Indifferenz gegenüber christlichen Sinngehalten.“ Er
spricht gar von einem „Verlust von Religion überhaupt“, „weil
eine allgemeine Verbindlichkeit von Sinn und Werten in Abrede
gestellt wird.“ Gleichgültig, ob wir nun von einem eher klassisch
aufgeklärten oder einem eher christlich geprägten Menschenbild
und Bildungsideal ausgehen, alles läuft auf einen Veränderungs-
prozess hinaus, der voller Eigendynamik ist und viel Altvertrau-
tes, Gewohntes und Geschätztes niederreißt.
Auch von religionspädagogischer Seite kommt es ja zu kriti-
schen Analysen aktueller gesellschaftlichen Prozesse, ihrer Aus-
wirkungen auf Schule und Unterricht, auch mit Einfühlungsver-
mögen für die in den Schulen tätigen Lehrkräfte, die Distanzie-
rung von der Leistungsschule eingeschlossen: „Zwangsläufig
schlägt die gesellschaftliche Situation durch auf die gegenwärtige
Situation der Schule. Sie hat es in einem bisher nicht erlebten
Maß mit dem Problemdruck der Gesellschaft zu tun. Gewalt und
Gewaltbereitschaft bei Schülern haben zugenommen und ver-
schärfen sich derzeit unter dem Aspekt von Ausländerfeindlich-
keit und Fremdenhass. Der soziologische Wandel von Familie,
Kindheit und Jugendalter führt in den damit verbundenen Verän-
derungen im Sozialverhalten und Wertbewusstsein Lehrerinnen
und Lehrer an physische und psychische Grenzen. Weiter hat
Schule mit dem Leiden am Lernen zu tun, das mit einer krankma-
chenden Leistungsschule gekoppelt ist.“22
21 Feifel, E.: Religiöse Erziehung im Umbruch, S. 38
22 Feifel, Religiöse Erziehung..., S. 39
28
Ohne Zweifel müssen unter anderem auch psychologische Er-
klärungen für die Ausbreitung psychosozialer Probleme bei den
heutigen Heranwachsenden gefunden werden. Man nehme etwa
die von H. Fend23 durchgeführte Längsschnittuntersuchung zur
Kenntnis. Hier wird gefragt, wie unter heutigen Bedingungen
altersspezifische Entwicklungsaufgaben von den Jugendlichen
bewältigt werden, wie sich Identitäten, Geschlechtsrollenidentitä-
ten, politische Identitäten usw. in der gesellschaftlichen Gegen-
wart herausbilden? Neben Erkenntnissen der Persönlichkeits- und
Entwicklungspsychologie werden insbesondere Forschungser-
gebnisse aus dem Bereich der klinischen Psychologie zu beachten
sein, um die komplexen Hintergründe und Gesetzmäßigkeiten
konflikthafter psychosozialer Entwicklung ergründen und verste-
hen zu können.
Auf der anderen Seite müssen soziologische sowie (sozial-)
philosophische Erklärungen für die beobachteten Veränderungen
im Verhalten und Erleben heutiger Heranwachsender gefunden
werden. Haben wir es nun mit den psychosozialen Folgen der
Postmoderne24 im Sinne einer Auflösung des Sozialen zu tun?
Oder ist es die Mediengesellschaft durch ihre Überschwemmung
der Alltagswelten mit den visuellen und akustischen Inhalten der
Fernsehkanäle, der Videoclips oder der Computerprogramme?
Sind es die Mechanismen der „Risikogesellschaft“25 im Sinne von
„Individualisierung“ und „Enttraditionalisierung“ oder die Me-
23 Fend, H. (1990): Vom Kind zum Jugendlichen. Der Übergang und seine Risi-
ken. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Band I. Bern,
Stuttgart, Toronto 1992 (Nachdruck der 1. Aufl.) - Fend, H.: Identitätsentwick-
lung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in
beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen. Entwick-
lungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Band II. Bern usw. 1991
24 vgl. zur Postmoderne-Diskussion z.B. Lyotard, J.-F. (1979): Das postmoderne
Wissen. Wien 1994, 3. Aufl. - Habermas, J. (1985): Der philosophische Diskurs
der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 1993, 4. Aufl. - Haber-
mas, J.: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften. Frankfurt am
Main 1985 - Huyssen, A. & K.R. Scherpe (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines
kulturellen Wandels. Reinbek 1993
25 Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frank-
furt am Main 1986
29
chanismen einer hedonistisch orientierten „Erlebnisgesellschaft“26
im Sinne einer „Ästhetisierung der Lebenswelt“, die uns die an-
gewachsenen Problempotenziale beschert haben, vor denen wir
heute in den Schulklassen stehen?
Sind solche gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungs-
prozesse für die psychosozialen Besonderheiten der heute heran-
wachsenden Generation und damit für die Vielzahl an Verhal-
tensproblemen und Verweigerungsreaktionen (mit) verantwort-
lich zu machen? A. Honneth27 mahnt zur Skepsis gegenüber die-
sen und anderen kritischen Zeitdiagnosen: „Sie alle haben sich
schnell als Produkte einer Überverallgemeinerung von gesell-
schaftlichen Entwicklungen erwiesen, die nur eine beschränkte
Reichweite, sei es in historischer, sei es in sozialer Hinsicht, be-
sitzen.“ Was nach Auffassung von Honneth „im Augenblick tat-
sächlich ein Zentrum der sozialen Veränderungsprozesse aus-
macht“, ist der „Strukturwandel der Familie, als auch die erneute
Zunahme ökonomischer Armut.“28
Diese Faktoren bringen „die existentiellen Probleme zum Vor-
schein, mit denen die Subjekte heutzutage deswegen in wachsen-
dem Maße konfrontiert sind, weil sie infolge des beschleunigten
Individualisierungsprozesses nicht mehr wie früher in den kom-
munikativen Netzen einer gesicherten Lebenswelt Schutz suchen
können.“29 Dieser zuletzt genannte Aspekt ist wohl nicht zu un-
terschätzen. Man muss sich diese Formulierung wirklich einmal
genau vergegenwärtigen: ...in den kommunikativen Netzen einer
gesicherten Lebenswelt Schutz suchen können...
Die sich in der gesellschaftlichen Gegenwart herausbildenden
offeneren, dynamischen, sich ständig verändernden Lebensfor-
men sind vermutlich für die jungen Menschen nur noch dann
schadlos zu verkraften, wenn sie durch einige wenige, jedoch
äußerst stabile und zuverlässige Familienbeziehungen und/ oder
26 Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Ge-
genwart. Frankfurt am Main, New York 1993
27 Honneth, A.: Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose.
Frankfurt am Main 1994, S. 7
28 Honneth, Desintegration…, S. 90 ff.
29 ebd.
30
ergänzende Freundschaftsbeziehungen gehalten und gesichert
werden. Fehlen bereits in den allerersten Jahren positive Bin-
dungserfahrungen, wird jugendliches Leben unter den gegebenen
oftmals haltlosen Bedingungen störanfällig und auffällig. Die
bekannten Lern- und Verhaltensprobleme, Verweigerungsreakti-
onen, Versuche der Selbststabilisierung durch verstärktes Hinein-
gehen in teilweise delinquente, zumindest aber gesellschaftsab-
gewandte Peer-Kontexte oder Bandenaktivitäten sind dann sich
unvermeidlich einstellende Symptome.
Ein ständiges Diskussionsthema ist die Frage, welche Auswir-
kungen der angewachsene Medienkonsum auf das Verhalten und
Erleben der heutigen Heranwachsenden besitzt. Fernsehen, Com-
puter, Video, Playstation, Handy usw. sind zu äußerst dominanten
Elementen in den gegenwärtigen kindlichen und jugendlichen
Lebenswelten geworden. Diesbezügliche Schlagworte in der pä-
dagogischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion sind schon
seit langem „Konsumkindheit“, „Medienkindheit“30, „Fernseh-
kindheit“ (H. v. Hentig), „Fernsehsozialisation“31 oder das „Ver-
schwinden der Kindheit“ infolge des Fernsehens als „Medium der
totalen Enthüllung“.32
Die oftmals vor allem durch die Medien sozialisierten Heran-
wachsenden entwickeln selbstverständlich auch veränderte Er-
wartungen an Unterricht oder an eine sozialpädagogische Projekt-
arbeit. Die durch die gegenwärtige Mediengesellschaft fundamen-
tal anders gewordenen Wahrnehmungsweisen und Verarbeitungs-
prozesse bei den Kindern und Jugendlichen zwingen uns, anders
mit ihnen zu arbeiten. Auf ein sehr schlichtes, ja puristisches und
stilles didaktisches Vorgehen sprechen sie kaum noch, je nach
Kontext, auch gar nicht an. Wer wagt es heute noch, irgendein
pädagogisches oder unterrichtlichtes Programm anzubieten, ohne
gleich ein oder zwei Computer mit den entsprechenden Animati-
30 Baacke, D. (1984): Die 6 - 12jährigen. Einführung in Probleme des Kindesal-
ters. Weinheim & Basel 1992, 4. üb. und erg. Aufl., S. 72 ff.
31 Rolff, H.-G. & P. Zimmermann: Kindheit im Wandel. Eine Einführung in die
Sozialisation im Kindesalter. Weinheim & Basel 1985
32 Postman, N. (1982): Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main
1993, S. 97 f.
31
onen aufzustellen? Auch fordern Heranwachsende mit einer Ver-
haltensproblematik hier immer auch Unterhaltungs- und Entlas-
tungselemente ein. Ohne ein spannendes, bedürfnisgerechtes Pro-
gramm scheint sich die Motivation, insbesondere von stärker
konfliktbelasteten Kindern und Jugendlichen, kaum länger als ein
paar Minuten zu halten.
Es ist jedoch ein Trugschluss, zu glauben, dass es unsere Me-
thodik je mit den bunten und schillernden medialen Inszenierun-
gen, der Rhetorik der Showmaster des Fernsehens oder der flippi-
gen Animation in den Bildmedien aufnehmen könnte, oder dass
unsere Angebote so spannend sein könnten wie die Comics und
Actionfilme, die viele Kinder und Jugendliche oftmals schon vor
der Schule konsumieren. Die Mechanismen der Mediengesell-
schaft zu imitieren, hieße im übrigen auch, die Erziehung zu ei-
nem Anhängsel des trivialen und banalen Medienmarktes zu ma-
chen, sich vor den Karren der Vermarktung in weiten Teilen eher
Abstumpfung als Erkenntnis erzeugender medialer Materialien zu
spannen und somit den kritischen und emanzipatorischen An-
spruch, den Pädagogik und Didaktik auch haben sollten, aufzuge-
ben. Die meisten Kinder von heute sind medienübersättigt, ein
Phänomen, das sich heutzutage nahezu durch alle sozialen
Schichten zieht, in den Risikomilieus jedoch den allergrößten
Schaden anrichten dürfte, weil die Kinder und Jugendlichen dort
weniger Grenzsetzungen, Verarbeitungshilfen und alternative
kulturelle Orientierungen erhalten.
In den 1970er Jahren engagierte ich mich in der kirchlichen
Jugendarbeit auf einem Dorf im Südsauerland. Wir veranstalteten
etwa Filmabende, mit 16-mm-Projektor, und anschließender Dis-
kussion bei einer Tasse Tee. Ich erinnere mich noch an die Vor-
führung des Films „Die Brücke“. Und die Jugendlichen kamen.
Sie saßen zum Teil auf den Fensterbänken. Im Dunkel des hierzu
verwendeten Schulraumes war es mucksmäuschenstill. Man hörte
nur das gleichmäßige Rattern des Filmprojektors. Allein schon
die Ankunft der Filmrollen im Dorf war ein Ereignis und wurde
von Mund zu Mund bekannt gegeben.
Heute wäre dies alles nicht mehr denkbar. Filmbilder sind
massenweise verfügbar und damit inflationär entwertet worden.
32
Isoliert sitzen die Kinder und Jugendlichen, laden sich Filme aus
dem Internet herunter und schauen ihre DVDs an. Doch das sozi-
ale Setting, der kommunikative Zusammenhang, das suggestive
Ambiente eines gemeinschaftlich erlebten 16-mm-Film-Abends
mit Rattern und Knistern in der Dunkelheit, das alles ist nicht
mehr da. Die kulturellen Erfahrungen werden in der Gegenwart
nicht mehr unmittelbar miteinander geteilt und sie werden ent-
sinnlicht. Auch wird nichts mehr ersehnt oder lang erwartet, denn
es ist fast alles unmittelbar da und verfügbar. Stattdessen domi-
niert oft genug soziale Isolierung und Fragmentierung, ein wenig
aufgewogen durch die entsinnlichten Nähesubstitute des e-mail-
und SMS-Verkehrs, des Internetchattings usw.
Kommt es vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Verände-
rungen nun zu Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben von
Heranwachsenden, sagt dies vor allem aus, dass die jungen Men-
schen Symptomträger sind, was ja nur auf eine allgemeinere oder
fundamentalere Malaise verweist. In ihren Biographien spiegelt
sich nur das psychische und das soziale Allgemeine in zugespitz-
ter Form wider. In zusammengefasster Form lässt sich sagen:
Bildung im traditionellen geisteswissenschaftlichen Sinne, im
Sinne der Veredelung des Menschen durch bestimmte Kunster-
fahrungen, anhand einer ausgewählten Literatur usw., in dem
anfangs zitierten Beispiel festgemacht an „Rilke“ als einer didak-
tischen Inhalt-Ziel-Verbindung, ist offenbar den Lernvorausset-
zungen der hier exemplarisch durch B. Szillis-Kappelhoff be-
schriebenen Schülergruppe nicht (mehr) angemessen.
Sie geben sich auffällig oder bloß desinteressiert, indem sie
sich dem fremdbestimmten, für sie im Augenblick sinnlosen Un-
terrichtsinhalt, der offenbar ohne Bezug ist zu ihrer momentanen
Lebenslage, zu ihren aktuellen Lerninteressen und Bedürfnissen
nicht zuwenden wollen oder können. Die Schüler streifen eine
aufgesetzte, als inadäquat erlebte didaktische Hülle von sich ab,
da diese nicht zu ihren existentiellen Anliegen passt. Besonders
belastend für die Lehrkräfte ist nun, dass sich diese Befreiung als
Dekonstruktion geordneter und curricular legitimierter Lehr-Lern-
Prozesse vollzieht. Nicht ohne Grund wurde in unserem Beispiel
von der Lehrerin nach konfliktverursachenden und konfliktver-
33
schärfenden sozialen Veränderungen in den Lebenswelten der
Schülerinnen und Schüler gefahndet, ohne dass hieraus jedoch
eine didaktische Handlungskonsequenz gezogen worden wäre.
Was wäre anders, wenn sich die oben genannte Lehrerin an ei-
nem Bildungskonzept im Sinne der „kritisch-konstruktiven Di-
daktik“33 orientieren würde? Das heißt, wenn sie an der Vermitt-
lung von Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsfähigkeit so-
wie Solidaritätsfähigkeit orientiert wäre? Wie ließe sich denn der
Unterricht in diesem Sinne verändern oder umgestalten? Was
wären mögliche Inhalte und Methoden, um dieses Bildungsziel zu
erreichen? Ein Ansatzpunkt wäre zunächst in der Bearbeitung
schülerorientierter Themen zu sehen, die sich mit den „Schlüssel-
problemen der Gegenwart“34 vernetzen lassen.
Beginnt man etwa schülerorientiert bei „Jugendszenen“, „Me-
dienwelten“ oder „Videowelten“, lässt sich mit der Zeit überleiten
zu Schlüsselproblemen wie „Demokratisierung, Arbeit und Frei-
zeit, das Verhältnis der Generationen zueinander, Deutsche und
Ausländer in Deutschland, Massenmedien und ihre Wirkung,
menschliche Sexualität, das Verhältnis der Generationen zueinan-
der, traditionelle und alternative Lebensformen“ usw. Konfliktbe-
lastete Schüler werden, so meine Hypothese und zugleich meine
empirische Erfahrung aus vielen Jahren Lehrtätigkeit, anders auf
einen Unterricht reagieren, der ihre biographischen und lebens-
weltlichen Erfahrungen zu seinem Ausgangspunkt macht, und
dann, im zweiten Schritt, darüber hinausführt.
Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass damit alle Phänomene
umgangen oder vermieden werden könnten, die unseren Unter-
richt zu einem „gestörten Unterricht“35 werden lassen. Auch eine
lebensweltorientierte Erziehungshilfepädagogik ist ständig mit
Unregelmäßigkeiten und unvorhergesehenen Ereignissen oder
überraschendem Verhalten der Kinder und Jugendlichen konfron-
tiert. Nur, sie rechnet von Anfang an damit und akzeptiert diese
33Klafki, W.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur
kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim & Basel 1985
34 Klafki, Neue Studien..., S. 21
35 Winkel, R. (1976): Der gestörte Unterricht. Diagnostische und therapeutische
Möglichkeiten. Bochum 1993, 5. neu überarb. Aufl.
34
Dinge vielleicht eher als ihren unvermeidlichen pädagogischen
Alltag. Das hier zu entwickelnde und darzustellende Arbeitsmo-
dell für einen Unterricht oder eine sozialpädagogische Projektar-
beit mit Kindern und Jugendlichen, die Auffälligkeiten im Ver-
halten und im Erleben zeigen, bedarf deshalb einer Grundlegung,
die es der Pädagogin oder dem Pädagogen ermöglicht, trotz
schwieriger psychischer, sozialer und institutioneller Ausgangs-
bedingungen, Bildungsziele prinzipiell zu erreichen.
Benötigt wird daher eine Didaktik, und auch die sozialpädago-
gische Projektarbeit erfordert ja eine didaktische Konstruktion,
um thematische Auseinandersetzungsprozesse zu fördern, eine
Didaktik also, die sich primär an den Lebensproblemen der Her-
anwachsenden orientiert und erst in zweiter Linie Verhaltensprob-
leme oder Lernprobleme oder Verweigerungshaltungen fokus-
siert. Eine Pädagogik, die vor allem mit Phänomenen psychosozi-
aler Auffälligkeit konfrontiert ist, kann nicht umhin, sich auf die
häufig orientierungslos in gesellschaftlichen Zwischenwelten
treibenden jungen Menschen einzulassen, die konflikthaften Sei-
ten der oftmals verstörten, in Krisen geratenen Kinder und Ju-
gendlichen wahrzunehmen. Andernfalls liefe sie Gefahr, Chancen
zu verspielen und wirkungslos zu bleiben.
Diese Konflikthaftigkeit der Adoleszenten bleibt jedoch häufig
nicht nur von Seiten der Regelschulpädagogik unbeantwortet.
Auch Sonderschullehrer wissen oft nicht, ob sie und wie sie an-
hand von konflikthaften Themen auf Seiten ihrer Schüler Päda-
gogik oder Therapie betreiben müssen, sollen, dürfen oder kön-
nen.36 Auch in der Gegenwart scheint mir diese Frage keineswegs
geklärt, weder in der Theorie noch in der Praxis. Die allermeisten
Professionellen, gleichgültig, ob sie in der Theorie oder in der
Praxis tätig sind, wirken in diesem Punkt genauso ratlos, unent-
schlossen oder verunsichert, wie vor zwanzig Jahren. Ich vermute
daher, dass die rasant zunehmende Anwendung des Coaching in
vielen gesellschaftlichen Bereichen auch einen positiven Effekt
36 Fitting, K.: Sonderschullehrer zwischen Pädagogik und Therapie. Eine Studie
zur humanistisch orientierten Hochschulausbildung der Verhaltensauffälligen-
pädagogen. München 1983
35
für die besonders schwierigen pädagogischen Arbeitsfelder haben
wird, um die es mir hier geht.
Anders als Therapie ist Coaching näher an Konzepten wie
Karriere, individuelle Potenzialförderung, Ressourcenankopplung
usw. angesiedelt, worauf ja auch die hohe gesellschaftliche Ak-
zeptanz des Coaching beruht. Ein Coaching in Anspruch zu neh-
men ist für das Selbstbild (wie auch für das vermutete oder sorg-
fältig gehütete Fremdbild) völlig unproblematisch und ungefähr-
lich, im Gegenteil: Es gilt gar als vernünftig, seine kreativen Po-
tenziale und Leistungsressourcen weiterzuentwickeln. Auch redu-
ziert sich in Zusammenhang mit Coaching das Kompetenzprob-
lem, denn Sozialpädagogen, Diplompädagogen oder Sonderpäda-
gogen haben durch die angeeigneten Studieninhalte, die ja zu-
meist sehr stark kommunikative Prozesse, Themenbereiche wie
Konflikt, Verhalten usw. umfassen, sowie zusätzlich durch Pra-
xiserfahrungen im psychosozialen Bereich, häufig denkbar gute
Voraussetzungen, um im Sinne von Coaching tätig zu werden.
Eine ganze Reihe von renommierten Instituten bieten in der
Gegenwart Fortbildungen oder längerfristige Zusatzausbildungen
an, die größtenteils auch für Pädagoginnen und Pädagogen zu-
gänglich sind. Allerdings ist es so, dass die methodischen Tools,
die humanen Haltungen und Einstellungen usw., die im Coaching
Anwendung finden, zu weiten Teilen wiederum aus den therapeu-
tischen Sparten stammen. Diese Elemente sind für das Coaching
jedoch in der Regel modifiziert und komprimiert worden. Es gibt
also in der Tat, zwischen Coaching und Psychotherapie Über-
schneidungsflächen, dennoch ist ein tiefergehender therapeuti-
scher Prozess ganz anders aufgebaut, als ein lösungsorientiertes
Coaching.
Doch kommen wir noch einmal zu jener Kollegin aus der
Haupt- und Realschule mit dem zertrümmerten Klassenstuhl zu-
rück. Angenommen, diese Kollegin käme ihrerseits nun in ein
Coaching-Gespräch, was wäre darin eine mögliche Entwicklungs-
richtung? Gibt es auf Seiten dieser Lehrerin vielleicht Ängste
oder Blockaden, die eine konstruktive Veränderung der unpro-
duktiven Lern- und Arbeitssituation erschweren oder gar verhin-
dern? Was würde passieren, wenn die Kollegin die Heranwach-
36
senden stärker in ihrer individuellen Welt wahrnehmen würde, in
der sich besondere biographische Ereignisse abgespielt haben und
abspielen, die sich wiederum zu Konfliktthemen verdichten kön-
nen, die von einem Kind oder Jugendlichen auf eine mehr oder
weniger günstige Weise beantwortet werden? Erscheinen dann
nicht alle diejenigen Denkkategorien als verkürzend, in denen
sich der Blick allein auf eine Änderung gegebener Verhaltenswei-
sen richtet? Müssen wir den tatsächlichen Lebenserfahrungen der
Kinder und Jugendlichen in Krisen nicht einen gewissen Raum im
Bereich von Pädagogik und Didaktik zugestehen, damit diese sich
äußern und Klärungsprozesse in Gang kommen können?
Betrachten wir abschließend noch einmal Rilke, als einen klas-
sischen Bildungsinhalt. Muss er in Anbetracht des desinteressier-
ten und unmotivierten Lernverhaltens vieler heutiger Jugendli-
cher, die aus bildungsfernen Haushalten stammen, denn tatsäch-
lich aufgegeben werden? Vielleicht lassen sich die Rilkegedichte
auch anders erarbeiten. Möglicherweise lassen sich ganz spezifi-
sche verbindende Elementen zwischen Sache und Subjekt auffin-
den. Denkbar wäre etwa mit bestimmten Songtexten aus dem
jugendkulturellen Bereich zu beginnen, etwas was die Jugendli-
chen zur Zeit selbst hören und damit zur Verfügung haben und in
den Unterricht mitbringen können. Anschließend werden viel-
leicht anhand von Jugendzeitschriften Collagen angefertigt, die
mit den durch die Musik und die Songtexte gespiegelten Welten
in Verbindung stehen. Die pädagogische Aufgabe wäre dann, die
tieferliegenden Daseinsthemen der Jugendlichen mit diesen ge-
meinsam aus all diesen kulturell fundierten Prozessen herauszu-
arbeiten, dazu Mind Maps oder Wandzeitungen anzufertigen,
einen Aufsatz gemeinsam darüber zu verfassen, wenn individuelle
Textproduktionen noch zu schwierig sind.
Als nächstes könnte die Lehrkraft etwa als musikunterlegten
Sprechgesang präsentierte Rilkegedichte auszugsweise vorspie-
len. Bei dem von Schönherz & Fleer initiierten Rilkeprojekt37
singen oder sprechen unter anderem auch jüngere Stars wie Ben
37 Schönherz & Fleer: Rilke-Projekt I: “Bis an alle Sterne”, 2001; Rilke-Projekt
II: „In meinem wilden Herzen“, 2002, BMG Ariola Classics
37
Becker, Laith Al-Deen oder Cosma Shiva Hagen Rilkegedichte.
„Gib mir Liebe“, spricht Ben Becker. „Welche Wiesen duften
deine Hände? Fühlst du wie auf deine Widerstände, stärker sich
der Duft von draußen stützt [...] will ich dir mit meinen Zärtlich-
keiten alle Stellen schließen, welche schaun.“ „In meinem wilden
Herzen...“, singt Laith Al-Deen. „Und wie mag die Liebe dir
kommen sein? Kam sie ein Sonnen, ein Blütenschnein, kam sie
wie ein Beten? – Erzähle: Ein Glück löste leuchtend aus Himmeln
sich los und hing mit gefalteten Schwingen groß an meiner blü-
henden Seele...“, singt oder spricht Cosma Shiva Hagen. Werden
sich die Haupt- oder Sonderschüler da, nach den ersten unver-
meidlichen Protesten gegen alles Neue und Andere, noch ver-
schließen können? Wäre die künstlerische Leistung der Cosma
Shiva Hagen nicht ein brillantes pädagogisches Verbindungsstück
in die bildungsfernen Jugendmilieus hinein? Als nächstes lassen
sich die Jugendlichen vielleicht auch auf die musikalischen Ge-
dichtpräsentationen von Iris Berben, Hanna Schygulla, Rudolf
Mooshammer oder Mario Adorf ein.
Gehen wir einmal davon aus, dass die Lage in den Lerngrup-
pen derart verfahren ist, dass aufgrund der destruktiven und des-
organisierten Verhaltensweisen der Jugendlichen auf der didakti-
schen Ebene kaum noch etwas sinnvoll Zusammenhängendes
möglich ist, quasi jeder positive Impuls, jeder Versuch der Lehr-
kraft durch bizarres, negatives, chaotisches oder zerstörerisches
Schülerverhalten beantwortet wird, dann liegen weiterführende
und unterstützende Lösungsmöglichkeiten mitunter auf der Ebene
kollegialer Klärungs-, Verarbeitungs- und Unterstützungsprozes-
se, die „in der komplexen Situation des Klassenzimmers kaum zu
leisten“ sind: „Professionalisierung des Lehrerhandelns bei
schwierigen Kindern kann nur innerhalb eines Bezugsrahmens
gelingen, der außerhalb des Klassenzimmers liegt.“ 38 Ich würde
diesem Satz von Garz in seiner Ausschließlichkeit nicht ganz
zustimmen wollen, denn auch im Klassenzimmer können wir an
unserer Professionalisierung arbeiten, indem wir flexibel werden,
38 vgl. Garz, H.-G.: Sorgenkind Schule für Erziehungshilfe – Pädagogische und
psychologische Perspektiven zum Umgang mit schwierigen Kindern. In: Zeit-
schrift für Heilpädagogik, 55. Jg., H. 1, 2004, S. 17 – 23, hier: S. 21 f.
38
variabel arbeiten, die Dinge miteinander verknüpfen, gleichzeitig
im laufenden Lern- und Entwicklungsprozess mitschwimmen und
diesen zu steuern versuchen.
Ergänzend zu diesen internen didaktischen Variationen steht
jedoch unbestritten die von Garz gemeinte Professionalisierung
durch Reflexion und kollegiale Unterstützung außerhalb des
Klassengeschehens. Und je schwieriger es klassenintern zugeht,
desto wesentlicher ist die gemeinsame kollegiale Arbeit außer-
halb, um von dort aus dann neue Ansatzpunkte für Veränderun-
gen zu finden und in pädagogische Interventionen umzusetzen.
Dies kann geschehen in Form von pädagogischer Fallarbeit, Su-
pervision, kollegialer Beratung39 oder Qualitätszirkeln.40 Dabei
wäre es aus der Sicht von Garz besonders lohnend, einen Prozess
in Gang zu bringen, „in dem es einem Kollegium als Gruppe ge-
länge, in der Institution einen gemeinsamen Bezugsrahmen auf-
zubauen, innerhalb dessen es möglich wäre, nicht symbolisierte
Affekte in pädagogisches Handeln zu transformieren. Auf diese
Weise würde die Institution psychologisch-pädagogische Verant-
wortung im Sinne eines psychosozialen Containers (Bion) über-
nehmen.“41
Ich halte das auch für unverzichtbar. Nur so kann die einzelne
Lehrkraft die Last des von ihr persönlich Erlebten erleichtern, in
steter Bewegung bleiben, vor allem handlungsfähig bleiben. Die
den einzelnen Bänden dieser Trilogie angefügten Aufzeichnungen
zu einem Neuanfang an einer Schule für Erziehungshilfe in einer
deutschen Großstadt sollen unter anderem auch veranschaulichen,
was hier inhaltlich mit diesem schwer verdaulichen Belastungs-
material gemeint ist.
Personen in der Schulleitung haben in alldem eine Schlüssel-
rolle. Sie sind es, die den Rahmen für entsprechende Auseinan-
dersetzungsprozesse abstecken und absichern, die den einzelnen
39 vgl. Mutzeck, W. (1996): Kooperative Beratung. Grundlagen und Methoden
der Beratung und Supervision im Berufsalltag. Weinheim, Basel 1999, überarb.
40 z.B. Schnoor, H., M. Hergesell & B. Burghard: Qualitätszirkel an Schulen?
Wissenschaftliche Begleitung von Problemlösegruppen an einer Sonderschule
für Erziehungshilfe. VHN 72 Jg., 2003, H. 4, 331 – 341
41 Garz, Sorgenkind Schule für Erziehungshilfe..., S. 22
39
Lehrkräften den Rücken stärken und eine unterstützende kollegia-
le Kultur aufgrund ihrer (relativen) Machtposition am ehesten
fördern können.
SCHULDISTANZIERTES VERHALTEN
Ich kam zu verschiedenen Zeitpunkten mit dem Deutschen Verein
für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt am Main und
dem durch die Deutsche Bank Stiftung initiierten und geförderten
Modellprojekt „Coole Schule“ in beratender Funktion in Berüh-
rung.42 So ging das von mir entworfene Modell der Lebenswelt-
orientierten Didaktik in die Konzeptualisierung von „Coole Schu-
le“ ein. Später erstellte ich in Kooperation mit Karlheinz Thimm
Materialien, die in einen Leitfaden für die auf Reintegration zie-
lenden Projekte (an fünf verschiedenen Standorten in Deutsch-
land) eingespeist worden sind.
Der gemeinsame Text war dabei ein prozesshaftes Produkt,
das immer wieder neue Überarbeitungen erfahren hat und schließ-
lich in einer stark komprimierten Fassung als Handreichung in
das genannte Projekt eingegangen ist. Der Hauptakteur bei den
auf das Thema Schulverweigerung bezogenen Abschnitten war
zweifelsohne K. Thimm, der wie kaum ein anderer auf diesem
Gebiet ausgewiesen ist, während ich mich selber auf die Schwer-
punkte der Lebensweltorientierten Didaktik, der Didaktischen
42 Beratende Tätigkeit von J.B. bezüglich des Praxisforschungsprojekts „Coole
Schule. Lust statt Frust am Lernen“ für Schülerinnen und Schüler mit schulver-
weigernder Haltung, geplant und durchgeführt vom Deutschen Verein für öffent-
liche und private Fürsorge/ Frankfurt am Main und der Deutschen Bank Stif-
tung; unter anderem Einladung zum Experten-Hearing am 31.05.2002; Mitwir-
kung als Referent/ Moderator bei der Eröffnungsveranstaltung in Frankfurt,
Deutsche Bank, am 16.10.2002; Thema von Vortrag und Workshop: „Lebens-
weltorientierter Unterricht als eine Antwort auf Schulverweigerung?“ Ferner
beratende Tätigkeit bei der Erstellung von Leitfäden und Handlungsanleitungen
für die Mitarbeiter-/innen in den Projekten vor Ort; dies in Kooperation mit Dr.
Karlheinz Thimm von der Landeskooperationsstelle Schule-Jugendhilfe, unter
finanzieller Förderung der Kinder- und Jugendstiftung in Berlin.
40
Variationen und des Coaching im Rahmen der Reintegration kon-
zentrierte.43
Im Folgenden sollen in hochkomprimierter Form Forschungs-
befunde und Praxiserfahrungen zum Problemzusammenhang
Schuldistanz und Schulverweigerung in Erinnerung gerufen wer-
den, um die Ausgangslage, nämlich das Herausfallen aus dem
institutionellen Kontext der Schule, fachlich zu reflektieren und
von hier aus die Herausforderungen für alle am Reintegrations-
prozess Beteiligten darzustellen. Mich interessiert dabei stets die
Frage, wie geeignete didaktische Variationen aussehen können,
seien sie nun mehr an der Lebensweltorientierten Didaktik oder
an einem lösungsorientierten Coaching orientiert. Die Frage ist
doch, was diese didaktischen Variationen leisten können und was
sie den Heranwachsenden, deren Bildungsbiographien unter
Schulmüdigkeit, Schulaversion oder Schulverweigerung zu leiden
hatte, an neuen Ansatzpunkten bieten können?
Nehmen wir einmal den Begriff der Schulverweigerung als
Oberbegriff oder bloß als Arbeitsbegriff für alle diese verschiede-
nen Varianten und Steigerungsformen von Nicht-mehr-lernen-
wollen, so kann dieses Nicht-mehr-lernen-wollen oder Nicht-
mehr-lernen-können aktiv oder passiv, vermeidend oder flüch-
tend, kämpferisch-behauptend, verdeckt oder offen sein. Das ge-
samte Geschehen kann mit einem klaren auslösenden Punkt oder
Ereignis beginnen oder schleichend eskalieren. Es kann eine ge-
sunde Konsequenz darstellen oder selbstschädigend sein. Es kann
sich als klare Entscheidung oder als diffuser Sog manifestieren.
Es kann unlustgeprägt, lustbetont oder auch ambivalent sein.
Schulverweigerung und Schulaversion kann Hauptsymptom, Fol-
43 Thimm, K.: Schulverdrossenheit und Schulverweigerung. Phänomene, Hin-
tergründe und Ursachen. Alternativen in der Kooperation von Schule und Ju-
gendhilfe. Berlin 1998 - Thimm, K.: Schulverweigerung. Zur Begründung eines
neuen Verhältnisses von Sozialpädagogik und Schule. Münster 2000. Vgl. auch
die systematischen Überblicke von G. Schulze: Unterrichtsmeidende Verhal-
tensmuster. Formen, Ursachen, Interventionen. Hamburg 2003, von H. Ricking:
Schulabsentismus als Forschungsgegenstand. Oldenburg 2003 sowie G. Schulze
& M. Wittrock: Unterrichtsabsentismus. Ein pädagogisches Thema im Schnitt-
feld von Pädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik. In: VHN 73. Jg.,
282 – 290 (2004).
41
ge-, Begleit- oder Decksymptom sein für etwas Anderes oder
Dahinterliegendes.
Nachweisbar sind in der Mehrzahl der Ausstiege Entwicklun-
gen des Hineinrutschens von Schulunlust, zu passiven Formen
des inneren Ausklinkens (Schulmüdigkeit), über Stören und
punktuelles Schwänzen (Schulverdrossenheit) bis hin zur verfes-
tigten Schulaversion als Schulverweigerung. Legt man die Inten-
sität der inneren Entfernung und den Umfang von Abwesenheit
als Strukturierungsmerkmale zugrunde, sind die folgenden Ver-
laufsstadien und Gruppen zu unterscheiden:
Erstens: Jugendliche mit ersten Anzeichen wie Motivations-
verlust und innerer Emigration. Es werden zunächst Unterrichts-
stunden versäumt. Zweitens: Gefährdete Heranwachsende, die
innerlich schon aufgegeben haben und teilweise nicht mehr in die
Schule kommen. Drittens: Abgekoppelte oder Ausgestiegene, für
die außerschulische Maßstäbe stärkere Gültigkeit erlangt haben
und deren Selbstkonzept sich auf das von Nicht-Schüler-Sein zu
bewegt.
Schulverweigerung ist ein Prozess mit einer Vielzahl von Zwi-
schenetappen und möglichen Wendepunkten. Die isolierbare Ur-
sache, die wie der Blitz einschlägt und Wirkung erzeugt, gibt es
wohl eher selten. Zu unterscheiden sind durch Risikoeinflüsse
geprägte Ausgangsbedingungen, Anlässe sowie Folgewirkungen,
die neue Begünstigungsverhältnisse entstehen lassen. Jede Vari-
able wird von einer großen Zahl weiterer Faktoren beeinflusst und
beeinflusst selbst wiederum andere durch wechselseitige Auf-
schichtung und Verstärkung. Jeder Fall von Schulverweigerung
ist überdies anders, individuell und eigentümlich hinsichtlich der
Faktorenmischungen, des Gekoppeltseins an Lern- und/ oder
Verhaltensprobleme, der Verläufe, des Selbsterlebens, der Auf-
schließbarkeit für Alternativen.
Dabei ist jederzeit der Zusammenhang zwischen sozialer Be-
nachteiligung und psychosozialer Lebenssituation zu beachten.
Problemverdichtungsgebiete mit hohen Arbeitslosigkeitsraten und
vernachlässigter Infrastruktur strahlen auf Schule und Schulbe-
suchsverhalten besonders negativ ab. Junge Menschen, die hier
leben, fallen im jugendlichen Statusvergleich ab und verfügen
42
über geringere Entwicklungsmöglichkeiten und weniger Chancen.
In sozialen Brennpunkten wird häufiger und intensiver ge-
schwänzt und verweigert. Je stärker materielle, soziale, kulturelle
Armut und Wohnen in belasteten Gebieten, je mehr Chancenbe-
nachteiligung und in der Folge Schulmüdigkeit und Schulverwei-
gerung. In der Benachteiligungsperspektive ist Schulverweige-
rung vermutlich Begleiterscheinung von außerschulischer Unge-
wissheit, Chancenverlust oder sozialer Desintegration.
Im Wirkungsraum Schule zeigen sich die Symptome schuldis-
tanzierten Verhaltens häufig schon im Primarbereich. Frühe Sig-
nale sind problematische Lehrer-Schüler-Beziehungen, Ver-
spätungen, Störungen des Unterrichts, schulische Misserfolge,
schulische Überforderung, schlechte Noten, Nichtaufrücken, ver-
längertes Fehlen bei Bagatellerkrankungen, häufiges Fehlen we-
gen unspezifischer und wenig definierter Krankheiten bzw. Feh-
len im Anschluss an das Wochenende, soziale Isolation in der
Klasse, befriedigende bzw. bedeutsame Kontakte zu anderen
schuldistanzierten Schülerinnen und Schülern, Passivität im Un-
terricht, keine Mitarbeit, Freudlosigkeit, Niedergeschlagenheit
des Kindes oder Jugendlichen, soziales und kommunikatives
Ausweichverhalten, unzureichende bzw. keine Hausaufgabenan-
fertigung, Eltern, die nicht zur Sprechstunde kommen oder
schwer erreichbar sind oder den Kontakt zu Schule und Lehrkräf-
ten abblocken, Geschwister, die nicht regelmäßig bzw. erfolglos
in die Schule gehen.
Bei der Betrachtung der Rolle der individuellen schulischen
Entwicklung als Einflussvariable bzw. möglichem prognostischen
Faktor fällt auf, dass Probleme im Lern- und Leistungsbereich
nicht selten durch lange nicht wahrgenommene, nicht diagnosti-
zierte oder verdrängte Teilleistungsschwächen (Lese- oder Recht-
schreibschwächen, Aufmerksamkeitsdefizite, Störungen der Kon-
zentration usw.) mitbedingt sind. Solche verschleppten und nicht
rechtzeitig angegangenen Beeinträchtigungen der Lern- und Leis-
tungsfähigkeit sind ab einem bestimmten Zeitpunkt, bedingt
durch die Verfestigung der Symptomatik, nur noch in einge-
schränktem Maße zu bearbeiten. Vermutlich hätte hier eine früh-
zeitige Diagnose und eine rechtzeitig einsetzende Förderung die
43
dann aufgrund dieser Beeinträchtigungen einsetzende negative
schulische Entwicklung mildern können.
Zahlreiche Untersuchungen zum Thema Schulverweigerung,
ich verweise hier der Kürze wegen erneut auf die sehr weit gefä-
cherten und systematischen Darstellungen und Literaturüberbli-
cke von K. Thimm und Gisela Schulze, benennen als mehr oder
weniger zentralen Risikofaktor konfliktreiche, wenig konstruktive
Lehrer-Schüler-Beziehungen, was mich darin bestärkt hat, das
Hauptkapitel „Beziehungsaufnahmen“ mit besonderer Gründlich-
keit, gerade im Hinblick auf das Verweigerungsthema auszuarbei-
ten. Sinkt zudem die Lehrerkontrolle, steigt das unentschuldigte
Fehlen. Die Lehrerkontrolle ist allerdings signifikant wirksamer
bei von gegenseitiger Akzeptanz geprägter Lehrer-Schüler-
Beziehung sowie einem als positiv erlebten Schulklima.44 Das
Wohlbefinden an der Schule ist ein starker Vorhersagefaktor für
eine aktive Teilnahme am Unterricht, für die Ausschöpfung des
Leistungsvermögens, ein geringeres Ausmaß an psychischen Be-
lastungen und für die Ausprägung von Lernmotivation bzw.
Schulunlust.45
In der Auswertung verfügbarer Studien zeigt sich: Dramatisch
gefährdet sind Schülerinnen und Schüler, denen Bindung zu
Lehrkräften und Mitschülern fehlt (was vermutlich auf noch frü-
her liegenden Bindungsdefiziten im Bereich der familiären Be-
ziehungen aufbaut) und die unter einem Mangel an Integration in
ein prosoziales Klassen- und Schulleben leiden, die nicht aktiv an
Schule partizipieren und von Schule nicht profitieren, die dann in
der Folge nicht an den persönlichen Nutzen von Schule glauben.
Vor dem Hintergrund aktueller Untersuchungen46 und theoreti-
scher Bestandsaufnahmen zum Thema Schulverweigerung ist
davon auszugehen, dass sich Schwänzen, Stören, Schulverweige-
rung in einem Risikofünfeck entwickeln.
Erstens: Das intensiv ausgeprägte Bedürfnis nach Unterstüt-
zung und Beachtung in der Beziehung zu den Lehrkräften bleibt
44 Wilmers, N. &. W. Greve: Schwänzen als Problem. Report Psychol. 7, 2002
45 Kirsch, B. & S. Drössler: Schulunlust beim Übergang von der Grund- in die
weiterführende Schule. Potsdam 2002 (hektographiertes Manuskript)
46 vgl. insbesondere K. Thimm, Schulverweigerung, 2000
44
unerfüllt. (Diese Bedürfniserfüllung müsste vermutlich hier über
das rollenbedingt Übliche einigermaßen weit hinausgehen. Zu-
mindest wird dies von vielen Heranwachsenden mehr oder weni-
ger offen oder versteckt bis unbewusst erwartet. Hieraus ziehe ich
für die pädagogische Beziehungsgestaltung die Konsequenz, dass
gefährdete Kinder und Jugendliche in erster Linie wertschätzende
Beachtung benötigen und erst in zweiter Linie inhaltliches Ler-
nen.)
Zweitens: Die personale Identität der Schülerinnen und Schü-
ler korrespondiert positiv mit Wertschätzung, Achtung, Würde
und Respekt. Schulschwänzer und Unterrichtsverweigerer erleben
jedoch (subjektiv) überdurchschnittlich viele Schikanen, Unge-
rechtigkeiten oder erhöhten Druck. Diese Bedrohung ihrer Identi-
tät kann über Angst und/ oder Widerstand zu Schulverweigerung
führen, indem Botschaften der Unterrichtenden, die als Wegwün-
schen interpretiert werden, aufgenommen werden.
Drittens: Anstelle der Befriedigung ihres Bedürfnisses nach
Erfolg, Gelingen und Selbstwirksamkeit beim Erbringen schuli-
scher Leistungen erleben schuldistanzierte Kinder und Jugendli-
che vielfach geradezu das Gegenteil, nämlich Misserfolg, Versa-
gen, Spott, Blamage, Druck oder Gleichgültigkeit von Seiten der
Eltern.
Viertens: Anstatt Zugehörigkeit und Sicherheit als Vorausset-
zung, um vertrauen zu können und sich innerlich entspannt zu
fühlen, erfahren schulverdrossene Heranwachsende oft Ableh-
nung, Ausgrenzung, Randständigkeit.
Fünftens: Dem Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit kann die Erfah-
rung von Sinnlosigkeit des Schulbesuchs angesichts von Misser-
folgen, negativen Beziehungserfahrungen bzw. der Perspektivlo-
sigkeit, eventuell keinen Schulabschluss zu bekommen, entgegen-
stehen. Wenn die Jugendlichen nicht wenigstens punktuell Ni-
schen finden, in denen schulisches Leben für sie irgendeinen,
wenn auch nur inoffiziellen oder informellen Sinn hat, steigt das
Risiko der Abkopplung.
Schulverweigerung entsteht nicht selten auch durch Aus-
schlüsse, auch wenn diese aus nachvollziehbaren Gründen erfol-
gen, in Zusammenhang mit destruktivem Verhalten, oftmals gar
45
zwingend erscheinen, etwa um Grenzen zu setzen, Leib und Le-
ben von Kindern und Jugendlichen (oder Lehrkräften) zu schüt-
zen, einen halbwegs geordneten Unterrichtsablauf zu gewährleis-
ten usw.
Die Schule erlebt sich dem Elterndruck ausgesetzt, sie möge
möglichst konflikt- und störungsfrei leistungsorientiert arbeiten
und ein Höchstmaß an Qualifizierung für die Lebens- und Be-
rufswege der bildungswilligen Schülermehrheit erreichen.
Lehrkräfte werden zugleich heutzutage, durchaus in der Breite,
mit unmotivierten und rebellischen Schülerinnen und Schülern
konfrontiert. Hinzu kommt, dass in der subjektiven Wahrneh-
mung vieler Lehrkräfte der Lehrplan häufig nicht geschafft wird.
Hier könnte bereits ein Coachingprozess ansetzen, vielleicht mit
dem Lösungsansatz, weniger auf einmal zu wollen, stärker
exemplarisch zu arbeiten, was sich ja unter Hinweis auf die hoch-
angesehenen didaktischen Entwürfe von Klafki oder Wagen-
schein durchaus rechtfertigen ließe und insgesamt die Dinge in
Ruhe nacheinander anzugehen. Das Gefühl und Selbstbild, eine
kompetente Lehrkraft zu sein, ist generell oft, in der subjektiven
Sicht, dadurch gefährdet, kaum noch etwas im Griff zu haben,
eine Problematik, an der sich etwas verändern lässt.
Der Coach, der mit einer Lehrkraft, die diese Wahrnehmungen
hat, arbeitet, könnte etwa die Frage aufwerfen, ob es wirklich
darum gehen kann, das gesamte Geschehen in der Lerngruppe
oder Klasse im Griff zu haben?
Die Lehrkraft könnte einmal dazu angehalten werden, genau
zu überprüfen, wofür sie eigentlich im institutionellen und im
pädagogischen Sinne tatsächlich verantwortlich ist? Wird nicht
oftmals auch Verantwortung übernommen, die eigentlich die
Kinder und Jugendlichen selber oder aber deren Eltern zu tragen
hätten? Oder besteht auf Seiten einer Lehrkraft eventuell Angst
vor offenen und unabgeschlossenen Situationen?
Warum fällt es vielen so schwer, mit Ungelöstem, Fragment-
haftem, Widersprüchlichem, Unvollständigem, Bruchstückhaf-
tem, Diskontinuierlichem usw., was ja am Rande des Bildungs-
systems zunehmend die Regel ist, umzugehen und zu leben? Dies
kann sich auf die Aufgabenbearbeitung der Lernenden, die Ver-
46
fügbarkeit von Lern- und Arbeitsmaterial, die unterrichtliche Mit-
arbeit, den pädagogischen Beziehungsaufbau usw. beziehen.
Müssen wir nicht zunehmend mit dieser Brüchigkeit und Frag-
menthaftigkeit im pädagogischen Feld leben lernen, auch mit der
Tatsache, nicht alles im Griff zu haben? Ist diesbezüglich die
Grenze erreicht oder gar schon überschritten, folgt die Abgabe
von Zuständigkeit. Die Zuflucht zum Woanders als bessere Al-
ternative liegt als entlastendes Konzept nahe.
Im Prozess des Herausschlitterns oder der Ausgrenzung sind
oft folgende Stufen im Nachhinein festzustellen: Selektive, nega-
tive Wahrnehmung des jungen Menschen. Die Lehrkraft hat den
Jugendlichen eventuell auf dem Kieker. Es dominieren Zurecht-
weisungen und Tadel. Schnelles Abwenden nach einer Kontakt-
aufnahme oder nach verhaltensbezogenen Interventionen signali-
siert dem Jugendlichen vielleicht Unerwünschtheit.
Die Bereitschaft der Lehrkraft zu Geduld, Milde, Verzeihen
wird geringer. Es geraten immer stärker die Defizite des Jugendli-
chen in den Blick. Der Umgang mit ihm oder ihr wird auf den
Zweck der Verhaltensänderung fixiert und reduziert. Auf dem
Weg der Ursachenzuschreibung blendet die Lehrkraft vielleicht
die Situationsgegebenheiten aus, in denen der oder die Jugendli-
che sich befindet und schreibt die Ursache des Verhaltens den
Persönlichkeitseigenschaften des jungen Menschen zu.
Es kommt zu einer Abschmelzung des Prinzips Hoffnung.
Dieser Schritt geht einher mit der prognostischen Behauptung der
Aussichtslosigkeit und Sinnlosigkeit von pädagogischem Enga-
gement in einem speziellen Fall, eben wegen des Nichtfruchtens
der Bemühungen: Er oder sie ist unverbesserlich und nicht mehr
zu retten und zu halten. Es kommt zu Prozessen der inneren Ent-
fernung und Entfremdung. In der Kappung des letzten Restes an
Verbindung, soweit diese noch bestanden hat, entsteht die emoti-
onale Basis bei der Lehrkraft, den Jugendlichen oder die Jugend-
liche als unerträglich zu empfinden.
Auch überfordernde Aufgabenstellungen können im Prozess
der Entfremdung des Lernenden von der Institution Schule eine
Rolle spielen. Die Orientierung am Lehrplan, den Lernzielen und
den damit verbundenen Leistungskontrollen (neuerdings auch
47
Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebungen usw.) kann zu einer
Überforderung der Heranwachsenden führen, ohne dass sich die
Lehrkräfte dessen bewusst sind. Je mehr Druck erzeugt wird,
desto mehr nehmen Fehlverhalten, Opposition gegen die Autorität
und die Ausnutzung jeder Schwäche der Lehrkraft zu. Gerade
wenn die Pädagoginnen oder Pädagogen selbst erregt, resigniert,
müde oder ausgelaugt sind (was in Anbetracht vieler Arbeitskon-
texte ja nur folgerichtig und nachvollziehbar ist) und der innere
und äußere Druck dazu führt, Schülerhandlungen unterbinden zu
müssen, werden die Bewegungsspielräume für die Lehrkraft en-
ger und enger.
Auch eine angeforderte Hilfe von außen muss nicht immer zu
einem befriedigendem Ergebnis führen, da alle Versuche auch zu
dem Ergebnis führen können: Niemand will oder kann mehr, und
dass, obwohl alle Beteiligten nichts unversucht gelassen haben.
Es wird möglicherweise auf die Chronologie und Logik von Un-
beschulbarkeit verwiesen. Im Mittelpunkt dieses Stadiums steht
der Zweck der Entlastung von Schuld- und Unzulänglichkeitsge-
fühlen. Wer das Stigma des schon einmal der Schule verwiesenen
Jugendlichen mitbringt, wird vielleicht noch weniger gehalten.
Die Lerngeschichte wird in einem solchen Falle leichter auf einen
roten Faden der Abweichung und des Scheiterns reduziert: Der
oder die Jugendliche war immer schon schwierig und es liegt in
seiner oder ihrer eigenen Verantwortlichkeit, anders zu sein. Die
Zielverfehlung wird dann als (weiterer) Beweis für letztlich unbe-
einflussbare Schwächen oder Defizite genommen.
Häufig ist auch das Zusammenspiel von Fremd- und Selbst-
ausgrenzung zu beobachten. Aus Wegwünschen entwickelt sich
möglicherweise Hinausekeln, so dass indirekt eine entlastende
Selbstausgrenzung des Jugendlichen erreicht wird. Beim Zuspät-
kommen sind die Türen verschlossen. Bei Gruppeneinteilungen
kommentiert die Lehrkraft mit: „Ach, du auch noch?!“ Blamagen
an der Tafel werden inszeniert. Rausstellen wird Regelinstrument.
Erst wird stundenweise beurlaubt, dann tage- und wochenweise.
Hier müsste ein Lehrercoaching bereits ansetzen und Handlungs-
fähigkeit auf alternative, vielleicht konstruktivere Weise sichern.
Verdeckt beabsichtigt ist, so räumen Lehrkräfte rückblickend oft
48
ein, dass diese Schülerinnen und Schüler von sich aus, aus ihrer
Entscheidung heraus nicht (mehr) kommen.
Es kommt zum Abbruch. Der Jugendliche passt nicht zu uns.
Er ist falsch hier. Oder: Wir, das heißt unsere Schule, passen
nicht zum Jugendlichen. Weiteres Scheitern ist vorprogrammiert,
wenn Aufnahmen in eine andere Klasse, an eine neue Schule, die
Eingliederung also, widerwillig, lieblos, ohne echte Anstrengung
erfolgen. Hinzu kommt erschwerend, dass sich abgeschoben füh-
lende Jugendliche oft so auftreten, dass sie alle Sympathien ver-
spielen. Sie finden letztlich keinen Fürsprecher mehr, weil sie
über keinerlei Geschick verfügen, wie man sich bei Lehrkräften
ein Minimum an Wohlwollen verschafft.
Die Jugendlichen sind selbstverständlich nicht passive Opfer,
sondern zum Teil auch Aktivisten der negativen Eskalation. Sie
heizen Situationen allerdings nicht aus freien Stücken an, sondern
weil sie das wiederholen, was mit ihnen geschah oder weil die
Flucht nach vorne ihre einzige Überlebensstrategie ist. Bei Her-
anwachsenden, die etwa im Frankfurter Straßenmilieu leben,
zeigte sich als Schlüsselszene für den Ausstieg der Abbruch schu-
lischer Kontakte, „bedingt durch Schwänzen, Rauswurf“.47
Fragt man ehemalige Schulschwänzer an ihren Lernorten in
der Jugendberufshilfe48, erfährt man rückblickend, was ihnen
fehlte bzw. was sie gerade auch von Lehrerinnen und Lehrern
brauchten: Freundlichkeit und Freundschaftlichkeit, gemeinsame
Lösungssuche, Hinterherlaufen, angepassteres Lerntempo, infor-
melle Beziehungsseiten, mehr lebenspraktisches und handwerkli-
ches Lernen. Rückblickend sehen sich viele Jugendliche als
„leichtsinnig“ bzw. „faul“.49 Viele wünschen sich retrospektiv,
dass ihre Ausweichstrategien von den pädagogischen Bezugsper-
sonen nicht widerstandslos hingenommen worden wären.
47 Kilb, R. & P. Heemann: Entwicklung des Straßenlebens von jungen Erwach-
senen, Jugendlichen und Kindern am Beispiel Frankfurt am Main. In: Lutz, R. &
B. Stickelmann (Hrsg.): Weglaufen und ohne Obdach. Kinder und Jugendliche
in besonderen Lebenslagen. Weinheim 1999, S. 185 - vgl. auch Marquardt, A.:
Zwischenwelten. Münster 2001, bezogen auf das Hamburger Straßenleben
48 Althans, B. u.a.: Lernangebote in der Jugendberufshilfe. In: Neue Praxis 4,
1996, S. 352 ff.
49 Althans, Lernangebote..., S. 355
49
Diese Befunde haben fundamentale Konsequenzen für päda-
gogische Settings und Strategien, die der Reintegration von Jun-
gen und Mädchen mit schulverweigerndem oder schulaversivem
Verhalten, aber auch der Prävention von Schulausstiegen dienen.
Es zeichnet sich die Notwendigkeit einer pädagogischen Doppel-
strategie ab. Auf der einen Seite benötigen gefährdete Schülerin-
nen und Schüler emotionale Zuwendung, persönliche Ansprache
und besondere Motivationsanstrengungen, vielleicht auf die For-
mel Bindung zu bringen, auf der anderen Seite haltgebende und
verbindliche Strukturen, zusammengefasst in der Formel Konse-
quenz.
Auch der Wirkungsraum Familie weist im Kontext von Schul-
verweigerung eine eigentümliche Dynamik auf. Sowohl sozio-
ökonomisch und soziokulturell belastende Faktoren, als auch eine
ungünstige familiale Entwicklung und Dynamik können schuldis-
tanziertes Verhalten der Kinder auslösen bzw. mitbedingen.
Schuldistanz ist so gesehen Folgesymptom, eher eine Auswirkung
familiär bedingter Lebens- und Entwicklungsschwierigkeiten.
Einzelfalluntersuchungen zeigen, dass in Verweigerungskontex-
ten besonders häufig psychosoziale Probleme anzutreffen sind
wie der Verlust elterlicher Bezugspersonen durch deren Tren-
nung, Todesfälle oder Inhaftierung, psychische Probleme der
Eltern, Rhythmusstörungen in der Tagesstrukturierung, unange-
messene Einbindung der Kinder in die häusliche Versorgung,
sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt oder Sucht in der Fami-
lie. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass hier eine erhebliche
Überschneidung des Problemkreises Schulverweigerung mit dem
Problemkreis Verhaltensauffälligkeit besteht, auch wenn beide
Bereiche keineswegs als deckungsgleich anzusehen sind.
Starke Schwänzer sind offenbar vier Mal häufiger Zeuge ge-
waltsamer Auseinandersetzungen der Eltern oder Lebenspartner
bzw. Opfer elterlicher Züchtigung, als Heranwachsende aus einer
Vergleichsgruppe.50 Beim Gelegenheitsschwänzen gibt es nur ein
schwaches Plus von Kindern aus Ein-Eltern-Familien. Der nega-
50 Wilmers, & Greve: Schwänzen als Problem...
50
tive Begünstigungszusammenhang steigt aber beim Gewohnheits-
und Massivschwänzen auf das Drei- bis Fünffache.51
Fehlende elterliche Schulakzeptanz, gar eine elterliche Schul-
aversion rühren oft aus eigenen missglückten Schulkarrieren.
Nicht selten resignieren Eltern, die den Einfluss auf ihre Kinder
verloren haben. In vielen Einzelfällen zeigen sich als Schuldistan-
zierung fördernd elterliche Kontrollschwächen, mangelnde Unter-
stützung der Kinder, Orientierungsmängel durch ungünstige oder
fehlende Grenzsetzung, bildungsferne elterliche Rollenmodelle.
In der Außenbewertung hinderliche Erziehungsstile sind etwa
hilflose Bagatellisierung der schulischen Misserfolge und Frustra-
tionen; Totalfreisprechung der eigenen Kinder mit Schuldzuwei-
sung an die Schule; Autoritätslücken bis hin zum Rollentausch,
bei dem plötzlich die Jugendlichen den Eltern gegenüber den Ton
angeben; starke Unstetigkeit und Unberechenbarkeit im elterli-
chen Handeln und, nicht zuletzt, ein wenig einfühlender restrikti-
ver, vor allem durch Druckausübung gekennzeichneter Erzie-
hungsstil, oftmals gekoppelt an Phasen des Laissez-faire.
Praxisbefunde deuten darauf hin, dass elterliches Interesse,
emotionale und praktische Unterstützung und Kontrolle sowie ein
guter Familienzusammenhalt positiv mit Anwesenheit, Schuler-
folg und Schulzufriedenheit der Kinder zusammenhängen. Als
Wirkfaktoren, die überwiegend in der Lerngruppe oder in jugend-
kulturellen Kontexten oder Cliquen angesiedelt sind, gelten unge-
löste Konflikte mit Mitschülern, Gewalterfahrungen, soziale Iso-
lation, Hänseleien. Demgegenüber steht dann, quasi kompensato-
risch und stabilisierend der Zusammenhalt in der Clique, wobei
Schuldistanz auch als Loyalitätsthema dienen kann, dass die
Gruppe der Gleichaltrigen zusammenschweißen soll.
Zumindest anfangs eröffnen sich in den Gruppen der Gleich-
altrigen und Gleichgesinnten reizvolle alternative Erlebniswelten
und Identifikationsmöglichkeiten, die dann die schulische Lan-
geweile und die frustrierenden Lernerfahrungen aufwiegen sollen.
Etwa die Hälfte der stärkeren Schwänzerinnen und Schwänzer
51 vgl. Puhr, K. u.a.: Pädagogisch-psychologische Analysen zum Schulabsentis-
mus. Halle 2001
51
wird als cliquenorientiert eingeschätzt.52 Jeder vierte Schwänzer
wird von einer Gruppe von Schulsozialarbeitern in Mecklenburg-
Vorpommern und von Magdeburger Lehrkräften der Rubrik „Au-
ßenseiter/ sozialer Rückzug“ zugeordnet. Etwa zehn Prozent aller
Schülerinnen und Schüler und zehn bis zwanzig Prozent der
Schwänzer sind vermutlich Opfer von Gewalt oder Bedrohung.
Jedenfalls gilt der Verlust des Bezugsmilieus der tendenziell
regelkonformen schulischen Gleichaltrigengruppe als hochris-
kant. Oft lautet der Teufelskreis: geringe Schulmotivation, feh-
lender Glaube an die eigene Wirksamkeit, geringes Engagement,
Misserfolgserleben, kein persönlicher Nutzen, noch geringere
Schulmotivation usw. Schulverweigerung ist oft auch ein Prob-
lem fehlender personaler und sozialer Bewältigungsstrategien von
Belastungen. Bezüglich der Variable Selbstkonzept lässt sich für
etwa 50 Prozent der starken Schwänzer tendenziell ein eher nied-
riges Selbstkonzept mit Unwirksamkeits- und Misslingensfokus
sowie ein eher niedriger Rangstatus in der Klasse vermuten.53
Angstthematisch scheinen im Kontext von Schulverweigerung
eine Rolle zu spielen, ohne dass es dazu endgültige Zahlen gibt,
soziale Ängste wie Wettbewerbs-, Präsentier- und Stigmatisie-
rungsangst, Lern- und Leistungsversagensangst, Angst vor Lehr-
kräften, Institutionsangst und Zukunftsangst. Aus diesen Befun-
den ist bereits abzuleiten, dass die pädagogischen Bemühungen
um Schulverweigerer in jeder Weise haltgebend und auf gar kei-
nen Fall repressiv sein dürfen. Denn wer ohnehin zu Ängsten
neigt oder wenig motiviert ist, wird bei einer Erhöhung des insti-
tutionellen Drucks erst recht wegbleiben oder aus dem Felde ge-
hen.
Praxisschilderungen belegen, dass bei den Jugendlichen, die in
Projekten für Schuldistanzierte lernen, sich biographische Erfah-
rungen in Form von personalen Dispositionen ablagern, die die
Lebensbewältigung und schulische Bewährung erschweren. Typi-
sche Merkmale im Geflecht von Ursachen und Wirkungen sind
häufige Erfahrungen von Nicht-Gelingen und Nicht-Genügen mit
52 vgl. Wittrock, M. &. G. Schulze: Schulaversives Verhalten. Rostock 2001
(hektographiertes Manuskript)
53 Wittrock & Schulze, Schulaversives Verhalten, 2001
52
der Folge eines Misserfolgs-Selbstkonzeptes mit sehr geringem
Selbstwertgefühl, was häufig durch oberflächlich imposantes oder
besonders cooles Auftreten verschleiert wird. Unter dieser Ober-
fläche zeigt sich nämlich häufig ein hohes Maß an Irritierbarkeit,
Kränkbarkeit, Verletzbarkeit sowie eine negative emotionale
Grundstimmung, die geprägt ist durch Ängste, depressive Tönun-
gen, Gefühle von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, stark
wechselnde Stimmungen und emotionale Labilität.
Weiter zeigen sich bei den Verweigerern, gleichgültig, ob es
sich mehr um die Variante des Wegbleibens oder die Variante des
Kommens und Störens handelt, eine geringe Frustrationstoleranz,
ein verschüttetes Interesse an der eigenen persönlichen Entwick-
lung, aggressives Verhalten oder Rückzugs- und Isolationsten-
denzen, geringe Konfliktfähigkeit und die Abwehr der Verant-
wortung für das eigene Verhalten. In diese Aufzählung gehört
ferner häufig eine schwach ausgeprägte Selbstdisziplin, eine ge-
nerelle Antriebsarmut, Passivität, fehlende Lernmotivation und
geringe Anstrengungsbereitschaft. Dies alles begegnet uns häufig
im Verbund mit Schwierigkeiten in der Selbstorganisation.
Als Praktiker mag es einem schon mulmig werden, wenn man
sieht, wie viel hier an Potenzial blockiert ist und wie viel Geduld,
Zuspruch und Fingerspitzengefühl gefordert ist, um die Jugendli-
chen überhaupt noch zu erreichen. Besonders schwierig wird es,
wenn sich entwicklungstypische Autoritätsprobleme verfestigen
oder gar hochschaukeln, wenn zur Kompensation all der genann-
ten Schwierigkeiten die Grenzüberschreitung, das große Abenteu-
er oder der ultimative Kick gesucht werden. Die pädagogische
Imagination und Zugkraft muss es mit teilweise sehr düsteren
Zukunftsbildern der Jugendlichen selbst aufnehmen.
Als wesentliche Entwicklungsaufgabe stellt sich, dass die Her-
anwachsenden Strategien entwickeln, belastende Situationen aus-
zuhalten, sie zu managen, anstatt sich den gestellten Anforderun-
gen zu entziehen und die Auseinandersetzung mit Problemen zu
vermeiden. Was bewegt schuldistanzierte Schülerinnen und Schü-
ler in ihrer Selbstthematisierung? Stunden- und Tagesschwänzer
äußern als Auslöser ihres Schwänzens, wobei verschleiernde Ra-
tionalisierungen, gar eine Art Motivveredelung, eine Rolle spielen
53
können: Die Erwartung von Langeweile, drohende Leistungskon-
trollen, Konflikte mit Lehrkräften oder anderen Schülern im Un-
terricht.
Bezüglich des Lebens außerhalb der Schule sind offenbar aus-
schlaggebend die Animation durch Gleichaltrige, das Verschlafen
der ersten Stunden, das Verdienen von Geld, oftmals auf illegalen
Wegen, beim Freund oder der Freundin sein zu können. Fragt
man die jungen Menschen, wie sie sich ihre Abkopplung erklären,
würde jedoch kaum ein Schulverweigerer seine Eltern und die
familiäre Situation als Verursachungsbereich nennen. Ebenso
selten würde eine Lese-Rechtschreib-Schwäche als Grund von
ihnen benannt werden, auch wenn diese womöglich schwer wiegt
und vom Jugendlichen etwa aggressive Verhaltensausbrüche bei
Klassenarbeiten inszeniert werden, die dann zum Rauswurf aus
der Klasse führen sollen, nur um letztlich die immer gravierender
werdenden Defizite auf dem Gebiet der Schulleistung zudecken
zu können. Geäußert werden oft Anlässe, weniger komplexe und
vorbewusste Hintergründe. Die eigenen Eltern werden nicht un-
bedingt belastet, außer, und hier gehe ich einmal von meinen ei-
genen Erfahrungen aus den Sonderschulen aus, wenn es sich um
ganz gravierende Misshandlungserfahrungen handelte.
Empfunden werden solche, um das Verweigerungsthema krei-
sende Motivationen von den jungen Menschen oftmals als Null
Bock, Langeweile oder als Beziehungsproblem mit Lehrkräften.54
Jugendliche Selbstauskünfte sind ernst zu nehmen, auch wenn sie
noch so subjektiv oder wenig nachvollziehbar erscheinen. Viele
junge Menschen wissen vor allem in der Deutung der schulbezo-
genen Lage, in Ansätzen durchaus, was ihnen fehlt und was sie
brauchen. Aber diese Klarsicht betrifft nur eine Medaillenseite.
Andere Hintergründe und Motive müssen entdeckt, herausgele-
sen, erschlossen werden, was ich inzwischen insbesondere zu-
nehmend unter Rückgriff auf recht vielversprechende Coaching-
Tools55 versuche.
54 Uhlig, S.: Handlungsstrategien im Umgang mit Schulverweigerung – Versuch
einer Systematisierung. In: Simon, T. & S. Uhlig (Hrsg.): Schulverweigerung.
Muster – Hypothesen – Handlungsfelder. Opladen 2002
55 z.B. Rauen, C. (Hrsg.): Coaching-Tools. managerSeminare Verlag 2004
54
Schule verweigerndes Handeln ist subjektiv ein Probleme lö-
sendes Handeln, auch wenn dadurch erst einmal neue Probleme
heraufbeschworen werden. Erleben Jugendliche diese Art von
Bewältigung als passend, lohnend, spannungsmildernd, als ver-
bindend und statussteigernd in Peer-Kontexten oder als erfolg-
reich bei der Angstbewältigung, kann aus Schulunlust Schul-
müdigkeit und schließlich auch Schulverweigerung werden. Ab-
schalten, sich ausklinken, sich müde stellen, desinteressiert sein,
sich krankschreiben lassen, vermeiden, weglaufen, sich demonst-
rativ verweigern, diese evasiven und eskapistischen Strategien
erscheinen als die weniger schädliche oder einzig mögliche Alter-
native. Fatal ist, wenn sich der Bruch mit der Schule als weiteres
Glied in einer Kette nicht gelungener Bearbeitungsversuche von
Anforderungen darstellt und schließlich Endgültigkeit bekommt.
SCHULMÜDIGKEIT BEI HOHER INTELLIGENZ
Es ist interessant zu sehen, dass jetzt zu Beginn des dritten Jahr-
tausends, ausgelöst durch die PISA-Studie, mit der Hochbegab-
tenförderung ein Thema erneut auf die pädagogische Tagesord-
nung kommt, das bereits Anfang der 1980er Jahre Gegenstand
universitärer Forschung und Lehre sowie Gegenstand praktischer
pädagogischer Untersuchungen und Konzeptentwicklung gewe-
sen ist.
Man wird in diesem Zusammenhang insbesondere die konzep-
tionellen Entwicklungen und Pionierleistungen von Eva & Karl-J.
Kluge für die Förderung von hochbegabten oder hochintelligenten
Heranwachsenden für Deutschland und zugleich auf internationa-
ler Ebene würdigen müssen. Die durch Eva & Karl-J. Kluge und
ein engagiertes Team an Mitarbeitern ins Leben gerufenen und
begründeten Universitären Sommercamps finden nunmehr seit
zwei Jahrzehnten statt, inzwischen in Kooperation mit Doris
Meyer56, heute unter dem Namen SkyLight-Campus.
Dieser Sommercampus besaß in der Tat etwas Pionierhaftes,
weil hier 1985 erstmalig in Deutschland völlig neue Wege des
56 Meyer, D.: Hochbegabung – Schulleistung – Emotionale Intelligenz. Eine
Studie zu pädagogischen Haltungen gegenüber hochbegabten „underachievern“.
München, Hamburg, London 2003
55
Lernens und Lehrens mit begabten und motivierten Heranwach-
senden erkundet wurden. Eine ganze Serie von Publikationen
wurde auf den Weg gebracht. Schon 1981 erforschten Karl-J.
Kluge und Karin Suermondt-Schlembach den Zusammenhang
von hoher Begabung bzw. hoher Intelligenz und Verhaltensauf-
fälligkeit.57 K. Bongartz, U. Kaißer und K.-J. Kluge58 erstellten
zunächst eine grundsätzliche Einführung in die Begabungsthema-
tik. D. Gafni, K.-J. Kluge und K. Weinschenk59 brachten eine
Zusammenschau von theoretischen Einzelaspekten und Möglich-
keiten der pädagogischen und therapeutischen Intervention.
A. Grobel60 untersuchte die Familienbeziehungen von hochin-
telligenten Kindern und Jugendlichen, die an den ersten Camps
teilnahmen. E.-M. Saßenrath61 entwickelte ein Modell zur Eltern-
beratung und unterzog dieses zugleich einer empirischen Prüfung.
U. Pinnow62 stellte das unter anderem auf dem Enrichment-
Ansatz von J. Renzulli63 basierende Camp-Programm in seiner
pädagogischen Breite dar. Ich selber führte in den Universitären
Sommercamps eine empirische Untersuchung zur Kreativen Intel-
ligenz durch und arbeitete an einem Fördermodell, das insbeson-
dere divergentes und schöpferisches Denken, in Verbindung mit
57 Kluge, K.-J. & K. Suermondt-Schlembach: Hochintelligente Schüler verhal-
tensauffällig gemacht? München 1981
58 Bongartz, K., Kaißer, U. & K.-J. Kluge: Die verborgene Kraft. Hochbega-
bung, Talentierung, Kreativität (Teil I). München 1985
59 Gafni, D., Kluge, K.-J. & K. Weinschenk (Hrsg.): Die verborgene Kraft (Teil
II). München 1985
60 Grobel, A.: Gegen den Mythos von Hochbegabung. Eine Untersuchung über
den Einfluss von Familienbeziehungen auf Hochintelligente/ Hochbegabte (Dis-
sertation Universität zu Köln 1988). München 1989
61 Saßenrath, E.-M.: Das Erwartungsspektrum von besonders befähigten Kindern
an ihre Eltern: „Mentoring“ als pädagogische Konsequenz. Eine Studie in Ver-
bindung mit einem Elterntrainingsprogramm (Dissertation Universität zu Köln
1989). München 1989
62 Pinnow, U.: Schüler-Uni. Ein Enrichmentprogramm für Kinder und Jugendli-
che mit besonderen Bedürfnissen, Fähigkeiten und hoher Motivation. München
1989
63 Renzulli, J.S.: The Enrichment Triad Model. Mansfield Center, Connecticut
1977. – Ders.: The Schoolwide Enrichment Model. Mansfield Center, Connecti-
cut 1985 - Renzulli, J.S., S. Reis & U. Stedtnitz: Das Schulische Enrichment
Modell (SEM). Aarau und Frankfurt am Main 2001
56
einer ganzheitlichen Persönlichkeitsförderung, in den Vorder-
grund stellte.64
Dass grundsätzlich etwas geschehen muss, mit Blick auf die
begabten und motivierten Kinder und Jugendlichen in unserer
Gesellschaft zweifeln heute nur noch wenige an. Da ich, neben
etlichen Jahren Unterrichtstätigkeit mit lernfrustrierten Heran-
wachsenden an Sonderschulen, auch etwa fünf Jahre als Integrati-
onslehrer an Grundschulen tätig war, habe ich neben all den
Schülern mit Lern- und Verhaltensproblemen, die ich dort förder-
te, etliche gesehen, die obwohl im ersten Schuljahr, schon längst
den Stoff des dritten Schuljahres gerechnet hätten. Statt ein vor-
gegebenes Übungsblatt zu bearbeiten, hätten sie stärker selbst-
ständig und entdeckend gelernt und der Gruppe anschließend ihre
Ergebnisse präsentiert. In vielen Grundschulklassen (doch nicht
in allen!) langweilen sich diese Kinder jedoch und ihre Kreativi-
tät, ihr Lerneifer bleibt vielfach auf der Strecke.
Das Lehrpersonal orientiert sich entweder am Klassendurch-
schnitt oder aber es ist, trotz bester pädagogischer Absichten, und
trotz Einbeziehung heterogenitätstheoretischer Überlegungen und
Ansätze65, durch die zum Teil horrenden Verhaltensauffälligkei-
ten und Lernschwierigkeiten einer stets größer gewordenen Grup-
pe von Schülern absorbiert. Dazu kommt, dass manche lernmoti-
vierte Kinder mit ihren ungewöhnlichen Ideen anecken, indem sie
vielleicht quer zu den Erwartungen der Lehrkräfte denken. Adä-
quat gefördert, das heißt auch tatsächlich auf ihrem individuellen
Niveau angesprochen und darüber hinausgeführt werden die
hochintelligenten, und mit der Zeit vielleicht schon weniger moti-
vierten Schülerinnen und Schüler, jedenfalls selten. Wie konflikt-
haft oder störanfällig sich hochbegabte oder hochintelligente Kin-
der nun in pädagogischen Beziehungen und Kontexten verhalten,
darüber besteht in der Fachöffentlichkeit kein Konsens.
64 Bröcher, J.: Kreative Intelligenz und Lernen. Eine Untersuchung zur Förde-
rung schöpferischen Denkens und Handelns unter anderem in einem Universitä-
ren Sommercamp. München 1989 (erneute Auflage unter dem Titel: Hochintel-
ligente kreativ begaben, Münster, Hamburg, London 2005)
65 Warzecha, B. (Hrsg.): Heterogenität macht Schule. Beiträge aus sonderpäda-
gogischer und interkultureller Perspektive. Münster usw. 2003
57
D. Rost stellt sich mit seiner Marburger Untersuchung66 in die
Tradition der oft zitierten Langzeit-Studie von Terman et al.67 und
betont die psychische Stabilität hochbegabter Kinder. Sie seien
gut ins Schulsystem integriert, sozial unauffällig, im schulischen
Lernen erfolgreich und selbstbewusst, heißt es in der Zusammen-
fassung der Untersuchungsergebnisse. Lediglich jene 15 Prozent,
die als underachiever ermittelt wurden, Doris Meyer und Karl-J.
Kluge sprechen im Sinne eines humanistisch geprägten und an
den Potenzialen eines jungen Menschen orientierten Coaching
wahrscheinlich zutreffender von partly achievern, diejenigen also,
die ihr Leistungspotenzial nicht voll ausschöpfen, müssen nach
Rosts Studie Anlass zur Sorge geben.
Zieht man andere Publikationen heran, die oftmals auf der Er-
fahrung von Therapeuten oder Psychologen in Beratungsstellen
basieren (ich kann diese lange Liste aus Raumgründen hier nicht
aufführen), ergibt sich ein völlig anderes Bild. Das Leben hoch-
begabter Kinder und Jugendlicher erscheint dann eher zum Teil
erheblich überschattet von Krisen und Konflikten. Nach Angaben
des Schulträgers der Talenta-Modellschule für Hochbegabte in
Geseke-Eringerfeld zeigen die dort unterrichteten Kinder und
Jugendlichen, besonders im Bereich der Sekundarstufe I, einen
enormen therapeutischen Förderbedarf, was wiederum darauf
hindeutet, dass sie ihre Potenziale vor der speziellen Beschulung
nicht ohne weiteres leben konnten.
Auch stellt sich bezüglich der durch Rost vorgenommenen
Untersuchungen die Frage, was mit all den begabten und moti-
vierten Kindern geschieht, die direkt unterhalb der Marke der
zwei Prozent Höchstleister liegen, die ja lediglich in die Marbur-
ger Studie eingegangen sind? Wer soll denn der pädagogische
Anwalt dieser Gruppe sein? Auch scheint es aufgrund meiner
66 Rost, D.H. (Hrsg.): Lebensumweltanalyse hochbegabter Kinder. Das Marbur-
ger Hochbegabtenprojekt. Göttingen 1993. – Ders. (Hrsg.): Hochbegabte und
hochleistende Jugendliche. Neue Ergebnisse aus dem Marburger Hochbegabten-
projekt. Münster usw. 2000
67 Terman , L.M. et al.: Genetic Studies of Genius. Vol. 1: Mental and Physical
Traits of a Thousand Gifted Children. Stanford, Cal. 1925. – Terman, L.M. &
M.H. Oden: Genetic Studies of Genius. Vol. 5: The Gifted Child Grows up.
Stanford, Cal. 1947
58
eigenen empirischen Beobachtungen eine beachtliche Gruppe an
kreativen oder begabten jungen Lernern zu geben, die aufgrund
demotivierender Lern-Vorerfahrungen oder schulischer Kränkun-
gen gar nicht mehr daran interessiert sind, im Unterricht oder in
schuldiagnostischen Tests ihr Bestes zu geben. So stimmig Rosts
Untersuchungsdesign auf den ersten Blick unter methodologi-
schem Gesichtspunkt auch erscheinen mag, so werden doch die
Tiefendimensionen, die schon seit Jahrhunderten die Biographien
intelligenter, kreativer, begabter Menschen, von Ingenieuren,
Unternehmern, Schriftstellern, Erfindern oder Künstlern, bestim-
men, wahrscheinlich mit diesem Testdesign kaum erfasst.
Menschen, die in unserer Welt tatsächlich etwas bewegt und
verändert haben, kamen alles in allem doch eher selten aus einer
solch geordneten, integrierten, leistungswilligen und leistungsfä-
higen schulischen Lebenswelt, wie sie auf der Basis der Marbur-
ger Untersuchungsergebnisse konstruiert worden ist. Wie oft war
es gerade ein tief sitzender Lebenskonflikt, der den Motor für das
Generieren eines Lebenswerkes darstellte, eines Werkes, das dann
allen zugute kam oder, auch in seinen Schattenseiten, zumindest
alle betraf. Eva & Karl-J. Kluge ziehen nach zwanzig Jahren
Kölner Begabungspädagogik, Potenzialförderung und Hochintel-
ligenten-Coaching das Fazit, dass die allermeisten Kinder und
Jugendlichen, die Jahr für Jahr während ihrer Sommerferien in
die SkyLight-Camps kommen, „seelisch verstimmt“ seien.
Ausgehend von einem der Universitären Sommercamps bzw.
SkyLight-Camps leitete ich für die Gruppe der Elf- bis Zwölfjäh-
rigen eine Explorer-Tour durch München, mit Schwerpunkt auf
den vielfältigen naturwissenschaftlichen und technischen Abtei-
lungen des Deutschen Museums, in denen wir allein zwei ganze
Tage, das heißt jeweils sechs bis sieben Stunden pro Tag schau-
end, erforschend, diskutierend, notierend, photographierend, Zu-
sammenhänge herstellend, Fragen formulierend usw. verbrachten.
Hier ist ein Teil der Fragen, die die Lerner ausgehend von ihren
Eindrücken während der Erkundungstour entwickelten:
Wie kann ein Segelschiff vorwärts kommen, bei eher seitlichen
Winden? Wie schnell muss ein Flugzeug sein, damit es vom Boden
abhebt? Aus welchem Material sind Hochspannungsleitungen gefertigt?
Kann man sich im Weltraum in einer Art Erdsimulator-Frischluft-Raum
59
erholen und entspannen? Lässt sich so etwas überhaupt machen? Lassen
sich die Gesetze der Schwerkraft oder der Schwerelosigkeit aufheben
oder beeinflussen? Was ist das für eine Materie oberhalb der Erdat-
mosphäre und darüber hinaus im Weltall? Wie gelingt Fortbewegung im
Weltall? Wie weit kann heutzutage eine bemannte Weltraumexpedition
gehen, was die Entfernung von der Erde betrifft? Wenn sich der Eiffel-
turm bei warmem Sommerwetter nach oben verlängert, das Eisen sich
also ausdehnt, wie sieht in dem Moment die Atomstruktur des Eisens
genau aus? Und ist der Eiffelturm bei heißem Wetter noch genauso
stabil wie bei kalten Temperaturen?
Was ist das Geheimnis des Foucaultschen Pendels? Wie genau konn-
te Foucault mit seinem Pendelversuch nachweisen, dass sich die Erde
um ihre eigene Achse dreht? Wie kann ich mir die Drehbewegung des
Pendels genau vorstellen, wenn der Turm mit dem Pendel darin irgend-
wo zwischen dem Nordpol und dem Äquator steht? Wie muss die Pen-
delschnur oben im Turm, auf sechzig Meter Höhe, aufgehängt bzw.
befestigt sein, damit durch die Art der Befestigung kein Einfluss auf die
Pendelbewegung genommen werden kann? Bezogen auf das Foucault-
sche Pendel: Was genau ist der Fixsternhimmel und welche Rolle spielt
er?
Und weiter: Was hat eine optische Täuschung, wie in den Bildern
des Künstlers Escher, mit Mathematik zu tun? Wie ließen sich die Tor-
pedos der U-Boote im Zweiten Weltkrieg auf ihr Ziel lenken? Wie las-
sen sich Weltraumraketen in der Richtung steuern? Wie lange konnten
Marinesoldaten unter Wasser im U-Boot durchhalten, bevor sie psy-
chisch in eine Krise kamen? Wie müssen sich Astronauten während des
Weltraumfluges ernähren? Warum ist der Astronaut Reinhard Furrer
schon mit 55 Jahren gestorben? Was sind in der Geodäsie von der
Vermessung der Landschaft bis zur Landkarte die einzelnen Schritte?
Welche Vermessungsmethoden gibt es in der Geodäsie? Lässt sich die
ganze Welt mit Hilfe mathematischer Gesetzmäßigkeiten erklären? Von
wem stammt das magische Zauberquadrat in dem Kupferstich von Alb-
recht Dürer (Melencolia)? ...
Nach dem Besuch des Olympiageländes wurde die Frage entwickelt:
Was wäre passiert, wenn man die Olympischen Spiele 1972 nach dem
Attentat auf die israelischen Sportler abgebrochen hätte? Welche Argu-
mente sprachen für die Fortführung der Spiele? Welche dagegen? u.a.
Es zeigen sich Lernbedürfnisse.
60
ETABLIERTE UND AUßENSEITER68
„Die liberale Gesellschaft [...] überdauert durch Offenheit für
alles, was geschieht und sich an ihren Rändern abspielt; das ist ihr
Geheimnis“, schreibt G. Vincent.69 Wirklich? Degeneriert diese
Offenheit aber nicht immer häufiger zur Gleichgültigkeit? Würde
ich in Zusammenhang mit meinen didaktischen Variationen nicht
wiederum auf das Verhältnis der problembelasteten Heranwach-
senden zur Gesellschaft bzw. das Verhältnis der Gesellschaft zu
diesen Kindern und Jugendlichen zu sprechen kommen, stünden
doch alle Gedankenexperimente, die ich unternommen habe, um
diese spezielle Pädagogik für besondere Kinder und Jugendliche
ein wenig lebenswerter, beweglicher und produktiver zu machen,
unter dem Verdacht des Affirmativen. Nein. Als Pädagoge zwar
tun, was in der eigenen Macht steht, aber auch das soziale Ganze
nicht aus den Augen verlieren. Ich möchte daher eine Geschichte
erzählen. Sie klingt wie ein modernes Märchen, doch sie ist wahr.
Alles hat sich genauso zugetragen.
Es ist nicht die Rede von dem Jahr, als ich für eine Zugfahrt
nach Sylt aus Termingründen nur noch Gruppenplätze in der ers-
ten Klasse buchen konnte und wir auf dem Rückweg, von Wester-
land nach Köln, zunächst mit der Situation konfrontiert waren,
dass die Etablierten und Pensionierten dieser Gesellschaft auf
unseren Plätzen in Wagen 13 saßen, weil Wagen 14 anfangs noch
ein Elektronikproblem hatte und nicht zu betreten war. Diese
Damen und Herren hatten einfach Anspruch auf die erste Klasse,
weil sie eben, im Gegensatz zu uns, die Erste Klasse waren. Für
einen Moment sah es so aus, als seien wir nur die sozialen Tritt-
brettfahrer, doch zum Glück verfügten wir ja über handfeste
Fahrkarten und aussagekräftige Reservierungen. So kam es, dass
diese Kinder vom Rande der Gesellschaft dann doch Erste Klasse
68 vgl. auch Bröcher, J.: Zwischenfall im Zug. Pädagogik und Gesellschaft auf
Tuchfühlung. Päd Forum 2002, H. 6, 30./15. Jg., S. 408 – 410. – Ders.:
Zwischenfall im Zug. Pädagogik und Gesellschaft auf Tuchfühlung. Die Zeit,
Leben - Online, 06/ 2003
69 Vincent, G.: Eine Geschichte des Geheimen. In: Ariès, P. & G. Duby (Hrsg.)
(1987): Die Geschichte des privaten Lebens, Band 5: Vom ersten Weltkrieg bis
zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1993, 153 – 343, hier: S. 230
61
durch Deutschland fuhren. Ich muss sagen, dass ich dieses kon-
trastreiche Bild sehr genoss. Das war im April 2004.
Doch die Geschichte, die ich nun erzählen will, ist schon et-
was länger her, soweit ich mich erinnere, war es im Mai des Jah-
res 1993. Sie handelt ebenfalls von einer Klassenfahrt nach Sylt,
genau gesagt nach Hörnum, und von einer eigentümlichen Erfah-
rung, während der Zugfahrt dorthin. Das reibungslose Funktionie-
ren unserer Eisenbahnen gilt bekanntlich als Symbol für Verläss-
lichkeit und planvolles Vorankommen. Der Zug als Sinnbild ge-
sellschaftlicher Normalität. Dies aber nur, solange nicht Individu-
en den Zug besteigen, die ohnehin schon Sand im Getriebe sind
und die die gleichmäßige Fahrt eines Intercity stören.
Es gibt bedauerlicherweise in dieser Gesellschaft Kinder, die
aufgrund ihres fehlangepassten, hyperaktiven oder aggressiven
Verhaltens, zumeist als Folge von falscher oder fehlender Erzie-
hung, oder aber aufgrund nur schwer beeinflussbarer hirnorgani-
scher Besonderheiten, an Sonder- oder Förderschulen verwiesen
werden. Dort sollen sie nun mit Hilfe einer besonderen Pädagogik
und Didaktik wieder auf den rechten Weg gebracht, quasi nacher-
zogen werden. Nachdem meine Kollegin und ich innerhalb des
Klassenraumes und unter Einbeziehung der näheren Schulumge-
bung vielerlei beeinflussende Maßnahmen mit Blick auf diese
Rasselbande (der humorvolle Ton sei mir hier gestattet) versucht
hatten, kam die Krönung des damaligen Unterrichtsprogramms:
Eine einwöchige Klassenfahrt nach Sylt.
Diese durch Handy und Gameboy sozialisierten Kids sollten,
so unsere Absicht, an der frischen Nordseeluft, bei gemeinsamen
Strand- und Wattwanderungen oder beim ruhigen Gezockel der
Kutschpferde auf Hooge zu neuen Erfahrungen und Erkenntnis-
sen kommen. So waren wir also mit jener unruhigen Schar Zehn-
jähriger (wieder einmal) im Zug von Köln nach Westerland un-
terwegs. Insgesamt waren es diesmal zehn Jungen einer Schule
für Erziehungshilfe. Und jeder von ihnen zählte, von den Not-
wendigkeiten der Beaufsichtigung her gesehen, für drei. Wir be-
setzten mehrere nebeneinanderliegende Abteile. Es war im Mai.
Ein warmer, sonniger Tag.
62
Natürlich konnten wir die Schüler nicht länger als eine halbe
Stunde in den Abteilen halten. Sie fühlten sich offenbar einge-
sperrt und produzierten schon nach wenigen Minuten die ersten
Konflikte und Streitereien. Sie wollten auf den Gang. Wir vertrös-
teten sie auf später. Sie versuchten es erneut und fragten hartnä-
ckig nach. Schließlich ließen wir sie aus den Abteilen heraus. Es
ging auch gar nicht anders. Sie liefen auf und ab. Dann öffneten
einige die Fenster. Wir schlossen die Fenster wieder und machten
auf die möglichen Gefahren aufmerksam. Wenig später büchsten
uns die ersten aus und entkamen in die benachbarten Großraum-
wagen. Meine Kollegin ging in die eine, ich selber in die andere
Richtung, um die Jungs wieder einzusammeln. Die mitreisende
Sozialpädagogin hielt die Stellung vor den Abteilen.
Zunehmend außer Atem eilte ich durch die Gänge der voll
besetzten Wagen. Weiter vorne sah ich einen Blondschopf, der zu
unserer Gruppe gehörte, verschwinden. Ich balancierte zwischen
Clubreisetaschen und Mephistoschuhen hindurch. Hinter mir
schlossen sich zischend die Glastüren. Der Weg durch die Wagen
schien ewig lang. Kurz bevor ich das Ende des Zuges erreicht
hatte, wurde abgebremst. Wir fuhren in einen Bahnhof ein. Die
Türen öffneten sich und draußen rannte ein Teil meiner Schüler-
schar über den Bahnsteig wieder in Richtung zur Mitte des Zuges.
Einer der Jungs steckte mir keck die Zunge entgegen. Ein lustiges
Spiel. Hoffentlich würden sie rechtzeitig wieder einsteigen, häm-
merte es in meinem Kopf. Ich sah mich schon im Betreuerraum
des Fünf-Städte-Heims sitzen und im Gespräch mit Frau Moll,
einer Kollegin aus K., Trost finden, bei einem kühlen friesischen
Bier. Frau Moll fuhr jedes Jahr mit ihren Schulklassen nach Hör-
num.
Also wieder zurück den ganzen Weg. Die Leute wurden all-
mählich auf mich aufmerksam und schauten mir mitleidig oder
entnervt nach. Bis ich schließlich gegen ein Gefährt mit Geträn-
ken und Erfrischungen lief. Irgendwie quetschte ich mich vorbei
und kam schnaufend wieder am Ausgangspunkt meiner vergebli-
chen Schülersuche an, den drei Abteilen. Marita hatte gute Arbeit
geleistet und etwa die Hälfte der Ausreißer wieder in ihr Abteil
geschoben. Die andere Hälfte fingen wir schließlich in dem an-
63
grenzenden Großraumwagen ein. Als der Zug hielt, war ich
schnell über den Bahnsteig nach vorne zur Lok gelaufen und hatte
nun diesen Zugteil systematisch durchkämmt, ohne dass die Jungs
erneut hätten entkommen können.
Ich steuerte geradewegs auf ein Handgemenge zu. Einer der
Jungs hatte eine elegante Dame beim Kaffeetrinken angerempelt.
Ihr ganzes Kleid war voller brauner Flecken. Es erhob sich ein
Riesengeschrei, weil ein älterer Herr an dem Jungen herumzerrte
und diesen beschimpfte. Ich entschuldigte mich für das Verhalten
des Jungen, drückte der Frau einen Geldschein in die Hand, mur-
melte etwas von besonderen Kindern und schob das Grüppchen
vor mir her aus dem Wagen heraus. Mir schien, der gesamte Zug
sei mittlerweile durch unsere unruhestiftende Anwesenheit mitbe-
troffen.
Ich geriet zunehmend unter Stress. Musste ich die Jungen
nicht besser in Schach halten? War es etwa doch ein Fehler, mit
solchen Kindern eine so weite Fahrt zu unternehmen? Statt einer
achtstündigen Zugfahrt, hätte ich mit ihnen lediglich eine zehn-
minütige Busfahrt bis zur Jugendherberge an der nächsten Ecke
machen sollen. So etwas hier konnte ich den anderen Fahrgästen,
dieser gesetzten und saturierten Gesellschaft, die ihren wohltem-
perierten Ferienwohnungen und Hotelzimmern in Westerland,
Kampen oder Wenningstedt entgegenfuhr, doch nicht zumuten.
Andererseits: Waren wir nicht alle irgendwie für diese junge, in
mancher Hinsicht aus der Spur geratene Generation verantwort-
lich? Diese Gesellschaft, das heißt der Ausschnitt davon, der hier
im Zug saß, konnten sich diese Leute einfach aus der Verantwor-
tung ziehen? Konnten sie einfach alles an uns Sonderpädagogen
und Sozialpädagogen delegieren? Sollten sie ihre Ruhe haben, um
den Preis, dass wir unsere Kräfte verbrauchten und unsere Nerven
ruinierten?
Sie wollten reisen und leben. Und wir? Gehörten wir etwa auf
das Abstellgleis? Wie konnten Sie mit diesen Kindern nur auf
dieser Strecke an dieses Ziel fahren, las ich auf den vorwurfsvol-
len Gesichtern. Giftige Blicke. Sylt und schon der Weg dorthin
gehören uns. Bleiben Sie doch demnächst daheim, in Ihren sozia-
len Brennpunkten. Behelligen Sie uns nicht weiter. Wir haben
64
Ruhe und Erholung verdient. Wir haben schließlich genug gear-
beitet.
Nein, grollte es plötzlich in mir: Auch ihr habt den sozialen
und kulturellen Veränderungsprozess mit zu verantworten, dessen
Auswüchse auszubaden, ich bedauerlicherweise zu meinem Beruf
gemacht habe! Ihr dürft ab sofort ruhig etwas von den Auswir-
kungen eures eigenen politischen oder unpolitischen Verhaltens,
eures fehlenden gesellschaftlichen Engagements spüren! Ich wer-
de nicht mehr versuchen, euch zu schonen! „Dass Sie sich da aber
auch so opfern“, hatte neulich eine Anwaltsgattin während einer
Party zu mir gesagt, mit süffisantem Ton auf den dünnen Lippen,
mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis.
Zum Glück waren jetzt alle wieder auf ihren Plätzen in den
drei Abteilen. Die Glastüren waren zu und meine beiden Kolle-
ginnen und ich versammelten uns zu einer Lagebesprechung auf
dem Gang. Hell brannte die Sonne. Wir näherten uns allmählich
Hamburg. Der Zug war in voller Fahrt. Zufrieden blickte ich
nacheinander in die Abteile. Zur Aufheiterung hatte ich den Jun-
gen eine Runde Getränke spendiert. Gedankenverloren nuckelten
sie an den Dosen. Ich freute mich über die eingekehrte Ruhe.
Allein, sie erwies sich als trügerisch. In einem der Abteile hatten
die Schüler nämlich das orangefarbene Rollo heruntergezogen.
Was ich nicht direkt gesehen hatte war, dass dahinter auch das
Fenster bis zum unteren Anschlag heruntergeschoben war. Die
Zugräder ratterten auf Hochtouren. Plötzlich geschah es:
Das Sonnenrollo wurde nach draußen gerissen, flatterte einige
Male wild auf und die unten eingezogene Metallstange stieß un-
versehens von draußen wie ein Dolch durch beide übereinander-
liegende Fensterscheiben wieder herein. Nun steckte sie im Glas
fest. Im direkten Umkreis des Durchstoßes splitterte es gehörig.
Sofort riss ich die Tür auf. Starker Wind schlug mir ins Gesicht.
Kleine Glasstückchen lösten sich aus der tischtennisschlägergro-
ßen Bruchstelle. Ich schob die Jungs, so schnell ich vermochte, in
den Gang und verschloss die Abteiltür, um möglichen Schaden,
etwa durch umherfliegende Splitter von den Kindern abzuwen-
den. Dann begab ich mich auf die Suche nach dem Schaffner und
schilderte die Situation.
65
Wir waren kurz vor Hamburg. Der Mann in Uniform reagierte
äußerst gereizt, ja ungehalten: „Können Sie denn nicht vernünftig
auf ihre Schüler aufpassen?“ Wir überquerten schon die Elbbrü-
cke. Dann telefonierte der Schaffner mit dem Zugchef und dieser
entschied, den Wagen aus Sicherheitsgründen auszukoppeln. Dies
geschah in Hamburg-Dammtor. Die Fahrgäste wurden per Laut-
sprecher informiert, dass sie aus dem Wagen aussteigen und sich
irgendwo anders in dem, recht gut besetzten, Zug einen Platz
suchen müssten. Ärgerliche Stimmen im Gang und an den Türen.
Koffer wurden rausgewuchtet. Draußen auf dem Bahnsteig die
erbosten Blicke der Mitreisenden, zumeist Leute ab 55 aufwärts.
Es war eine furchtbar peinliche Atmosphäre.
Endlich hatten wir alle unsere Schützlinge wieder in einem
Großraumwagen verstaut. Es ging mit vielleicht dreißigminütiger
Verspätung weiter. Die Schüler nervös und unruhig. Meine Kol-
leginnen und ich hatten alle Hände voll zu tun, sie zu beruhigen.
Ein dynamischer Mann stürzte auf mich zu, verlangte Adresse
und Telefonnummer und wollte wegen der Verspätung des Zuges
Schadensersatz von mir fordern. Ein wichtiger Geschäftstermin in
Westerland sei jetzt geplatzt, es sei dabei um eine Millionensum-
me gegangen. Wir hätten ihm das vermasselt. Er würde das nicht
hinnehmen. Der Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich dachte an
meine Berufshaftpflichtversicherung. Sollten alle Stricke reißen...
Die anderen Fahrgäste hörten angespannt mit. Ich wusste nicht
gleich, wie ich reagieren sollte. Erschöpft hatte ich mich gerade
auf meinen neuen Sitzplatz fallen lassen. Stammelnd erwiderte
ich schließlich, es sei doch nicht meine Entscheidung gewesen,
den ganzen Wagen wegen des Fensterschadens auszuhängen. Das
sei bitteschön die Entscheidung des Zugchefs gewesen. Er solle
sich doch mit der Bundesbahn auseinander setzen. Wutschnau-
bend baute sich der Geschäftsreisende vor meinem Sitz auf und
wiederholte seine Forderungen.
Doch dann schien sich die Stimmung in dem Großraumwagen,
wo auch viele der anderen umquartierten Reisenden Platz gefun-
den hatten, zu wandeln. Eine Gruppe von Frauen stand plötzlich
im Gang, um mir beizustehen. „Ja sehen Sie denn nicht, was diese
jungen Leute hier für eine Arbeit leisten? Möchten Sie das etwa
66
machen? Nun sagen sie schon! Wollen Sie das machen? Von
wegen Millionengeschäfte! Hören Sie schon auf! Ihre arrogante
Unverschämtheit reicht uns jetzt!“ fuhren sie den Mann an. „Se-
hen Sie zu, dass Sie verschwinden!“ rief eine Frau von weiter
hinten dem Ankläger zu. „Die Leute von der Sonderschule haben
schon genug damit zu tun, diese Kinder hier zu hüten!“
Irritiert murmelte der Mann, der mich so bedrängt hatte, etwas
vor sich hin, blickte nervös zu den Seiten und ging schließlich
weg. Ich war sehr dankbar für die moralische Unterstützung und
die praktische Hilfe, die plötzlich von den Leuten ausging. Ein
angenehmes Gefühl der Wärme durchflutete mich. Ich begann,
mich zu entspannen. Es gab in dieser auf Rädern dahinratternden
Gesellschaft also doch so etwas wie Solidarität, ein gemeinsames
Gefühl der Verantwortung. Wir waren nicht allein.
Auch von der Bundesbahn hörte ich in dieser Angelegenheit
nichts mehr. Jemand, der sich mit Versicherungsfragen auskann-
te, sagte mir, die Bahn habe die Metallstangen unten in den Son-
nenrollos schon größtenteils durch Plastikstangen ersetzt. Offen-
bar galten die Metallstangen schon längst als Sicherheitsrisiko.
Spät abends im Betreuerraum des Hörnumer Fünf-Städte-Heims
erzählte ich alles Frau Moll. Wie erwartet, war auch sie wieder
dort. Aus diesem Grund fahre ich mit meinen Schulklassen immer
Intercity, sagte sie, denn so gehe ich auf Tuchfühlung mit der
Gesellschaft. Ich sagte „Prost“ und genehmigte mir ein friesisches
Pils. Es schmeckte recht herb.
THEORIE UND PRAXIS
Schreiben bedeutet auch, sich immer wieder bewusst Distanz zu
verschaffen. Schreiben ist ein Beitrag zur Theoriebildung. Theo-
rie ist Distanz, und ermöglicht Veränderung, auf dem Wege der
Reflexion und Erkenntnisgewinnung. Es geht also auch darum,
das einem selbst angemessene Werk zu verrichten und durch die
eigene Tätigkeit zum Gelingen der Gemeinschaft der Handelnden
beizutragen. „Sodann heißt Bücherschreiben und Vorträge halten
immer auch gegen Vergänglichkeit und Versäumnisse ankämp-
67
fen“, sagte Hartmut v. Hentig in dem bereits erwähnten Interview
mit Rainer Winkel.70 Vielleicht auch das.
Und als R. Winkel zu seinem Interviewpartner sagt: „Sie sind
Begründer und Leiter von zwei Schulprojekten, Autor von über
20 Büchern, Verfasser von über 200 Aufsätzen (das war 1985!),
und als Redner, Diskutant, Sachverständiger im Rundfunk, Fern-
sehen und im Vortragssaal mögen Sie an die 2000 mal aufgetre-
ten sein [...] was Sie als Schulreformer, Professor, Essayist, Kin-
derbuchautor, Lehrer, Forscher, Kommentator und Herausgeber
einer Zeitschrift geleistet haben...“ (ebd.), antwortet H. v. Hentig,
dass „sich an viele wenden oft eine Notauskunft“ bedeute, „weil
die Zuwendung zu bestimmten Wenigen nicht gelungen“ sei und
da sei „das zwar schöne, aber abends einsame und kühle Haus“.
Ich fand diese Stelle des Interviews sehr suggestiv und in ihrer
Offenheit bestechend. Der persönliche Hintergrund eines For-
scher- und Pädagogenlebens deutet sich an, der besondere biogra-
phische Zusammenhang, in dem ein ganz und gar außergewöhnli-
ches, epochales pädagogisches Oeuvre entstehen konnte. “[...]
meine Lust, Gedanken aufzuräumen, [...] meine Lust Schule zu
machen“ (v. Hentig, ebd.). Es existiert bei mir, in ähnlicher Rich-
tung, also auch der Wunsch, einige Impulse zur weiteren Ent-
wicklung dieses Fachgebietes Erziehungshilfe und Pädagogik bei
Schulverweigerung beizusteuern, durch das Schreiben und Publi-
zieren, eine Reihe von Phänomenen, die in den zur Debatte ste-
henden pädagogischen Wirklichkeiten dominant sind, bewusst zu
machen, auszuleuchten, anders zu betrachten.
Auch geht es darum, das bunte Gemisch an eigenen pädagogi-
schen Erfahrungen mit ungewöhnlichen Kindern und Jugendli-
chen und die begleitenden Turbulenzen, Konflikte und Irritatio-
nen im Rahmen institutioneller oder organisationsbedingter Pro-
zesse mit in den theoretischen Diskurs einzubringen. Natürlich
will die Wissenschaft der Praxis die Fackel vorantragen und nicht
die Schleppe hinterher. Aber entspricht dieses Verhältnis der Rea-
lität? Oftmals wird das Verhältnis von Theorie und Praxis noch
70 Gespräch H. v. Hentig und R. Winkel, Westermanns Pädagogische Beiträge
1985, S. 590
68
hierarchisch, zumindest einseitig definiert, die Theoretiker bilden
die Praktiker aus und entlassen diese anschließend in die Praxis
und versorgen diese auch während der nun folgenden Berufsjahre
mit theoretischer Wegzehrung. Doch sind die gegenseitigen Be-
ziehungen nicht wesentlich komplexer?
Für W. Klafki besteht ein „wechselseitiges Bedingungs- und
Vermittlungsverhältnis (die Dialektik) von pädagogischer Theorie
und pädagogischer Praxis“71, ein Verhältnis, wie es bereits von
der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik begründet worden ist.
Auch für H. Nohl war ja der Ausgangspunkt der pädagogischen
Theorie die erzieherische Wirklichkeit. Geisteswissenschaftliche
Pädagogik versteht sich als „Wissenschaft von der und für die
pädagogische Praxis“72. Pädagogische Praxis kann aus der Sicht
von Klafki kein bloß ausführendes Organ der Theorie sein. Die
Theorie kann „der Praxis deren eigene Verantwortung und Hand-
lungskompetenz nicht abnehmen wollen“.73
Was sind die handlungsleitenden Konzepte von Pädagoginnen
und Pädagogen, die schon länger in der Praxis arbeiten? Was
nehmen sie auf? Was muss in ihrer Praxis geschehen, dass sie
etwas Neues suchen, erproben und anwenden? Was sind sie bereit
aufzunehmen und in den inneren Raum ihres professionellen
Denkens zu integrieren? Wie müssen die nachgereichten wissen-
schaftlichen Inputs inhaltlich und formal beschaffen sein, damit
sie ihren Adressaten auch wirklich innerlich erreichen und dann
tatsächlich umgesetzt werden?
Werden immer nur die Dinge angenommen und akzeptiert, die
zu den bisherigen internalisierten Arbeitsmodellen und Sichtwei-
sen passen? Unter welchen Bedingungen könnten wissenschaftli-
che oder theoretische Erkenntnisse dazu führen, dass Praktikerin-
nen und Praktiker wirklich etwas Neues versuchen und einen
anderen Weg einschlagen? Was von theoretischer Seite der Praxis
angeboten wird, muss von der Praxiswelt als sinnvoll, relevant,
71 Klafki, W.: Schultheorie, Schulforschung und Schulentwicklung im politisch-
gesellschaftlichen Kontext. Ausgewählte Studien. Weinheim & Basel 2002, hier:
S. 87
72 Klafki, Schultheorie …, S. 87
73 Klafki, Schultheorie ... , S. 21
69
hilfreich, konstruktiv, unterstützend, stimulierend usw. einge-
schätzt werden. Klafki formuliert das wie folgt: „Wenn die Theo-
rie wirklich eine Theorie für die Praxis sein will, dann muss die
Praxis immer wieder an der Formulierung der Fragestellungen,
der Probleme beteiligt werden, die die Theorie in ihrer Forschung
untersucht.“74
Würden sich umgekehrt Forscherinnen und Forscher von Prak-
tikern auf einen bestimmten Forschungsbedarf aufmerksam ma-
chen lassen? Welche Rolle spielen theoretisch reflektierende und
sich in den wissenschaftlichen Diskursen engagierende Praktiker?
Lässt sich deren Tun auf Praxisforschung reduzieren? Wer beides
zugleich betreibt und den Ball ständig zwischen Theorie und Pra-
xis hin und herschlägt, bekommt es vielleicht am ehesten zu spü-
ren, das dichte Geflecht an Beziehungen und Verwicklungen.
Zum Thema des Praxisbezuges von Wissenschaft sagt Hartmut
v. Hentig im Interview mit Rainer Winkel: „Ich wäre nie Pädago-
ge geworden, allein um Theorie zu entwickeln. Ich arbeite auch
an einer Theorie, aber in erster Linie, damit sie meine Praxis klä-
re, ordne und erträglich mache [...] Pestalozzi hatte seinen Neu-
hof, Dewey die Laboratory-School und Peter Petersen die Jena-
Plan-Schule.“75 (Auch der Reformpädagoge B. Otto hatte seine
Versuchsschule, ebenso der belgische Arzt und Pädagoge O. De-
croly, nämlich die „Ecole pour la vie par la vie“.)
Und weiter sagt v. Hentig: „Wer Theorie und Praxis entschlos-
sen aneinander bindet, tut mancher Wissenschaft weh. Das nehme
ich in Kauf. Ein Wissenschaftsfeind freilich bin ich nicht.“ Doch
er meint, „dass es Formen von Wissenschaft gibt [...], die der
Pädagogik nichts nützen, und dass es einen tödlichen Überhang
von Wissen gegenüber den Handlungsmöglichkeiten gibt“ (ebd.).
R. Winkel hierauf: „Also nichts gegen die Produktion von Er-
kenntnissen und das Schaffen von Wissen – für die Praxis.“ Da-
rauf v. Hentig: „...aber alles gegen das Sammeln von Daten und
das Drechseln von Theorien um ihrer selbst willen“ (ebd.).
74 Klafki, Schultheorie ..., S. 22
75 Hentig, H. v. (im Gespräch mit Rainer Winkel): Phänomene klären und Ver-
hältnisse ändern. Westermanns Päd. Beiträge 12, 1985, 590 – 594, hier: S. 591
70
Bereits die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, deren Grund-
annahmen ja in W. Klafkis bildungstheoretische und schultheore-
tische Studien eingegangen sind, bindet Theorie und Praxis eng
aneinander: „Theorie weiß sich also für die Praxis mitverantwort-
lich, sie ist `reflexion engagée´ (W. Flitner), sie will und kann den
Praktikern aber ihre Entscheidungen in der konkreten pädagogi-
schen Situation nicht abnehmen.“76 Andererseits „gibt es keinen
prinzipiellen Vorrang der Praxis vor der Theorie“. Die „Theorie
dient auch nicht nur der Aufklärung der immer schon vorausge-
henden Praxis. Theorie kann der Praxis durchaus auch in reforme-
rischer Absicht vorgreifen [...], sie kann der Praxis also noch
nicht verwirklichte Möglichkeiten vorschlagen, sie zur Diskussi-
on stellen und zur Erprobung anregen“.77
Die Leserin und der Leser mögen selbst beurteilen, ob der nun
von mir produzierte Text dies einzulösen vermag, nämlich den
Raum zwischen Theorie und Praxis produktiv auszuloten und mit
Inhalt zu füllen. Und Lösungen? Werde ich in der Lage sein, Lö-
sungen aufzuzeigen? Ich würde heute sagen: Die Lösung besteht
darin, dass es für den Problemzusammenhang Verhalten-Norm-
Konflikt-Schule keine endgültigen und abschließenden Lösungen
gibt. Aber es gibt Annäherungen, Versuche. Es wurde schon viel
in die Diskussion geworfen, durch Buchpublikationen und Fach-
artikel, zum Teil gar untermauert von Signifikanzen und Korrela-
tionen, was auf diesem Fachgebiet alles funktionieren soll.
Das Bild, das die deutsche Forschungslandschaft zu den The-
men Verhaltensprobleme und Schulverweigerung abgibt, um nun
allmählich den Weg in die inhaltliche Debatte zu finden, erscheint
sehr vielschichtig. In einer pluralistischen und offenen Gesell-
schaft ist Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit jedoch natür-
lich und richtig. Der Gesamteindruck zu den vorhandenen theore-
tischen Modellen ist aus meiner Sicht deshalb ein produktiver.
Doch auch die inhaltlichen und methodologischen Setzungen sind
letztlich hinterfragbare Konstruktionen. Sie alle basieren auf be-
stimmten, vorhergehenden historisch-hermeneutischen Sinnaus-
76 Klafki, Schultheorie ..., S. 87
77 Klafki, Schultheorie ..., S. 22
71
legungen und Sinnzuschreibungen. Zugleich sind diese Modelle
unverzichtbar, weil wir uns in unserem Denken und Handeln an
etwas sinnvoll Erscheinendem orientieren müssen.
Mit der tatsächlichen Umsetzung von Forschungsergebnissen,
die ja sehr stark situationsabhängig und personengebunden ist,
sieht es oftmals noch sehr schwierig aus. Was in dem einen Fall
funktioniert hat, lässt sich in einem anderen situativen Kontext
doch nicht wiederholen. Vielleicht, weil die Gruppenkonstellati-
on, der räumliche, personelle oder materielle Rahmen einfach
anders ist als in Zusammenhang mit dem wissenschaftlich unter-
suchten Setting und eine direkte Übertragbarkeit von Ergebnissen
kaum möglich erscheint. Auch sind die internen Arbeitsmodelle,
handlungsleitenden Schemata, Einstellungen und Überzeugungen
bei jeder einzelnen Pädagogin und jedem einzelnen Pädagogen
häufig sehr verschieden.
Lassen wir nur zwei verschiedene Lehrkräfte ein- und dasselbe
Märchen in einer Grundschulklasse vorlesen und die Kinder an-
schließend etwas zu dem gehörten Märchen zeichnen. Danach
bespricht die Lehrkraft die Bilder mit den Kindern. Es werden
zwei völlig verschiedene Prozesse zustande kommen. Sie sind nur
begrenzt vergleichbar und daher auch nicht wiederholbar. Dies
liegt einfach daran, dass wir zwar Lehrerverhalten so und so stan-
dardisieren und operationalisieren können, das heißt die Lehrerin
trägt eine bestimmte Textpassage vor und gibt an einer besonde-
ren Stelle diese oder jene Erläuterung, aber ihre eigene Fähigkeit
zur Imagination, die sich wiederum mit den imaginativen Kräften
der Kinder verbinden und verbünden muss, um den gesamten
Prozess wirklich fruchtbar werden zu lassen, ist nicht bis ins De-
tail operationalisierbar.
Hier deutet sich bereits ein fundamentales Problem an, vor
dem die Unterrichtsforschung immer wieder anlangt, und das sie
wahrscheinlich nie ganz gelöst bekommt. „Wünschenswert wären
genauere Kenntnisse über die Wechselwirkungen von Unter-
richtsformen [...] und Lernvoraussetzungen der Schüler [...] als
72
auch inhaltlichen Aspekten“, bringt es B. Hartke78 auf den Punkt.
Ja, einerseits wäre es wirklich wünschenswert das komplexe Zu-
sammenspiel von x Variablen endlich abschließend aufzulösen
und in harte Fakten verwandeln zu können, die dann immer wie-
der verlässlich in ein bestimmtes, vorhersagbares pädagogisches
Handeln umgesetzt werden könnten, allein es wird aufgrund der
vielen schwer vorhersagbaren Faktoren, die in herausfordernde
Lern- und Unterrichtssituationen hineinspielen, nicht gehen.
Wir wissen inzwischen sehr viel über die einzelnen am päda-
gogischen Prozess beteiligten Variablen, auch und gerade, wenn
es um den Umgang mit Verhaltensproblemen und Verweige-
rungsreaktionen von Lernenden geht, doch kaum jemand bringt
sie in der konkreten Situation alle zusammen. H.-G. Garz nennt
das die „kardinale Bruchstelle in der Professionalisierung des
Lehrerhandelns“ im Erziehungshilfebereich. „Wie soll etwas ge-
leistet werden [...] wenn dies in der komplexen Situation des
Klassenzimmers kaum zu leisten ist? Es scheint so, als hätte man
zwar in der Theorie den Schlüssel, schwierigen Kindern das Ler-
nen zu ermöglichen, nur: er passt nicht ins Klassenzimmer.“79
Die jeweils am Ende dieser drei Bände befindlichen „Auf-
zeichnungen zu einem Neuanfang“ müssten die enorme Komple-
xität solcher Arbeitssituationen belegen und aufzeigen können. In
den genannten Kapiteln werden die Ereignisse meiner ersten Wo-
chen und Monate an einer Schule für Erziehungshilfe, an die ich
vor einer Weile gewechselt bin, tagebuchartig dokumentiert.
ERKENNTNISSE SAMMELN, WEITERENTWICKELN UND ANWENDEN
Woran ich hier arbeite, ist also ein Versuch der erneuten Reflexi-
on, ein Resumée, jedenfalls etwas, was man am Ende einer langen
Reise schreibt, bevor man schließlich etwas Neues beginnt, auch
wenn dieses Neue noch gar nicht deutlich in Sicht ist. Es ist viel-
leicht das bloße Gefühl, dass ein bestimmter Abschnitt zuende
78 Hartke, B.: Offener Unterricht – ein überbewertetes Konzept? Sonderpädago-
gik 32. Jg., 2002, H. 3/ 4, 127 – 139, hier: S. 129
79 Garz, H.-G.: Sorgenkind Schule für Erziehungshilfe – Pädagogische und
psychologische Perspektiven zum Umgang mit schwierigen Kindern. In: Zeit-
schrift für Heilpädagogik, 55. Jg., H. 1, 2004, 17 – 23, hier: S. 21 f.
73
gebracht worden ist. Daher ein abschließender Bericht, oder im-
merhin ein Zwischenbericht, eine (Zwischen-)Bilanz, vielleicht
eine Art Vermächtnis mit Blick auf diejenigen, die nach mir
kommen, um diese herausfordernde und edle pädagogische Arbeit
zu tun.
Ist das alles Grund genug, für einen praktisch tätigen Sonder-
schullehrer zu schreiben, sich die Zeit für das Schreiben abzurin-
gen? Nun, ich hätte wahrlich mit meiner praktischen Tätigkeit
genug zu tun, denn diese Mädchen und Jungen (in der aktuellen
Gegenwart einer Schule für Erziehungshilfe sind es ausschließlich
Jungen) verlangen mir an vielen Tagen das Äußerste ab. Sie sind
liebenswert und anstrengend in einem und es vergeht keine Un-
terrichtsstunde, keine Hofpause, keine Exkursion oder Klassen-
fahrt ohne Überraschungen, unvorhergesehene Ereignisse, die
meinen Puls oft schneller schlagen lassen als eigentlich gut ist.
Wir müssen nach relevantem, anwendbarem Wissen suchen.
Was ich hier versuche, soll ein Beitrag in dieser Richtung sein,
denn Wissensmanagement zielt gerade darauf ab, relevantes Wis-
sen zielorientiert zu erfassen, zu gewinnen, zu erhalten und dieses
Wissen dann nutzbar zu machen. Dabei ist Wissen natürlich im-
mer an den Menschen selbst gebunden, an den Autor wie an den
Leser, in der Entwicklung wie in der Umsetzung. Um hier eine
Brücke zwischen Autor und Leser herzustellen, lege ich so man-
che persönliche Sichtweise, Motivation oder Problematik offen.
Was wir brauchen sind authentische, persönlich motivierte und
nachvollziehbare Diskurse, damit die eigene Positionsbestim-
mung und Erfahrungsverarbeitung auch von Leserseite gelingen
kann. Die Rezeptionsprozesse von Texten müssen mitbedacht
werden, was schon zu oft ganz außer Reichweite geblieben ist.
Welche Texte und Quellen soll oder kann ich im Rahmen
meiner Reflexionen heranziehen? Natürlich ist das ein Problem
für meine Untersuchung. Aber es stellt sich anders dar, als etwa
bei einem medizinischen Gegenstand. Beim Studium des Kinder-
und Jugendlichen-Diabetes Typ I (Ich nenne das Beispiel auch
deshalb, weil ich mich erst vor einer Weile in diese Materie ein-
gearbeitet habe, um einen meiner Schüler optimal betreuen zu
können) lassen sich die zu analysierenden Texte genau abgrenzen
74
und die Kriterien dieser Abgrenzung genau angeben. In dem viel
vageren Bereich, den ich untersuche, wenn es mir um Verhaltens-
probleme oder das Phänomen Schulverweigerung geht, ist die
Menge an in Frage kommenden Texten im Prinzip unbegrenzt.
Man wird niemals dazu kommen, die Gesamtheit der über das
auffällige Verhalten von Heranwachsenden oder über die institu-
tionellen Probleme mit solchen Verhaltensweisen gehaltenen oder
niedergeschriebenen Diskurse zu vereinigen, auch dann nicht,
wenn man sich auf eine bestimmte Epoche oder ein bestimmtes
Land beschränkt. Auf der anderen Seite hätte es auch keinen
Sinn, sich beim Studium des auffälligen oder schulaversiven Ver-
haltens und der diesbezüglichen pädagogischen Anstrengungen
und Erschwernisse auf einige wenige Aspekte zu beschränken,
wie von manchen Theorien, die auf dem Fachgebiet besondere
Beachtung gefunden haben, vielleicht nahegelegt wird, nur um
das in Augenschein genommene Gebiet übersichtlicher zu ma-
chen.
Neben dem, was allgemein in der Fachwelt anerkannt ist, gibt
es ja auch diejenigen Diskurse, die aus den entsprechenden sozia-
len oder pädagogischen Institutionen selbst kommen, beispiels-
weise die Anordnungen und Reglements, die konstitutive Be-
standteile von Schulen, Sonderschulen, Integrationsschulen, Re-
gelschulen, Schulverweigererprojekten, klinischen oder psychiat-
rischen Einrichtungen sowie Jugendgefängnissen sind. Alle diese
Institutionen haben ferner ihre unveröffentlichten, nur verdeckt
ausgesprochenen Diskurse, die folglich niemandem direkt, etwa
per Publikation, zugerechnet werden können, die aber gelebt wer-
den, etwa auf schulischen Hinterbühnen oder in abgespaltenen
Teilen eines Kollegiums und die die jeweilige Institution auf ei-
gentümliche Weise in Gang halten und die der Verarbeitung und
Klärung dienen, weil sie den institutionellen und pädagogischen
Konfliktstoff einerseits auffangen und verarbeiten helfen, diesen
aber zugleich produzieren.
Dies alles müsste einmal gesammelt und sichtbar gemacht
werden, im Sinne von Erkenntnis, vielleicht auch nur (weil man
in vielen Fällen viel Unerfreuliches entdecken wird), um es nach-
her wieder zuzudecken. Ich werde mich in allem bemühen, die
75
zur Diskussion stehenden Inhalte stets durch eine reflektierende
Instanz, die quasi auf einer Meta-Ebene angesiedelt ist, zu beglei-
ten und zu unterbrechen, und auf diese Weise sicher zu stellen,
dass mein Gedankengang einer ist, dem sich folgen lässt, auch um
mich selbst zu vergewissern, dass es genau das ist, was ich sagen
wollte, dass es das ist, was ich tatsächlich für erwähnenswert oder
mitteilenswert halte. Es handelt sich dabei um eine Absicherung,
dass weder Leser noch Autor unter einer schier endlos erschei-
nenden Masse an Inhaltlichkeit, die sich aus unzähligen Texten
und mündlichen Diskursen konstituiert, ersticken.
Das Abenteuer und die Herausforderung besteht jetzt darin,
die Felder und Wälder, die zur theoretischen und praktischen
Landschaft und den Zonen dazwischen gehören, bewusst reflek-
tierend zu durchwandern, immer unter der Perspektive, wie und
an welchen Stellen sich Wissensbestände variabel in die pädago-
gischen Prozesse einbringen lassen, und dabei stets nach ver-
schiedenen Seiten zu schauen und gelegentlich Nebenwege einzu-
schlagen, um insgesamt einen Zuwachs an Handlungsmöglichkei-
ten zu erreichen. Der Versuch, ein bestimmtes Gelände zu karto-
graphieren, damit Wege, vielleicht Auswege, erkennbar werden,
die den Leidensdruck, der vielfach auf dem zu bearbeitenden
Gebiet herrscht, mindern helfen.
Dass es Leidensdruck auf der Praxisebene gibt, wird immer
gerne bestritten, letztlich auch von vielen Praktikerinnen und
Praktikern selber, vermutlich aus Selbstachtung und Selbstschutz.
Wer will schon von anderen Berufsgruppen bemitleidet werden?
Wer will sich nach so vielen Arbeitsjahren schon eingestehen,
dass er oder sie sich möglicherweise in eine berufliche Sackgasse
hineinmanövriert hat? Doch ich hatte genug Einblick in die ver-
schiedensten Kollegien und auch genug Selbsterfahrungsmög-
lichkeiten, was sehr hohe oder extrem hohe Arbeitsbelastungen in
Hauptschul-, Erziehungshilfe- und Lernbehindertenklassen be-
trifft, um heute sagen zu können, dass sehr viele, ursprünglich
hochmotivierte und hochengagierte Lehrkräfte langsam innerlich
zerbrechen. They go to pieces. Auch hier will ich im Sinne eines
sehr fundamentalen Anliegens mit meiner Untersuchung anset-
zen. Die Didaktischen Variationen verfolgen das ehrgeizige Ziel,
76
Pädagoginnen und Pädagogen neue und wirksame Handlungs-
möglichkeiten aufzuzeigen, wieder mehr Leichtigkeit und Beweg-
lichkeit zu erreichen, gerade im Hinblick auf sehr herausfordern-
de, belastende oder extreme Ausgangssituationen.
SCHULPÄDAGOGIK UND SOZIALPÄDAGOGIK
Ich wende mich im Untertitel des Buches nun an Lehrkräfte und
Sozialpädagogen80 gleichermaßen. Mit welchem Recht? Gibt es
denn einen gemeinsamen Bezugspunkt von Sonderpädagogik und
Sozialpädagogik, speziell mit Blick auf die Felder der Erzie-
hungshilfe, der Lernbehindertenpädagogik und der Pädagogik bei
Schulverweigerung? Die Bemühungen richten sich doch in Teil-
bereichen immerhin auf ein- und dieselbe Zielgruppe, nur dass
von unterschiedlichen Systemen herangegangen wird. Die eine
Gruppe an professionellen Pädagogen befindet sich im Bildungs-
system und die andere Gruppe kommt vom Jugendhilfesystem
her. Die spätere Kommunikation zwischen beiden Gruppen würde
sicher schon dadurch erleichtert und verbessert, wenn sie an ein-
und derselben Art von Hochschule studieren würden, nicht in
Universitäten und Fachhochschulen getrennt, wenn sie also ge-
meinsam in Seminaren, Bibliotheken und in der Mensa sitzen und
bereits während des Studiums miteinander sprechen würden.
Beide Disziplinen, (Sonder-)Pädagogik und Sozialpädagogik
könnten also durchaus noch enger miteinander zusammenarbei-
ten, zum Wohle der letztlich gemeinsam zu bildenden und zu
betreuenden Heranwachsenden. Fehlende Passung, aber auch
Chancen und Ansatzpunkte für Kompatibilität und Kooperation
zwischen diesen beiden Disziplinen werden etwa von B.
Warzecha, K. Thimm oder N. Störmer thematisiert und ausgelo-
tet.81 K. Thimm bringt das delikate Verhältnis zwischen den bei-
80 Die weiblichen Pendants sind hier stets eingeschlossen, und manchmal, auf-
grund der von mir mit Absicht unregelmäßig gebrauchten Formen, ich nehme
mir diese Freiheit, eben auch die männlichen.
81 Dass es dabei auch um ganz praktische Zusammenarbeit zwischen Schule und
Jugendhilfe geht, zeigt etwa der Bericht von Reiser, H. & H. Loeken: Das Zent-
rum für Erziehungshilfe der Stadt Frankfurt am Main. Kooperation von Schule
und Jugendhilfe. Solms, Lahn 1993
77
den Professionen Sonderpädagogik und Sozialpädagogik auf den
Punkt: „So hoch die Kooperation zwischen den helfenden und
bildenden Berufsgruppen auch gehandelt wird: Der Alltag von
Zusammenarbeit ist verzwickt, konfliktanfällig und lernaufwän-
dig.“82 Was N. Störmer „fruchtbare Nähe“83 nennt, wurde für
mich durch den Erfahrungsaustausch während der durch B.
Warzecha, K. Thimm und K. Kantak organisierten Hamburger84
und Brandenburger85 Tagungen zum schulaversiven Verhalten
konkret eingelöst.
Meine dort aus der Rolle des wissenschaftlich reflektierenden
Sonderschullehrers und Integrationspädagogen in die Workshops
eingebrachten Beobachtungen, Erfahrungen und konzeptionellen
Überlegungen schienen den Sozialpädagoginnen und Sozialpäda-
gogen, die sich in ihrer Projektarbeit in den deutschen Großstäd-
ten um die sozial desintegrierte Jugend kümmern, kompatibel mit
ihren eigenen Herangehensweisen. Ist Lebensweltorientierung
ohnehin ein sozialpädagogisches Grundprinzip86, so vermuteten
die Repräsentanten dieser Profession eine lebensweltorientierte
82 Thimm, K.: Zur Kooperation von Förderschule und Jugendhilfeeinrichtungen.
Zeitschr. für Heilpäd. 54. Jg., 2003, H. 3, 110 – 115, hier: S. 115
83 Störmer, N.: Sonder- und Sozialpädagogik – Was leistet Interdisziplinarität?
In: Warzecha (Herz), B. (Hrsg.): Heterogenität macht Schule. Beiträge aus
sonderpädagogischer und interkultureller Perspektive, München, New York.
Berlin 2003, 115 – 126, hier: S. 125
84 Beitrag von J. Bröcher: Lebensweltorientierte Didaktik als Antwort auf Phä-
nomene der sozialen Desintegration, zur Tagung „To play truant...“ - Institutio-
nelle und soziale Desintegrationsprozesse bei Heranwachsenden. Eine Heraus-
forderung an die Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Universität Hamburg
18./ 19.2.2000
85 Beiträge von J. Bröcher: Die Thematisierung jugendkultureller Inhalte, Medi-
en und Prozesse im sonderpädagogischen Unterricht zur Reintegration von
Schulaussteigern in den Bildungsprozess, sowie: Lebensweltorientierte Didaktik
bei Verhaltensauffälligkeiten und Lernproblemen. Werkstatt-Tagung der Lan-
deskooperationsstelle Schule - Jugendhilfe Potsdam/ Brandenburg (Pädagogi-
sches Landesinstitut Brandenburg/ Berlin) in Blankensee 14. - 15. Mai 1999;
Thema der Tagung: „Bildungsarbeit mit Schulverweigerern. Sozialpädagogische
und methodisch-didaktische Verfahren für die Arbeit mit schuldistanzierten
Jugendlichen“
86 Thiersch, H.: Lebensweltorientierte soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im
sozialen Wandel. Weinheim, München 1995
78
Pädagogik bei Verweigerung doch nicht innerhalb des Systems
Schule, auch nicht an dessen äußerstem Rand.
Es bot sich somit eine produktive Kontaktstelle, für beide Sei-
ten. Dieser Berührungspunkt ermöglichte produktive Zusammen-
arbeit etwa mit der Landeskooperationsstelle Schule–Jugendhilfe
in Potsdam. Auch flossen die von mir entwickelten Konzepte, wie
bereits weiter oben angedeutet, in die Entwicklung der Schulver-
weigerer-Projekte des Deutschen Vereins für öffentliche und pri-
vate Fürsorge, Frankfurt am Main, mit ein.
Insbesondere wurde während der Brandenburger Tagungen
deutlich, dass auch die Sozialpädagogen an einer didaktischen
Gestaltung oder Strukturierung ihrer Lern- und Betreuungsange-
bote interessiert sind, um ihrem Auftrag, nämlich Reintegrations-
und Sozialisationshilfe zu leisten, in der themenbezogenen Arbeit
mit Gruppen, noch besser gerecht zu werden. Und ich nahm wie-
derum die mitgeteilten Erfahrungen aus den sozialpädagogischen
Projekten aus Berlin, Hamburg, Leipzig oder Dresden zum An-
lass, die subjektiven Anliegen der mir anvertrauten Kinder und
Jugendlichen noch stärker als bisher im lebensweltorientierten,
sozialpädagogischen Sinne, auch und gerade im Kontext von
Sonderschule, Förderschule oder in den integrativen Grund- und
Hauptschulen zur Geltung kommen zu lassen.
Mit meinem interdisziplinären Brückenschlag soll nun nicht
die grundlegende Differenz und Eigenständigkeit von schulischer
Sonderpädagogik oder Integrationspädagogik einerseits und sozi-
alpädagogischer Kinder- und Jugendhilfe anderseits in Frage ge-
stellt werden. Es soll jedoch der Blick auf das Gemeinsame ge-
richtet werden, nämlich in einem strukturierten Rahmen besonde-
ren Heranwachsenden die Möglichkeit zu geben, ihre Lebenssitu-
ation und ihre Lebenserfahrungen zu reflektieren, sowie aus der
zumeist durch Stagnation und reduzierte Bildungs- und Lebens-
chancen gekennzeichneten Lage herauszukommen, in Anbetracht
der zumeist widrigen Sozialisationsbedingungen etwas aus ihrem
Leben zu machen.
Vielleicht kommen auf der Basis einer solchen Veröffentli-
chung noch einige Menschen mehr aus den beteiligten Diszipli-
nen, wozu ja neben der Sonderpädagogik und der Sozialpädago-
79
gik auch die reguläre Primarstufen- und Sekundarstufenpädago-
gik gehört, miteinander ins Gespräch.
REVISIONEN, KORREKTUREN, ÜBERARBEITUNGEN
Meine inzwischen vergriffene und in einigen Kapiteln auch über-
holte Publikation „Lebenswelt und Didaktik“ und die begleiten-
den Aufsätze aus dieser Zeit, richteten sich noch in erster Linie an
Lehrkräfte an Schulen und Sonderschulen. Die hier vorgelegte
Überarbeitung stellt nun einen Reflexionshintergrund und eine
variable Zusammenstellung von Werkzeugen oder Tools zur Ver-
fügung, die sich sowohl innerhalb der Schule als auch außerhalb
realisieren und anwenden lassen. Bei den Didaktischen Variatio-
nen spreche ich nicht mehr von einem Modell, sondern lieber von
einem Reflexionshintergrund, weil es eine vorhersagbare Umset-
zung nach festgelegten Gesichtspunkten gar nicht mehr geben
kann. Die konkreten Lernprozesse müssen vielmehr, je nach Situ-
ation, Kontext, Gruppenzusammensetzung, Institution und Person
der Pädagogin oder des Pädagogen, initiiert und variiert werden.
Wichtiger noch als bestimmte Methoden anzuwenden, er-
scheint mir heute, eine spezifische Haltung und Einstellung den
Kindern und Jugendlichen im Erziehungshilfesektor gegenüber zu
leben. Karl-J. Kluge formulierte dies in dem Grundsatz, das die
Person stets vor der Methode komme. (Aber die Methode kommt
auch gleich danach.)
Wichtig ist, an diese Kinder und Jugendlichen zu glauben, sich
von ihren oftmals bizarren Verhaltensweisen nicht irritieren zu
lassen, nicht übereilt auf die Ebene der Disziplinierungsmaßnah-
men zu gehen, sondern ein verlässliches Beziehungsangebot zu
machen, etwa symbolische Ausdrucks- und Mitteilungsmöglich-
keiten anzubieten, Möglichkeiten für Probehandeln in einem ge-
schützten, begleiteten Rahmen bereitzustellen, einen Spielraum
zu bieten, in dem die Heranwachsenden konstruktive soziale und
kommunikative Erfahrungen machen, entwicklungsförderndes
Feedback erhalten und eine positive Lebensperspektive aufbauen
können. Dies schließt an manchen Stellen durchaus auch konse-
quente Grenzsetzungen ein, wie es sich anhand der Tagebuchauf-
80
zeichnungen im Kapitel „Aufzeichnungen zu einem Neuanfang“
sicher nachvollziehen lässt.
Etwas Fertiges oder Endgültiges ist der hier umrissene Ansatz
allerdings immer noch nicht (und wird es hoffentlich nie werden).
So gesehen hat sich seit 1997 nichts geändert. Es gibt höchstens
bestimmte Grundhaltungen, Prinzipien und Tools, die sich als
sinnvoll und tragfähig erwiesen haben. Doch der Charakter von
Prozess, Entwurf, Skizze, Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit
überwiegt. Es gibt immer nur Annäherungen an die sich wan-
delnden Lebensverhältnisse, an die Daseinsthemen und Bewälti-
gungsversuche heutiger Kinder und Jugendlicher in Krisen, keine
Gewissheiten.
Und doch hat sich im Vergleich zu der Publikation von 1997
einiges geändert. Es ist gut, dass es die Möglichkeit der Überar-
beitung und Weiterentwicklung, der Revision gibt. Ich will sie
nutzen. Was wurde an meinen veröffentlichten Texten bisher
kritisiert? Zu viel Nähe zu Kunst und Alltagsästhetik, stellenweise
zu redundant, an anderer Stelle zu system- und institutionenkri-
tisch.
Einige wichtige Arbeiten anderer seien nicht aufgenommen
worden (so wie meine eigenen Arbeiten in den Texten einiger
anderer nicht diskutiert worden sind oder werden). Das Ganze sei
empirisch nicht nachgewiesen. Nun wäre es ja in der Tat ein her-
ausforderndes Forschungsprojekt, die hier identifizierten Variab-
len in ein rechnerisches und statistisches Untersuchungsdesign zu
bringen. Allein, als Praktiker, der ohne die Ressourcen einer
Hochschule auskommen muss, kann ich da (noch) nicht heran
gehen.
Um intellektuell redlich zu sein, leiste ich mir gelegentlich
Korrekturen bezüglich früherer eigener Positionen in Texten und
Publikationen. Selbstkritisch möchte ich daher anmerken, dass ich
in „Lebenswelt und Didaktik“ mit Teilbereichen des theoretischen
und pädagogisch-praktischen Schaffens von Karl-J. Kluge sicher
unnötig, wenn nicht übertrieben kritisch verfahren bin. Publizierte
Texte können daher auch zum Medium der Konfliktaustragung
werden. Wer jung und engagiert ist, glaubt oft mit großer innerer
Überzeugung etwas erkannt zu haben, etwas verfechten oder be-
81
stimmte, ins Visier genommene, Ideale ambitioniert, vielleicht
sogar kämpferisch vertreten, verfolgen und umsetzen zu müssen,
etwas verändern zu wollen.
Wer so befangen, so identifiziert ist mit seinem eigen Tun,
neigt vielleicht auch schneller dazu, in seiner Wahrnehmung se-
lektiv zu sein, in seinen Sinnauslegungen bestimmte, eng gefasste
Konstruktionen oder Bewertungen vorzunehmen, in die sich un-
bewusste Motive, Affekte oder Prinzipien hineinmischen, die ihn
dann mit spitzer, aggressiver, vielleicht sogar verletzender Feder
schreiben lassen. Heute würde ich sagen, dass man einem Wis-
senschaftler oder Pädagogen nur dann gerecht wird, wenn man
sein gesamtes Oeuvre an Texten und sein praktisches Engage-
ment als Ganzes in den Blick nimmt und sich dabei stets der Be-
grenztheit und der Relativität des eigenen Wahrnehmens und
Denkens bewusst bleibt.
Versuchen wir uns in einer Bestandsaufnahme, was ein Ein-
zelner geleistet hat, kann es niemals um einen speziellen Text und
schon gar nicht um einzelne Textpassagen gehen, denn jeder von
uns unterliegt doch sich schrittweise vollziehenden Bewusstwer-
dungs- und Erkenntnisprozessen, in denen Entwicklung und
Stagnation, geistige Öffnung und Begrenzung häufig miteinander
ringen. Nun, hinter der von mir verfassten Kritik scheinen mir
heute vor allem die postadoleszenten Ablösungskonflikte des
Doktoranden durchzuschimmern.
Zugleich muss ich zu meiner eigenen Entlastung hinzufügen,
dass es im Wissenschaftsbetrieb Strukturen gibt, die es jungen,
engagierten Denkern nicht immer leicht machen. Sie müssen sich
gegen vielerlei Widerstände durchsetzen und manche Hürde
überwinden. Sie müssen nicht nur auf einem Fachgebiet exzellent
sein oder werden. Sie müssen zugleich auf der mikropolitischen
Ebene, um es mit O. Neuberger87 zu sagen, spielen lernen, um
sich zu etablieren und zu überleben. So, wie es in vielen Wissen-
schaftsbereichen aussieht, müssten sie oft eher Niccolo Macchia-
velli studieren als Immanuel Kant, und sich danach verhalten. Die
87 Neuberger, O.: Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in
Organisationen. Stuttgart 1995
82
sich hieraus ergebende Anspannung fördert sicher nicht in allen
Fällen geistige Offenheit und Weitblick, Eigenschaften wie sie ja
gerade für echte Wissenschaft, verstehen wir sie einmal als
Wahrheits- und Erkenntnissuche, notwendig sind. (Ich will es hier
bei diesen wenigen Andeutungen belassen, auch um meinen Text
nicht unnötig mit diesen Dingen zu belasten. Denn mein Thema
ist die Verwirklichung von individuellen Potenzialen, auch und
gerade unter erschwerten Bedingungen.)
Und das Folgende gilt sicher nicht nur für den jungen, noch
abhängigen Denker im Wissenschaftsbetrieb, sondern auch für
den ebenso abhängigen und oftmals bis über die Belastungsgren-
ze hinaus strapazierten Schulpraktiker im sonderpädagogischen
Feld der Lern- und Erziehungshilfe: Wenn sehr viel negativer
Stress auf uns einwirkt, verengt sich unser Horizont. Dann sehen
wir gar nicht mehr alle Möglichkeiten, die wir eigentlich hätten
und greifen auf Altgelerntes oder instinktiv abgespeicherte Ver-
haltensmuster zurück. Der Mensch in einer Stresssituation ist
nicht identisch mit dem Menschen in einer normalen Lebens- und
Arbeitssituation.
Der Blickwinkel ist verengt, quasi wie bei einem Ritter, der in
seine Rüstung eingeschlossen ist und kämpft. Was bekommt er
durch den engen Schlitz oder die ins Blech des Visiers gestanzten
Löcher von der ihn umgebenden Welt zu sehen? Es gibt jedoch
situative, institutionelle oder berufsbiographische Kontexte, zu-
mindest bestimmte Episoden, die solche Kämpfe und die Wahr-
nehmung einengende Schutzmaßnahmen mit sich bringen. Solche
Themen müssten sich mit Lehrkräften oder Pädagoginnen, die in
sehr stark herausfordernden Feldern arbeiten, im Rahmen von
Coaching bearbeiten lassen.
Neu, im Vergleich zu „Lebenswelt und Didaktik“ ist auch,
dass ich nicht mehr unbedingt Recht zu haben brauche. In mei-
nem Denken darf es auch Fragen, Offengebliebenes und Wider-
sprüche geben und die Einwendungen und Gegenargumentatio-
nen der anderen lasse ich mir gerne gefallen, weil ich sie als
Chancen ansehe, noch mehr von den Dingen zu erkennen und
selbst nicht in engen Sichtweisen zu erstarren. Ja, es ist wahr, es
ist schwer, Modelle wie die Lebensweltorientierte Didaktik oder
83
die Didaktischen Variationen mit empirischen, statistischen und
rechnerischen Mitteln zu evaluieren. Aber kann das ein Grund
sein, solche Arbeitsweisen parallel zur pädagogischen Praxis, in
der Praxis stehend und diese Praxis beständig neu entwerfend,
nicht zu entwickeln?
Die Turbulenzen, die ich in nunmehr zwanzig Praxisjahren
und, parallel dazu, in zwanzig Wissenschaftsjahren erlebte, haben
einerseits eine bestimmte pädagogische Kernauffassung geprägt,
zum anderen jedoch dafür gesorgt, das Eigene nicht unbedingt als
das Wahre, sondern als eine von vielen möglichen Sichtweisen zu
erkennen. Somit sind hoffentlich auch eine verstärkte Offenheit,
eine größere geistige Beweglichkeit, vielleicht auch Humor und
Leichtigkeit entstanden.
Vor diesem veränderten Hintergrund konnte sich in meinem
Denken das Prinzip der Didaktischen Variation als neuer roter
Faden etablieren, der sich als verbindendes Element durch Hoch-
begabtenpädagogik, Kreativitätspädagogik, Erziehungshilfepäda-
gogik, Lernbehindertenpädagogik, Kindheitsforschung, Integrati-
onspädagogik und pädagogisch orientierte Kunsttherapie zieht.
INTERDISZIPLINARITÄT
Die Erziehungshilfepädagogik, das ist keineswegs neu, hat eine
interdisziplinäre Ausrichtung. Sie ist eingebettet in eine Art Netz-
struktur wissenschaftlicher Grundlagendisziplinen und hochspe-
zialisierter Teilgebiete benachbarter Wissenschaften. Während sie
ihre fundamentalen Ziele und ihr Selbstverständnis aus der Päda-
gogik bezieht (und für mich ist das in etwa der Rahmen, wie ihn
W. Klafki in seinen bildungs- und schultheoretischen Studien
skizziert hat), verwendet sie Arbeits- und Erkenntnismittel aus
Psychologie, Soziologie oder Philosophie.
Zusätzlich bezieht sie Detailkenntnisse aus der Medizin, spe-
ziell der Psychiatrie, und verschiedenen anderen Spezialgebieten.
In ihren Anwendungsfeldern überschneidet sie sich mit der sozi-
alpädagogischen Kinder- und Jugendhilfe sowie mit der Psycho-
therapie. Ein weites Feld also. Es ist quasi so, als müssten die
Rettungsschwimmer auf dem Ozeandampfer „Gesellschaft“ auch
gewisse Kenntnisse über Schiffsnavigation, Meeresforschung,
84
Ingenieurswesen, Maschinenbau u.a. besitzen, um ihrer Aufgabe
verantwortlich nachgehen zu können.
Dieser interdisziplinäre Status, dieses Angewiesensein auf
andere Wissenschaften, beinhaltet natürlich eine gewisse Irritati-
on. Ich kann nie sicher sein, ob ich auch genug über dieses oder
jenes Gebiet weiß. Was ist für mich wirklich zentral zu wissen
und was brauche ich nur oberflächlich zu kennen? Es gibt darüber
keine Einigkeit, womit wir beim Thema Wissensmanagement
angelangt wären. Meine Professionalität hat in Teilbereichen so-
mit etwas Vages und Ungefähres.
Bekomme ich einen Schüler mit AIDS in die Klasse, tue ich
gut daran, mich mit den aktuellen medizinischen Erkenntnissen
bezüglich HIV und AIDS zu beschäftigen (soweit diese für den
pädagogischen Prozess und die persönliche Sicherheit der Einzel-
nen in einer Gruppe verhaltensauffälliger Jugendlicher von Be-
deutung sind), auch ohne Mediziner zu sein. Unterrichte ich einen
Schüler mit Diabetes Typ I bin ich gehalten, mich in diese Mate-
rie einzuarbeiten, um den Jungen optimal betreuen und unterstüt-
zen zu können, wenn er noch nicht selbstverantwortlich mit der
Problematik umgehen kann. Ich muss nicht ganz so viel wissen
wie ein Arzt, und doch muss ich mir ein bestimmtes Grundlagen-
wissen aneignen, um wirklich handlungsfähig zu sein, auch im
pädagogischen Feld.
Schon häufiger unterrichtete ich Kinder oder Jugendliche mit
einer Alkoholembryopathie, das heißt einer durch erheblichen
Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft her-
vorgerufenen, pränatalen Erkrankung mit Wachstumsretardie-
rung, statomotorischer und geistiger Retardierung. Solche beson-
deren somatischen oder hirnorganischen Voraussetzungen sind
natürlich jederzeit bei der Entwicklung von pädagogischen und
didaktischen Zielen, Förderzielen usw. zu berücksichtigen, um
realistisch vorzugehen und nicht das Unmögliche zu wollen. Dazu
muss, je nach dem, um welche Problematik es sich handelt,
schnell und gezielt ein spezifisches medizinisches Wissen ange-
eignet werden. Das Gleiche gilt für psychotherapeutisches oder
psychiatrisches Wissen. Natürlich kann ich nicht alles wissen und
doch bin ich stets gehalten, mich neu zu orientieren, etwa zum
85
Borderline-Phänomen, zur Schizophrenie, zum Aufmerksamkeits-
Defizit-Syndrom, zur Hyperaktivität, zur Impulskontrollstörung,
Phänomenen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit hirnorganisch
bedingt sind und durch viele uns vertraute pädagogische Mittel
gar nicht oder kaum beeinflussbar sind. Spezialkenntnisse sind
erforderlich, wie sie im Falle von ADHS etwa von Lauth,
Schlottke & Naumann88 bereitgestellt werden.
Dieses praktisch von uns Pädagogen erfahrene Angewie-
sensein auf Spezialwissenschaften kennzeichnet auch das Fach-
gebiet der Erziehungshilfepädagogik als Ganzes. Dieses Ange-
wiesensein deutet möglicherweise auf ein Identitätsproblem. Das
Fachgebiet der Pädagogik bei Verhaltensproblemen und Schul-
verweigerung benötigt daher eine Bestimmung des Eigenen, Spe-
zifischen und Unverwechselbaren und zugleich eine kritische
Erörterung der Frage, wie sich der Austausch mit den Grundla-
gen-, Nachbar- und Spezialwissenschaften auf eine produktive
Weise gestalten lässt. Zu der von vielen vorhergesagten und mög-
licherweise bald stattfindenden Auflösung und Überführung die-
ses Spezialgebietes als institutionalisiertes Praxisfeld in eine qua-
litativ angereicherte allgemeine und inklusive Schulpädagogik89
stünde das ja in keinerlei Gegensatz. Die institutionellen Kontexte
würden sich dann zwar ändern, das Wissenschaftsgebiet der Er-
ziehungshilfe- oder Schulverweigererpädagogik selber aber blei-
ben. Interdisziplinarität ist daher allemal die Zukunft.
Deshalb ist es nur folgerichtig, die eigenen Reflexionen inter-
disziplinär anzulegen, um diesem Punkt der Umgestaltung, Ver-
schmelzung oder qualitativen Anreicherung im Sinne einer inklu-
siven Pädagogik näher zu kommen. Denn was ich hier gedanklich
entwickle, ist nun wahrlich nicht gebunden oder gekoppelt an
eine separierende Beschulung oder Unterweisung in Sonderpro-
jekten oder Sonderschulen. Wer lange genug in diesen sozial kon-
88 Lauth, G., P. Schlottke & K. Naumann: Rastlose Kinder, ratlose Eltern. Mün-
chen 2002
89 Sander, A.: Konzepte einer inklusiven Pädagogik. In: Zeitschrift für Heilpä-
dagogik 5, 2004, S. 240 – 244. – Hinz, A.: Entwicklungswege zu einer Schule
für alle mit Hilfe des „Index für Inklusion“. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 5,
2004, S. 245 – 250
86
struierten Kunstwelten am Rande des Bildungssystems gearbeitet
hat, weiß wie sehr sich dort Problemschicksale nicht nur sam-
meln, sondern auch gegenseitig potenzieren, hochschaukeln und
in all ihrem Spannungsreichtum und in ihrer Konflikthaftigkeit
miteinander verquicken. Die Separierung ist und bleibt ein Ver-
hängnis. Sie erzeugt Trostlosigkeit. Es fehlt an positiven Model-
len, an Zugkraft innerhalb der Lerngruppen. Leistung und Pro-
duktivität kommen nur äußerst schleppend in Gang. Wer noch
daran zweifelt, sollte sich die Tagebuchaufzeichnungen am Ende
dieser drei Bände durchlesen.
Was gebraucht wird, sind stabile soziale Gemeinschaften, die
die weniger belastbaren und weniger leistungsbereiten Heran-
wachsenden mittragen, motivieren, einbeziehen, wie es ja auch
unserer gesamtgesellschaftlichen Struktur idealerweise entsprä-
che. Durch die Separierung werden dagegen schon früh genau
diejenigen Spaltungen erzeugt, die die gesellschaftlichen Gruppen
dann lebenslang voneinander trennen und die dann fortwährend
sozialen Konfliktstoff erzeugen. Die entzweiten sozialen Gruppen
werden ja nie wieder zueinander finden.
Hinzu kommt, dass durch die separierte Beschulung von Kin-
dern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen den spezialisier-
ten Pädagoginnen ein enormes berufliches Lebensprogramm zum
Abarbeiten in einer wirklichkeitsentrückten Welt zugemutet wird.
Zu den Wirklichkeitsverlusten der Heranwachsenden gesellen
sich mit der Zeit die Wirklichkeitsverluste der ihnen zugeteilten
Pädagoginnen und Pädagogen. Zum Zeitpunkt ihrer idealistisch
motivierten Berufsentscheidung dürften sie kaum ahnen, was sie
wirklich erwartet und was sie werden leisten und aushalten müs-
sen, wenn sie ausschließlich an Sonderschulen für Lern- oder
Erziehungshilfe verbleiben wollen (oder müssen).
Es wäre daher für alle Beteiligten sinnvoller, die personellen
und materiellen sonderpädagogischen Ressourcen in inklusive
pädagogische Kontexte zu überführen und einzubringen. Regel-
lehrkräfte und Sonderpädagogen könnten dann gemeinsam etwas
entwickeln, in Kooperation, wie es ja schon jetzt vielfach ge-
schieht, allerdings überwiegend noch unter dem Vorzeichen der
Integration, und weniger unter dem Aspekt der Inklusion und des
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individualisierten Lernens in heterogenen Lerngruppen. Die Pä-
dagogik bei Verhaltensproblemen und Schulverweigerung, wie
sie hier verstanden wird, zielt also durchaus langfristig auf die
Aufhebung separierender Kontext und auf eine inklusive Pädago-
gik für alle.
MACHT UND NORM
„Das Wort `Devianz´, von lateinisch `de via´, bezeichnet das Ab-
weichen vom Weg. Doch von welchem Weg?“90 Macht es nicht
gelegentlich auch Sinn, dass die Heranwachsenden aufbegehren
und sich quer zu den Erwartungen der Etablierten verhalten und
ihre Autonomie und ihren Eigensinn ins Spiel bringen? Doch
welchen Sinn sollte das ergeben? Foucault91 führt aus, „dass das,
was das Gesellschaftliche als solches ausmacht [...] nichts anderes
ist als das System des Zwangs, der `Disziplin´, was heißt, dass es
das System der Disziplinierungen (système des disciplines) ist,
durch das die Macht wirkt, aber nur indem sie sich verbirgt und
sich als die Realität präsentiert, die jetzt ein zu durchlaufendes
und zu beschreibendes Wissen ist.“
Indem sie in die Verweigerung oder in destruktive Verhal-
tensmuster hineingehen, bringen sich die Heranwachsenden als
Subjekte zur Geltung. Zugleich sind wir, die professionellen Pä-
dagogen in die Aufrechterhaltung dieser Machtsysteme durch
unsere Disziplinierungsversuche aktiv verstrickt, insbesondere
dann, wenn wir zugleich am Aufbau von Wissen über die heran-
wachsenden Subjekte orientiert sind.
In seiner Abhandlung „Die Macht und die Norm“92 schreibt
Michel Foucault: „Tatsächlich ist jeder Punkt der Machtausübung
zugleich ein Ort der Wissensbildung und umgekehrt erlaubt und
sichert jedes etablierte Wissen die Ausübung der Macht.“
90 Vincent, G.: Eine Geschichte des Geheimen. In: Ariès, P. & G. Duby (Hrsg.)
(1987): Die Geschichte des privaten Lebens, Band 5: Vom ersten Weltkrieg bis
zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1993, 153 – 343, hier: S. 230
91 Foucault, M.: Die Macht und die Norm. In: ders.: Short Cuts. Frankfurt 2001,
39 – 55, hier S. 54
92 Foucault, Die Macht und die Norm, S. 46
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„Und noch weniger“, heißt es weiter bei Foucault, „hat man
sich mit den Beziehungen zwischen Wissen und Macht, mit ihren
wechselseitigen Einwirkungen beschäftigt. Ich habe nun den Ein-
druck, und ich habe das zu zeigen versucht, dass sich Macht im-
mer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt
nicht, zu sagen, dass die Macht dieser oder jener Entdeckung,
dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Aus-
übung von Macht Wissensgegenstände hervor; sie sammelt und
verwertet Informationen. [...] Die Machtausübung bringt ständig
Wissen hervor und umgekehrt bringt das Wissen Machtwirkun-
gen mit sich. [...] Es ist nicht möglich, dass sich Macht ohne Wis-
sen vollzieht; es ist nicht möglich, dass das Wissen nicht Macht
hervorbringt“93 (Foucault).
Es handelt sich hier um einen vielschichtigen Zusammenhang,
der auf die tiefen Verstrickungen der pädagogischen und thera-
peutischen Disziplinen, innerhalb derer sich ja auch mein eigenes
professionelles Tun abspielt, hindeutet. Häufen wir nicht systema-
tisch Wissen über unsere Klientel an, in unseren Berichten, Gut-
achten und Förderplänen, um dann in der Macht-Position zu sein,
eingreifen und etwas verändern und beeinflussen zu können?
Warum dieser Hinweis auf Foucault? Natürlich folgen die
allermeisten Pädagoginnen und Pädagogen einem beruflichen
Selbstverständnis, das auf Konzepten beruht, wie anderen zu hel-
fen, diese zu begleiten, individuelle Entwicklungen zu ermögli-
chen. Doch inwieweit werde ich in diesem Bemühen zum Werk-
zeug der Aufsicht, der Kontrolle, der Disziplinierung? „Jeder
Träger der Macht“ sei ein „Agent der Konstruktion von Wissen“
behauptet Foucault.94 Der „Bericht“ fungiert dabei als „Form der
Beziehung zwischen Macht und Norm“.95 Im Rahmen einer auf-
geklärten sozialpädagogischen oder sonderpädagogischen Profes-
sionalität müssten diese Zusammenhänge mit bedacht werden,
nicht nur in der Produktion von Berichten, Gutachten, Zeugnis-
sen, Verhaltensbeschreibungen, Förderplänen, Therapieplänen,
93 Foucault, M. (1975): Räderwerke des Überwachens und Strafens. In: ders.:
Short Cuts. Frankfurt 2001, 56 – 80, hier: S. 77 f.
94 Foucault, Die Macht und die Norm, S. 47
95 Foucault, Die Macht und die Norm, S. 47
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