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Chi non può come vuole, voglia come può... Lernkultur statt Sprachenlernen. PÄD Forum: unterrichten, erziehen, 31./22. Jg., H. 4, 226–229

Authors:
ESSAYS, BERICHTE etc. pp.
Joachim Bröcher ' Nümbrecht
Chi non puö come vuole, voglia come puÖ ...
Lernku ltu r statt Sprachenlernen
Zeichung: Bernd Günther
Dass einer im Erwachsenenalter eine
Fremdsprache lernt, ist an sich ja nichts
Bemerkenswertes, denn: Nessuno d
troppo vecchio a imparare (So lange
man lebt lernt man).I Jetzt ist er aber
zugleich Lehrer und geht bewusst wie-
der in die Rolle eines Schülers. Für
einen Pädagogen sicher eine heilsame
und erkenntnisfördernde Erfahrung,
denn: Es gibt einiges neu zu entdecken
über das Lernen.
Wie findet Lernen wirklich statt, jen-
seits aller Theorie? Wie ist die Innen-
sicht, die unmittelbare Erfahrung des
Lernenden? Wie gehe ich mit auftreten-
den Lernblockaden und Verständnis-
schwierigkeiten um? Und was lässt sich
aus dieser Erfahrung des erneut lernen-
den Lehrers folgern für seine eigene
Unterrichtstätigkeit, das institutionell
organisierte Lehren und Lernen? Lässt
sich etwas übertragen? Nur auf das
schulische Fremdsprachenlernen? Auf
alle Unterrichtsgegenstände? Auf das
Lehren und Lernen an sich? Oder gar
auf das Leben? Doch machen wir einen
Schritt nach dem anderen.
Nun, meine erste Berührung mit der
italienischen Sprache hatte ich mit sech-
zehn. Gemeinsam mit zwei Freunden
fuhr ich mit dem Zug nach Venedig, um
auf dem Lido di Jesolo zu zelten. Es
handelte sich um eine Mischung von
Badeurlaub und Kulturreise, denn alle
paar Tage streiften wir natürlich durch
die Gassen der Lagunenstadt. Es war
ein Eintauchen in einen für mich völlig
neuen und faszinierenden Sprachraum.
In der Schule hatte ich bis dahin ein
wenig Englisch und Französisch ge-
lernt. Nun wurde ich neugierig auf die-
ses wohlklingende Italienisch, von dem
ich während dieser zweiWochen Urlaub
erste Worte hörte, aufnahm und mir
merkte. Motivation für vertieftes Ler-
nen regte sich, wurde jedoch auf Eis
gelegt, mangels Gelegenheit zum Wei-
termachen, dort auf dem Land, wo ich
damals lebte.
Mit 20 belegte ich dann an der Uni-
versität zu Köln zwei Semester Italie-
nisch, einen Abendkurs für Hörer aller
Fakultäten. Der italienische Lehrer
unterrichtete frontal vielleicht 50 Stu-
dierende und ging dabei Seite für Seite
nach einem Lehrbuch. Texte, Gramma-
tikübungen,
Texte, Gramma-
tikübungen usw.
Zv Ergänzung
konnten wir uns
Kassetten mit
Sprechübungen
überspielen. Das
machte ich.
Das Erlernte
wurde sogleich
während einiger
Reisen durch Ita-
lien angewendet.
Chi va per il
mondo impara a
vivere (Wer
durch die Welt
reist lernt zu
leben). Die
Semesterferien
boten ja Zeitntm
Reisen. etwa
durch Sizilien
oder durch die Toskana. Städte wie
Palermo, Enna, Lucca, Florenz oder
Rom wurden erobert. Eindrücke wur-
den aufgenommen und dabei im
Umgang mit den Menschen die gelern-
ten Satzmuster und Wörter zur Anwen-
dung gebracht.
Prüfungsvorbereitungen, Referenda-
riat und die ersten Berufsjahre, die
Jahre der Kleindkindpflege und -erzie-
hung ließen mein Interesse am Italieni-
schen in den Hintergrund treten. Später
dann folgten mehrere Reisen mit den
Kindern nach Italien. zunächst waren es
Eltern-Kind-Reisen in einer organisier-
ten Gruppe mit stundenweiser Kinder-
betreuung. So kamen meine Frau und
ich etwas in Kampanien und in der
Basilikata herum. Nach einigen Jahren
reisten wir dann wieder auf eigene
Faust. Und parallel zu diesen Reisen
fing ich wieder an, mit und an der Spra-
che des Italienischen zu arbeiten. Ich
war inzwischen 36. Ich abonnierte mir
die Zeitschrift adesso. hörte Kassetten
und CDs, zumeist im Auto auf dem Weg
zur Schule. Doch mir fehlte der Dialog.
Ich nahm Stunden bei einer Siziliane-
rin, die in Deutschland lebt. Wir lasen
die adessorTexte und redeten.
(}t,ft
226
Zeichnung: Bernd Günthe.r
PF:ue ' Nr.4/2003
i,l \
--4-
ESSAYS, BERICHTE etc. pp.
Schließlich schrieb ich mich im Isri-
tuto Italiano di Cultura in Köln in einen
Sprachkurs ein. Ich absolvierte einen
Einstufungstest und begann mit den
bereits vorhandenen Kenntnissen in der
Mittelstufe des dortigen Kurssystems.
Und jetzt kommt, was ich hier eigent-
lich erzählen will. Ich machre Entdek-
kungen. Sieben Semester lang. Am
Anfang belegte ich eine Doppelstunde
Kurs pro Woche, später zwei Doppel-
stunden hintereinander. um mein Ler-
nen zu intensivieren. Was ich in jener
Zeit über Lernen entdeckte, war
erstaunlich. Wenn ich mich an mein
eigenes Fremdsprachenlernen auf dem
Gymnasium erinnere und wenn ich
meine beiden Söhne höre, die jetzt eine
solche Lehranstalt besuchen, dann
halte ich es für möglich, dass es einige
Anregungen aus dem istituto geben
könnte.
Eine Frage, die ich mir schon gleich
am Anfang stellte, war, ob es jemals
einen Italiener geben könnte, der
Deutsch auf übertrieben ehrgeizige
Weise lernt? Ich konnte es mir einfach
nicht vorstellen. Ich entschied mich
daher, bei der Aneignung des ltalieni-
schen selber auch nicht allzu leistungs-
orientiert und schon gar nicht accanito,
d.h. verbissen zu sein oder mich sonst
wie übertrieben zu plagen.
Und trotzdem arbeitete ich relativ
regelmäßig, aber mit einer lockeren
Einstellung. Ich sagte mir: Du nimmst
dir alle Freiheiten Fehler zu machen.
Eugenia, meine erste Lehrerin dort, sie
kam aus Bari, unterrichtete so, dass
eine Atmosphäre entstand, in der viel
gelacht wurde, auch über Fehler und all
die kleinen Pannen, die uns unterliefen.
Dies geschah aber wohlwollend und aus
echter innerer Anteilnahme an den
gelegentlich auftretenden inneren Qua-
len des anderen, zum Beispiel einen
Konditionalsatz richtig hinzukriegen.
Se ayessi tanti soldi, farei una lunga
vacanza . ..
Eugenia hatte einfach unwahrschein-
lich Humor. Nie wurde sie wirklich fin-
ster oder ernst. Nicht einmal, wenn sie
erkältet war. Nun, die Leute im Kurs
standen zumeist voll im Berufsleben.
Das heißt immer wieder kam es vor,
dass einer wegen geschäftlicher Ter-
mine, Reisen, Besprechungen usw.
einen Kursabend versäumte, folglich
nicht sofort wusste, worum es ging, die
Hausaufgabe nicht hatte. Und was
geschah dann? Eugenia gab mit der für
sie typischen Lockerheit und mit spiele-
rischer Geste ein paar Sätze Zusam-
menfassung. schaffle Überleitungen.
baute Brücken, sodass schon nach
wenigen Minuten jeder das Gefühl
hatte, er habe doch gar nichts verpasst
und sitze wieder mit den anderen mitten
im Boot. Es gab keine Hausaufgabe,
die so wichtig gewesen wäre, Eugenia
oder uns anderen die Laune zu verder-
ben.
Alles was geschah, war voller
Abwechslung. Machten wir eine
Ubung, die uns nach einer Weile zu
ermüden begann, legte sie eine Ton-
oder Videokassette ein, für einige
Minuten nur, oder sie verteilte rasch
Papierschnipsel mit irgendwelchen
Wörtern drauf, die man den anderen
erklären musste, bis sie früher oder spä-
ter den Begriff errieten. Hatte sie ein
wenig länger doziert, teilte sie uns
schnell zu Paaren ein mit dem Auftrag,
dem jeweils anderen etwas über seinen
Beruf oder sein Familienleben zu erzäh-
len oder ein Erlebnis mit irgendeinem
Tier nt berichten oder etwas von einer
Reise oder sonst was auf Italienisch zu
übermitteln. So kam ich mit Menschen
aus allen nur möglichen Berufsgruppen
und aus vielen verschiedenen Lebensal-
tern ins Gespräch: Chi molto prattica,
molto impara (Wer mit vielen umgeht
erfährt und lernt viel). Und immer
veloce, veloce, damit erst gar keiner
von uns ins Grübeln verfiel.
Wer stammelnd nach einem Wort
suchte, bekam eine passende Redewen-
dung von Eugenia zugerufen. Also Mel-
f.alt gab es, immer wieder neue Impulse,
Ubungsvarianten, alles völlig unver-
krampft aus dem Armel geschüttelt, in
der Situation entwickelt. Spielerisch,
imparare ö giocare.
Mit Noten, Bewertungen und Beur-
teilungen hatten wir nie etwas zu tun.
Es zählte lediglich das Lernen an sich.
Teilnehmer, die dazu neigten, viel
Redezeit für sich in Anspruch zu neh-
men, wurden sanft, aber humorvoll
gebremst, stillere dagegen vorsichtig
ermutigt und aus sich heraus gelockt.
Ich hatte wahrhaftig wenig Zeit für
Hausaufgaben oder systematisches
Vokabeltraining. Nahm ich den Zug
nach Köln, machte ich die Hausaufga-
ben während der Fahrt. Fuhr ich mit
dem Auto, hörte ich als Vorbereitung
auf den Kurs irgendwelche Sprachkas-
setten wie z. B. die von adesso, je nach-
dem, was ich gerade im Handschuhfach
liegen hatte.
Ich übte mich darin. schnell zu arbei-
ten, ohne mich dabei verrückt zu
machen. Ziel war mitreden zu können.
Ein bisschen oberflächlich sein. Wörter
zur Verfügung haben und mit diesen
spielen, experimentieren, jonglieren . . .
Mit Blick auf das ersehnte dolce vita
musste das geradezu so sein. Und Euge-
nias Unterrichtsstil förderte diese /egge-
Ja, Leichtigkeit brauchte ich auch als
Gegengewicht zu meiner Dreifachbela-
stung als Sonderschullehrer, Wissen-
schaftler und Familienvater. Eigentlich
hätte ich die Zeit und die Energie für
die Sprachkurse ja gar nicht gehabt.
Viele meiner Freunde schüttelten nur
den Kopf. Aber mit dem Italienisch-
Lernen warten bis zur Pensionierung,
wie es einige der Mitkollegiaten getan
hatten? Chi tempo aspetta perde (Wer
Zeit abwartet verliert seine Zeit).
Dafür mussten jedoch Ehrgeiz und Lei-
stungsdenken außen vor bleiben.
Denn: Il troppo tirare, I'arco fa spezzare
(Wer den Bogen überspannt, bricht
ihn). Goia und gioco, das wurden für
mich die Kernbegriffe dieses Lernens.
Einer Richtschnur folgen, aber nicht
übertrieben systematisch, immer die
Menschen und die lebendige Situation
im Auge haben und nicht allzu starr an
irgendwelchen Lernzielen kleben.
Eugenias liebstes deutsches Wort war
Widerspruchsgelsf. Sie wollte uns vor
jeder gesellschaftlichen Konditionie-
rung bewahren. Sie provozierte Stel-
lungnahme und eigene Sichtweise. Sie
gab uns Spielraum und drängte uns,
unseren persönlichen Handlungsraum
zu erweitern. Sie wollte unser Leben
bereichern. Das hat sie geschafft.
Und bei Maria aus Sardegna, Maria-
grazia vom Lago di Garda oder Marge-
rita aus Torino war es ja genauso, auch
wenn jede Lehrerin, jeder Lehrer auch
deutlich eigene Akzente setzte. Alle
unterrichteten sie mit Herz! Alles pure
Motivation, die schon da war oder die
sie zusätzlich erzeugten. Sie schafften
das durch ihren Humor. durch ihre
Bezugnahme auf die aktuelle Lage der
Lernenden, .auf unsere Stimmungen,
auf unseren Überlebenskampf draußen
in derWelt, auf unsere Müdigkeit, denn
die Kurse lagen ja am Abend und wir
hatten schon so manches hinter uns an
dem jeweiligen Täg. Sono stanchissimo
oggi .. ., Oh, Joachim, dai .. . Come
vannolecose...?
Die italienischen Lehrerinnen und
Lehrer im istituto stimulierten Lernen
durch ihren didaktischen Einfallsreich-
tum. Und der zeigte sich in Kleinigkei-
ten, in Gesten, in plötzlichen themati-
schen Veränderungen, Richtungswech-
seln oder methodischen Abwandlun-
gen, Variationen, nicht in gigantischen
oder übertriebenen Vorbereitungen. Es
war alles zu schaffen, was wir da gebo-
ten bekamen und so musste es auch
sein, eben nicht accanito.
Bei Salvatore aus Napoli war es gleich
eine Unterrichtung in der Lebenskunst
an sich, eine regelrechte kulturtheoreti-
sche und philosophische Schule. Nun,
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ich war jetzt ja schon corso superiore
und conyersazione war angesagt. Es
ging um den Zusammenhang von lette-
ratura, societä und vita.
Wie in allen anderen Kursen stand die
mündliche Methode im Vordergrund.
Korrekturen am Gesagten wurden
äußerst dezent angebracht, wenn über-
haupt. Oft griffen die Lehrerinnen und
Lehrer das von mir oder einem anderen
falsch verwendete oder nicht ganz cor-
rettamente ausgesprochene Wort
erneut in einem eigenen Satz wieder auf
und zeigten so die richtige Verwendung
oder Aussprache, ohne jedoch beson-
ders darauf hinzuweisen. Jedenfalls
führte diese tolleranza mit der Zeit
dazu, dass die Wörter nur so aus uns her-
aussprudelten, egal ob richtig, halb
falsch oder gar ganz unzutreffend. Ich
erlebte mich als lebendig sprechend, als
produktiv. Ich hatte innerlich und
äußerlich an der Sprachwelt des Italie-
nischen teil. Das war es doch, was ich
suchte. Eben nicht sprachlichen Perfek-
tionismus anzustreben, sondern ein
Gefühl zu entwickeln für die andere
Sprache, damit sie eben nicht Fremd-
sprache bleibt, sondern mir nahe kom-
men kann und mich ein bisschen in sich
aufnimmt bzw. ich in die Sphäre dieser
Sprache eintauchen kann.
Ich musste nicht vorher den fertig
gebauten Satz im Kopf haben und dann
noch den richtigen Moment in der
Gruppendiskussion erwischen, um den
mühevoll zurecht konstruierten Satz
einzubringen. Das hätte mir ja auch
keine Flexibilität mehr ermöglicht. Ich
kannte dieses Dilemma noch aus dem
Englisch- oder Französischunterricht
am Gymnasium. Oft genug blieben mir
und meinen Mitschülern damals die
Wörter oder Sätze im Halse stecken.
Unter dem Druck richtig sprechen zu
müssen, würgten wir sie regelrecht her-
aus. Und oft genug sind wir ja ganzver-
stummt, damals.
Doch hier im istituto erprobten wir
uns zunehmend frei in den Gefilden des
Italienischen und wurden dabei über-
haupt nicht mit Fehlern, negativer Kri-
tik oder Leistungserwartungen kon-
frontiert. Das setzte ungeheure Ener-
gien und Lust am Lernen frei. Alles war
quasi richtig, jedes neue Wort, jeder
Satz ein Fortschritt. Ich griff eine Rede-
wendung auf, die ein anderer verwen-
det hatte, ich erinnerte mich an einWort
aus einem schnell überflogenen Text,
oder an ein Satzmuster. das ich während
der Autofahrt auf der Kassette gehört
hatte und wandte diese parole sogleich
an. Ich begann mit den Wörtern zu spie-
len. Ich sammelte etwa Wörter. die mir
vom Klang her besonders gut gefielen
und schrieb sie in Listen, etwa Wörter
auf die Endsilbe -anza wie z.B. ele-
ganza, abbondanza, importanza, mag-
gioranza, minoranza So etwas
machte mir einfach Spaß.
In den Kölner Kursen ließen wir uns
nicht dadurch bremsen oder blockieren,
dass wir viele grammatikalische Fein-
heiten und Spitzfindigkeiten völlig
unzureichend beherrschten. Wieso
auch? Wozu sollten wir uns stundenlang
mit öden Übungen zum Konjunktiv pla-
gen, wo ihn die meisten Italiener nicht
einmal verwenden, geschweige denn
kennen? Und trotzdem stießen wir
immer wieder auf den Konjunktiv, in
irgendwelchen situationsbedingten
Zusammenhängen, schauten uns die
Sache kurz an und fuhren fort, ohne uns
den Kopf darüber zu zerbrechen.
Ja, ich lernte diesen Mut zur Lücke
und die Neigung zum Unsystematischen
sehr zu schätzen. Das alles stand ja nicht
im Widerspruch zu einer ausgefeilten,
punktgenauen äußeren Organisation,
was die Rahmenbedingungen betraf.
Rita Antonon. die Koordinatorin der
Sprachkurse, ist nämlich in dieser Hin-
sicht ganz und gar preußisch orientiert.
Die Kurse begannen und endeten stets
pünktlich, und war eine Lehrkraft ein-
mal verhindert, stand sofort eine Ver-
tretung bereit.
Spreche ich hier von Un-Ordnung
oder Nicht-System bezeichne ich damit
eher meine inneren Bilder. Von nichts
anderem kann ich ja ausgehen, wenn
ich meinen eigenen Lernprozess zu
beschreiben versuche. Natürlich folgten
die Lehrerinnen und Lehrer, jeder für
sich, einer Systematik, mehr oder weni-
ger. Doch für mich, der ich bei vielen
verschiedenen Lehrkräften lernte und
somit unterschiedliche Lehr-Lern-Stile
und ganz abwechslungsreiche Grup-
penzusammensetzungen erlebte, ergab
sich natürlich ein offeneres Bild. Und
dieses innere Bild setzte sich aus den
verschiedensten Farbflächen. die teils
nebeneinander'standen und teils einan-
der überlagerten, zusammen.
Doch: Un disordine tall'hora concia
un'ordine (Aber eine Unordnung bringt
oft wieder Ordnung). Ich strukturierte
das bisher kennen gelernte Material an
Wörtern, Satzmustern und Redewen-
dungen und ordnete es bestimmten the-
matischen Kategorien zu wie z.B. archi-
tettura, arte, cinema, filosofia, lettera-
tura, musica, storia, pedagogia, comu-
nicazione, scienza usw. Aus den Wortli-
sten auf losen Blättern wurden themati-
sche Mappen und schließlich fünf dicke
Ordner mit den Aufschriften comunica-
zione, vita quotidiana, cultura etc.
Eine interessante Frage war für mich
etwa:Was mache ich, wenn ich im Kurs
sitze und nichts mehr verstehe? Wie ver-
halte ich mich. wenn alles an mir vorbei-
rauscht, weil ich vielleicht müde bin,
der verhandelte Stoff mir zu schwer
erscheint. mich das Thema nicht inter-
essiert oder ich aus anderen Gründen
den roten Faden verloren habe?
Können das Gründe sein, den Spaß
am Lernen zu verlieren? Nein, denn ich
begann mit einer inneren Haltung zu
experimentieren, die in Entspanntheit,
Gelassenheit und einer erneuten Hin-
wendung zum Gruppengespräch oder
znr Lehrerinstruktion bestand. Ich
sagte mir zur eigenen Entlastung: Cäi
non puö come vuole, voglia come puö
(Wer nicht kann wie er will, wolle wie er
kann). Und außerdem beruhigte ich
mich mit dem Satz: Fa il passo secondo
la gamba (Mache den Schritt nicht län-
ger als deine Beine reichen).
Ich gestand mir daher mein eigenes
Lerntempo und mein eigenes Lei-
stungsniveau zu, ohne ständig zwang-
haft darüber hinaus zu wollen oder zu
müssen. Und wenn ich sehr wenig oder
fast ga.r keine Zeit hatte, die Lesetexte
oder Ubungen vorzubereiten, machte
ich das, was ich schaffte und sagte mir:
Ogni poco aiura (JedesWenige hilft wei-
ter).
Auf diese Weise empfand ich nicht
Stress. sondern ich befand mich mitten
in einem von lebendiger Sprache durch-
fluteten Raum. Ja, ich ließ mich einfach
treiben und wenn ich inhaltlich nicht
sogleich verstand, worum es ging, kon-
zentrierte ich mich einfach agf den
Wortklang und die Sprachmelodie und
genoss diese Eindrücke.
Diese gelassene Haltung setzt aller-
dings auf Seiten der Lehrkraft eine
Methode voraus, die mir als Lernen-
dem die Gewissheit gibt, dass ich den
Anschluss nicht verpassen werde, auch
dann nicht, wenn ich phasenweise
innerlich aus dem unmittelbaren Lern-
geschehen aussteige und die gehörte
Sprache mehr ganzheitlich aufnehme,
ohne jedes Detail verstehen zu können
oder zu wollen.
Diese Methode besteht bei den
Sprachkursen im istituto darin, dass
immer wieder Schleifen eingebaut wer-
den, in denen auf die sprachlichen
Kernelemente und Grundlagen zurück-
gegriffen wird. Dies stets in neuen
Variationen, immer ein wenig anders
und daher interessant genug, um für
mich als Lernenden motivierend zu
sein.
Angeregt durch die literarischen Dis-
kurse und sonstigen Diskussionen mit
Eugenia, Maria, Mariagrazia oder Sal-
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ESSAYS, BERICHTE etc. pp.
vatore verknüpfte ich schließlich mein
pädagogisches und sozialwissenschaft-
liches Denken mit der Geschichte, Kul-
tur und Geographie Italiens, insbeson-
dere des italienischen Südens, d.h. ich
wurde produktiv. Dies geschah durch
Lesen, Reisen, Beobachtungen machen
und Schreiben (vgl. Bröcher 1999).
Durch die abgelegenen Dörfer Luka-
niens zu wandern und unter der Mit-
tagssonne mit den Alten gemeinsam auf
der Piazzazrt sitzen, in nahezu vollkom-
mener Stille und Harmonie, das vermag
die Selbstreflexion eines geplagten Päd-
agogen auf unerwartete Weise zu för-
dern (hierzu Bröcher 2001, S. 320ft.).
Zeichnung: Bernd Günther
Was war nun der Kern dieses Ler-
nens? Was war das Besondere und Fas-
zinierende daran? Ich ziehe einmal zum
Vergleich die Maltechnik der Impres-
sionisten heran. Bei dieser Methode
setzt sich eineMelzahl von Farbtupfern,
Farbflecken zu einem Bild zusammen.
So ging es mir mit der italienischen
Sprache. Was hier zustande kam, waren
nicht verstandesmäßig erfasste Kontu-
ren, die ein Bild ergeben, es waren auch
keine rationalen Bildkompositionen,
sondern was ich wahrnahm und inner-
lich erlebte war eine flimmernde frische
Skala von Farbtönen. Hans L.C. Jaff6
(S. 16f.) spricht in Zusammenhang mit
der impressionistischen Malweise von
PF: ue ' Nr. .4/2003
der ,,neugewonnenen Unschuld des
Auges", ich müsste hier ergänzen: und
des Ohres. Beim Malen dem ersten Ein-
druck folgen und nicht einem theoreti-
schen Konzept. Der impressionistische
Ansatz hat etwas Skizzenhaftes, er folgt
der Inspiration und bewahrt vor Rou-
tine, die das Empfinden abstumpfen
lässt. So wie das impressionistische
Gemälde in seiner Struktur absichtlich
fragmentarisch bleibt, geschah dies hier
auch im spielerischen Umgang mit der
Sprache.
So wie im impressionistischen Bild
die Unmittelbarkeit des Entwurfs
bewahrt wird, geschieht dies auch in
den situationsbedingten
sprachlichen Konstruktio-
nen. So wie der impressioni-
stische Maler vermeidet, den
Sehprozess auf eine festum-
rissene statische Tätsache zu
reduzieren, hielt sich die
Kommunikation in der ande-
ren Sprache stets offen und in
der Schwebe.
So wie die Kunst eines
Renoir oder Monet Stim-
mungen wiedergibt und sich
auf die Wahrnehmung des
Objektes konzentriert und
weniger auf das Objekt sel-
ber, so ging es hier in der
Aneignung des Italienischen
auch nicht um dieWörter und
Satzkonstruktionen an sich,
sondern um die mit der Spra-
che und ihrer Internalisie-
rung verknüpften Sinnesein-
drücke, Emotionen oder
Sehnsüchte, die ja weit über
das Grammatikalische hin-
ausweisen und glücklicher-
weise nicht durch das stän-
dige Ankreiden von Fehlern
gedämpft worden sind.
Ganz im Gegenteil. Manches
blieb etwas unscharf und das
war gut so. Vielleicht auch
vergleichbar mit einem Mosaik, bei
dem sich die einzelnen farbigen Stein-
chen zu einem Gesamteindruck zusam-
menfügen, wenn man das Bild aus
genügendem Abstand betrachtet.
Lässt sich das Dargelegte auf Lernen
an Schulen übertragen? Natürlich ist es
etwas anderes, wenn erwachsene Men-
schen sich freiwillig entscheiden, zum
Beispiel eine bestimmte Sprache zu ler-
nen, als wenn Kinder und Jugendliche,
oftmals gar gegen ihren Willen, zum
Lernen gebracht werden müssen.
Aber besteht nicht doch ein subtiler
Zusammenhang zwischen den häufig
anzutreffenden schulischen Motiva-
tions-, Sprech-, Lern- und Verhaltens-
problemen und den jeweils eingesetzten
Lehr-Lern-Methoden sowie den in
diese Prozesse lehrerseits eingebrach-
ten Einstellungen und Haltungen? Ich
will es diesbezüglich beim Skizzieren
und Andeuten belassen, ganz wie bei
der impressionistischen Methode.
Anmerkung
I Alle im Text verwendeten Sprichwörter
sind der Sammlung von Giulio Varrini
(1668) entnommen, siehe den Literatur-
hinweis.
Literatur
Bröcher, Joachim: Die Murales in Dia-
mante. Die Leidensgeschichte des Mez-
zogiorno, dargestellt in den Wandbildern
zeitgenössischer Künstler. Musik-, Tänz-
und Kunsttherapie 10. Jg., 1999, Heft 4,
786-t96.
Bröcher, Joachim: Unterrichten aus Leiden-
schaft? Eine Anleitung zum Umgang mit
Lernblockaden, widerständigem Verhal-
ten und institutionellen Strukturen. Uni-
versitätsverlag C. Winter, Heidelberg
2001,
Bröcher, Joachim: Poetik des offenen Kunst-
werks und Struktur des Unterrichts. Inno-
vative Profile in der Lehrerlnnenbildung
bei einer heterogenen Schülerlnnen-
schaft. In: Warzecha, B. (Hrsg.): Hetero-
genität macht Schule. Tägungsdokumen-
tation zur Novemberakademie an der
Universität Hamburg, 21.-22.11.2002.
Waxmann Verlag, Münster 2003
Jaff6, Hans L. C. : Die Welt der Impressioni-
sten. Pawlak Verlag, Herrsching I
Ammersee 1976
Leuschner, Ulrike & Ingrid Sattel Bernadini
(Hrsg.): Sprichwörter, nach Giulio Var-
rini: Scielta de proverbi e sentenze itali-
ani, tolti da varie lingue (1668) sowie
Maler Müller: Auszug von italienischen
Sprichwörtern vom Giulio Varrini. Uni-
versitätsverlag C. Winter, Heidelberg
2000
Anschrift des Verfassers:
Dr. habil. Joachim Bröcher
Heddinghausen 994
51588 Nümbrecht
Fon:O2293-2O07
e-mail: jbroecher@t-online.de
229
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