Content uploaded by Miriam Haller
Author content
All content in this area was uploaded by Miriam Haller on Mar 26, 2020
Content may be subject to copyright.
1 3
ORIGINALARBEIT
Zusammenfassung Die poststrukturalistischen Neueinschreibungen (Reiteratio-
nen) des Konzepts der Ambivalenz geben wichtige Anhaltspunkte für seine Wei-
terentwicklung, insbesondere um Bildungsprozesse im Kontext von diskursiven
Normierungen des Subjekts fassen zu können. Der Beitrag erläutert aus diesem
bildungstheoretischen Erkenntnisinteresse erstens die Reiterationen, das heißt die
Neueinschreibungen des Ambivalenzbegriffs im Kontext von Derridas Theorie und
Praxis der Dekonstruktion, zweitens das Verhältnis von Ambivalenz und Ambiguität
im Kontext von Derridas Theorie der „différance“ und Butlers Theorie der „Per-
formativität“, um schließlich die bildungstheoretisch relevanten Implikationen von
Ambivalenz im Kontext von Butlers Subjekttheorie zu fokussieren.
Deconstruction of “ambivalence”
Poststructuralistic reiterations of the concept of ambivalence
from the perspective of educational theory
Abstract Focusing on the relation between discourse and subject formation, the
poststructuralistic reiterations and resignications within the concept of ambiva-
lence provide important aspects for a contemporary conceptualization of ambiva-
lence, especially within the framework of educational theory (Bildungstheorie).
From this point of view the paper explores rstly the notion of “ambivalence” in
the context of Derrida’s theory and practice of deconstruction and secondly the
Forum Psychoanal (2011) 27:359–371
DOI 10.1007/s00451-011-0088-2
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
Poststrukturalistische Neueinschreibungen des Konzepts der
Ambivalenz aus bildungstheoretischer Perspektive
Miriam Haller
Online publiziert: 18. November 2011
© Springer-Verlag 2011
Dr. M. Haller ()
Humanwissenschaftliche Fakultät, Centrum für Alternsstudien, Pädagogisches Institut I für
Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne, Universität zu Köln,
Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Deutschland
E-Mail: miriam.haller@uni-koeln.de
360
1 3
M. Haller
relation between “ambivalence” and “ambiguity” considering Derrida’s theory of
“différance” and Butler’s theory of “performativity”. Finally the article outlines the
meaning of “ambivalence” in Butler’s theory of the subjectivation process.
Das Weiterschreiben des Ambivalenzkonzepts
Ein wichtiger Strang für ein Weiterschreiben des Konzepts der Ambivalenz ndet
sich in Diskursen über die Postmoderne und den Theorien des so genannten Post-
strukturalismus. Insbesondere Jacques Derridas Theorie der Dekonstruktion und
Judith Butlers Subjekttheorie bieten in der Auseinandersetzung mit dem Konzept der
Ambivalenz Anschlussmöglichkeiten für die Psychoanalyse und die Soziologie. Aber
auch für eine kulturwissenschaftlich fundierte Bildungstheorie sind ihre Lesarten
des Konzepts der Ambivalenz anregend. Für eine zeitgemäße Theorie von Bildung
bieten ihre Neueinschreibungen des Ambivalenzkonzepts wichtige Anhaltspunkte.
Deshalb fragt der Beitrag aus dieser bildungstheoretischen Perspektive erstens nach
den Reiterationen, das heißt den Neueinschreibungen des Ambivalenzbegriffs im
Kontext von Derridas Theorie und Praxis der Dekonstruktion, zweitens nach dem
Verhältnis von „Ambivalenz“ und „Ambiguität“ im Kontext von Derridas Theorie
der „différance“ und Butlers Theorie der „Performativität“, um vor diesem Hinter-
grund schließlich drittens den Fokus auf bildungstheoretisch relevante Implikationen
der Neueinschreibungen des Ambivalenzkonzepts in Judith Butlers Subjekttheorie
zu richten.
Ambivalenz und die Dekonstruktion dualistischen Denkens
Poststrukturalistischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich kritisch auf ein Denken
in Dualismen beziehen. Ist dann das Ambivalenzkonzept überhaupt mit poststruktu-
ralistischen Ansätzen zu vereinbaren? „Ambivalenz“ scheint schließlich ein Denken
in Dualismen, in „polaren Gegensätzen“ zu implizieren.1 Auf den ersten Blick mögen
also die positiven Konnotationen des Begriffs der Ambivalenz in den Theorien Der-
ridas und Butlers Erstaunen auslösen. Jedoch ist daran zu erinnern, dass auch post-
strukturalistische Ansätze nicht davon ausgehen, man könne „einfach so“ aus einem
dualistischen Denken aussteigen. Käte Meyer-Drawes Hinweis darauf, dass „[d]ua-
listische Strukturen unserem Denken so tief eingraviert [sind], da[ss] der Anspruch
sie vermeiden zu können, von vornherein zu hoch gesteckt“ (Meyer-Drawe 1990,
S. 10) sei, ist Derrida und Butler nicht fremd. Derridas Theorie der Dekonstruk-
tion ist ein differenztheoretisches Denken, das sich zwar kritisch auf ein Denken in
Gegensätzen bezieht, aber selbst immer wieder an die Grenzen des eigenen Ansatzes
stößt und diese auch benennt.
Das Problem dualistischen Denkens sieht Derrida darin, dass ihm nicht „die
Gegenüberstellung zweier Termini, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer
Subordination“ (Derrida 1988c, S. 313) zugrunde liege. Dualistisches Denken ten-
1 Vgl. Lüscher (2011, in diesem Heft).
361
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
diere zu einer Hierarchisierung der Gegensätze: einer normativ aufgeladenen hierar-
chischen Binarität. Die Aufwertung des jeweils einen positiv besetzten Pols basiere
auf der Abwertung und dem Versuch der Exklusion des jeweils „Anderen“. Da der
Ausstieg aus dem dualistischen Denken nicht einfach zu bewerkstelligen sei, könne
sich dessen Dekonstruktion „nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmit-
telbar dazu übergehen: sie mu[ss] durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wis-
senschaft, eine doppelte Schrift eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine
allgemeine Verschiebung des Systems bewirken“ (Derrida 1988c, S. 313).
Ambivalenz als Doppelwertigkeit
Die mehrfache Wiederholung des „Doppelten“ in dieser zentralen Passage seines
Textes „Signatur Ereignis Kontext“ unterläuft Derrida – so darf man getrost anneh-
men – nicht ohne Grund. In unserem Zusammenhang führt die Betonung des Dop-
pelten hin zu einer ersten Reiteration, einer ersten verschiebenden Wiederholung
und Neueinschreibung des Konzepts der Ambivalenz: Das Konzept der Ambivalenz
wird aus der zweiwertigen Logik des Entweder/oder herausgelöst und in eine Logik
eingeschrieben, die man als Logik einer dynamischen Doppelwertigkeit bezeichnen
könnte. „Ambivalenz“ bezeichnet in diesem Kontext die konsequente Irritation der
als selbstverständlich erscheinenden, diskursiv gesetzten „Positiv-Negativ-Wertun-
gen“ dualistischen Denkens. Ambivalenz, verstanden als Doppelwertigkeit, entzieht
hierarchischen Binarismen ihren Geltungsanspruch oder klammert ihn zumindest ein
– falls die Bewegung der Dekonstruktion denn glücken sollte.
Da in der Doppelwertigkeit beide Pole einer Opposition gleichzeitig Gültigkeit
beanspruchen, werden einseitig hierarchisierende Wertungen verschoben und auf-
geschoben. Es kommt zu einer Infragestellung und Dynamisierung konventioneller
Wertzuweisungen.2 Der Ambivalenzbegriff der Dekonstruktion nimmt „Ambiva-
lenz“ insofern beim Wort als lat. ambo mit „beide“ und valere mit „gelten“ übersetzt
werden kann. Ambivalenz erscheint als Möglichkeit zu einem Ausstieg aus einem
Denken in hierarchischen Binarismen, wenn weder die Relation der beiden Pole in
Äquivalenz (Gleichwertigkeit) überführt wird, noch die Relation der beiden Pole in
Bivalenz (also in die zweiwertige Logik der Entweder-oder-Entscheidung für einen
der Pole) aufgelöst wird und die Relation der beiden Pole auch nicht dialektisch „auf-
gehoben“ wird.
Vielmehr dient Ambivalenz dazu, die Entscheidung zwischen den beiden Polen
immer wieder aufs Neue aufzuschieben. Die beiden Pole können dabei insofern
verschoben werden, als ein „Dazwischen“ formuliert wird, das sich vom Entweder/
oder und vom Weder/noch entfernt und ein Sowohl-als-auch einbringt. Ambivalenz
lässt sozusagen die zur Entscheidung drängende Struktur der Differenz implodieren;
sie führt zum Versagen der konventionellen Wertmaßstäbe.
Es ist demnach nicht das Ziel der Dekonstruktion, Ambivalenz/Unentscheidbar-
keit zu überwinden, vielmehr geht es darum, sie herzustellen – und zwar als unent-
2 Vgl. zu Ambivalenz und Dynamisierung den Beitrag von Lüscher (2011, in diesem Heft).
362
1 3
M. Haller
scheidbare, auf Dauer gestellte Ambivalenz. Ambivalenz meint bei Derrida deshalb
konsequente Unentscheidbarkeit. Das ist eine Resignikation, die Derridas Ambiva-
lenzbegriff von denjenigen Konzeptionen unterscheidet, die Ambivalenz vorrangig
als Belastung sehen und ihre Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten der Auösung von
Ambivalenz lenken.3
Ambivalenz als konsequente Unentscheidbarkeit
Wozu soll Unentscheidbarkeit gut sein? Derrida bezeichnet die „Unentscheidbarkeit“
zwischen den Polen einer Opposition als die „Bedingung der Möglichkeit und sogar
der Wirksamkeit“ der Dekonstruktion hierarchischer Binarismen (Derrida 1988b,
S. 182). Unentscheidbarkeit müsse nämlich nicht zwangsläug aporetisch in eine
Sackgasse führen. Vielmehr sieht Derrida in Situationen der Unentscheidbarkeit ein
Potenzial, das bisher Undenkbare denkbar werden zu lassen. Die dynamisierende
Bewegung des „Oszillierens zwischen polaren Gegensätzen“ (Lüscher 2009, S. 44),
die bei Lüscher als zentrales Merkmal der Ambivalenz beschrieben wird, steigert
Derrida in der eindrücklichen Metapher des Weberschiffchens. „Das Hin- und Her-
fahren der Unentscheidbarkeit spielt die Rolle des Weberschiffchens und webt einen
Text, es erzeugt einen Weg der Schrift durch die Aporie hindurch, sofern das mög-
lich ist. Es ist unmöglich, aber niemand hat je behauptet, da[ss] die Dekonstruktion,
da[ss] eine derartige Technik oder Methode möglich sei; sie wird allein gemessen am
Unmöglichen und dem, was noch als undenkbar verkündet wird, gedacht“ (Derrida
1988b, S. 183). Mit dem sprachlichen Bild des Weberschiffchens, das einen Text
webt, beschreibt er die Praxis der Dekonstruktion, denn das Oszillieren zwischen den
Gegensätzen, das Hin- und Herfahren zwischen ihnen bleibt nach Derrida nicht ohne
Spur: Es produziert einen neuen Text. Wie das Zitat aus Derridas Memoires. Für Paul
de Man aber auch belegt und demonstriert, nimmt die Dekonstruktion auch zu sich
selbst eine ambivalente Haltung ein; insbesondere zu dem Versuch, sie als Technik
oder Methode zu etablieren. Dekonstruktionen von hierarchischen Binarismen lassen
sich als Praxis (oder auch als „Kunst“) beschreiben, die glücken oder scheitern kann:
Sie sind nicht unabhängig vom Kontext; sie kommen nicht immer zum gleichen
Ergebnis. Zusammenfassend sei mit Jonathan Culler die Bewegung der Dekonstruk-
tion nochmals auf den Punkt gebracht: „Ein Gegensatz, der dekonstruiert wird, wird
nicht zerstört oder aufgegeben, sondern neu eingeschrieben“ (Culler 1988, S. 148).
Im Hinblick auf ein Weiterschreiben des Konzepts der Ambivalenz bleibt festzu-
halten, dass „Ambivalenz“ im Kontext der Theorie der Dekonstruktion als unent-
scheidbare Doppelwertigkeit konzipiert wird, die die Logik hierarchischer Binari-
tät unterläuft. Dazu setzt die Praxis der Dekonstruktion auf rhetorische Figuren der
„Ambiguität“, der Doppeldeutigkeit, um Ambivalenz als unentscheidbare Doppel-
wertigkeit zu produzieren.
3 Vgl. zur Veränderung der wertenden Einschätzung von Ambivalenz und ihren zunehmend positiven
Konnotationen den Beitrag von Lüscher (2011, in diesem Heft).
363
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
Ambivalenz und Ambiguität. Von der „différance“ zu Judith Butlers Konzept
der „Performativität“
Zur Erläuterung der Praxis der Dekonstruktion bringt Derrida den Begriff der Ambi-
guität ins Spiel. Er beschreibt die Dekonstruktion als eine „sich ganz in der Struktur
der Ambiguität … produzierende Bewegung“ (Derrida 1995, S. 125). Um ihrem Vor-
haben gerecht zu werden, verweigert sich die Dekonstruktion eindeutigen Begriffen
bzw. zeigt die Doppeldeutigkeit vermeintlich eindeutiger Begriffe auf. Die Dekonst-
ruktion setzt auf Signikanten, die unentscheidbar doppeldeutig sind.
Ambivalenz und Ambiguität
Ambivalenz und Ambiguität werden oft in einem Atemzug genannt.4 Die Geschichte
des Begriffs der Ambiguität lässt sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts
zurückverfolgen (Berndt und Kammer 2009, S. 15). Im Allgemeinen Handwörter-
buch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte
bestimmt Wilhelm Traugott Krug Ambiguität als „Zweideutigkeit“: „Im Ausdrucke,
wo sie grammatische und logische A[mbiguität] heißt, entsteht sie meist aus einem
verworrenen Denken, zuweilen aber auch aus Unkenntni[ss] der Sprache, indem man
dadurch verleitet wird, die Wörter so zu brauchen und zu verbinden, da[ss] sie einen
zwiefachen (vielleicht gar mehrfachen) Sinn zulassen … Findet die Zweideutigkeit
im Charakter statt, so heißt sie moralische A[mbiguität], auch Duplicität, und ist ein
um so größerer Fehler, je weniger einem Menschen von solchem Charakter beizukom-
men, da er, wie ein Aal, jedem entschlüpft, der ihn irgendwo festhalten will“ (Krug
1832, S. 120). Ambiguität bezieht sich in dieser frühen Denition also sowohl auf
eine sprachlich-logische als auch auf eine charakterlich-moralische Dimension. Letz-
tere wird später durch den psychologischen Begriff der Ambivalenz aufgegriffen.
Vor dem Hintergrund der begriffsgeschichtlichen Herleitung ist nun zu fragen,
wie sich im Kontext von Derridas Theorie der „différance“ und Butlers an Der-
rida anknüpfender Performativitätstheorie der Zusammenhang von Ambiguität und
Ambivalenz bestimmen lässt. Wenn sich Ambiguität von Ambivalenz insofern unter-
scheidet, als Ambiguität auf die Ebene der Sprache bezogen ist und Ambivalenz auf
die Ebene der Wertung oder des Wertempndens, so lässt sich mit Helmuth Kiesel ihr
Zusammenhang folgendermaßen bestimmen: „Die Ambivalenz auf der Wertebene
äußert sich als Ambiguität auf der Ausdrucksebene“ (Kiesel 2009, S. 307). Kiesel
betont somit die expressive und konstative Dimension von Ambiguität als Ausdruck
von Ambivalenz. Frauke Berndt und Stephan Kammer verweisen jedoch darauf, dass
Ambiguität auch performative Effekte nach sich ziehen und Ambivalenz auf der
Wertebene überhaupt erst produzieren kann.5 Auf diesen performativen Effekt der
4 Lüscher verweist in seinem Beitrag (Lüscher 2011, in diesem Heft) darauf, dass Ambiguität und Ambi-
valenz bisweilen sogar synonym gebraucht werden (vgl. zum Begriffsverständnis und der Begriffsver-
wendung von Ambivalenz und Ambiguität im zeitgenössischen psychologischen Diskurs (Ziegler 2010,
S. 125–171).
5 In diesem Sinne sprechen Frauke Berndt und Stephan Kammer von „strukturaler Ambiguität“ als einer
„antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit generierenden Matrix“: Ambiguität ist also nach diesem
364
1 3
M. Haller
Ambiguität setzt die Praxis der Dekonstruktion, um Ambivalenz auf der Wertebene
herzustellen. Zur Dekonstruktion eines Denkens in normativ aufgeladenen Opposi-
tionen wird die Doppeldeutigkeit von Begriffen aufgezeigt, oder es werden Begriffe
„erfunden“, mit denen die Oppositionen nicht dialektisch „aufgehoben“ werden und
die sich auch nicht auf die Seite eines der beiden Terme oder Pole schlagen. Die
Überwindung dualistischen Denkens in hierarchischen Binarismen ist an die sprach-
liche Herausforderung gebunden, neue Sprachspiele zu (er)nden.
Ambivalenz und „différance“
In Jacques Derridas Theorie der „différance“ ist die „différance“ als Grundgur
der Dekonstruktion ein solch doppeldeutiger Begriff, dem rhetorische Wirksamkeit
zur Ambivalenzproduktion zugetraut wird: Die „différance“ ist weder Schrift noch
Stimme. Die „différance“ ist sowohl Schrift als auch Stimme. Dabei bleibt die „dif-
férance“ trotzdem selbst eine Unterscheidungsgur. Sie setzt sich von einer „„nor-
malen“, das heißt unkritisch gesetzten Differenz durch das grafemische „a“ ab, das
eben nur gelesen und nicht gehört werden kann (Wagner-Egelhaaf 2009, S. 47). Der
Unterschied der „différance“ zur „différence“ ist zwar da, aber auch wieder nicht,
denn er ist unhörbar. Die wertende Unterscheidung zwischen Stimme und Schrift
wird aufgehoben und verschoben; sie wird unentscheidbar. Sarah Kofman zeigt auf,
wie die Dimension der unentscheidbaren Ambiguität den Begriff der „différance“ mit
anderen zentralen Begriffen in Derridas Schriften verbindet:
Diese neuen Bezeichnungen ( marques) nennt Derrida per Analogie Unent-
scheidbare. Diese Begriffe sind „Scheineinheiten“, die sich dem philosophischen
Oppositionsprinzip widersetzen, die seiner Organisation zuwiderlaufen … Das
Pharmakon, entnommen Platon‚ ist weder das Heilmittel noch das Gift, weder
das gesprochene Wort noch die Schrift, das Supplement, entnommen Rousseau,
ist weder ein Mehr noch ein Weniger, weder ein Draußen noch die Ergänzung
eines Drinnen, weder etwas Akzidentelles noch etwas Wesentliches usw.; das
Hymen, entnommen Mallarmé, ist weder die Vereinigung noch die Trennung,
weder Identität noch Differenz, weder der Vollzug noch die Jungfräulichkeit,
weder der Schleier noch die Entschleierung, weder das Drinnen noch das Drau-
ßen usw.; … Weder/noch heißt zugleich oder oder … Das Gemeinsame dieser
Bezeichnungen: Sie alle streichen die Opposition zwischen dem Drinnen und
dem Draußen (Kofman 1988, S. 32 f.; vgl. auch Derrida 1988a, S. 38).
Die „différance“ ist ebenso unentscheidbar „zwischen Sprechakt und Schrift an[ge-
]siedelt“ (Derrida 1988a, S. 31) wie zwischen konstativer und performativer Funk-
tion der Sprache. Derridas Theorie der „différance“ zeigt auf, wie die in Widerstreit
gesetzten Gegensätze immer wieder aufs Neue, in ständiger Wiederholung und rast-
loser Bewegung aufeinanderprallen, aber sich durch diese Bewegung auch verän-
dern, denn die diskursive Wiederholung der widerstreitenden Gegensätze wiederholt
sich niemals identisch. Wiederholung produziert unweigerlich Differenz. Auf diese
Denitionsversuch die logisch-sprachliche, das heißt die zeichenhafte Matrix, die Ambivalenz erzeugt
(Berndt und Kammer 2009, S. 10).
365
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
Weise beschreibt Derrida das innovative und transformative Potenzial des Diskur-
ses: Aus dekonstruktivistischer Perspektive erscheint kultureller Wandel als Prozess
abweichender, aufschiebender diskursiver Wiederholungen von Unterscheidungen.
Diesen Prozess bezeichnet Derrida, Austins Sprechakttheorie aufgreifend, als per-
formativen Prozess.
Judith Butlers Konzept der Performativität
Judith Butler verbindet diese dekonstruktivistische Perspektive auf die Performa-
tivität des Diskurses mit dem Diskursbegriff Michel Foucaults. Derridas Konzept
der Performativität dient ihr dazu, nicht nur die das Subjekt normierende und regu-
lierende Wirkungsmacht des Diskurses (im Anschluss an Foucault) zu beschreiben,
sondern stärker als Foucault die Möglichkeiten der Transformation diskursiver Sub-
jektivierungsmacht in den Blick zu nehmen. In der Analyse von abweichenden, auf-
schiebenden Wiederholungen kultureller Einschreibungen sieht sie die Chance, Stra-
tegien aufzuzeigen, wie identitätsregulierende, auf Binarismen beruhende Normen
wie Geschlechternormen, aber auch die diskursive Forderung nach einer kohärenten
Identität des Subjekts dekonstruiert werden können (Butler 2001, S. 83). Butler fasst
also mit dem Begriff der Performativität die „ständig wiederholende und zitierende
Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (Butler 1997a,
S. 22). Gleichzeitig gibt ihr Derridas Ansatz die „Möglichkeit, Performativität in Ver-
bindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit früheren Kontexten, die
Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden müssen“ (But-
ler 2006, S. 236). Außerdem koppelt Butler den Performativitätsbegriff – über Der-
ridas sprachphilosophische Prolierung des Begriffs hinausgehend – an das theater-
und medienwissenschaftliche Konzept der „performance“.6 Sie macht also zusätzlich
den semantischen Aspekt der Aufführung und der Darstellung diskursiver Setzungen
des Subjekts durch Körper und Stimme stark.7
Mit diesem mehrdeutigen Begriff der Performativität beschreibt Butler die diskur-
sive Forderung nach kohärenter Identität des Subjekts als einen diskursiv regulier-
ten, ständig wiederholten Akt der Aufführung sozialer Normen. Sie kann aber auch
Möglichkeiten einer Subversion dieser diskursiven Formationen des Subjekts mitbe-
denken: Auch wenn nach Butler das Subjekt nicht als souveränes Subjekt zu denken
6 Vgl. Wirth (2009, S. 322): „Die Ambiguität des angelsächsischen Ausdrucks performance hat dazu
geführt, dass sich in diesem Wort zwei unabhängige Bedeutungen überschneiden. ‚Performativ‘ kann sich
auf die Gelingensbedingungen von Sprechakten, aber auch auf die medialen Verkörperungsbedingungen
von Äußerungen beziehen.“
7 Vgl. Butler (1991): „In Excitable Speech, I sought to show that the speech act is at once performed (and
thus theatrical, presented to an audience, subject to interpretation), and linguistic, inducing a set of effects
through its implied relation to linguistic conventions. If one wonders how a linguistic theory of the speech
act relates to bodily gestures, one need only consider that speech itself is a bodily act with specic linguis-
tic consequences. Thus speech belongs exclusively neither to corporeal presentation nor to language, and
its status as word and deed is necessarily ambiguous. This ambiguity has consequences for the practice
of coming out, for the insurrectionary power of the speech act, for language as a condition of both bodily
seduction and the threat of injury.“
366
1 3
M. Haller
ist, es vielmehr immer schon durch den Diskurs formiert ist, wird es doch durch den
Diskurs nicht abschließend und nicht vollständig bestimmt.
Das Subjekt müsse zwar, um Subjekt zu sein, den Anrufungen des Diskurses ant-
worten, und sei gezwungen, die Normen, die es konstituieren, zu wiederholen, aber
auch die Wiederholungen von identitätsregulierenden Normen lassen sich nie „iden-
tisch“ wiederholen.
Diese Perspektive eröffnet sich für Butler durch Derridas Theorie der „différance“.
Jede Wiederholung impliziert Differenz. Die Unmöglichkeit identischer Wiederho-
lungen der Norm birgt demnach die Möglichkeit der Transformation von Normen.
Mit Bezug auf Derridas Theorie der Dekonstruktion fokussiert Butler stärker als Fou-
cault auf Möglichkeiten subjektiver Handlungsfähigkeit („agency“) – auch wenn es
sich in ihrer Konzeption um eine radikal bedingte Handlungsfähigkeit handelt. Der
Zusammenhang von Ambivalenz und Handlungsfähigkeit8 wird von Butler dabei in
besonderer Weise hervorgehoben.
Ambivalente Subjektivationen als Möglichkeit von Handlungsfähigkeit.
Judith Butlers Theorie der Selbst-Bildung
Was bedeuten diese Überlegungen für eine bildungstheoretische Perspektive auf
Ambivalenz? Aus bildungstheoretischer Perspektive erscheint Judith Butlers Theorie
insofern besonders interessant, als der Bildungsbegriff, der selbst zwischen transi-
tiver, intransitiver und reexiver Bedeutung changiert, immer auch die Frage nach
dem Verhältnis von menschlicher Selbst- und Fremdformung, von Macht und Ohn-
macht der Bildung aufwirft.
Das Subjekt als „Schauplatz“ von Ambivalenz
Judith Butler schlägt sich weder auf die Seite der Theorien, die den Subjektbe-
griff zur „notwendigen Vorbedingung der Handlungsfähigkeit“ erklären, noch auf
die Seite derjenigen, die den Subjektbegriff als „Zeichen von ‚Herrschaft‘“ gleich
ganz verwerfen (Butler 2001, S. 15). Ihre Subjekttheorie dreht sich um die Frage,
wie „das Subjekt als Bedingung und Instrument der Handlungsfähigkeit zugleich
Effekt der Unterordnung als Verlust seiner Handlungsfähigkeit sein“ kann (Butler
2001, S. 15). Konsequent arbeitet sie die dem Subjektbegriff inhärente Ambiguität
von Macht und Ohnmacht des Subjekts heraus. Diese Ambiguität – die Bildung des
Selbst, die gleichzeitig eine Unterwerfung ist – betont Butler mit dem Neologismus
der „Subjektivation“.9 Dieser Begriff arbeitet mit der Doppeldeutigkeit von „subjec-
8 Vgl. zum Zusammenhang von Ambivalenz und Handlungsfähigkeit auch den Beitrag von Lüscher
(2011, in diesem Heft).
9 Vgl. zum Begriff der Subjektivation die Anmerkung des Übersetzers Reiner Ansén in der deutschen
Übersetzung von The Psychic Life of Power (Butler 2001, S. 187): „Der englische Begriff ‚subjection‘
bedeutet zwar im alltäglichen Gebrauch lediglich ‚Unterwerfung‘ (und auch ‚Abhängigkeit‘), erinnert
aber durch die lateinische Wurzel auch an das ‚subjectum‘ und damit an den Prozeß der Subjektwerdung.
Dieser im vorliegenden Buch entscheidende Doppelaspekt wäre im Deutschen nur durch die umständliche
Verwendung von ‚Unterwerfung/Subjektwerdung‘ wiederzugeben. Daher wird hier für den Begriff ‚sub-
367
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
tion“ (Unterwerfung, Abhängigkeit) und Subjektwerdung.10 Den Begriff der „Sub-
jektivation“ grenzt Butler vom Begriff der Sozialisation ab. Sie ist der Auffassung,
dass „die meisten Soziologen und Soziologinnen davon ausgehen, dass Sozialisa-
tion die Verinnerlichung von Normen voraussetzt. Sie nehmen an, dass das Subjekt
schon konstruiert ist und dann erst dieses oder jenes Objekt internalisiert“ (Butler
2002a, S. 126). Butler hingegen geht davon aus, „dass das Subjekt durch soziale
Normen gebildet wird. Auf diese Weise bilden soziale Normen die Bedingung und
Struktur des Subjekts, die Bedingung seines Erscheinens und die andauernde Form
seines Widerstands“ (Butler 2002a, S. 126). Widerstand gegen diese Formation des
Subjekts ist in Butlers Perspektive eben deshalb möglich, weil das Subjekt durch
den Diskurs weder einseitig noch erschöpfend bestimmt werde und weil das Subjekt
„durch seine Reexivität gekennzeichnet [sei], seine Fähigkeit, sich selbst – die Art
seiner Hervorbringung und Bildung selbst – zum Gegenstand zu machen. In dem
Augenblick, in dem seine Reexivität entsteht, bildet das Subjekt selbst eine ganz
spezische Form der Macht“ (Butler 2002a, S. 128 f.).
In Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung arbeitet Butler in ihren
dekonstruierenden Lektüren von Hegels, Nietzsches, Althussers, Freuds und Fou-
caults Subjekttheorien die jeweiligen Reartikulationen heraus, mit denen das Subjekt
als gleichzeitig heteronom und autonom bestimmt wird. Das Subjekt wird durch diese
Relektüren erkennbar als „Schauplatz“ (Topos) einer Ambivalenz, „in welcher das
Subjekt sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht als auch als Möglichkeitsbedin-
gung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit entsteht“ (Butler 2001,
S. 19). Dabei wird deutlich, dass Versuche, den Pol von Ohnmacht und Abhängigkeit
zugunsten einer eindeutigen Aufwertung des Pols der Autonomie auszuschließen, die
regulative Funktion des Autonomiegedankens selbst verschleiern. Auch die diskur-
sive Bestimmung als autonomes Subjekt ist eine Form von Unterwerfung. Butlers
Relektüren lenken angesichts einer Tendenz zur „Vereindeutigung“ und Festlegung
des Subjekts auf Autonomie die Aufmerksamkeit auf die den Subjekttheorien doch
inhärent bleibende Doppeldeutigkeit. Schließlich berge die „unauösbare Zweideu-
tigkeit“ [im Original: „irresolvable ambiguity“, Anm. d. Verfasserin] in der Unter-
scheidung „zwischen der Macht, die das Subjekt formt, und der ‚eigenen‘ Macht des
Subjekts“ (Butler 2001, S. 19) die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, die identitäts-
regulierenden Effekte diskursiver Formationen des Subjekts immer wieder aufs Neue
zu reartikulieren. „Re“-Iteration, „Re“-Artikulation oder „Re“-Signikation versteht
sie „„in the sense of already done and … in the sense of done over, done again, done
jection‘, soweit der Kontext seine Bedeutung nicht eindeutig auf einen seiner beiden Aspekte einschränkt,
konsequent der Neologismus ‚Subjektivation‘ verwendet; mit dem entsprechenden englischen Neolo-
gismus ‚subjectivation‘ gibt die Autorin in Kapitel 3 auch das französische ‚assujettissement‘ Foucaults
wieder.“ Während Foucault mit ‚assujettissment‘ jedoch nur die „diskursive Identitätserzeugung“ als „die
diskursive Forderung, ein kohärentes Subjekt zu werden“ (Butler 2001, S. 83) als Form der Unterwerfung
des Subjekts beschreibe, weist Butler in ihrer Relektüre der Subjekttheorien von Hegel, Nietzsche, Alt-
husser und Freud auf, dass die diskursiven Setzungen des Subjekts als kohärentes und autonomes Subjekt
selbst nicht ohne Ambivalenz auskommen. In dieser Ambivalenz der diskursiven Setzung des Subjekts
erkennt Butler die dem Subjekt eigene Macht, die Normen zu resignizieren.
10 Vgl. als Überblick zur erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Theorien der Subjektiva-
tion: Ricken (2007).
368
1 3
M. Haller
anew““ (Butler 1997b, S. 18) als ein ständiges „doing“ und „undoing“, ein Sprach-
Handeln, das diskursiv gesetzte Normen wiederholt, aber auch verändern kann.
Reiterierte Ambivalenz als Ermöglichung von Handlungsfähigkeit
Mit der Betonung der dem Subjekt- ebenso wie dem Identitätsbegriff inhärenten
Ambiguität löst Butler beide aus einer Logik der Zweiwertigkeit bzw. der Wider-
spruchsfreiheit und reiht sie ein in Derridas „Begriffe“ der Unentscheidbarkeit:
„Wenn das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits voll-
ständig die Macht determiniert (sondern immer beides zum Teil), dann geht das Sub-
jekt über die Logik der Widerspruchsfreiheit hinaus, es ist gleichsam ein Auswuchs,
ein Überschu[ss] der Logik. Die Behauptung, das Subjekt gehe über das Entweder/
oder hinaus, besagt nicht, da[ss] es in irgendeiner selbstgeschaffenen Freizone lebt.
Das Hinausgehen ist kein Entkommen, und das Subjekt geht genau über das hinaus,
an was es gebunden ist. In diesem Sinn kann das Subjekt die Ambivalenz seiner eige-
nen Konstitution nicht ersticken. Schmerzlich, dynamisch und vielversprechend, ist
dieses Schwanken zwischen dem Schon-Da und dem Noch-Nicht ein Scheideweg,
der jedem einzelnen Schritt seiner Überquerung anhängt, eine sich ständig wieder-
holende Ambivalenz [im Original: „reiterated ambivalence“, Anm. d. Verfasserin]
im Kern der Handlungsfähigkeit [im Original: „at the heart of agency“, Anm. d. Ver-
fasserin]“ (Butler 1997a, S. 18). Sprachlich-diskursive Ambiguität, die Ambivalenz
auf der Wertebene erzeugt, verhindert die Statik und Endgültigkeit einer eindeutigen
Festlegung des Subjekts und ermöglicht Reartikulationen und Reiterationen, die das
jeweils abgewertete und ausgegrenzte Andere wieder mit ins Spiel bringen – ohne
dass die Macht diskursiver Normierungen geleugnet würde und ohne dass angenom-
men würde, man könne „einfach so“ aus ihnen aussteigen. Da Subjekte nicht außer-
halb der diskursiven Ordnung, die sie selbst als Subjekte konstituiert, sprechen und
handeln können, haben sie nur die Möglichkeit, die Normen dieser Ordnung immer
wieder aufs Neue zu wiederholen, zu zitieren. Dabei können sich die Normen ver-
schieben, wenn ihre Doppeldeutigkeit aufgezeigt wird bzw. sie doppeldeutig zitiert
werden.
Vor dieser Praxis der reiterierend resignizierenden Dekonstruktion ist bei Butler
auch das Konzept der Ambivalenz nicht gefeit, das Freud in Trauer und Melancho-
lie11 entfaltet. Butler greift es in Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung
auf und schreibt es in ihrer Relektüre neu ein.12 Die Pointe ihrer Argumentation mün-
det darin, dass die die „Melancholie auszeichnende Ambivalenz“ – nach Butlers Les-
art – überhaupt erst Reexivität als Form einer Rückwendung des Ich gegen sich
selbst ermöglicht, in der das Ich sich selbst zum Objekt wird. So kommt sie am Ende
ihrer Relektüre zu dem Schluss, dass es „ohne Ambivalenz überhaupt kein „man“
11 Vgl. Freud (1969, S. 427–447).
12 In diesem Buch geht es ihr „um eine psychoanalytische Kritik an Foucault“, da sich ihres Erachtens
„die Subjektivation und insbesondere der Vorgang, bei dem man zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung
wird, ohne die psychoanalytische Erklärung der formativen und generativen Wirkungen von Restriktion
und Verbot gar nicht verstehen“ lasse, aber zugleich auch darum, „einige romantisierende Vorstellun-
gen vom Unbewu[ss]ten als notwendigem Widerstand kritisch unter die Lupe“ zu nehmen (Butler 2001,
S. 84).
369
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
[im Original: „one“, Anm. d. Verfasserin] zu geben [scheint], was heißen soll, da[ss]
die für die Selbstwerdung erforderliche ktive Verdoppelung die Möglichkeit einer
strengen Identität ausschließt“13 (Butler 2001, S. 184). Regulative Forderungen nach
der Überwindung von Ambivalenz zugunsten kohärenter (oder „strenger“) Identi-
tät werden durch diese dekonstruktive Resignikation des Ambivalenzkonzepts ad
absurdum geführt.14
Reiterierte Ambivalenz als Ermöglichung transformatorischer Selbst-Bildung
Butler zeigt auf, wie die Konstitution des Selbst doch immer im Kraftfeld gesell-
schaftlicher Machtstrukturen zu denken ist; jedoch stellt Butler stärker als Foucault
die Frage nach der Möglichkeit einer – wenn auch radikal bedingten – subjektiven
Handlungsfähigkeit ins Zentrum ihrer Überlegungen. Das macht ihre Theorie für bil-
dungstheoretische Ansätze besonders anschlussfähig. Freilich bedeutet „Bildung“,
aus dieser Perspektive gesehen, „gerade nicht Selbstndung, Selbsterhaltung oder
Selbstverwirklichung auf dem Grunde einer Überfülle an Möglichkeiten, die nur
noch zu verwirklichen sind“, sondern wäre mit Meyer-Drawe als „eine konikthafte
Lebensführung, ei[n] spezische[r] Prozess der Subjektivation, der eingespannt bleibt
zwischen reiner Autonomie und bloßer Heteronomie“ zu beschreiben (Meyer-Drawe
2007, S. 86). Die unentscheidbare und deshalb zu ständiger Reiteration und Resigni-
kation drängende Ambivalenz von Autonomie und Heteronomie des Subjekts wäre
aus dieser Perspektive dann als Möglichkeit einer Handlungsfähigkeit zu sehen,
die auf die performative Generierung neuer Figuren des Selbst- und Weltverhält-
nisses zielt. In dieser Form der Handlungsfähigkeit des Subjekts scheint bei Butler
die Möglichkeit einer „Selbst-Bildung … im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien,
von denen man geformt ist“ auf – wobei das Selbst jedoch in dieser Form der Selbst-
Bildung seine „Deformation als Subjekt riskiert“ (Butler 2002b, S. 265). Ambivalenz
erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als Hindernis, das es im Blick auf die
regulative Idee eines „einheitlichen“ ambivalenzfreien Subjekts zu überwindenden
gilt, sondern als Impulskraft von transformatorischen Bildungsprozessen. Das „ein-
heitliche Subjekt“ erscheint hingegen in Butlers Perspektive als „eines, das schon
weiß, was es ist, das in derselben Weise in ein Gespräch eintritt, wie es das Gespräch
beendet, das es unterlässt, die eigenen epistemologischen Gewissheiten in der Begeg-
nung mit dem anderen zu riskieren … und die Selbstveränderung ironischerweise im
Namen des Subjekts ablehnt“ (Butler 2009, S. 361). Wenn sich Bildung als „Trans-
formation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstbezugs“ (Koller et al. 2007,
S. 7) beschreiben lässt, dann ist nach Butler das einheitliche Subjekt „ironischer-
weise“ dadurch gekennzeichnet, dass es sich transformatorischen Bildungsprozessen
zu verweigern sucht. Für eine zeitgemäße Bildungstheorie ermöglicht Butlers Per-
spektive eine neue Sicht auf das Konzept der Ambivalenz, die hilft, Bildungsprozesse
im Kontext von diskursiven Normierungen des Subjekts fassen zu können.
13 Vgl. im Original, S. 198: „Indeed, there appears to be no ‚one‘ without ambivalence, which is to say that
the ctive redoubling necessary to become a self rules out the possibility of strict identity.“
14 Vgl. als ausführlichere Interpretation von Butlers Bezug auf die Psychoanalyse: Campbell (2001,
S. 35–48).
370
1 3
M. Haller
Literatur
Berndt F, Kammer S (2009) Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleich-
zeitiger Zweiwertigkeit. In: Berndt F, Kammer S (Hrsg) Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz.
Königshausen & Neumann, Würzburg, S 7–30
Butler J (1991) Gender Trouble. Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Butler J (1997a) Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Suhrkamp, Frankfurt
a. M.
Butler J (1997b) The psychic life of power. Theories in subjection. Stanford University Press, Stanford
Butler J (2001) Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Butler J (2002a) Ein Interview mit Judith Butler. In: Bublitz H (Hrsg) Judith Butler zur Einführung. Junius,
Hamburg, S 123–133
Butler J (2002b) Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. Dtsch Z Philos 50:249–265
Butler J (2006) Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Butler J (2009) Die Frage nach der sozialen Veränderung. In: Butler J (Hrsg) Die Macht der Geschlechter-
normen und die Grenzen des Menschlichen. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S 325–366
Campbell K (2001) The plague of the subject. Psychoanalysis and Judith Butler’s „Psychic life of power“.
Int J Sex Gend Stud 6:35–48
Culler J (1988) Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Rowohlt,
Reinbek
Derrida J (1988a) Die différance. In: Derrida J (Hrsg) Randgänge der Philosophie. Passagen, Wien
S 29–52
Derrida J (1988b) Memoires. Für Paul de Man. Passagen, Wien
Derrida J (1988c) Signatur Ereignis Kontext. In: Derrida J (Hrsg) Randgänge der Philosophie. Passagen,
Wien, S 291–314
Derrida J (1995) Platons Pharmazie. In: Derrida J. (Hrsg) Dissemination. Passagen, Wien, S 69–190
Freud S (1969) Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. 10. Fischer, Frankfurt a. M., S 427–447
Kiesel H (2009) Brechts und Eislers „Maßnahme“ unter dem Aspekt ästhetischer und politischer Ambi-
guität. In: Berndt F, Kammer S (Hrsg) Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Königshausen &
Neumann, Würzburg, S 307–320
Kofman S (1988) Derrida lesen. Passagen, Wien (Titel der Originalausgabe: Lectures de Derrida, Paris
1984)
Koller H-C, Marotzki W, Sanders O (2007) Einleitung. In: Koller H-C, Marotzki W, Sander O (Hrsg)
Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungs-
prozesse. Transcript, Bielefeld, S 7–11
Krug WT (1832) Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur
und Geschichte. Brockhaus, Leipzig
Lüscher K (2009) Ambivalenz. Eine soziologische Annäherung. In: Dietrich W, Lüscher K, Müller C
(Hrsg) Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für
theologisches und kirchliches Arbeiten. TVZ, Zürich, S 17–67
Lüscher K (2011) Ambivalenz weiterschreiben. Eine wissenssoziologisch-pragmatische Perspektive, in
diesem Heft
Meyer-Drawe K (1990) Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. Kirch-
heim, München
Meyer-Drawe K (2007) „Du sollst Dir kein Bildnis noch Gleichnis machen…“ Bildung und Versagung. In:
Koller H-C, Marotzki W, Sanders O (Hrsg) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu
einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Transcript, Bielefeld, S 83–93
Ricken N (2007) Von der Kritik der Disziplinarmacht zum Problem der Subjektivation. Zur erziehungs-
wissenschaftlichen Rezeption Michel Foucaults. In: Kammler C, Parr R (Hrsg) Foucault in den Kul-
turwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Synchron, Heidelberg, S 157–176
Wagner-Egelhaaf M (2009) Überredung/Überzeugung. Zur Ambiguität der Rhetorik. In: Berndt F, Kammer
S (Hrsg) Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Königshausen & Neumann, Würzburg, S 33–51
Wirth U (2009) Ambiguität im Kontext von Witz und Komik. In: Berndt F, Kammer S (Hrsg) Amphibolie
– Ambiguität – Ambivalenz. Königshausen & Neumann, Würzburg, S 321–332
Ziegler R (2010) Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsver-
wendung. Z Literaturwiss Linguist 40:125–171
371
1 3
Dekonstruktion der „Ambivalenz“
Miriam Haller, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, Stellvertretende Leiterin des Centrums für
Alternsstudien, Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln; Geschäftsführerin des Arbeits-
bereichs Gasthörer- und Seniorenstudium der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Kulturwissen-
schaftliche Alter(n)sstudien, Erwachsenenbildung, Geragogik.