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ANALYSEN
Zusammenfassung: Basierend auf den vorliegenden Forschungen werden drei wesentliche As-
pekte des Einsatzes von Videoüberwachung diskutiert: (1) Videoüberwachung erfährt eine hohe
Akzeptanz, steigert aber kaum das Sicherheitsgefühl; (2) sie wird zwar umfassend eingesetzt, ihre
Efzienz ist aber nicht ausreichend belegt; (3) es geht damit eine neue Form gesellschaftlicher
Kontrolle einher. Ziel des folgenden Beitrags ist es, diese drei Problemfelder zu diskutieren und
daraus Schlussfolgerungen für ein interdisziplinäres Verbundprojekt zu Mustererkennung und Vi-
deo-tracking zu ziehen.
Schlüsselwörter: Videoüberwachung · Sicherheit · Soziale Kontrolle ·
Video-Tracking · Videoüberwachungsanlage · Öffentlicher Raum
How can we investigate “smart” video surveillance?
A review of ten years of research on video surveillance
Abstract: In this article, we discuss the empirical research on closed circuit television (CCTV)
that points to three major problems: (1) video surveillance is highly accepted, but it has hardly
improved people’s sense of security in their everyday routines. (2) Although CCTV systems are
widely employed in public and private spaces, any evidence that they actually contribute to crime
prevention is limited. (3) CCTV systems accompany new forms of social control. By discussing
these problems, we draw conclusions for an interdisciplinary research project on pattern recogni-
tion and video tracking technologies.
Keywords: Video surveillance · Security · Social control · Video-tracking ·
Closed circuit television · Public space
Z Außen Sicherheitspolit (2011) 4:585–593
DOI 10.1007/s12399-011-0222-7
Wie „intelligente“ Videoüberwachung erforschen?
Ein Resümee aus zehn Jahren Forschung zu
Videoüberwachung
Maja Apelt · Norma Möllers
Online publiziert: 12.10.2011
© VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011
Maja Apelt leitet das Teilprojekt „MuViT – soziologische Perspektiven auf Mustererkennung
und Video Tracking“. Norma Möllers arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im MuVit-Projekt
und promoviert zur Technikgenese automatisierter Videosysteme.
Prof. Dr. M. Apelt () · N. Möllers
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Potsdam,
August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam, Deutschland
E-Mail: maja.apelt@uni-potsdam.de
N. Möllers
E-Mail: norma.moellers@uni-potsdam.de
586 M. Apelt und N. Möllers
1 Einleitung
Videoüberwachung gehört inzwischen nahezu selbstverständlich zum normalen Stadtbild
moderner Großstädte. Flughäfen, Bahnhöfe, Banken oder Kaufhäuser sind ohne Kame-
ras kaum mehr vorstellbar. So ist es jenseits döricher Strukturen unmöglich geworden,
am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wollte man der Videoüberwachung entgehen
(vgl. Hempel und Töpfer 2004; Hempel und Metelmann 2005, S. 9–10). Und obwohl die
Diskussion um den Nutzen und die datenschutzrechtlichen, sozialen und ethischen Pro-
bleme von Videoüberwachung noch lange nicht beendet ist, werden die Systeme ständig
weiterentwickelt und die Einsatzgebiete erweitert. Damit ist Videoüberwachung zu einer
üblichen Maßnahme zum Schutz der Städte und öffentlichen Räume vor Kriminalität,
Vandalismus oder auch Terrorangriffen geworden.
Will man aber die Effektivität und die Folgen von Videoüberwachung bewerten, so
muss man sich zunächst mit dem Begriff der Sicherheit auseinandersetzen. Sicherheit
umfasst so verschiedene Bereiche wie die soziale, innere und äußere Sicherheit, die
Abwesenheit oder Vermeidung von Armut, Obdachlosigkeit, von Gewalt, Kriegen und
Naturkatastrophen. Dass Sicherheit – ähnlich der Gesundheit und Bildung – einen gesell-
schaftlichen Zentralwert bezeichnet, ist weitgehend unstrittig. Mit der gesellschaftlichen
Anerkennung eines Zentralwerts etablieren sich zugleich dafür zuständige Funktionssys-
teme, die von der Relevanz dieses Zentralwerts abhängig und folglich diesen hervorzuhe-
ben beständig bemüht sind. Diese Funktionssysteme allein können jedoch die Herstellung
von Sicherheit oder Gesundheit nie absichern.
Die Gewährleistung von Sicherheit ist als staatliche Aufgabe fest verankert. Aus dem
Schutz seiner Bürger legitimiert der Staat seine Existenz, die Pichten seiner Bürger
und zugleich die Einschränkung ihrer Rechte, letztlich also seinen Herrschaftsanspruch.
Welche Institutionen die verschiedenen Aspekte von Sicherheit verantworten, ist je nach
Verfassung unterschiedlich. So ist die Polizei beispielsweise. zwar vorrangig für die Kri-
minalitätsbekämpfung zuständig, für die Prävention aber sind ganz andere Institutionen
häug viel wichtiger, wie etwa Schulen oder sozialpädagogische und therapeutische Ein-
richtungen. Sicherheit hat darüber hinaus ganz unterschiedliche Bezüge. Zum einen geht
es um die Frage, inwieweit bestimmte Risiken und Gefahren tatsächlich begrenzt werden
können oder wie hoch die Rate der Kriminalität ist. Dieser Bezug erscheint zunächst als
objektiv, jedoch zeigen allein schon die Auseinandersetzungen um die Kriminalitätsrate,
dass auch diese „objektive“ Sicherheit hochgradig sozial konstruiert ist, d. h. dass sie
davon abhängig ist, was als Risiko oder als kriminelles Verhalten registriert wird. Auf der
anderen Seite geht es um das subjektive Empnden, also die Frage, wie sicher man sich
fühlt. Bezieht man diese Einsichten auf Videoüberwachung als Technologie der Sicher-
heitsproduktion, so fallen dabei mindestens drei sozialwissenschaftlich wichtige Aspekte
ins Auge:
1. Videoüberwachung erfährt in der Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung; das
subjektive Sicherheitsgefühl aber wird durch den Einsatz von Videoüberwachungs-
systemen nicht relevant gesteigert. Fraglich ist also, was hinter diesem Auseinander-
fallen von Akzeptanz der Videoüberwachung und subjektivem (Un-)Sicherheitsgefühl
steckt.
587Wie „intelligente“ Videoüberwachung erforschen?
2. Der hohen Akzeptanz von Videoüberwachung steht ebenso entgegen, dass deren
Effektivität kaum nachweisbar ist, weil die Bewertungskriterien für die Effektivi-
tät von Sicherheitsmaßnahmen generell problematisch sind und die Anwendung von
Videoüberwachungssystemen technischen, rechtlichen oder auch psychischen Ein-
schränkungen unterliegt.
3. Im Anschluss an Foucault kritisieren Sozialwissenschaftler an der Ausbreitung von
Videoüberwachung, dass mit dem uneingelösten Sicherheitsversprechen ein Diszi-
plinierungseffekt einhergeht. Videoüberwachung sei Teil und Medium einer neuen
Form von gesellschaftlicher Kontrolle und beeinusse die Strukturen sozialer In- und
Exklusion einer Gesellschaft.
Im vorliegenden Beitrag werden diese drei Problemfelder auf der Grundlage unserer bis-
herigen soziologischen Forschungen zur Videoüberwachung diskutiert. Abschließend
werden wir daraus Schlussfolgerungen für weiterführende Untersuchungen über soge-
nannte „intelligente“ Formen der Videoüberwachung im Rahmen eines interdisziplinä-
ren vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts
namens MuViT (Mustererkennung und Video Tracking) ziehen.1
2 Akzeptanz und Sicherheitsgefühl
Die empirischen Studien zur Akzeptanz der Videoüberwachung zeigen, dass diese kaum
mit dem subjektiven Sicherheitsgefühl korreliert. So lässt sich konstant eine relativ hohe
Akzeptanz von Videoüberwachung feststellen. Die Zustimmung zur Videoüberwachung
liegt in Deutschland – je nach Untersuchung – bei 50 bis 90 %. Im europäischen Ver-
gleich konstatiert Töpfer (2004, ähnlich Heger 2010, S. 351), dass die Zustimmung zur
Videoüberwachung mit deren Ausbreitung steigt. So soll die Befürwortung von Video-
überwachungsanlagen entsprechend ihrer Installationsdichte in London die 90 %-Marke
erreicht haben, in Berlin lag sie 2004 bei etwa 50 und in Wien bei lediglich 25 % der
Bewohner (Töpfer 2004; Heger 2010, S. 351). Das subjektive Sicherheitsgefühl steigt
mit der Installation solcher Systeme jedoch zumeist nur in sehr viel geringerem Maße
(Hölscher 2003; Kazig et al. 2006; Klocke 2001; Reuband 2001). So fühlten sich laut
einer Studie des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie geförderten
Verbundprojektes SuSi-PLUS (Subjektives Sicherheitsempnden im Personenverkehr
mit Linienbussen, U-Bahnen und Stadtbahnen) Befragte im öffentlichen Nahverkehr in
Mannheim eher sicher, wenn eine Haltestelle gut beleuchtet, sauber und gepegt war oder
wenn sich Servicepersonal vor Ort befand (Institut Wohnen und Umwelt 2005, S. 8).
1 Das seit 2010 durch das BMBF geförderte Projekt MuViT analysiert aus ethischer, rechts-
wissenschaftlicher, sozialpsychologischer und soziologischer Perspektive neue automatisierte
Videoüberwachungssysteme. Das ethische Teilprojekt leitet Regina Ammicht-Quinn (IZEW
Tübingen), das sozialpsychologische Teilprojekt leitet Fritz Strack (Universität Würzburg).
Den rechtswissenschaftlichen Teilprojekten stehen Ralf P. Schenke (Universität Würzburg) und
Thomas Würtenberger (Universität Freiburg) vor. Weitere Informationen dazu siehe http://www.
uni-tuebingen.de/einrichtungen/internationales-zentrum-fuer-ethik-in-den-wissenschaften/for-
schung/ethik-und-kultur-sicherheitsethik/forschungsschwerpunkt-sicherheitsethik/muvit.html.
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Kaufmann (1973, S. 148), Bonß (1995, S. 91) u. a. interpretieren dieses subjektive
Sicherheitsgefühl auch als ein Phänomen der Individualisierung und Urbanisierung.
Erwartungssicherheit wird immer weniger durch traditionelle Bindungen in Familie und
Verwandtschaft, sondern mehr und mehr durch von konkreten Individuen unabhängige
Funktionssysteme, also z. B. die Institutionen des Geldverkehrs oder die Transportsys-
teme, gewährleistet. So zeigt die Studie von SuSi-PLUS, dass Unsicherheit nur sehr
begrenzt von technischen Systemen auszugehen scheint. Unsicherheit besteht vielmehr
gegenüber fremden, unbekannten Individuen und Situationen sowie in unbelebten oder
verwahrlosten Gegenden (Institut Wohnen und Umwelt 2005, S. 7; ähnlich Reuband
2001, S. 8).
Das Auseinanderfallen von realen Risiken und Bedrohungen und subjektivem (Un-)
Sicherheitsgefühl trifft man auch in anderen Bereichen: So fühlen sich Frauen – Ruhne
(2003) zufolge – eher in öffentlichen als in privaten Räumen unsicher und durch sexuelle
Gewalt bedroht, obwohl ca. zwei Drittel der Fälle sexueller Gewalt im Nahbereich von
Familie und Haushalt stattnden. Ähnlich ist die elterliche Angst vor sexuellen Über-
griffen auf Kinder stetig steigend, obwohl die Zahlen rückläug sind. Und das Fliegen
mit dem Flugzeug wird entgegen allen Statistiken als gefährlicher empfunden als das
Fahren mit dem Auto. Die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit und sozialen (Un-)
Gewissheiten (Bonß 1995, S. 91) sind vor allem davon abhängig, welche Erwartungen in
der Gesellschaft bestehen und wie bestimmte Gefahren und Risiken thematisiert, wahr-
genommen und prozessiert werden. Ein wichtiger Faktor für ein erhöhtes subjektives
Unsicherheitsgefühl ist die mediale Skandalisierung von Risiken. Dies vollzieht sich
ganz unabhängig von statistischen Entwicklungen. Wir leben in einer Epoche, in der die
Risiken, von Naturkatastrophen, Armut oder Kriminalität betroffen zu sein, noch nie so
gering waren, in der die empfundene Unsicherheit solchen Bedrohungen gegenüber aber
sehr präsent ist.
Da der öffentliche Diskurs sowohl die Akzeptanz von Sicherheitsmaßnahmen als auch
das subjektive Sicherheitsgefühl – diese aber auf jeweils sehr unterschiedliche Weise –
beeinusst, ist es notwendig, zunächst diesen Diskurs um die Risiken und Chancen des
Einsatzes von Videoüberwachung zu analysieren. Auf dieser Grundlage kann dann unter-
sucht werden, wie dieser sich in der Wahrnehmung von Überwachungstechnologien
niederschlägt.
3 Die Effektivität von Videoüberwachung
Die große Akzeptanz der Videoüberwachung steht auch im Gegensatz dazu, dass die
Effektivität des Einsatzes von Videokameras kaum belegt ist. Dahinter steht vor allem,
dass beim Einsatz von Videoüberwachungsanlagen (Closed Circuit Television, CCTV)
die Ziele selten eindeutig sind; diese werden vielmehr häug im Laufe des Einsatzes ex
post an den sichtbaren Wirkungen ausgerichtet.
Generell kann man für Videoüberwachung vier verschiedene Zielsetzungen unter-
scheiden. Im Mittelpunkt stehen zum ersten die erleichterte Täteridentizierung und
Strafverfolgung – das gespeicherte Bildmaterial dient der schnelleren Überführung eines
Täters und als Beweis einer Straftat – und zum zweiten die Hoffnung, Personalkosten
589Wie „intelligente“ Videoüberwachung erforschen?
zu senken, indem die Videokameras Sicherheitspersonal ersetzen, das sonst vor Ort ein-
gesetzt würde. Dies bedeutet also nicht, dass mit der Videoüberwachung auch Straftaten
verhindert werden (vgl. dazu Klauser 2005). Eine dritte Zielsetzung ist die Abschre-
ckung, indem durch die Installation der Videokameras das Entdeckungsrisiko für poten-
zielle Täter erhöht wird. Laut der Studien von Eier und Brandt (2005, 2007; Eier 2008)
ist diese Wirkung aber nur unzureichend belegt. Zum einen gelingt diese Abschreckung
eher bei kleineren bzw. bei sogenannten Blue-collar-Delikten, zum anderen führt die Ins-
tallation häug zur Verlagerung von Delikten. Andere Studien, etwa von Bornewasser
und Schulz (2007), zeigen, dass Videoüberwachung nur dann kriminalpräventive Effekte
erzeugen kann, wenn sie in weitere Strategien der Polizei bzw. des Sicherheitspersonals
eingebettet ist.
Die vierte Zielsetzung bezieht sich auf die Disziplinierung der Beobachteten und die
Exklusion von bestimmten sozialen Gruppen. Dies geht noch weiter als die reine Abschre-
ckung, weil damit die Beobachteten in Antizipation möglicher Folgen ihr Verhalten
grundsätzlich ändern sollen: Potenzielle Täter verzichten auf abweichende Handlungen,
potenzielle Opfer auf möglicherweise riskantes Verhalten. Inwieweit diese Zielsetzung
für moderne Gesellschaften akzeptabel ist, ist stark umstritten. So zeigen Studien aus
Großbritannien und Kanada, dass sich die Disziplinierung zumeist nicht nur auf kriminel-
les, sondern auch auf andere Formen abweichenden Verhaltens (etwa den Aufenthalt von
Jugendgruppen oder Obdachlosen in Kaufhäusern) bezieht (McCahill 2002; Walby 2005).
Zugleich ist unklar, wie stark die Disziplinierungsprozesse wirken. So haben Welsh und
Farington (2002) festgestellt, dass diese durch Gewöhnungseffekte konterkariert werden.
Die Effekte von Videoüberwachung sind folglich schwer nachweisbar.
Die Problematik der Effektivitätsmessung beruht also auf den häug diffusen Zielset-
zungen des Einsatzes von Videoüberwachung, der geringen Reexion über ihre Folgen
und der unzureichenden Beachtung der die Effektivität beeinussenden Rahmenbedin-
gungen. In die Erforschung automatisierter Videoüberwachung sollen deshalb auch die
Ziele der Anwender und die Grundannahmen der Techniker und Ingenieure, die diese
Technologien entwickeln, einbezogen werden.
4 Eine veränderte Form der sozialen Kontrolle
An der Zielsetzung der Disziplinierung hat sich die sozialwissenschaftliche Diskussion
in besonderem Maße entzündet. Zurück geht die Diskussion auf Foucaults Disziplinie-
rungsthese, die er u. a. mit Bezug auf das Bentham´sche Panoptikon entwickelt hat. Die
Idee ist, dass durch die umfassende Sichtbarkeit der Gefangenen und die Unsichtbarkeit
des Wärters die Gefangenen nie wissen, wann sie beobachtet werden. Um Sanktionen zu
entgehen, müssen sie die Kontrolle und damit die Herrschaft verinnerlichen. Unter der
panoptischen Kontrolle disziplinieren sich die Gefangenen somit selbst.
Ähnlich asymmetrisch erscheint die Kontrolle der Videoüberwachung, da der Beob-
achter unsichtbar ist, während die Beobachteten nie wissen, ob und inwieweit sie der
Beobachtung unterliegen. Dass sich durch die permanente Beobachtung Verhalten ändert,
ist zwar schon aus dem eigenen Erleben unmittelbar evident, der kontrollierte empirische
Nachweis aber ist problematisch. Theoretisch lässt sich das aus dem Disziplinierungs-
590 M. Apelt und N. Möllers
konstrukt ableiten, da in diesem das Individuum und die internalisierte gesellschaftliche
Struktur als untrennbares Bedingungsgefüge aufgefasst werden. Insofern gehören bei
Foucault Disziplinierung und Individualisierung – Beherrschung und Selbstbeherrschung
– untrennbar zusammen. In der empirischen Forschung besteht das Problem darin, die
unterschiedlichen Motive des Handelns zu erfassen, bei verinnerlichtem Verhalten also
den Anteil der Beobachtung durch Überwachungssysteme herauszuarbeiten.
Die veränderte soziale Kontrolle im Zuge von Videoüberwachung geht aber – folgt
man stadtsoziologischen Studien – noch wesentlich weiter. Sie wirkt sich nicht zuletzt
auf die Strukturen sozialer Ungleichheit aus. Ausgangspunkt dieser Argumentation ist,
dass Videoüberwachung vorzugsweise in Stadt- und Einkaufszentren, im öffentlichen
Nah- und Fern- sowie im Flugverkehr, auf Straßen, in Parkhäusern, Regierungsvierteln
und teilweise in Wohngebieten eingesetzt wird. Im Zuge der Tertiärisierung von Produk-
tions- zu Konsumtionslandschaften (Wehrheim 2003, S. 23) werden diese Gebiete mehr
und mehr von öffentlich zugänglichen, aber privaten Räumen dominiert. Diese innerstäd-
tischen quasiöffentlichen Räume sind Konsumräume geworden, in denen sich vorrangig
diejenigen aufhalten sollen, die konsumieren können und sich nicht von denjenigen gestört
fühlen sollen, die dazu nicht bereit oder in der Lage sind. Videoüberwachung wurde dabei
– so z. B. Wehrheim (2003) – zum probaten Mittel der Identizierung und Aussonderung
von abweichenden, störenden Gruppen und damit auch zu einem Mittel der „Optimierung
von Distributions- und Konsumabläufen […]. Eigentümer und Sicherheitsdienste denie-
ren zeitlich, örtlich und situativ hochvariable Devianzformen“ (Wehrheim 2003, S. 24).
Die Gefahr besteht also, dass Videoüberwachung damit zu einem Medium des Ausschlus-
ses sozial unterprivilegierter oder unerwünschter Personen wird (Wehrheim 2003, S. 28).
Durch die Errichtung von Shopping Malls, Themenparks und der Privatisierung öffentli-
cher Aufgaben (Bahn, öffentlicher Nahverkehr) wird dieser Prozess noch verstärkt.
Studien zur britischen Überwachungspraxis zeigen, dass der größte Teil der verdäch-
tigten Personen jung, schwarz und männlich war (Norris und Armstrong 1999). Hautfarbe
und ethnische Zugehörigkeit, so die Schlussfolgerungen von Helten und Fischer (2004),
Norris und Armstrong (1999) und Walby (2005), steuern die Aufmerksamkeit des Sicher-
heitspersonals, so dass diese Technologien die Diskriminierung ethnischer und sozialer
Gruppen nicht nur reproduzieren, sondern zu ihrer Verfestigung und Verschärfung beitra-
gen. Es bedarf weiterer Untersuchungen, ob dies so auch für Deutschland gilt und inwie-
weit dies durch automatisierte Systeme neutralisiert oder gar verstärkt wird, indem z. B.
Zeichen sozialer Normen in die technische Infrastruktur eingeschrieben werden (vgl.
dazu Lianos und Douglas 2000, S. 266; Introna und Wood 2004; Norris 2003, S. 277).
So wiesen beispielsweise Introna und Wood (2004, S. 190) auf den starken Ethnie- und
Geschlechter-Bias einer von ihnen untersuchten Gesichtserkennungstechnologie hin, die
besser Männer als Frauen, und eher dunkle als helle Hautfarben detektierte.
Damit wird deutlich, dass Videoüberwachungssysteme mehr sind als bloße Instru-
mente der Gewährleistung von Sicherheit. Sie vermitteln Konstruktionen von Normali-
tät, Abweichung und Kriminalität. Diese Einsicht muss einem Projekt zur Erforschung
von Überwachungssystemen zugrunde liegen. Der Einsatz von Überwachungssystemen
verändert die Formen der sozialen Kontrolle und die Strukturen sozialer Ungleichheit.
Insofern ist es von erheblicher Bedeutung, dass der Einsatz solcher Technologien in sei-
nen Folgen analysiert und kritisch bewertet wird. Weiterhin muss geprüft werden, wie
591Wie „intelligente“ Videoüberwachung erforschen?
der Gebrauch von Videoüberwachungssystemen rechtlich zu regeln ist. Die empirischen
Analysen und normativen Bewertungen dafür vorzulegen, ist Ziel des MuViT-Projektes.
5 Schlussfolgerungen für die eigene Forschung
Mit der Videoüberwachung, insbesondere mit den automatisierten, „intelligenten“ Sys-
temen, stellen sich sowohl empirische Fragen als auch normative Probleme, die einer
einzelwissenschaftlichen Betrachtung Grenzen setzen. Notwendig ist es daher, dass
empirische und normative Wissenschaften bei der Erforschung der Videoüberwachung
eng miteinander kooperieren. Dem wird mit dem genannten interdisziplinären Verbund-
projekt „Mustererkennung und Video Tracking: sozialpsychologische, soziologische,
ethische und rechtswissenschaftliche Analysen“ Rechnung getragen. Das Verbundprojekt
zielt nicht mehr auf die traditionelle Videoüberwachung, sondern auf neuere Video-track-
ing-Systeme (Smart Closed Circuit Television Systems), bei denen die Auswertung der
Bilder automatisch erfolgt. Dabei sollen die aus der Technikentwicklung und -implemen-
tierung resultierenden Folgen und Nebenfolgen zusammengetragen und kritisch evaluiert
werden. Auf Basis der empirischen Ergebnisse der soziologischen und sozialpsychologi-
schen Teilprojekte über die Voraussetzungen und Folgen des Einsatzes von Smart-CCTV-
Systemen entwickeln die rechtswissenschaftlichen und ethischen Teilprojekte Kriterien,
wie diese Systeme rechtskonform und ethisch vertretbar entwickelt und eingesetzt wer-
den könnten.
Ausgehend von den hier diskutierten Problemstellungen ist das Ziel des soziologischen
Teilprojekts im ersten Schritt die Erfassung und Analyse des öffentlichen Diskurses, wäh-
rend das sozialpsychologische Teilprojekt untersucht, welche Auswirkungen die neuen
Technologien auf die Wahrnehmung, das Erleben und das Sozialverhalten von Beobach-
teten haben. Dabei wird unter Laborbedingungen getestet, wie der öffentliche Diskurs
über Vorzüge und Gefahren der Videoüberwachung die Reaktionen auf diese verändert.
Das soziologische Teilprojekt wird dann in einem späteren Teilabschnitt ein Pilotpro-
jekt beobachten und kritisch begleiten, das den Einsatz von Smart-CCTV-Systemen im
öffentlichen Nahverkehr testet. In zwei unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Teil-
projekten wird wiederum analysiert, wie die deutsche Rechtsordnung den Einsatz dieser
Systeme rahmt und welche rechtlichen Probleme mit der Implementierung der Musterer-
kennungs- und Video-tracking-Techniken zu lösen sind. Zum anderen wird international
vergleichend untersucht, wie die rechtlichen Probleme dieser Systeme in anderen Rechts-
ordnungen bewertet werden und inwieweit diese Bewertungen und Perspektiven für die
deutsche Rechtsordnung nutzbar gemacht werden können.
Schließlich hat das ethische Teilprojekt das Ziel, die Folgen der Technologien aus ethi-
scher Perspektive zu bewerten und Kriterien für die Akzeptabilität der Überwachungs-
technologien aufzustellen. Dabei geht es u. a. um die Fragen, ob bzw. welche besonders
betroffenen Personengruppen es gibt, welche Einsatzorte akzeptabel wären und welche
Einschränkungen sich für das individuelle und gesellschaftliche Leben aus dem Einsatz
von automatisierter Videoüberwachung ergeben.
Dieses Gesamtprojekt wird seit Mai 2010 vom BMBF im Rahmen des Programms für
zivile Sicherheitsforschung für drei Jahre gefördert. Wichtig ist, sich dabei gewahr zu
592 M. Apelt und N. Möllers
werden, dass das Projekt, wie alle anderen Studien, nicht außerhalb des Diskurses steht,
sondern seinen Teil zur öffentlichen Wahrnehmung und Beurteilung von Videoüberwa-
chung beiträgt.
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