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Preprint. Überarbeitete Fassung erschienen 2015 in Kehrein, R., Lameli, A. & Rabanus, S.
(Hrsg.): Areale Variation des Deutschen – Projekte und Perspektiven. Berlin/Boston: de
Gruyter, 349–377.
Fundierung linguistischer Basiskategorien.
Agens-Defokussierung und Diathese in den deutschen Regionalsprachen
(Simon Kasper & Alexander Werth)
1. Gegenstand
1.1 Organisationsrahmen
Der vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderte LOEWE-
Schwerpunkt Fundierung linguistischer Basiskategorien hat das übergeordnete Ziel, für die
zentrale Humanwissenschaft Linguistik den Nachweis anzutreten, dass durch eine neuartige
Verbindung avancierter empirischer Forschung eine Fundierung ausgewählter linguistischer
Basiskategorien möglich ist. Eingebettet in das langfristige Marburger Forschungsprogramm
Theorie und Empirie der Sprachdynamik und Sprachkognition arbeiten zu diesem Ziel die
sprachdynamische Regionalsprachenforschung, die Langzeitdiachronie, die Neurolinguistik
sowie die Psycholinguistik und Sprachtheorie zusammen, sodass dem Schwerpunkt ein
gewisser methodenpluralistischer Zugang zugrunde liegt. Im LOEWE-Schwerpunkt arbeiten
am Standort Marburg Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener linguistischer
Teildisziplinen zusammen.1 Kerngedanke ist eine disziplinenübergreifende Vernetzung der
jeweiligen Forschungszugänge und eine Anwendung dieser Zugänge („Erkenntnisfenster“)
auf einen konkreten Untersuchungsgegenstand: der potentiellen linguistischen
Basiskategorie.2 Das Vorgehen ist dabei methodenpluralistisch, d. h. pro Projekt werden
mindestens zwei verschiedene Erkenntnisfenster zur empirischen Fundierung des
basiskategorialen Status sprachlicher Einheiten angesetzt. Die beiden variationslinguistisch
ausgerichteten Projekte des Schwerpunkts (insgesamt sind im Schwerpunkt acht Teilprojekte
angesiedelt) widmen sich dabei zwei Themenbereichen, die im Folgenden kurz skizziert
werden sollen.
Im Projekt Konstituenten des Phonologischen Wortes (Projektleiter: J. Herrgen, J. E. Schmidt
& A. Werth) wurde mit kurzzeitdiachronisch-variationslinguistischen, perzeptions-
linguistischen und neurolinguistischen Zugängen der basiskategoriale Status der
Konstituenten „Phonem“, „lexikalischer Ton“ und „Quantität“ untersucht. Die zentralen
1 In alphabetischer Reihenfolge: Magnus Birkenes, Ina Bornkessel-Schlesewsky, Nathanael Busch, Dagmar
Bronner, Michael Cysouw, Frank Domahs, Ulrike Domahs, Alexander Dröge, Felix Esser, Jürg Fleischer,
Giulia Grassi, Axel Harlos, Sara Hayden, Karen Henrich, Joachim Herrgen, Micheál Hoyne, Simon Kasper,
Christina Kauschke, Manuela Lanwermeyer, Natalia Levshina, Madjid Masum, Nina Niggemann, Frank
Nagel, Erich Poppe, Elisabeth Rieken, Josephine Rocholl, Jona Sassenhagen, Jürgen Erich Schmidt, Hanni
Schnell, Augustin Speyer, Christiane Ulbrich, Michael Waltisberg, Luming Wang, Stefan Weninger,
Alexander Werth, Paul Widmer, Richard Wiese. Nähere Informationen zu den beteiligten Wissenschaftlern
und zum Projekt finden sich unter <http://www.uni-marburg.de/fb09/lingbas>.
2 Linguistische Basiskategorien zeichnen sich nach den theoretischen Vorannahmen des Schwerpunkts dadurch
aus, dass sie a) in Perzeption und Produktion sprachliche Verarbeitungsprozesse mitbestimmen, b)
spezifische hirnphysiologische Verarbeitungssignaturen aufweisen, c) Sprachwandelprozesse steuern und d)
charakteristische Muster ihres Erwerbs und Störbarkeit zeigen.
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Projektziele sind a) das relative Gewicht segmentell-phonologischer Konstituenten im
Verhältnis zur prosodischen Gesamtstruktur des Wortes in der Sprachverarbeitung zu
bestimmen und b) die in der Kurzzeitdiachronie beobachtbaren Typen phonologischen
Wandels (vgl. Schmidt & Herrgen 2011) in der Laborsituation zu simulieren und auf
neuronale Kosten hin zu überprüfen. Methodologisch ist das Projekt damit an der Schnittstelle
von Regionalsprachenforschung und Neurolinguistik angesiedelt. Zentrales Ergebnis der
durchgeführten Studien ist, dass diejenigen Phonemkontraste zwischen Varietäten, die in der
Diachronie im Deutschen nachweisbar Sprachwandel durchlaufen haben, in der simulierten
Sprachkontaktsituation auch tatsächlich die größten neuronalen Kosten verursachen. Zudem
kann gezeigt werden, dass dauerhafte Synchronisierungsprozesse zwischen Dialekt und
Standardsprache zu reduzierten Hirnreaktionen und damit zu Beeinträchtigungen in der
Phonemdekodierung (Worterkennung) führen (vgl. Werth et al. einger.).
Das Projekt Der Zusammenhang der Kasusmarkierung, Serialisierungsfixierung und
Belebtheitshierarchie in den deutschen Regionalsprachen (Projektleiter: I. Bornkessel-
Schlesewsky, J. Fleischer & J. E. Schmidt) untersucht anhand einer umfangreichen
syntaktisch-semantischen Datenbankanalyse (s. u., Kap. 1.2 und 2) in Kombination mit einer
indirekten Fragebogenerhebung (Erfassung morphologischer Paradigmen in deutschen
Dialekten) und neurolinguistischen Methoden den Zusammenhang von Morphologie,
Serialisierungsfixierung und der Belebtheitshierarchie bei der (De-)Kodierung semantischer
Rollen in den deutschen Regionalsprachen. Gegenstand des Projektes ist hierbei die Frage, ob
ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung von Kasus- und Kongruenzdistinktionen und
der Flexibilität/Rigidität der Serialisierung in rezenten Dialekten des Deutschen besteht.
Zudem wird untersucht, ob 1. das Zusammenspiel beider syntaktischer Mittel hinreichend die
Identifikation von semantischen Rollen regelt und sollte dies nicht der Fall sein, 2., inwiefern
die sog. referentiellen Skalen unter der Chiffre „Belebtheitshierarchie“ diese Zentralfunktion
der Sprache übernehmen. Zentrales Ergebnis dieses Projekts ist, dass die Anteile von Clauses,
die aufgrund von morphologischen Synkretismen strukturell ambig sind, geringer als erwartet
sind. Die vorfindbaren strukturell ambigen Clauses sind dabei in etwa gleich zuverlässig
dekodierbar durch die Annahme des Sprachverstehers, dass (a) die erste NP das
Subjekt/Agens ist, wie durch die Annahme, dass (b) die höher belebte NP das Subjekt/Agens
ist. Das Zusammenspiel der Korpusdaten und der neurophysiologischen Daten legt die
Interpretation nahe, dass die Erwartung einer Subjekt > Objekt bzw. Agens > Patiens-Abfolge
in der allgemeinen Kognition begründet ist und dass die spezifisch sprachliche grammatische
Morphologie dazu dient, Abweichungen davon eindeutig zu markieren.
1.2 Korpus und Methode
Der Fokus des vorliegenden Artikels liegt auf dem mit der Beziehung von Syntax und
Semantik in deutschen Regionalsprachen befassten Teilprojekt. Im Rahmen des LOEWE-
Schwerpunkts wurde ein Datenbank-Tool entwickelt, das sowohl für die partikulären
Fragestellungen der Einzelprojekte als auch für die übergeordnete Fragestellung der
Beziehung von Syntax und Semantik herangezogen werden kann. Die sprachenübergreifende
und mit „ReffMech“ (= Relation formaler und funktionaler Mechanismen in der
Form/Inhalts-Zuordnung) überschriebene Datenbank dient dazu, gesprochen- oder
geschriebensprachliche Korpora syntaktisch und semantisch zu annotieren. Sie umfasst neben
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Daten zum Neuirischen, Hethitischen, Aramäischen und Kymrischen auch solche zu den
deutschen Diasystemen (von Alt- bis Neuhochdeutsch und von Hochalemannisch bis
Nordniederdeutsch) und ist leicht für weitere Sprachen anpassbar. Die Anlage der Datenbank
erlaubt somit nicht nur einzelsprachliche Analysen und Generalisierungen, sondern auch
vergleichende Analysen über Diasysteme einer Sprache und über typologisch weiter
voneinander entfernte Sprachen. Ein derart konzipiertes Analyse-Tool stellt gerade im
Hinblick auf die Suche nach sprachübergreifenden linguistischen Basiskategorien an der
Syntax/Semantik-Schnittstelle die aussichtsreichste Herangehensweise dar, da der potentielle
basiskategoriale Status einer linguistischen Einheit sich an ihrer Wirksamkeit jenseits einer
Einzelsprache bzw. -varietät bemisst.
Die nötige Einheitlichkeit der Klassifikationen und die Applizierbarkeit der vorhandenen
Kategorien auf alle analysierten Sprachen ist durch einen theoretischen und
Anwendungsleitfaden (vgl. Kasper et al. 2012–) gewährleistet. Dem Projektkonzept gemäß
liegt der Fokus der Klassifikation auf solchen sprachlichen Einheiten, die semantische
Relationen kodieren, d. h. primär Gliedsätze (Clauses nach van Valin & LaPolla 1997). Die
segmentierten Einheiten werden dann exhaustiv hinsichtlich der folgenden (und weiteren)
formalen und semantischen Kriterien klassifiziert:
Beschreibungsebene formale Kategorien semantische Kategorien
Text
Quellentyp, Entstehungsjahr,
-ort, Sprachstufe, Dialekt,
Informantenprofil etc.
Clause Satzart, Polarität, Modus,
Diathese etc.
Phrase/Konstituente/Satzglied
syntaktische Funktion Proto-Rollen
morphologischer Kasus Kausalstruktur
morphologische S-V-
Kongruenz semantische Skala
Kategorie (Wortart, -klasse) diskurspragmatische Skala
topolog. Felder Akzessibilitätsskala
(Serialisierung) Spezifizitätsskala
Alignment des Verbs
Wort/Morphem
Wortart, Deklinationsklasse,
Konjugationsklasse, Person,
Numerus, Genus, Definitheit,
Tempus etc.
Tabelle 1: Segmentierungsebenen und Klassifikationskategorien in der ReffMech-Datenbank
Um morphologische Synkretismen zu erfassen, die potentiell zu struktureller Ambiguität
führen, wird für jedes nominale Komplement angegeben, welche Kasuskategorie die
gegebene morphologische Form repräsentieren kann, nicht, welche sie im konkreten
syntaktischen Kontext tatsächlich repräsentiert. Ebenso wird für Verben angegeben, mit
welchen Komplementen im Clause dieses Verb der morphologischen Form nach kongruieren
kann, nicht, mit welchem sie dem syntaktischen Kontext nach tatsächlich kongruiert. Die
Klassifikationskategorien der semantischen Seite setzen sich wie folgt zusammen:
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semantische Kategorie Ausprägungen
Proto-Rollen
(auf Basis von Dowty 1991;
Primus 1999)
Proto-Agens > Proto-Rezipient > Proto-Patiens > Proto-
Locational
Kausalstruktur
(auf Basis von Talmy 2000;
Langacker 22002)
Verursacher > Instrument > symmetr. Verursachung/0-affiziert
> Information > positiv affiziert > negativ affiziert > positiv
affiziert mit Zustandsveränderung > negativ affiziert mit
Zustandsveränderung
semantische Skala
(auf Basis von Silverstein
1976)
self > kin/name > human > animate > inanimate > location >
abstract > mass
diskurspragmatische Skala
(vgl. DeLancey 1981)
Sprechaktpartizipant > nicht-Sprechaktpartizipant
Akzessibilitätsskala
(auf Basis von Ariel 1988,
1991, 2008)
zero > verbal person > clitic pron. > unstressed pron. > stressed
pron. > prox. demonstr. pron. > dist. demonstr. pron. > prox.
demonstr. pron. + modifier > dist. demonstr. pron. + modifier >
first name > last name > short definite description > long
definite description > full name > full name + modifier >
indefinite description
Spezifizitätsskala individuiert > nicht individuiert & zählbar > nicht individuiert
& nicht zählbar
Tabelle 2: Ausprägungen der semantischen Kategorien in der ReffMech-Datenbank
Die obigen vier „referentiellen“ Skalen stellen dabei die projektinterne Dekomposition der
sog. „Belebtheitshierarchie“ dar. Eine SQL-basierte Anfragefunktion erlaubt
Datenbankanfragen jeglicher Komplexität über alle o. g. Kategorien und deren Ausprägungen
sowie in allen denkbaren Kombinationen (s. Beispielanfrage in Tabelle 3).
SQL-basierte ReffMech-Abfragesyntax Paraphrase
declare Text t, Clause c, Phrase phV, Phrase phA, Phrase
phS
count separate phS.cln.category in
select distinct c, phS.cln.category
where c local parent phV and c local parent phA and c
local parent phS
and t.languageLevel2 = 'Neuhochdeutsch'
and t.dialect in ['Ostfränkisch']
and c.cln.diathese in ['Passiv']
and c.cln.sentenceType != 'Nebensatz (infinit)'
and phV.cln.syntacticFunction = 'V'
and phA.cln.syntacticFunction in ['KADJ', 'KADJ_ø']
and phS.cln.syntacticFunction in ['SUB', 'SUB_ø']
and phA.cln.protoRole in ['Proto-Agens', 'Proto-
'Zeige mir
alle finiten Passivsätze im
rezenten Ostfränkischen,
die als unmittelbare
Töchter ein Verb, ein (leeres)
Subjekt und ein (leeres)
Komplement-Adjunkt enthalten,
wobei das Komplement-
Adjunkt die Proto-Rolle Proto-
Agens oder Proto-Rezipient trägt
und nicht die Rolle
Instrument in der Kausalstruktur
einnimmt,
und zähle, welche
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Rezipient']
and phA.cln.causalStructure not in
['Verursacher&Verursachter']
Wortart das Subjekt wie oft hat.'
Tabelle 3: Beispielhafte Datenbankanfrage in ReffMech mit Paraphrase
Durch ihre Funktionalität ist die ReffMech-Datenbank somit ein leistungsstarkes Instrument,
um Korrelationen zwischen formalen und semantischen Kategorien zu ermitteln.
Die Dateneingabe erfolgt über ein Web-Interface über <http://www.regionalsprache.de>. Die
Datenbank ist für alle interessierten Forscher nach Registrierung frei zugänglich bzw.
benutzbar. Der Leitfaden (Kasper et al. 2012–) ist ebenfalls frei verfügbar. Die
Datenbankstruktur ist darüber hinaus leicht exportierbar und kann daher auch an interessierte
Linguisten zur eigenen Implementierung weitergegeben werden.
Eigenschaften
Allgemein
Web-basierte Datenbank, Zugriff über
<http://www.regionalsprache.de> (REDE)
Datenbank nach Registrierung bei REDE frei zugänglich und
benutzbar
Datenbankstruktur leicht exportierbar
Leitfaden verfügbar (Sprache: deutsch; Kasper 2012–)
Datenhaltung PostgreSQL 9.3 (persistence layer)
Anwendungslogik
Zugriff über Browser, Programmiersprache C#
Windows-Server, ASP.Net Version 4.5.1
Integriert in MojoPortal Content-Management-System
Tabelle 4: Technische und Benutzungsdaten der ReffMech-Datenbank
1.3 Umsetzung
Stand Oktober 2014 sind im Arbeitsbereich Syntax-Semantik-Schnittstelle ausreichend viele
Clauses in die Datenbank eingegeben worden, um für alle untersuchten Sprachen, Zeitstufen
und Varietäten aussagekräftige Ergebnisse zum Verhältnis von Kasusmarkierung,
Serialisierungsfixierung und Belebtheitshierarchie treffen zu können. Zudem wurden kleinere
Spezialstudien, etwa zu irischen Relativsätzen (Hoyne einger.) zu adnominaler Possessivität
(Kasper 2014 i. Dr.) und zu Kasusmarkierungen bei Personennamen (Werth i. Dr.)
durchgeführt, die ebenfalls Aufschluss über die verschiedenen Möglichkeiten der
Form/Inhalts-Zuordnung bei der Kodierung semantischer Rollen liefern. Konvergierende
Evidenz für die Befunde der Datenbankanalysen ließen sich im Schwerpunkt darüber hinaus
über indirekte Fragebogenerhebungen mit rezenten Dialektsprechern und über Messungen
Ereigniskorrelierter Potentiale gewinnen, sodass den Zielen des Schwerpunkts, den
basiskategorialen Status von linguistischen Basiskategorien durch empirische Evidenz in
verschiedenen Erkenntnisfenstern zu erlangen, genüge getan wurde.
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2. Analysen
2.1 Einleitung
Der mit der Beziehung von Syntax und Semantik befasste Arbeitsbereich des LOEWE-
Schwerpunkts versucht die Faktoren zu isolieren, die die Zuordnung von semantischen
Inhalten (Was steht womit in welcher Relation?) und sprachlichen Formen steuern. Dabei
wird davon ausgegangen, dass kompetente Sprecher aller Sprachen über weitgehend
vergleichbare semantische Kategorien verfügen (z. B. 'Handlung', 'Verantwortlichkeit', 'kausal
affiziert', 'Möglichkeit', 'Besitz', 'Lokation', 'Transfer'), für deren Kommunikation sie
Ausdrucksmöglichkeiten benötigen. Sprachen, Sprachstufen und Varietäten einer Sprache
unterscheiden sich darin, welche semantischen Inhalte durch welche formalen Einheiten
kodiert werden. Eine solche Variation kommt natürlich einerseits durch die Verfügbarkeit
oder Nichtverfügbarkeit von Formen in Varietäten zustande (z. B. Kasusdistinktionen), aber
sie besteht potentiell selbst dort, wo die gleichen Sets an semantischen Kategorien und an
formalen Einheiten zur Verfügung stehen. Die Variation wäre dann keine semantische und
auch keine grammatische/syntaktische, sondern eine solche in der Zuordnung von Formen
und Inhalten. Im Kontext des LOEWE-Projekts konnte Kasper (2014a) diesen „Diamapping“-
Ansatz bereits anhand adnominaler Possessivität im Deutschen (synchron und diachron)
anwenden. Dabei hat sich gezeigt, dass z. T. benachbarte Varietäten dieselben Inhalte einer
semantischen Domäne ('Possessivität': 'Besitz', 'Verwandtschaft', 'Lokation', 'Ablation',
'Allation') ausdrücken und gleichzeitig über weitgehend dieselben syntaktischen
Konstruktionen verfügen (z. B. den „adnominalen possessiven Dativ“ und die NP von NP-
Konstruktionen), aber in der Zuordnung von Inhalten zu Konstruktionen, d. h. in der Frage,
welche Konstruktionen welche Inhalte ausdrücken, variieren. Diese Variation weist im Raum
und in der Zeit möglicherweise Variations- und Wandel„pfade“ auf (vgl. auch Kasper i. Dr.).
Die Ausgangshypothese lässt sich dabei folgendermaßen formulieren:
H1 : Wenn für ein Set an verwandten semantischen Differenzierungen sprachen- bzw.
varietätenübergreifend ein Set an formalen Ausdrucksmöglichkeiten vorliegt, ist mit
Variation in Form/Inhalts-Zuordnungen zwischen diesen Sprachen bzw. Varietäten
zu rechnen.
Eine solche Zuordnung von Formen und Inhalten innerhalb deutscher Dialekte soll im
vorliegenden Artikel versucht werden. Hierzu werden die Ausdrucksmöglichkeiten des
Hochalemannischen, Ostfränkischen, Schwäbischen und Nordniederdeutschen für
Ereignispartizipanten, die vom prototypischen Agens in eng verwandten Eigenschaften wie
Referentialität, Individuiertheit und Akzessibilität abweichen, untersucht und die Ergebnisse
miteinander verglichen. Die Studie trägt damit exemplarischen Charakter und soll
insbesondere verdeutlichen, welche Erkenntnismöglichkeiten eine Analyse mittels
„ReffMech“ für die Regionalsprachenforschung liefern kann. Die Auswahl der untersuchten
Varietäten erfolgte hierbei nach dialektologischen Gesichtspunkten, indem sowohl solche
Dialekträume betrachtet wurden, die in vermeintlich enger sprachlicher und kulturhistorischer
Verwandtschaft zueinander stehen (Hochalemannisch, Schwäbisch), als auch solche, für die
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eine solche Verwandtschaft ausgeschlossen (Niederdeutsch) bzw. zumindest angezweifelt
werden kann (Ostfränkisch) (vgl. dazu Wiesinger 1983; Lameli 2013).
Kap. 2.2 stellt das Phänomen der sog. „Agens-Defokussierung“ auf Basis der typologischen
Literatur von funktionaler und formaler Seite dar, da die typologischen Ausführungen von
großer Relevanz für die dialektalen Verhältnisse im Deutschen sein werden. In diesem
Zusammenhang präsentieren wir unsere (weiteren) Hypothesen. In Kap. 2.3 werden die Daten
und Ergebnisse zu deutschen Dialekten präsentiert. Der Artikel schließt mit einem Ausblick in
Kap. 3.
2.2 Agens-Defokussierung und Diathese
In vielen Sprachen lässt sich beobachten, dass Sprecher unpersönliche Aktivkonstruktionen
oder Passivkonstruktionen unter ähnlichen, funktional beschreibbaren Bedingungen
verwenden. Die unpersönlichen Aktivkonstruktionen, die hier betrachtet werden sollen, sind
solche finiten Clauses,
a) die syntaktisch mindestens aus einem Subjekt und mindestens einem (nicht
präpositionalen) direkten oder indirekten Objekt bestehen,
b) von denen ein sog. Vorgangspassiv gebildet werden kann (vgl. Kasper 2012: 333–336
für die Lizensierungsbedingungen, denen das Passiv unterliegt),
c) deren Subjekt das unpersönliche Indefinitpronomen man oder das Pronomen der 3.
Person Plural sie in unpersönlicher Verwendung ist. (Für die Operationalisierbarkeit
soll sie als unpersönlich gelten, wenn es kein durch Genus- und Numeruskongruenz
identifizierbares Antezedens im Diskurs hat.)
Die betrachteten Passivkonstruktionen sind solche finiten Clauses,
a) die ein telisches Auxiliar, ein Partizip Perfekt Passiv eines lexikalischen Verbs sowie
b) ein phonetisch (bzw. graphisch) realisiertes oder nicht realisiertes präpositional
eingeleitetes Komplement-Adjunkt enthalten, das nicht die thematische Rolle
Instrument trägt.3
Die beiden (b)-Bedingungen erfordern für die Ereignisse, die durch unpersönliche Aktiv-
bzw. durch die Passivkonstruktionen ausgedrückt werden, einen agentiven Partizipanten
(„Proto-Agens“ in Dowty 1991; Primus 1999; „Actor“ in van Valin 2005), der aber im Passiv
nicht ausgedrückt sein muss. Die Gemeinsamkeit beider Konstruktionstypen liegt in der sog.
„Defokussierung“ des agentiven Partizipanten. Der Terminus „Agens-Defokussierung“
bezeichnet nach Shibatani (1985) die primäre Funktion des Passivs und umfasst
absence of mention of an agent, mention of an agent in a non-prominent syntactic slot, blurring of
the identity of an agent by the use of plural forms, and indirect reference to an agent by the use of
an oblique case. (Shibatani 1985: 832)
„Fokus“ wird von Shibatani nicht als terminus technicus einer informationsstrukturellen
Theorie verwendet, sondern im Sinne von „Aufmerksamkeitsfokus“.
All entities which correspond to the elements of a semantic frame or valence can be considered as
focused to some extent. That is, they are singled out as essential elements, requiring the listener's
attention in decoding the message; they are highlighted against the background of all other entities
3 Vgl. Grimshaws (1990) „argument adjunct“. Ein Komplement-Adjunkt ist eine nominale Konstituente, die
optional auftritt und die, wenn sie auftritt, formdeterminiert ist.
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which may be in the consciousness of the speech-act participants, but are not semantically coded.
These semantically coded entities are correlated with different degrees of importance; certain
elements are more prominent than others, since they are most salient in the speaker's mind, and
call for more attention on the part of the listener. Less attention is required by other elements
because they are relatively unimportant or unidentifiable, or because singling them out is
inappropriate. Now, language provides various morphosyntactic means of distributing, among the
semantically coded elements, the focus strength correlated with the amount of attention required.
An element which requires the least amount of attention is subjected to a defocusing strategy, and
the most obvious means of defocusing an element is not to encode it syntactically. (Shibatani
1985: 832)
Shibatanis primär auf das Passiv bezogene Aussagen weisen große Übereinstimmungen zu
Siewierskas Charakterisierung von unpersönlichen Konstruktionen auf, in deren Rahmen sie
ebenfalls von der „Defokussierung“ des „actor, instigator or initiator“ (Siewierska 2008: 121)
spricht. Sie charakterisiert unpersönliche Konstruktionen anhand
(a) the non-elaboration or under-elaboration of the instigator, (b) the demotion of the instigator
from its prototypical subject and topic function or (c) both demotion and non-elaboration
(Siewierska 2008: 121)
Dass unpersönliche und Passivkonstruktionen Ausdrucksmöglichkeiten für ähnliche oder
überlappende funktionale Konstellationen sind, ist in der typologischen Literatur weithin
anerkannt (vgl. Shibatani 1985: 838; Haspelmath 1990: 49; Myhill 1997: 801–804; Sansó
2006: 235; Malchukov & Ogawa 2011: 36; Siewierska 2011, Fn. 1).
Es ist allerdings nicht möglich, sprachenübergreifend invariante Zuordnungen von
unpersönlichen Konstruktionen und Passivkonstruktionen auf der einen Seite zu jeweils
spezifischen semantischen/funktionalen Konstellationen auf der anderen Seite vorzunehmen.
Anders verhält es sich innereinzelsprachlich. Vor dem Hintergrund ihrer korpuslinguistischen
Daten über die Gebrauchsbedingungen von unpersönlichen Aktivkonstruktionen und
Passivkonstruktionen im Italienischen, Spanischen, Polnischen, Dänischen und Griechischen
konstatiert Sansó (2006: 265), dass
in each of the sample there is a consistent division of labour among passive and impersonal
constructions. Three situation types have been identified which are systematically associated with
certain modes of expression in each of the five languages in the sample. (Sansó 2006: 265)
Unter diesen Situationstypen ist
ein “Patiens-orientierter Prozess” durch hohe Individuiertheit und Topikalität des
Patiens-Partizipanten und durch niedrige Individuiertheit und niedrige Topikalität des
Agens-Partizipanten gekennzeichnet, der aber entweder durch den Kontext
identifzierbar oder durch ein „obliques“ Komplement ausgedrückt ist (Sansó 2006:
240).
Ein „bloßes Geschehnis“ dagegen präsentiert eine Eventualität als „nackte Tatsache“,
weil beide Partizipanten (sofern ein Patiens-Partizipant vorhanden ist) nicht
individuiert und nicht topikal sind. Das Ereignis ist in der Regel „realis“ (Sansó 2006:
241).
Das „agenslose generische Ereignis“ weist niedrige oder keine Individuiertheit und
Topikalität des Patiens-Partizipanten auf, während der (evtl. nicht ausgedrückte)
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Agens-Partizipant generisch ist und die ganze oder eine Untergruppe der Menschheit
repräsentiert. Es ist oft „irrealis“ (Sansó 2006: 243).
Für den Bezug zu Shibatanis Begriff der Agens-Defokussierung ist es wichtig zu erwähnen,
dass die Topikalität eines Partizipanten in Sansós Gebrauch den Gegenpol zur Defokussierung
eines Partizipanten bildet, so dass „hochgradig topikal“ und „hochgradig fokussiert“ wohl als
synonym verstanden werden kann.4
Vorsichtig über die Sprachen generalisierend, konstatiert Sansó (2006: 267–269), dass
Passive primär zur Kodierung bloßer Geschehnisse und unpersönliche they- und you-
Konstruktionen zur Kodierung agensloser generischer Ereignisse gebraucht werden.
Unpersönliche man- und they-Konstruktionen drücken (auch) Ereignisse aus, die zwischen
bloßen Geschehnissen und generischen Ereignissen rangieren.
Im Anschluss an Myhill (1997) geht Sansó davon aus, dass die Verwendung von
Konstruktionen mit defokussierten agentiven Partizipanten primär durch semantische,
pragmatische und funktionale Eigenschaften der agentiven Referenten motiviert ist. Myhill
unterscheidet bei pluralischen agentiven Partizipanten einige Faktoren, die – hier illustriert am
Englischen – eine Aktivkonstruktion mit einem unpersönlichen they (3. Plural) motivieren, so
etwa
„[o]rganizational grouping“ (Myhill 1997: 807–809),
z. B. They ['Beamte der Einwanderungsbehörde'] accused me of coming into this
country just to get rich!,
„[a]gents involved in a common physical activity“ (Myhill 1997: 809–810),
z. B. When they ['Rettungsdienstler'] moved me in here ['Krankenhaus'], I decided…,
“[a]gents in a common location” (Myhill 1997: 810–811),
z. B. They ['Menschen auf Haiti'] don’t always do it well here (in Haiti), but they do it
next to nothing;
die Verwendung von Sprechaktverben (Myhill 1997: 811),
z. B. They say money can really change people.
Zu beachten beim unpersönlichen Pluralpronomen der dritten Person (they) ist außerdem, dass
der Sprecher sich bei seiner Verwendung nicht mit meint ([−SAP], „Sprechaktpartizipant“).
Unter anderen Bedingungen wird im Englischen das Passiv gewählt, nämlich
bei der Verwendung von epistemischen Verben (Myhill 1997: 811),
z. B. But youʼre a man. You’re not expected to think about that stuff.;
wenn der Patiens-Partizipant kausal affiziert ist (Myhill 1997: 836–837),
wenn der Patiens-Partizipant belebter als der Agens-Partizipant ist (Myhill 1997: 829–
834; vgl. auch Shibatani (1998: 108) für Effekte einer „umgekehrten Empathie-
Skala“).
Bei der Verwendung von epistemischen Verben steht der nicht ausgedrückte agentive
Partizipant für (einen) Vertreter der „general public opinion or knowledge“ (Myhill 1997:
811), wodurch die Aussage den Charakter einer Norm oder Sitte erhält. Was den
referentiellen Umfang des agentiven Partizipanten betrifft, so kann der Sprecher dazugehören
([+/−SAP]). Das unpersönliche you (Singular) im Englischen wird verwendet,
4 Das wird u. a. daran ersichtlich, dass Sansó (2006: 240) das Patiens in Patiens-orientierten Prozessen mit „high
focus“ ansetzt und in einer späteren (S. 267) Überblicksdarstellung als „highly topical“ anführt. Ebenso
verfährt sie bei „bare happenings“ (S. 241 vs. S. 267) und „agentless generic events“ (S. 245 vs. S. 267).
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wenn es sich bei dem Agens um einen vagen einzelnen Partizipanten handelt (Myhill
1997: 818),
z. B. Joanie, to really understand suffering, you have to experience it first-hand.
Obwohl dieses Personalpronomen der 2. Person Singular auf eine einzelne Person referiert, ist
irrelevant, wer diese Person ist. Auch der Sprecher kann in den Geltungsbereich der Aussage
fallen ([+/−SAP]).
Siewierskas (2011) Diskussion der Ausdrucksmöglichkeiten von unpersönlichen Agens-
Partizipanten geht insofern über Myhills Ausführungen hinaus, als sie den Typ „man-
constructions“ (MAN-IMPS) miteinbezieht und sie mit „third person plural impersonals“ (3PL-
IMPS) des Typs they vergleicht (Siewierska 2011: 60), um die Differenzen herauszustellen.
Myhill hatte Erstere gezielt (vgl. Myhill 1997: 820) außen vor gelassen. So spricht Siewierska
MAN-IMPS eine breitere Anwendbarkeit als 3PL-IMPS zu, indem
Erstere „in all types of non-assertive contexts, habitual, potential, conditional, future,
negative and deontic“ (Siewierska 2011: 62) auftauchten, während
Letztere hauptsächlich „in habitual conexts“ zu finden seien.
2.3 Agens-Defokussierung und Diathese in deutschen Dialekten
Die in der typologischen Literatur genannten Ausdrucksmöglichkeiten für defokussierte
Agens-Partizipanten finden sich auch in den Varietäten des Deutschen, unter anderem den
Dialekten, und zwar in ihren jeweiligen Entsprechungen von standardsprachlich man, sie
(Plural), du sowie Passivkonstruktionen. Betrachtet man die Beziehung zwischen Dialekten
einer Sprache als analog zu der Beziehung zwischen Einzelsprachen, ergibt sich aus der
typologischen Literatur eine Hypothese zu den hier untersuchten Dialekten Hochalemannisch,
Ostfränkisch, Schwäbisch und Nordniederdeutsch:
H1: Unpersönliche Aktivkonstruktionen und Passivkonstruktionen in deutschen
Dialekten sind in ihren Gebrauchsbedingungen mit den typologisch ermittelten zur
Agens-Defokussierung identisch.
Unseres Wissens fehlen ähnlich breit angelegte Untersuchungen wie in der Typologie zu
diesem Thema leider für das Deutsche. So findet man in einschlägigen Dialektgrammatiken
zwar öfter einzelne Aussagen zu den Gebrauchsbedingungen bestimmter Formen bzw.
Konstruktionen, doch eine Zusammenschau, in der Sets von Ausdrucksmöglichkeiten zu Sets
an semantischen Inhalten in Beziehung gesetzt werden, fehlt.
Zum Hochalemannischen konstatiert Weber (31987: 236–237), dass „[h]äufiger als im
Hochdeutschen […], zur Milderung der Aussage oder des Befehls, ‚man‘ für ‚ich‘ [steht].
[…] Umgekehrt kann ‚sie‘ (Plural) für ‚man‘ eintreten […]. Seltener auch ‚du‘ […].“ Zudem
sei
[d]ie Mundart […] im allgemeinen dem Passiv abgeneigt, ausser wo die Nennung des Urhebers
unterbleiben kann […]. Sonst bevorzugt sie die einfachere Ausdrucksweise des Aktivs. […] Beliebt ist
der Ersatz durch me (man) und si (3. Plural) […]. (Weber 31987: 256)
Ähnlich beschreibt Hodler (1969: 272, 472) den Ersatz des unpersönlichen Passivs durch man
und sie für Berndeutsch im Hochalemannischen. Insbesondere für me 'man' führt er aus, dass
11
dieses „die Allgemeinheit der Menschen aus[drückt]“ und öfter dazu benutzt wird, „das
Inkognito des Sprechenden zu wahren“ (Hodler 169, 272).
Kaiser (1924: 54) berichtet über das Ostfränkische, dass auch dort das Aktiv „[w]eitaus am
häufigsten“ verwendet werde.
Es wird stets verwendet, wenn das die Tätigkeit ausübende Subjekt dem Sprechenden klar vor Augen
steht. [...] Das Passiv tritt nur dann ein, wenn das die Tätigkeit ausübende Subjekt entweder nicht genau
bekannt oder nebensächlich ist. [...] Doch gebraucht man auch hier [...] lieber das Aktiv, wobei man das
unbekannte Subjekt, das die Tätigkeit ausübt, durch sie (3. ps. pl.) umschreibt. (Kaiser 1924: 54).
Für das Niederdeutsche beschreibt Thies (2010), dass, obwohl das „Passiv [...] auch im
Niederdeutschen gebildet werden [kann]“, „im Niederdeutschen klar Aktivverwendungen
bevorzugt [werden]“ (Thies 2010: 85; siehe auch Berg [2011: 1] und die Referenzen dort).
Das Passiv werde öfter als im Hochdeutschen durch eine Aktivkonstruktion ersetzt (vgl. Thies
2010: 85). Erstere Aussage ist mittlerweile teilweise von Berg (2011) relativiert worden, der
in den Zwirner-Daten zum Niederdeutschen sehr viele Passivbelege gefunden hat. Er führt
dies allerdings auf die Textsorte zurück, in deren Rahmen die Interviewten „alltägliche
Arbeitsabläufe, Zeremonien und Bräuche“ (Berg 2011: 16) schilderten sowie einige Fragen
schon in Form eines Passivs an sie gerichtet worden seien.
Die Aussagen in den Dialektgrammatiken zum Phänomenkomplex Agens-Defokussierung
und Diathese in den deutschen Dialekten lassen keine besonders präzisen Hypothesen zu. Wir
beschränken uns daher auf die folgende:
H2: Deutsche Dialekte unterscheiden sich darin, welche Ausdrucksmöglichkeiten für die
(konstant angenommenen) semantischen Differenzierungen die präferierten sind, zu
messen an der Frequenz von Form/Inhalts-Paaren.
Sollte sich beispielsweise bestätigen, dass hochalemannische Sprecher man-Konstruktionen
verwenden, wo Sprecher anderer Varietäten dies nicht tun und dass
Nordniederdeutschsprecher häufiger das Passiv verwenden als angenommen, wäre nicht
auszuschließen, dass die Frequenz von man-Konstruktionen im Alemannischen höher als im
Nordniederdeutschen ist, während es sich bei Passivkonstruktionen umgekehrt verhält.
Allerdings ist damit noch nichts über die Gebrauchsbedingungen gesagt. Was diese betrifft,
sind die Dialektgrammatiken nicht explizit genug.
2.4 Materialien
Unserer Untersuchung liegen transkribierte Daten zum Hochalemannischen, Ostfränkischen,
Schwäbischen und Nordniederdeutschen zugrunde (Einteilung nach Wiesinger 1983). Dabei
wurden jeweils phonetisch/phonologisch selektiv5 transkribierte Zwirneraufnahmen in die
oben vorgestellte ReffMech-Datenbank eingegeben und klassifiziert. Darüber hinaus wurden
für das Hochalemannische dialektale Begleittexte zu den Tonaufnahmen für den Sprachatlas
5 Da im LOEWE-Projekt die Beziehung zwischen Morphologie, Serialisierung und Belebtheit im Vordergrund
steht, werden nur die relevanten Formen, die zur grammatischen Morphologie gehören, transkribiert, z. B.
Flexionsmorphologie. Anderes wurde aus logistischen Gründen nicht transkribiert, z. B. nicht flektierbare
Wortformen.
12
der deutschen Schweiz aus dem Kanton Zürich eingegeben (Hotzenköcherle & Brunner 1972)
und für das Schwäbische transkribierte „Alltagstexte“ aus den Kreisen Aalen und Ulm, die
aus den Erhebungen der Tübinger Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“ stammen
(Ruoff 1984). Die Zwirner-Daten sind jeweils mindestens als „Halbmundart“, in den meisten
Fällen aber als „Vollmundart“ klassifiziert (Terminologie nach Zwirner). Die Textsorte ist als
„initiierter Erzählmonolog“ oder „Erzählung“ angegeben. Verwendete „Dialoge“ weisen
umfangreiche „Erzählpassagen“ auf. Die für das Hochalemannische ausgewerteten SDS-
Begleittexte gehören nicht zu den dort verwendeten „Vergleichstexten“, sondern sind solche
„ortsgeschichtlichen, volkskundlichen, anekdotischen […] Charakters“, bei denen den
Informanten freie Hand gelassen wurde, nicht aber „dichterischen Charakters“
(Hotzenköcherle & Brunner 1972: VII), da wir auf solche Texte verzichtet haben. Die
ausgewählten Texte sind, was das Informantenprofil und die Textsorte angeht, den Zwirner-
Texten sehr ähnlich. Entsprechendes gilt für die ausgewählten schwäbischen Alltagstexte
(vgl. Ruoff 1984: XIII).
2.5 Vorgehen und Klassifikation
Aus den genannten Texten befinden sich Clauses mit mindestens zwei Komplementen zum
lexikalischen Verb, die jeweils nicht von einer Präposition regiert werden, in der ReffMech-
Datenbank. Sie sind per definitionem Aktivsätze. Daneben sind Passivsätze (s. Kap. 2.2) in
ReffMech enthalten. Die infrage stehenden Daten umfassen unpersönliche
Aktivkonstruktionen sowie Passivkonstruktionen und bilden somit eine Teilmenge der in
ReffMech befindlichen Daten. Alle Clauses sind, soweit möglich, hinsichtlich aller in Kap.
1.2 genannten Kategorien (ausgenommen die Wortebene) klassifiziert. Sie lassen sich zu
einigen der in der typologischen Literatur genannten Kategorien in Beziehung setzen (Kap.
2.2).
Die von Sansó (2006) im Kontext ihrer Situationstypen genannte Topikalität rekonstruieren
wir aus der Kategorie der Akzessibilität (s. Tabelle 3). Diese Kategorie betrifft die
Leichtigkeit, mit der ein Diskursreferent aus dem Gedächtnis vermittels einer Form abgerufen
werden kann. „Kleinere“, definite Formen (z. B. zero, clitic pronoun, unstressed pronoun)
sind dabei Symptome einer hohen Akzessibilität, größere Formen (z. B. short/long definite
description, d. h. [erweiterte] definite NPs) zeigen eine niedrigere Akzessibilität an und
indefinite Formen (indefinite description, d. h. indefinite [erweiterte] NPs) haben die
niedrigste Akzessibilität. Letztere Formen haben meist keine koreferentiellen Antezedentien
im Diskurs und müssen von außerhalb des Diskurses abgerufen werden. Wir gehen davon aus,
dass hohe Diskursakzessibilität mit hoher Topikalität korreliert. Auf die nicht ausgedrückten
Agens-Referenten in den meisten Passivkonstruktionen sowie auf die unpersönlichen man-,
sie- und du-Pronomen ist diese Kategorie nicht anwendbar. Aus ihnen ist keine hohe
Akzessibilität ableitbar, da sie irrelevant im Diskurs oder dem Sprecher unbekannt sein
können (Agens-Partizipanten im Passiv) bzw. ja gerade unpersönlich und damit nicht
koreferent mit Antezedentien im Diskurs sind (unpersönliche Pronomen). Für die Referenten
in diesen Konstruktionen nehmen wir an, dass sie zwar potentiell (diskursextern) akzessibel,
aber nicht topikal sind. Sansós Kategorie der Individuiertheit umfasst Oppositionen zwischen
„referential vs. non-referential, human vs. non-human, animate vs. inanimate, concrete vs.
abstract, singular vs. plural, definite vs. indefinite, discourse-old vs. discourse-new, high- vs.
13
low-ranking on the empathy hierarchy” (Sansó 2011, Endnote 6). Wir lösen diese Kategorie
dort, wo zuverlässige Aussagen möglich sind, in die Einheiten der semantischen und
Spezifizitätsskala auf (s. Tabelle 3). Die Trennung zwischen Topikalität, Definitheit und „neu
vs. alt“ im Diskurs scheint uns nicht operationalisierbar; diese Distinktionen gehen in unserer
Akzessibilitätsskala auf.
Nicht realisierte, aber (etwa durch die Valenz des Verbs) implizite Agenten in Passivsätzen
wurden nur hinsichtlich bestimmter Kategorien klassifiziert (z. B. Proto-Rollen,
Kausalstruktur), aber nicht hinsichtlich anderer, die nur spekulativ anzugeben wären (z. B.
diskurspragmatische Skala, semantische Skala) oder die Formseite betreffen (z. B. Kategorie,
Kasus). Ähnliches gilt für die unpersönlichen Pronomen, die zwar formseitig, aber nur
eingeschränkt semantisch klassifiziert werden können.
Weitere Klassifikationskriterien kommen durch die von Myhill (1997) und Siewierska (2011)
ermittelten Faktoren (s. Kap. 2.2) hinzu, hinsichtlich derer alle unpersönlichen
Aktivkonstruktionen und alle Passivkonstruktionen zusätzlich und manuell klassifiziert
wurden und die auf der einen Seite den Agens-Partizipanten und das Verb betreffen:6
Institution (= organizational grouping), z. B.
de ['die staatlichen Besamungsstationen für Zuchtbullen'] könnt natürlich de bestn
tuchbullns to de düestn priize inköpm (Nordniederdeutsch; 'die können natürlich die
besten Zuchtbullen zu den teuersten Preisen einkaufen'),
gemeinsame Aktivität (= common activity), z. B.
kurz vorher sind di ganze gebiete ringsum verkauft wore [von] de sulzer
(Hochalemannisch; 'kurz vorher sind die ganzen Gebiete ringsherum verkauft worden
[von] den Sulzern'),
gemeinsamer Ort (= common location), z. B.
wie sɑi ['die Amerikaner'] num ortschäftle reinɡfooren sind und di ['die Leute im Ort']
ham di weisse fahne schon nausghängt ghot (Ostfränkisch; 'wie sie zum Ortschäftlein
reingefahren sind und die haben die weißen Fahnen schon hinausgehängt gehabt'),
Sprechaktverb, z. B.
säch man wohl so (Nordniederdeutsch; 'sagt man wohl so'),
epistemisches Verb, z. B.
da hot mer s natürlich auch als erster gwisst (Schwäbisch; 'da hat man es natürlich
auch als erster gewusst')
sowie Clauses, in denen nichts vom Genannten zutrifft, z. B.
do is der braut di augn verbunden wordn (Ostfränkisch; 'da ist [sic] der Braut die
Augen verbunden worden').
Auf der anderen Seite betreffen diese Faktoren die Eventualität, in der der Agens-Partizipant
involviert ist und zwar hinsichtlich der Frage, ob es sich dabei um eine Norm/Sitte oder um
eine habituelle Eventualität handelt. Diese Unterscheidung wird in der typologischen Literatur
zwar gemacht (z. B. Siewierska 2011), ist aber nicht einfach zu operationalisieren. Als einer
Norm oder Sitte entsprechend haben wir solche Eventualitäten klassifiziert,
die kulturell tradierte Handlungsschemata mit überindividueller Geltung oder mit
expliziter deontischer Bedeutung darstellen, z. B.
6 Sprachbelege werden hier wie im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit in orthografischer Umschrift
angegeben. (Zur Transkription vgl. Fn. 4.)
14
aber im krieg hot mer alles von hand gmäht (Schwäbisch; 'aber im Krieg hat man alles
von Hand gemäht') bzw.
wos mer do alles mitmachen muss (Ostfränkisch; 'was man da alles mitmachen muss').
Als habituell haben wir solche Eventualitäten klassifiziert,
die keine kulturell tradierten Handlungsschemata, sondern (oft, nicht immer)
personeninvariante, wiederkehrende oder episodische Handlungen ohne deontische
Bedeutung darstellen, z. B.
und nachher zur beerdigung[,] des ganze dorf is do gebeten worn (Ostfränkisch; 'und
nachher zur Beerdigung, das ganze Dorf ist da gebeten worden') oder
und dat häm s nun wieder indikt (Nordniederdeutsch; 'und das haben sie nun wieder
eingedeicht').
2.6 Ergebnisse
2.6.1 Relative Anteile zwischen den Ausdrucksmöglichkeiten
Die absoluten und relativen Anteile der jeweiligen Konstruktionen sind in Tabelle 5
dargestellt.
Aktiv +
Passiv
persönlich &
unpersönlich
unpersönlich persönlich &
unpersönlich
Aktiv man sie du Passiv
Hochale-
mannisch
316
(100 %)
290
(91,77 %)
80
(25,32 %)
14
(4,43 %)
0
(0 %)
26
(8,23 %)
Ostfränkisch 412
(100 %)
301
(73,06 %)
33
(8,01 %)
13
(3,16 %)
0
(0 %)
111
(26,94 %)
Schwäbisch 382
(100 %)
373
(97,64 %)
74
(19,37 %)
2
(0,52 %)
0
(0 %)
9
(2,36 %)
Nordnieder-
deutsch
650
(100 %)
496
(76,43 %)
27
(4,16 %)
28
(4,31 %)
0
(0 %)
154
(23,73 %)
Tabelle 5: Absolute und relative Anteile der Konstruktionen in den Samples
Während im Hochalemannischen und Schwäbischen der relative Anteil von man-
Konstruktionen höher ist als im Ostfränkischen und Nordniederdeutschen, verhält es sich mit
dem Anteil der Passivkonstruktionen umgekehrt. Die hohen Passivanteile im Ostfränkischen
und Nordniederdeutschen sind dabei vor dem Hintergrund der einbezogenen Daten zu sehen:
Clauses mit mindestens zwei Komplementen zum lexikalischen Verb, die jeweils nicht von
einer Präposition regiert werden (s. o.). Das heißt, in den Aktivkonstruktionen sind keine
klassischen intransitiven Clauses enthalten. Dennoch ist der hohe Anteil an
Passivkonstruktionen in den beiden Dialekten bemerkenswert und bestätigt somit die Aussage
von Berg (2011) zum Niederdeutschen und relativiert gleichzeitig diejenige von Kaiser (1924)
zum Ostfränkischen. Die sie-Konstruktionen nehmen über die vier Dialekte hinweg einen
geringen Anteil ein. Du-Konstruktionen befinden sich nicht in den Samples. Um im
Folgenden zu klären, ob die Gebrauchsbedingungen der infrage stehenden Konstruktionen die
typologisch ermittelten sind (Hypothese 1) und ob über die Dialekte hinweg gleiche
Konstruktionstypen verschiedene semantische Konstellationen ausdrücken (Hypothese 2),
15
werden die Konstruktionstypen nun gesondert betrachtet. Gerade die Unterschiede in der
Frequenz von man- und Passivkonstruktionen legen den Verdacht nahe, dass zwischen
Hochalemannisch und Schwäbisch auf der einen und Ostfränkisch und Nordniederdeutsch auf
der anderen Seite Variation in der Form/Inhalts-Zuordnung besteht.
2.6.2 sie-Konstruktionen
Tabelle 6 zeigt anhand der Akzessibilitätsskala die Topikalität des Patiens-Partizipanten als
syntaktisches Objekt in sie-Konstruktionen. Dabei zeigt sich, dass diese Referenten nicht
zwangsläufig hoch akzessibel, d. h. topikal, sein müssen und dass die Konstruktion selbst mit
nicht topikalen Patiens-Referenten gebraucht wird. Erwähnenswert ist darüber hinaus die
Tatsache, dass gerade im Niederdeutschen (und Ostfränkischen?) neben dem unpersönlichen
Personalpronomen sie (Plural) auch ein demonstratives unpersönliches die (Plural) auftreten
kann.
zero klit. Pron. Dem.-
pron.
Vor-
/Nach-
name
definite
NP
indefinite
NP
Halem.
sie 14 0
OBJ 2 2 2 0 0 5 2
Ofr. sie 12 1
OBJ 0 0 9 0 0 3 1
Swäb. sie 2 0
OBJ 0 0 0 0 0 0 2
Nnd. sie 23 5
OBJ 0 0 7 4 3 2 6
Tabelle 6: Topikalität des Objekts in sie-Konstruktionen
Tabelle 7 zeigt die relativen Belebtheitswerte von sie und einem syntaktischen Objekt in sie-
Konstruktionen. Auch hier zeigt sich an den Anteilen der unbelebten Referenten (von
inanimate bis abstract), dass Patiens-Partizipanten keineswegs hoch belebt sein müssen,
damit sie-Konstruktionen gebraucht werden. Wenn das Objekt auf den Sprecher (allein oder
mit anderen) referiert (self), klingt eine negative Einstellung des Sprechers gegenüber dem
Ereignis an (vgl. Myhill 1997: 808), etwa in militärischen Kontexten wie
wos sɑ [wahrscheinlich 'militärische Befehlshaber'] do mit uns gspielt hom, des wor ja nicht
mehr feierlich. (Ostfränkisch; 'was sie da mit uns gespielt haben, das war ja nicht mehr
feierlich').
self kin human anim. inanim.
mass abstract
Halem.
sie 14
16
OBJ 0 0 2 1 6 0 5
Ofr. sie 13
OBJ 6 0 0 0 5 0 2
Swäb. sie 2
OBJ 0 0 0 0 2 0 0
Nnd. sie 28
OBJ 4 0 0 2 11 3 8
Tabelle 7: Relative Belebtheit von sie (Plural) und einem Objekt in sie-Konstruktionen
Bei der Individuiertheit (Tabelle 8) zeigt sich, dass der Patiens-Partizipant mit Ausnahme des
Nordniederdeutschen oft mindestens genauso individuiert ist wie der Agens-Partizipant, der
per se (sie = Plural) keine einzelne Entität darstellt, sondern mehrere klar voneinander
unterscheidbare, und damit zählbare Entitäten. Im Nordniederdeutschen treten als
syntaktisches Objekt in sie-Konstruktionen gehäuft abstrakte (z. B. eine Proposition) und
Massen-Entitäten auf (z. B. zolt 'Salz').
individuiert nicht
individuiert
& zählbar
nicht individuiert
& nicht zählbar
Halem.
sie 14
OBJ 8 4 2
Ofr. sie 13
OBJ 3 8 2
Swäb. sie 2
OBJ 1 1 0
Nnd. sie 28
OBJ 6 11 10
Tabelle 8: Relative Individuiertheit von sie (Plural) und einem Objekt in sie-Konstruktionen
Bezüglich der Frage, ob sie auf irgendeine „körperschaftliche“ Entität referiert, zeigt sich,
dass dies in den meisten Fällen zutrifft (Tabelle 9). Dazu gehören militärische (Armee),
staatliche (Behörden) und gesellschaftliche (Vereine) Institutionen und Körperschaften, die
hier über ihre Mandatsträger abstrahierend mit sie benannt werden. Die Konstruktion wird
dagegen nicht oder kaum benutzt, um Normen/Sitten oder habituelle Eventualitäten zu
kommunizieren.
sie n Institution, gemeinsame
Aktivität, gemeinsamer Ort
Norm habituell
17
Hochalemannisch 14 9 1 1
Ostfränkisch 13 12 1 1
Schwäbisch 2 2 0 0
Nordniederdt. 28 19
0
0
Tabelle 9: Anteile weiterer typologisch wirksamer Faktoren in sie-Konstruktionen
2.6.3 man-Konstruktionen
Auch die syntaktischen Objekte in man-Konstruktionen sind in den meisten Fällen nicht
topikal (Tabelle 10). Im Nordniederdeutschen sind sie akzessibler und damit eher topikal als
in den anderen Dialekten.
zero klit. Pron. Dem.-
pron.
Vor-
/Nach-
name
definite
NP
indefinite
NP
Halem.
man 80
OBJ 0 4 7 4 0 15 25
Ofr. man 33
OBJ 0 0 7 3 0 5 10
Swäb. man 74
OBJ 0 9 9 10 1 12 26
Nnd. man 27
OBJ 0 0 4 9 0 4 4
Tabelle 10: Topikalität des Objekts in man-Konstruktionen
Bei der relativen Belebtheit von man und dem Objekt des Clauses wird die Tendenz der sie-
Konstruktionen verstärkt: Die Referenten des Objekts sind keineswegs belebter als die per se
mindestens humanen man-Referenten (es können humane Dritte gemeint sein, aber auch der
Adressat und der Sprecher [self] selbst); vielmehr ist der Anteil an unbelebten und abstrakten
Patiens-Partizipanten sehr hoch (Tabelle 11).
self kin human anim. inanim.
mass abstract
Halem.
man 80
OBJ 0 2 4 31 9 15
Ofr. man 33
OBJ 0 2 0 7 0 20
Swäb. man 74
OBJ 1 8 0 27 3 35
Nnd. man 27
OBJ 0 3 1 5 1 13
Tabelle 11: Relative Belebtheit von man und einem Objekt in man-Konstruktionen
Bezüglich der Individuiertheit (Tabelle 12) zeigt sich kein einheitliches Bild über die Dialekte
hinweg. Im Hochalemannischen und Nordniederdeutschen treten nicht individuierte und nicht
18
zählbare Entitäten (Abstrakta, Massen) häufig als syntaktische Objekte in man-
Konstruktionen auf, während im Ostfränkischen und Schwäbischen diese Entitäten meist
zählbar sind und zudem häufig singularisch (individuiert). Man-Referenten selbst sind in der
Regel nicht individuiert, aber zählbar, da es abgrenzbare Objekte (nämlich Personen) in der
Mehrzahl sind.
individuiert nicht
individuiert
& zählbar
nicht individuiert
& nicht zählbar
Halem.
man 80
OBJ 15 17 28
Ofr. man 33
OBJ 16 4 9
Swäb. man 74
OBJ 40 21 12
Nnd. man 27
OBJ 5 6 12
Tabelle 12: Relative Individuiertheit von man und einem Objekt in man-Konstruktionen
Letzteres muss aber für das Hochalemannische und Schwäbische relativiert werden (daher die
abweichende Zellenorganisation für diese Dialekte in Tabelle 12): Denn hinsichtlich der
Frage, ob man-Konstruktionen zum Ausdruck von Normen/Sitten oder habituellen
Eventualitäten verwendet werden, gibt es Unterschiede (Tabelle 13). Während sie zum
Ausdruck einer Norm oder Sitte über die Dialekte hinweg häufig gebraucht werden, werden
sie in habituellen Kontexten fast ausschließlich von hochalemannischen und schwäbischen
Sprechern verwendet. Habituelle Eventualitäten sind, wie oben bereits beschrieben, „keine
kulturell tradierten Handlungsschemata, sondern (oft, nicht immer) personeninvariante,
wiederkehrende oder episodische Handlungen ohne deontische Bedeutung“. So verwenden
schwäbische und hochalemannische, nicht aber niederdeutsche und ostfränkische Sprecher
man auch für episodische (oder wiederkehrende) Handlungen, in denen nur jeweils sie selbst
handeln. Erstere referieren mit man somit durchaus oft auf individuierte Entitäten.
Beispielsweise berichtet ein Hochalemanne über seinen Arbeitstag und da iʃ mer als um um
zwei schon ufgstande, dann bis mern e wenig speckschnii mitgnoo hat, und dann e glas voll
schnaps, und dann iʃ es so drei worde ('und da ist man als um um zwei schon aufgestanden,
dann bis man ein wenig Speckschnitten mitgenommen hat, und dann ein Glas voll Schnaps,
und dann ist es so drei geworden'). Wahrscheinlich beide Clauses, in denen man auftritt,
gelten lediglich für den Sprecher und besitzen keine personeninvariante Gültigkeit.
Zudem gibt es lediglich im Schwäbischen einige Belege dafür, dass die man-Konstruktion für
eine gemeinschaftliche Aktivität (common activity) verwendet wird. Dies ist dann der Fall,
wenn das unpersönliche man auch dann verwendet wird, wenn der Sprecher selbst „wir-
intentional“ (vgl. Tomasello 2008) mit anderen Personen in einer Aktivität begriffen ist (z. B.
wenn mer en betriebsausflug gmacht hot, da hot mer s natürlich auch als erster gwiss
(Schwäbisch; 'wenn man einen Betriebsausflug gemacht hat, da hat man es natürlich auch als
19
erster gewusst'). Unter diesen Bedingungen wird in den anderen Dialekten man nicht
verwendet.
man n Institution, gemeinsame
Aktivität, gemeinsamer Ort
Norm habituell
Hochalemannisch 80 1 33 45
Ostfränkisch 34 0 24 0
Schwäbisch 74 10 41 27
Nordniederdt. 27 0 22 3
Tabelle 13: Anteile weiterer typologisch wirksamer Faktoren in man-Konstruktionen
2.6.4 Passivkonstruktionen
Im Passiv treten Patiens-Partizipanten als Subjekte auf. Tabelle 14 zeigt die Topikalitätswerte
dieser Passiv-Subjekte. Hier zeigt sich – vielleicht überraschend –, was sich in ähnlicher
Weise bei den sie- und man-Konstruktionen gezeigt hat: Der Patiens-Partizipant ist nicht
durchgehend hoch topikal (akzessibel), da er durchaus frequent als volle definite oder sogar
indefinite NP ausgedrückt wird. Er tritt zwar auch als Personal- oder Demonstrativpronomen
auf und wird (elliptisch oder in Koordinationen) ausgelassen, aber er tritt keineswegs
konsequent als topikales (akzessibles) Element auf.
zero klit. Pron. Dem.-
pron.
Vor-
/Nach-
name
definite
NP
indefinite
NP
Halem.
KADJ
25 0 0 0 0 1 0
SUB 4 2 2 5 1 7 3
Ofr. KADJ
108 0 0 0 0 3 0
SUB 26 0 28 7 0 30 11
Swäb. KADJ
8 0 0 0 0 1 0
SUB 0 0 3 0 0 0 3
Nnd. KADJ
151 0 0 0 0 2 1
SUB 3 0 18 48 2 31 33
Tabelle 14: Topikalität des Subjekts in Passivkonstruktionen
Tabelle 15 zeigt, dass die Passivkonstruktionen in unseren Samples nicht durch „umgekehrte
Empathie“ motiviert sind. Weitaus die meisten Passiv-Subjekte haben unbelebte Referenten,
während lediglich zwei unbelebte Agens-Partizipanten auftreten („ein Kartoffelvollernter und
ein Gewitter“). Das heißt, auch in Passivkonstruktionen ist der Agens-Partizipant fast immer
belebter als der Patiens-Partizipant. Was sich allerdings zeigt, ist, dass Patiens-Partizipanten
in Passivkonstruktionen häufiger kausal affiziert sind als ihre Entsprechungen in
unpersönlichen Aktivkonstruktionen (nicht abgebildet).
self kin human anim. inanim.
mass abstract
20
Halem.
KADJ
0 0 26 0 0 0 0
SUB 0 0 1 0 14 2 6
Ofr. KADJ
0 0 110 0 1 0 0
SUB 14 0 12 1 54 4 17
Swäb. KADJ
0 0 8 0 1 0 0
SUB 2 0 0 0 2 1 1
Nnd. KADJ
0 0 154 0 0 0 0
SUB 6 0 2 7 68 27 26
Tabelle 15: Relative Belebtheit von dem Komplement-Adjunkt und dem Subjekt in
Passivkonstruktionen
Bei der Individuiertheit in Tabelle 16 zeigt sich, dass mit Ausnahme des Nordniederdeutschen
Passiv-Subjekte meist zählbare, entweder singularische (individuierte) oder pluralische (nicht
individuierte) Entitäten sind. Über die Individuiertheit nicht ausgedrückter Agens-
Partizipanten lässt sich zu oft nur spekulieren, um hier Häufigkeiten anzugeben.
individuiert nicht
individuiert
& zählbar
nicht individuiert
& nicht zählbar
Halem.
KADJ
? ? 0
SUB 9 5 8
Ofr. KADJ
1+? ? 0
SUB 48 47 6
Swäb. KADJ
? ? 1+?
SUB 2 3 1
Nnd. KADJ
? ? 0
SUB 40 52 42
Tabelle 16: Relative Spezifizität von dem Komplement-Adjunkt und dem Subjekt in
Passivkonstruktionen
Tabelle 17 zeigt, dass in Eventualitäten, die durch Passive ausgedrückt werden, über die
Dialekte hinweg recht häufig Institutionen oder Körperschaften (bzw. deren Mandatsträger)
das Agens darstellen. Das Passiv wird so gut wie nie dazu verwendet, eine Norm oder Sitte zu
kommunizieren. Bemerkenswert ist aber, dass die Anteile der Passivkonstruktionen, die
habituelle Eventualitäten ausdrücken, sich tendenziell spiegelverkehrt zu den habituellen
Anteilen der man-Konstruktionen verhalten. Mit anderen Worten, wo Hochalemannen und
Schwaben dazu tendieren, zum Ausdruck habitueller Kontexte die man-Konstruktion zu
verwenden, tendieren Ostfranken und Nordniederdeutsche zum Gebrauch einer
Passivkonstruktion.
Passiv n Institution, gemeinsame Norm habituell
21
Aktivität, gemeinsamer Ort
Hochalemannisch 26 13 1 11
Ostfränkisch 111
25 2 78
Schwäbisch 9 3 0 5
Nordniederdt. 153
37 9 118
Tabelle 17: Anteile weiterer typologisch wirksamer Faktoren in Passivkonstruktionen
2.7 Diskussion
Für die vorliegende kleine Studie lassen sich vorsichtig einige Generalisierungen für die vier
betrachteten Dialekte formulieren. Sie sind in Tabelle 18 dargestellt und betreffen mögliche
und präferierte, jedoch keine obligatorischen 1:1-Zuordnungen von Formen und Inhalten, d. h.
von unpersönlichen Aktivkonstruktionen sowie Passivkonstruktionen bei defokussierten
Agens-Partizipanten.
Die Agens-Spalte kann von oben nach unten als absteigend in Sansós Eigenschaft der
Individuiertheit (individuation; s. Kap. 2.5) gelesen werden. Fett gedruckt in Tabelle 18 sind
die Eigenschaften, die in unserer Stichprobe – bisweilen in Kombination – distinktiven Wert
haben und kriterial für eine Ausdrucksmöglichkeit zu sein scheinen.
Ein zentrales Ergebnis, nach dem hochalemannisch und schwäbisch man in habituellen
Kontexten und für 'ich' und 'wir' verwendet werden kann, findet sich in der ersten Zeile. Diese
Eigenschaft macht den/die Referenten dieser Verwendung von man prinzipiell
inferierbar/identifizierbar. Dieses manhabit ist von dem zu unterscheiden, das in allen Dialekten
auftritt und weder habituell noch referentiell verwendet wird, sondern Normen/Sitten
ausdrückt (mannorm, letzte Zeile). Dieser Gebrauch von man, bei dem die Aussage
überindividuelle Gültigkeit beansprucht, ist in unserem Sample der nahezu ausschließliche bei
ostfränkischen und nordniederdeutschen Sprechern. Der Befund über die breiteren
Gebrauchsbedingungen von man im Hochalemannischen und Schwäbischen geht einher mit
seiner höheren relativen Frequenz in diesen Dialekten.
Der Befund zu man steht möglicherweise in Verbindung mit dem zweiten zentralen Ergebnis,
nach dem Ostfranken und Nordniederdeutsche das Passiv stärker für habituelle Kontexte
verwenden als Hochalemannen und Schwaben (Zeile 2), da Ersteren man möglicherweise
hauptsächlich zum Ausdruck normativer Aussagen zur Verfügung steht (Zeile 4).7 Das führt
zu einer höheren relativen Frequenz des Passivs im Ostfränkischen und Nordniederdeutschen.
Die Verwendung von sie zeigt dagegen keine vergleichbare Variation. Es unterscheidet sich
im „korporativen“ Charakter des Agens-Partizipanten (Institution, gemeinsame Aktivität,
7 Über die Motivation der Verwendung von man in habituellen Kontexten und mit spezifischer Referenz kann
hier nur spekuliert werden. Möglicherweise spielen hier soziokognitive Faktoren eine Rolle. Kasper (2012,
2014b) hat gezeigt, dass die Zuweisung von Verantwortlichkeit für Ereignisse mittels syntaktischer
Konstruktionen von einigen soziokognitiven Faktoren mitbestimmt wird, deren sich Sprecher nicht bewusst
sein müssen. So könnte man mit man (statt ich oder wir) die Geltung einer Aussage, die eine als Leistung
begriffene Aktivität ausdrückt, verallgemeinern, um sie anderen als Norm zu vermitteln, etwa beim Berichten
eigener Geburtstagsfeiern: Irgendwann kommen meine Gäste und machen es sich bequem. Dann schenkt man
[= Sprecher] ein bisschen Sekt aus… Umgekehrt kann mit dieser Verwendung von man auch eine konkrete
Verantwortlichkeit maskiert werden: Mit dir hat man seine liebe Mühe! Eine solche Verwendung ist dort
möglich, wo gerade eine Diskrepanz zwischen eigenem Handeln und der Norm oder Sitte besteht oder wo
Höflichkeitserwägungen eine Rolle spielen (vgl. Myhill 1997: 822). Diese Verwendung scheint in allen
Varietäten möglich zu sein, aber Hochalemannen und Schwaben haben sie möglicherweise auf
moralisch/sittlich neutrale Kontexte ausgeweitet (vgl. das Beispiel in Kap. 2.6.3).
22
gemeinsamer Ort) sowie in der Abwesenheit habitueller und normativer Lesarten relativ klar
von den anderen Ausdrucksmöglichkeiten und ist auch eher konstant in seiner relativen
Frequenz. Insgesamt bestätigt sich somit Hypothese 2, nach der sich deutsche Dialekte darin
unterscheiden, welche Ausdrucksmöglichkeiten für die (konstant angenommenen)
semantischen Differenzierungen die präferierten sind.
Agens Patiens Situationstyp präferierte
Konstruktion
[
+/
−
self
]
; individuiert oder
nicht individuiert &
zählbar; implizit
referentiell/
identifizierbar
(mind.) human; zählbar;
[+/− korporativ/
institutionalisiert];
irrelev./unbek. Referenz/
Identifizierbarkeit;
[+/−SAP]
(mind.) human;
[+korporativ/
institutionalisiert];
identifizierbar als
Untergruppe der
Menschheit; [−SAP]
(mind.) human; zählbar;
nicht referentiell/
identifizierbar als
Menschheit; [+/− SAP]
mittlere/niedrige
Topikalität;
mittlere/niedrige
Individuiertheit; niedrige
Belebtheit
mittlere/niedrige
Topikalität; relativ
höhere Affiziertheit;
mittlere Individuiertheit;
mittlere/niedrige
Belebtheit
mittlere/niedrige
Topikalität;
mittlere/niedrige
Individuiertheit;
mittlere/niedrige
Belebtheit
mittlere/niedrige
Topikalität;
mittlere/niedrige
Individuiertheit; niedrige
Belebtheit
?
agens-orientiert;
[+/− habituell]
bloßes
Geschehnis;
[+/− habituell/
episodisch];
[+habituell/
episodisch]
bloßes
Geschehnis;
[−Norm/Sitte];
[−habituell]
gener. Ereignis;
[−habituell];
[+Norm/ Sitte];
[−habituell];
[+/−Norm/Sitte]
Halem. manhabit
Swäb. manhabit
Halem. Passiv
Swäb. Passiv
Ofr. Passiv
Nnd. Passiv
Halem. sie
Swäb. sie
Ofr. sie
Nnd. sie
Ofr. mannorm
Nnd. mannorm
Halem. mannorm
Swäb. mannorm
Tabelle 18: Präferierte Zuordnung von Eigenschaften defokussierter Agens-Partizipanten und
unpersönlichen Aktivkonstruktionen und Passivkonstruktionen in deutschen Dialekten
Auch Hypothese 1, derzufolge unpersönliche Aktivkonstruktionen und Passivkonstruktionen
in deutschen Dialekten in ihren Gebrauchsbedingungen mit den typologisch ermittelten zur
Agens-Defokussierung identisch sind, kann mit Vorbehalten bestätigt werden.8 Nicht alle
8 Eine Schwierigkeit in der vorliegenden Studie liegt in der Operationalisierbarkeit der in Kap. 2.2 postulierten
Kategorien, z. B. der Topikalität und der Situationstypen (Sansó), der Abgrenzung von habituellen und
deontischen (Siewierska) und norm- bzw. sittebezogenen (Myhills „general public opinion“) Kontexten.
Beispielsweise scheint Sansó davon auszugehen, dass (Ausdrücke für) defokussierte Agens-Partizipanten per
23
postulierten Kategorien sind befriedigend operationalisierbar. So entziehen sich Sansós
Konzepte der Topikalität/Fokussierung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, da sie
indirekt auf der Basis sprachlicher Äußerungen deduziert werden, ihnen aber keine
(explizierten) Theorien der Wahrnehmung/Konzeptualisierung und Aufmerksamkeit
zugrundeliegen, um die diese Konzepte eigentlich kreisen. Dies macht den Nutzen von Sansós
Situationstypen mindestens für die vorliegende Studie fraglich, denn „Patiens-orientierte
Prozesse“ kommen in unseren Samples nicht vor. Die niedrige Topikalität unserer Patiens-
Partizipanten in allen Konstruktionstypen führt dazu, dass die entsprechenden Kontexte nicht
als „Patiens-orientiert“ zu charakterisieren sind, obwohl z. B. überzeugend argumentiert
werden kann, dass eine „patienszentrierte“ Perspektive, wahrnehmungspsychologisch
hergeleitet, wesentlich für (transitive) Passive ist (vgl. Fillmore 1977; Kasper & Schmidt
i. Dr.). Myhills (1997) Differenzierungen sind klar und operationalisierbar; dies trifft nicht auf
die relevante Kategorie 'habituell' zu, deren Abgrenzung von der normativen „general public
opinion“ auf der Basis sprachlicher Formen nicht einfach vorzunehmen ist und notwendig
intuitionsgeleitet bis spekulativ bleiben muss. Vor dem Hintergrund der hier versuchten
Operationalisierung dieser Kategorien und der Tatsache, dass Form/Inhalts-Zuordnungen
sowie deren teilweise dialektale Variation konstatiert werden können, sehen wir die
typologisch ermittelten Kategorien auch als kriterial für die deutschen Dialekte an (Hypothese
1).
Aus variationslinguistischer Perspektive schließlich sind die herausgearbeiteten relativen
Ähnlichkeiten in den Form/Inhalts-Zuordnungen zwischen hochalemannischen und
schwäbischen Sprechern bzw. die relativen Unähnlichkeiten dieser Sprecher zu den
norddeutschen und ostfränkischen Sprechern insofern interessant, als sie die generelle
Tendenz bestätigen, der zufolge sich der (hoch)alemannische Dialektraum strukturell
ähnlicher zum schwäbischen verhält als zu allen anderen Dialekträumen im deutschen
Sprachgebiet (vgl. Lameli 2013: 177, Abb. 6–12 und 194, Abb. 7–4). Gleichzeitig lässt sich
„eine klare Differenzierung“ (Lameli 2013: 176) des Schwäbischen und Hochalemannischen
zum Ostfränkischen feststellen, was ebenfalls mit den hier gewonnenen Befunden
übereinstimmt, wonach sich Ostfränkisch hinsichtlich der Passiv- und man-Verwendung
anders zu verhalten scheint als die beiden anderen untersuchten oberdeutschen Sprachräume.
Ob und inwiefern das Nordniederdeutsche ins Bild passt, muss an dieser Stelle dagegen offen
bleiben und bedarf weiterer Untersuchungen, insbesondere in mitteldeutschen und weiteren
niederdeutschen Sprachräumen. Um letztlich zuverlässige Aussagen dazu machen zu können,
ob Form/Inhalts-Zuordungen (und die darin enthaltenen syntaktischen Variablen)
vergleichbare Räume bilden wie phonologische und morphologische Variablen, müssen
se niedrig topikal sind, da sie unpersönlich sind. Aber bekanntlich hindert dies Sprecher nicht daran, dass sie
„Topik“-Ketten aus Antezedenten und koreferenten Anaphern bilden (Mani hat uns gesagt, dass wir an
Schalter A falsch seien. Deshalb hat mani uns zu Schalter B geschickt). (Diese Möglichkeit unterscheidet in
unseren Daten man und sie, mit denen dies möglich ist, von Komplement-Adjunkten im Passiv, mit denen
dies nicht möglich ist, da zwei Null-Komplement-Adjunkte in zwei aufeinanderfolgenden
Passivkonstruktionen nicht als koreferent verstanden werden). Hier wäre ein differenzierterer
Topikalitätsbegriff wünschenswert. Zudem führt die niedrige Topikalität unserer Patiens-Partizipanten in
allen Konstruktionen dazu, dass die entsprechenden Kontexte nicht als „Patiens-orientiert“ zu
charakterisieren sind, obwohl z. B. überzeugend argumentiert werden kann, dass eine patienszentrierte
Perspektive wesentlich für (transitive) Passive ist (vgl. Fillmore 1977; Kasper & Schmidt i. Dr.). Hier ist auf
semantischer Seite theoretische Klärungsarbeit nötig.
24
sowohl der Phänomenkatalog und die untersuchten Räume im Diamapping-Ansatz ausgweitet
werden.
3. Ausblick
Die ReffMech-Datenbank ist ein mächtiges Werkzeug, um die Beziehung von Form und
Inhalt sprachenübergreifend und in ihrer Vielfalt zu untersuchen. Die derzeit enthaltenen
Kategorien sind anschlussfähig an die Theoriebildung (Kasper 2012, 2014b) und an
experimentelle Untersuchungen anderer linguistischer Teildisziplinen wie der Neuro- und
Psycholinguistik (Dröge i. Vorb.) und machen die Ergebnisse der jeweiligen Zugänge
kompatibel, d. h. sinnvoll aufeinander beziehbar. Die Bedingung einer Erweiterung des
Kategorienkatalogs von ReffMech um z. B. solche Kategorien, anhand derer Agens-
Defokussierung in der Typologie charakterisiert wird, ist abhängig von der
Operationalisierbarkeit der Kategorien. Um belastbare Aussagen dazu zu machen, ob
beispielsweise eine Skala der Agens-Defokussierung als linguistische Basiskategorie infrage
kommt, ist es zunächst im hermeneutischen Wechselspiel von empirischen Studien und
theoretischer Kategorienbildung nötig, die methodischen und terminologischen Messer zu
schärfen.
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