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Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis
Journal of Addiction Research and Practice
SUCHT
SUCHT Jahrgang 60 | H eft 1 | Februar 2014
Jahrgang | Volume 60 · Heft | Number 1 · Februar | February 2014 | ISSN 0939-5911
Seit 1891 | Published since 1891
Herausgeber
DHS
DG-Sucht
www.sucht-zeitschrift.com
Themenschwerpunkt
Achtsamkeitsbasierte Suchttherapie
Special issue
Mindfulness in Addiction Treatment
Gastherausgeber/Guest Editor
Götz Mundle
SUCHT 60 (1) © 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
SUCHT – Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis
Journal of Addiction Research and Practice
60. Jahrgang, Heft 1, Februar 2014
* Die Redaktion dankt Herrn Dr. Johannes Lindenmeyer für die redaktionelle Betreuung des Themenschwerpunktes.
Inhalt
Themenschwerpunkt/
Special Issue
Achtsamkeitsbasierte Suchttherapie
Mindfulness in Addiction Treatment
Gastherausgeber/Guest Editors
Götz Mundle & Thorsten Kienast*
Editorial Götz Mundle und Thorsten Kienast
Achtsamkeit und ihre Relevanz für die Suchttherapie
The Relevance of Mindfulness for Addiction Treatment 5
Positionspapier/
Position Paper
Thomas Heidenreich und Johannes Michalak
Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie – Chancen und
Grenzen der dritten Generation der Verhaltenstherapie
Mindfulness-Based Psychotherapy – Opportunities and
Limits of the Third Gernaration of Behavior Therapy 7
Historischer Beitrag/
Addiction History
Stefan Schmidt
Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption
Mindfulness – Origin, Practice and Conception 13
Übersichtsarbeit/
Review
Tobias Esch
Die neuronale Basis von Meditation und Achtsamkeit
The Neuronal Foundations of Meditation and Mindfulness 21
Therapeutische Ver-
fahren/Interventions
Götz Mundle, Sarah Bowen, Andreas Heinz und Thorsten Kienast
Praktische Anwendung von Achtsamkeit in der Suchttherapie
am Beispiel des MBRP Programms und der DBT-Sucht
Practical Application of Mindfulness in Addition Treatment –
the Case of MBRP and DBT-S 29
Kommentare/
Commentaries
Zum aktuellen Themenschwerpunkt „Achtsamkeitsbasierte
Suchttherapie“
von Johannes Lindenmeyer, Wilma Funke und Falk Kiefer
mit abschließenden Bemerkungen von Götz Mundle 37
SUCHT 60 (1) © 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Originalarbeit/
Research Report
Uwe Verthein, Silke Kuhn und Ingo Schäfer
Der Verlauf der Diamorphinbehandlung unter den Bedingungen
der gesundheitlichen Regelversorgung – eine 12-Monats-Analyse
The Course of Diamorphine Treatment under Standard Health Care
Conditions in Germany – A 12-Months Analysis 43
Redaktionshinweise/
Editorial Note
Neun neue Redakteure
Nine new Assistant Editors 54
Dank an die Gutachter/
Thanks to the Referees 59
Tagungsankündigungen/
Upcoming Conferences 60
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SUCHT
Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis /
Journal of Addiction Research and Practice
Historischer Beitrag
Was ist Achtsamkeit?
Herkunft, Praxis und Konzeption
Stefan Schmidt
Forschungsgruppe Meditation, Achtsamkeit und Neurophysiologie, Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg (Breisgau)
Institut für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften, Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Zusammenfassung: Inhaltsbersicht : Ausgehend von der momentanen Popularitt wird versucht den Begriff der Achtsamkeit sowohl in
seinen historischen Wurzeln als auch in seiner aktuellen Verwendung zu fassen. Es zeigt sich zunchst, dass der Erfahrungsbezug einer
Praxis der Achtsamkeit im Widerspruch zu einer statischen wissenschaftlichen Definition eines Konzeptes der Achtsamkeit steht. Somit
zeigt sich die Achtsamkeit auch je nach Kontext in unterschiedlichen Spielarten. Bestimmend ist dabei die Motivation mit der die
Achtsamkeit praktiziert wird. Im frhen Buddhismus, in dem die Achtsamkeit das erste Mal explizit auftaucht, ist die Motivation auf
spirituelles Wachstum und Selbsttransformation gerichtet. In unserer modernen westlichen Gesellschaft finden sich neben den spirituellen
auch skulare Motive. Achtsamkeit wird in den unterschiedlichsten Feldern mit den unterschiedlichsten Ausgangsmotivationen prakti-
ziert. Neben dem Wunsch nach Entspannung, Wohlbefinden und Selbstexploration finden sich auch Anwendungsfelder in klinischen und
auch pdagogischen Bereichen. Spezifisch in der Suchttherapie bietet sich ein strukturiertes achtsamkeitsbasiertes Programm zur Rck-
fallprophylaxe an. Schlussfolgerung: Die Popularitt des Achtsamkeitskonzeptes lsst sich als eine kollektive Selbstregulation unserer
Kultur auf eine zunehmende Funktionalisierung und Beschleunigung interpretieren.
Schlsselwçrter: Achtsamkeit, Buddhismus
Mindfulness – Origin, Practice and Conception
Abstract: Content : Starting from its recent popularity the notion of mindfulness is explained with respect to its historic origin as well as with
respect to its application and practice within our modern culture. It is shown that mindfulness is intimately tied with direct experience and as
such is in contradiction with a static scientific definition of mindfulness. Furthermore the understanding of mindfulness also changes to
some degree in dependence of the specific context it is applied in. Thereby,the crucial issue is the motivation for the practice of mindfulness.
In the early Buddhist context, where mindfulness is mentioned first, the motivation is directed towards spiritual growth and self-
transformation. In our modern western society we find next to spiritual motives also secular ones and mindfulness is practiced within a wide
range of different areas with large variation of goals and motives to do so. Often intentions are towards wellbeing, relaxation and self-
exploration. But of course mindfulness is also applied within clinical and educational contexts. Especially in the treatment of addiction a
specific program for relapse prevention was developed. Conclusion: Overall the recent popularity of mindfulness is interpreted as a
collective process of self-regulation of our culture which is facing increasing functionalization and social acceleration.
Keywords: mindfulness, Buddhism
Einleitung
Die Praxis und das Konzept der Achtsamkeit erfreuen sich
in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Achtsam-
keitsbasierte Konzepte und Interventionen werden in vie-
len verschiedenen Bereichen eingesetzt, angefangen von
der Mind-Body- und Verhaltensmedizin, ber pdagogi-
sche Kontexte (Zimmermann, Spitz & Schmidt, 2012),
Kunsttherapie (Monti et al., 2006) bis hin zum Coaching
(Passmore & Marianetti, 2007). Die Forschung zur Wirk-
samkeit und Wirkweise von Meditation und achtsam-
keitsbasierten Interventionen ist hochaktuelles Thema in
Medizin, Psychologie und den Neurowissenschaften. Und
daher stellt sich die Frage was eigentlich genau gemeint ist,
wenn wir von Achtsamkeit sprechen? Bei einer genaueren
Betrachtung und Sichtung der Literatur zeigt es sich, dass
mit der zunehmenden Popularitt das Konzept der Acht-
samkeit auch an Kontur und Schrfe verliert und mehr und
mehr verwssert. In diesem Zusammenhang macht es Sinn
die jeweilige Konzeption von Achtsamkeit auf dem Hin-
tergrund des spezifischen Kontextes zu betrachten, in dem
sie thematisiert oder praktiziert wird. Um hier den Begriff
in seiner ganzen Breite aufzuschließen ist es zielfhrend im
Rahmen einer solchen kontextuellen Betrachtung den Weg
SUCHT, 60 (1), 2014, 13 – 19
DOI: 10.1024/0939-5911.a000287 SUCHT 60 (1) 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Persönliches Autorenexemplar (e-Sonderdruck)
des Begriffes von seinen historischen und religiçsen Wur-
zeln im Asiatischen Raum bis hin zu seiner meist skula-
risierten Anwendung in den modernen westlichen Gesell-
schaften nachzuzeichnen.
Der Begriff der Achtsamkeit hat seinen Ursprung im
Buddhismus. Achtsamkeit ist dort eines der zentralen
Konzepte der Lehre und hat in den letzten 2500 Jahren in
den asiatischen Verbreitungsgebieten des Buddhismus nur
wenig Vernderung erfahren. Bei uns im Westen findet die
Achtsamkeit neben dem traditionellen spirituellen Kon-
text auch oft in skularisierter Form Anwendung, und dies
in sehr unterschiedlichen kulturellen Zusammenhngen. In
diesem Artikel soll neben der begrifflichen Fassung auch
die Frage gestellt werden, ob Begriff, Konzept und Praxis
von Achtsamkeit angesichts einer solch betrchtlichen
Vernderung des Bezugsrahmens immer noch als gleich
anzusehen sind, oder ob es sich um etwas Verschiedenes
handelt. Damit wird vor allem versucht das Konzept und
die dazugehçrige Praxis der Achtsamkeit, so gut dies geht,
begrifflich zu fassen. Dies bedeutet aber auch, dass der
praktische Aspekt, wie man sich konkret in Achtsamkeit
bt, in diesem Artikel nicht bercksichtigt wird.
Definition: Achtsamkeit in der
östlichen Philosophie
Die ltesten schriftlichen Hinweise auf den Begriff der
Achtsamkeit, sati in der Sprache Pali, kçnnen im soge-
nannten Palikanon des Theravada-Buddhismus gefunden
werden. Theravada (wçrtlich Schule der lteren) ist die
lteste buddhistische Schule, die noch heute in Sri Lanka,
Myanmar, Laos, Kambodscha und Thailand praktiziert
wird. Alle anderen buddhistischen Traditionen wie der ti-
betische Buddhismus oder der Zen-Buddhismus haben
ihren Ursprung in dieser Tradition. Es ist berliefert, dass
buddhistische Mçnche im 1. Jh. vor Christus die Reden und
Lehren von Gautama Buddha, der ungefhr im 5. Jh. vor
Christus lebte, niedergeschrieben haben. Diese Texte, die
zuvor mndlich berliefert worden waren, bilden das l-
teste schriftliche Zeugnis der buddhistischen Lehren, den
sogenannten Palikanon1. Fr das Studium der Achtsamkeit
sind hauptschlich zwei Lehrreden des Buddha (Pali : sutta)
von Bedeutung: Die Satipat¸t¸ha
¯na Sutta (Analayo, 2009;
Nyanaponika, 2000) und die A
¯na
¯pa
¯nasati Sutta (Rosen-
berg, 2002). Beide Suttas beschreiben ausschließlich eine
Meditationspraxis, jedoch kein Konzept. Was mit Acht-
samkeit oder sati aber genau gemeint ist, kann in abstrakten
Begriffen aus dieser Praxis gefolgert werden.
Laut Ana¯layo (2009), einem Mçnch und Gelehrten der
Theravada Tradition, hat das Word sati seinen Ursprung in
dem Verb sarati, was „sich erinnern“ (S. 59) bedeutet. Al-
lerdings ist sati nicht als Erinnerung gemeint, sondern als
Gewahrsein des Augenblicks, was die Erinnerung wieder-
um erleichtert. Gewahrsein im Augenblick und Erinnerung
ergnzen sich gegenseitig: „ … verbindet sati das Be-
wusstsein im Augenblick mit der Erinnerung an das, was
der Buddha gelehrt hatte.“ (S. 61). Um das zu erreichen,
muss der Geist im Zustand von sati „in Bezug auf den ge-
genwrtigen Augenblick hellwach…“ sein (S. 61). Hier
wird der Begriff der Weite des Bewusstseinszustandes (im
Gegensatz zu einem eng begrenzten Fokus) betont (S. 61).
Ein anderer Mçnch und Gelehrter aus der Theravada-
Tradition, Nyanaponika (2000), beschreibt sati als „reines
Beobachten“ (S. 25ff). Der Begriff „rein“ bezieht sich hier
auf die Tatsache, dass der Beobachter oder die Beobach-
terin versucht, lediglich das beobachtete Objekt wahrzu-
nehmen anstatt mit ihm zu interagieren, wie dies z. B. durch
Beurteilungen, Bewertung, Stellungnahme oder bewusster
Handlungen geschieht.
Wenn also sati whrend der Meditation2praktiziert
wird, kann es als Zustand des Gewahrseins im Augenblick
beschrieben werden, in dem der Geist mit der oben be-
schriebenen Weite versucht zu beobachten ohne einzu-
greifen. Sati wird im Palikanon oft auch in Bildern und
Gleichnissen beschrieben, wobei diese Bilder unter-
schiedliche Funktionen von sati betonen, z.B. Wachheit,
Entspannung, Nicht-Anhaften, Nicht-Eingreifen oder
Ungerichtetheit. Eine schçne Sammlung dieser Gleich-
nisse findet sich bei Ana¯ layo (2009, S. 66 ff.).
Die hier vorgenommenen begrifflichen Ableitungen
fhren schnell zu der Vorstellung, bei sati handle es sich um
einen feststehenden theoretischen Begriff, wie man dies in
der westlichen geprgten Wissenschaft gewohnt ist. Hier
darf nicht vergessen werden, dass Achtsamkeit oder sati
immer eine Erfahrung beschreibt. Ein umfassendes Ver-
stndnis dessen was gemeint ist, kann man nur auf Basis
eigener Erfahrungen erlangen. Es bedarf hier explizit, der
eigenen Praxis, i.e. der Einbeziehung einer Ersten-Person-
Perspektive. Daraus folgt, dass sati kein statisches Konzept
ist, sondern sich mit zunehmender Erfahrung der Medi-
tierenden verndert. Dies ist aus Sicht einer westlich ge-
prgten Wissenskonzeption, in der man versucht die Be-
griffe durch konzeptionelle Definitionen im Sinne einer
Dritten-Person-Perspektive von subjektiven Einflssen frei
zu halten, ein ungewçhnlicher Schritt. Aus einer solchen
Bercksichtigung erfahrungs- und praxisbezogener As-
pekte ergeben sich noch weitergehende einschrnkende
Konsequenzen. Denn direkte Erfahrungen kçnnen prinzi-
piell niemals vollstndig versprachlicht werden. Dies liegt
daran, dass jede Erfahrung grundstzlich mehr Facetten
und Feinheiten umfasst (z.B. Geschmacksnuancen) als
sprachlich differenziert werden kçnnen (die detaillierte
Argumentation findet sich bei Metzinger, 2009; S. 78ff).
Daraus ergibt sich, dass ein Sprechen, Schreiben und
1Online verfgbar unter www.palikanon.com
2Sati bezieht sich nicht nur auf einen ,passiven meditativen
Zustand. Rechte Achtsamkeit oder samma
¯sati bedeutet auch,
nach bestimmten ethischen Regeln und im Sinne bestimmter
buddhistischer Prinzipien zu handeln. Daher muss sati mit
sampaja
¯na (Wissensklarheit) und a
¯ta
¯pı
¯(Sorgfalt) verbunden
werden. Diese beiden weiteren Begriffe sind manchmal in sati
impliziert, mssen aber bercksichtigt werden, um das Kon-
zept der Achtsamkeit umfassend zu verstehen.
14 S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption
SUCHT 60 (1) 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Persönliches Autorenexemplar (e-Sonderdruck)
Theoretisieren ber sati, wie es hier geschieht, immer un-
vollstndige Herangehensweisen sind.
Der traditionelle östliche Kontext von
Achtsamkeit
Die entscheidende Rolle von sati fr die buddhistischen
Lehren kann aus zwei Zitaten aus dem Satipat¸t¸ha
¯na Sutta
erschlossen werden. Am Anfang heißt es:
Ihr Mçnche, dies ist der direkte Weg zur Luterung der
Wesen, zur berwindung von Kummer und Wehklage,
zum Beenden von dukkha3und Betrbtheit, zur Erlan-
gung der richtigen Methode, zur Verwirklichung von
Nibba
¯naw, nmlich die vier satipat¸t¸ha¯nas.
(Ana¯layo, 2009, S. 13)
Und am Ende heißt es:
Ihr Mçnche, … falls jemand diese vier satipat¸t¸ha
¯nas in
dieser Art fr sieben Tage entwickelt, kann eines von
zwei Ergebnissen fr ihn erwartet werden: entweder
vollendete Erkenntnis hier und jetzt oder, wenn noch
eine Spur von Anhaften brig ist, Nichtwiederkehr.
(S. 23)
Die einzigartige Bedeutung von sati fr die buddhistische
Praxis tritt hier klar hervor. Nur durch die Praxis und Pflege
von Achtsamkeit kann das hçchste Ziel der Befreiung er-
reicht werden. Aus buddhistischer Sicht wird eine dauer-
hafte Praxis von Achtsamkeit zu Einsichten in wichtige
grundlegende Wahrheiten fhren und es ist immer die
persçnlich erfahrene Einsicht, die letztendlich zur Befrei-
ung fhren wird. Daher wird Achtsamkeitsmeditation oft
auch als Vipassana
¯(d. h. Einsichts-) Meditation bezeichnet.
Die Praxis von Achtsamkeit jedoch steht nicht fr sich
alleine. Sie ist eingebettet in einen umfassenden Kontext
weiterer meditativer bungen und ethischen Verhaltens-
anweisungen (von Allmen, 2007). Das Herzstck der bud-
dhistischen Lehre sind die Vier Edlen Wahrheiten, die, stark
vereinfacht gesagt, ausdrcken, dass alles menschliche
Leiden beendet werden kann, indem man den ethischen
Anweisungen und der Praxis des sogenannten Edlen
Achtfachen Pfades folgt.Die Praxis von samma
¯sati (rechte
Achtsamkeit) ist eines der acht Glieder dieses Pfades. Der
achtfache Pfad ist die Basis fr einen spirituellen Weg, der
zu persçnlicher Transformation fhrt. Hier wird offen-
sichtlich, dass die Praxis von samma
¯sati oder rechter
Achtsamkeit nicht von den anderen sieben Aspekten ge-
trennt werden kann. Die anderen Glieder des Pfades um-
fassen weitere meditative bungen (sama
¯dhi), Weisheits-
aspekte (paÇÇa
¯) sowie eine Reihe von ethischen Verhal-
tensregeln (sı
¯las), die fr Laien und ordinierte Mçnche/
Nonnen jeweils unterschiedlich sind (s. Abb. 1).
Zur Veranschaulichung sollen hier kurz zwei Beispiele
erwhnt werden. Sa
¯mma dit¸t¸hi (rechte Einsicht) umfasst
u. a. den Glauben an Reinkarnation, was oft ein schwieriger
Aspekt fr Buddhismusinteressierte im Westen ist. Ein
anderer Aspekt, genannt sa
¯mma kammanta oder rechte
Handlung, bedeutet keine Lebewesen zu tçten oder zu
verletzen, nicht zu stehlen sowie bestimmtes Sexualver-
halten (Ehebruch) und den Genuss von Rauschmitteln
(z.B. Alkohol) zu unterlassen. Weiterhin ist die Meditati-
onspraxis auch eng mit dem Ziel verbunden, die vier so-
genannten bramaviha
¯ras oder gçttlichen Verweilzustnde
zu kultivieren, auch wenn diese nicht direkt im Achtfachen
Pfad erwhnt sind. Dazu gehçren liebende Gte (metta
¯),
Mitgefhl (karuna
¯), Mitfreude (mudita
¯) und Gleichmut
(uppekha
¯).
Zusammenfassend lsst sich sagen, dass die Praxis der
Achtsamkeit im ursprnglichen buddhistischen Kontext
nicht nur eine einzelne fr sich stehende Meditationstech-
nik ist, um eine Zeit der Stille oder Selbstexploration zu
erfahren, sondern Teil eines umfassenderen spirituellen
Weges. Hauptmotiv und Absicht, diesen Weg zu gehen
liegen darin, sich auf einen Prozess persçnlicher Transfor-
mation einzulassen, der zu Mitgefhl gegenber allen Le-
bewesen fhrt und dessen hçchstes Ziel die ,Befreiung ist
(entweder in diesem oder in einem anderen Leben). Dieser
Weg umfasst, wie bereits oben erwhnt, viele anderen
Praktiken, Sichtweisen und Verhaltensregeln.
3Dhukka wird meistens mit „Leiden“ bersetzt, obwohl diese
bersetzung nicht die volle Bedeutung erfasst, die dieses Wort
in Pali hat.
Abbildung 1. Der Achtfache Pfad, mit der Zuordnung in
die drei Bereiche Verhalten, Meditation, Weisheit. (von
Allmen, 2007, S. 208)
S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption 15
SUCHT 60 (1) 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
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Achtsamkeit im Westen
Konzepte, die der Achtsamkeit hnlich sind, lassen sich
interessanterweise in fast allen spirituellen Traditionen
finden und dies schließt auch das Christentum, hier vor
allem die christliche Mystik ein (siehe z.B. Buchheld &
Walach, 2004). Das buddhistische geprgte Konzept der
Achtsamkeit ist ber verschiedene Wege und aus ver-
schiedenen Motivationen heraus in den Westen gebracht
oder geholt werden. Nattier (1995) unterscheidet hier
zwischen Import-, Export- und ,Rucksack-(engl. Baggage)
Buddhismen. Rucksack- (oder auch ethnischer) Buddhis-
mus bezieht sich auf Migranten/innen aus buddhistisch
geprgten Gesellschaften, die ihre religiçsen Praktiken und
Gebruche quasi im Rucksack mit in den Westen bringen.
Export (oder auch evangelikaler) Buddhismus bezieht sich
auf mehr missionarisch geprgte buddhistische Gruppen
aus dem asiatischen Raum, die ihre Religion in westlichen
Lndern aktiv verbreiten mçchten. Der Import-Buddhis-
mus schließlich bezieht sich auf den Umstand, dass Mit-
glieder der westlichen Gesellschaft buddhistisches Ge-
dankengut im Osten aufsuchen und in einem zweiten
Schritt dieses aktiv in den Westen ,importieren. Es ist vor
allem diese letzte Gruppe, die fr das große Interesse an
Achtsamkeit und Achtsamkeitsmeditation im Westen ver-
antwortlich ist. Nattier (1995) erwhnt hier noch einen in-
teressanten Umstand, er betont “only a member of the elite
level of society can start an Import Buddhist group” (Nat-
tier 1995, S. 43) und meint damit, dass der durchschnittlich
buddhismusinteressierte Westler meist der (Bildungs-)elite
angehçrt. Es ist sicherlich hilfreich sich hin und wieder
diesen elitren Aspekt des westlichen Buddhismus vor
Augen zu fhren, auch wenn die diesbezglichen Schicht-
unterschiede in Deutschland vielleicht nicht so steil sind
wie in den USA, auf die sich Nattier bezieht.
Versucht man nun herauszufinden auf welchen kon-
kreten Kulturtransfer der momentane Achtsamkeitsboom
bei uns fußt, dann mssen vor allem drei Zusammenhnge
genannt werden:
1. Die Grndung der Insight Meditation Society (IMS) in
Barre, Massachusetts, USA durch Jack Kornfield, Jo-
seph Goldstein und Sharon Salzberg 1974. Diese
Grnder/innen reisten und arbeiteten in den frhen
70er Jahren (u.a. fr das amerikanische peace corps)in
den Fernen Osten und kamen dort mit buddhistischen
Lehren in Kontakt. Das IMS bietet Meditationsretreats
in der Tradition des Theravada-Buddhismus an und
brachte die Vipassana¯-Praxis, unter Beibehaltung ihres
ursprnglich spirituellen Kontextes (s.o.) in die Verei-
nigten Staaten.
2. Die Entwicklung der Achtsamkeitsbasierten Stressbe-
wltigung (mindfulness based stress reduction MBSR)
im Jahre 1979 durch Jon Kabat-Zinn (2001). MBSR ist
ein strukturierter 8-Wochen-Kurs, in dem verschiedene
Formen der Achtsamkeitsmeditation sowie Yoga un-
terrichtet werden. Er ist fr Menschen konzipiert, die
nach Bewltigungsstrategie fr Stress, Schmerzen oder
chronischen Erkrankungen suchen. Das MBSR-Pro-
gramm ist seiner Ausrichtung nach skular. Hier werden
lediglich die Techniken der Achtsamkeitspraxis unter-
richtet ohne eine expliziten Rekurs auf den oben er-
whnten buddhistischen Kontext zu nehmen.
3. Die 10-tgigen Vipassana¯-Meditationsretreats, wie sie
von S. N. Goenka und seinen Schlern angeboten wer-
den4. Diese Organisation hat Meditationszentren in der
ganzen Welt und Interessierte kçnnen dort an 10-tgi-
gen Schweigeretreats teilnehmen, in denen Vipassana¯-
Meditation unterrichtet wird. Goenka versteht vipas-
sana
¯als Meditationsform, die ohne religiçse Ausrich-
tung praktiziert werden kann und unabhngig von einer
Glaubensausrichtung ist. Dabei lehrt er ausgewhlte
Aspekte der Praxis, wie sie in der historischen Literatur
beschrieben wird (z.B. Atemachtsamkeit, Achtsamkeit
der Kçrperempfindungen oder Bodyscan). Whrend
der Retreats werden die Teilnehmenden gebeten, be-
stimmte ethische Verhaltensregeln aus dem Palikanon
einzuhalten.
Definition: Achtsamkeit im Westen
Ausgehend von diesen drei Bewegungen (sowie einigen
weiteren) hat sich das Konzept der Achtsamkeit in ver-
schiedene Bereiche unserer Gesellschaft ausgebreitet.
Dabei ist meist leicht zu erkennen, ob die Achtsamkeit als
skulare oder spirituelle Praxis verstanden wird. Weitere
Transfer- und Anpassungsprozesse folgten und heute stellt
Achtsamkeit einen recht unspezifischen Sammelbegriff mit
vielfltigen Bezgen und Bedeutungen dar. Ohne genaue
Definition des spezifischen Kontexts bleibt daher unklar,
was genau gemeint ist, wenn jemand von „Achtsamkeit“
spricht. Im Einzelnen kann Achtsamkeit sich auf (1) eine
formale Meditationspraxis beziehen, genauer auch als
Achtsamkeitsmeditation bezeichnet, (2) auf ein mehr
theoretisch verstandenes Konzept der buddhistischen
Lehre, (3) auf eine bestimmte innere Grundhaltung ge-
genber den eigenen Erfahrungen und Handlungen im
Alltag (die auch als informelle Achtsamkeit bezeichnet
wird), (4) auf ein psychologisches Konzept, das von der
buddhistischen Lehre abstammt, sich jedoch in Begriff-
lichkeiten der der westlichen Psychologie definiert, (5) auf
ein weiteres psychologisches Konzept mit dem gleichen
Namen, das von Ellen Langer (1989) geprgt wurde und
zuallerletzt (6) auf das zum Adjektiv „achtsam“ gehçrende
Substantiv und seine Bedeutung im alltglichen Sprach-
gebrauch. Die beiden letzten Aspekte sind nicht von çst-
lichen Quellen geprgt und sollen daher hier nicht weiter-
verfolgt werden.
Die Aspekte (1) und (2) wurden bereits im ersten Teil
dieses Artikels ausfhrlich erlutert. Der dritte Aspekt,
Achtsamkeit als eine erfahrungsbezogene Grundhaltung
im Alltag kann vielleicht am besten mit einer Umschrei-
bung von Jon Kabat-Zinn erfasst werden. Er definiert
Achtsamkeit in diesem Sinne “… as moment-to-moment,
4Siehe z.B. www.dhamma.org
16 S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption
SUCHT 60 (1) 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
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non-judgemental awareness, cultivated by paying attention
in a specific way, that is, in the present moment, and as non-
reactively and as non-judgmentally and openheartedly as
possible“ (Kabat-Zinn, 2005, S. 108), was sich im Kern als
nicht wertendes Gewahrsein im gegenwrtigen Moment
bersetzen lsst. Weiterhin benennt er bestimmte Quali-
tten, die mit dieser besonderen Art der Aufmerksamkeit
verknpft und somit indirekt Teil der Definition sind. Laut
Jon Kabat-Zinn (1990) sind dies Nicht-Werten, Geduld,
Anfngergeist, Vertrauen, Akzeptanz und Loslassen. Sha-
piro und Schwartz (1999) erweitern diese Liste und er-
gnzen sie mit den folgenden zustzlichen Qualitten:
Sanftmut, Großzgigkeit, Empathie, Dankbarkeit und lie-
bende Gte.
Whrend diese verbale Umschreibung fr praktisch
Interessierte hilfreich sein kann, ist sie aus einer wissen-
schaftlichen Perspektive zu diffus. Daher gibt es mehrere
Versuche, den Begriff in eine wissenschaftliche Sprache zu
fassen (4. Aspekt) und ihm damit auch einen Platz inner-
halb anderer bereits existierenden psychologischen Kon-
zepte zuzuweisen. Im Jahre 2004 fand in Toronto eine
Konsensustreffen statt mit dem Ziel eine operationalisier-
bare und damit wissenschaftlich zugngliche Definition zu
entwickeln (Bishop et al., 2004).
Demgemß kann Achtsamkeit als eine Verbindung
zweier Prozesse gefasst werden. (1) Selbstregulation der
Aufmerksamkeit und (2) Orientierung an der Erfahrung. (1)
beschreibt das Bemhen, den Fokus der Aufmerksamkeit
auf den gegenwrtigen Moment zu richten und dort zu
halten. Der zweite Prozess (2) charakterisiert sich neben
der Erfahrungsorientierung als eine Haltung von Neugier,
Offenheit und Akzeptanz. Es finden sich im Rahmen wis-
senschaftlicher Arbeiten mehrere hnliche Konzeptionen
von Achtsamkeit, bei denen meist die beiden Elemente
Prsenz (Gegenwrtigkeit) und Akzeptanz zentral sind.
Shapiro, Carlson, Astin & Freedman (2006) z.B. entwi-
ckelten ein Modell, um die positiven Wirkungen von
achtsamkeitsbasierten Interventionen in klinischen Studi-
en (siehe Grossman, Niemann, Schmidt & Walach, 2004) zu
erklren. Sie schlagen in ihrem Modell die folgenden drei
Grundbestandteile vor: (1) Intention oder Absicht, hier
wird der spezifischen Zweck der jeweiligen Praxis betont
und bercksichtigt, (2) Aufmerksamkeit, hier wird der
Selbstregulierungsaspekt der Aufmerksamkeit auf den
gegenwrtigen Moment benannt und (3) Haltung, hier
werden die Qualitten betont, mit denen diese zielgerich-
tete Aufmerksamkeit praktiziert wird. Die Autoren beto-
nen dabei den einheitlichen Charakter dieses Prozeses,
dadurch dass diese Grundbestandteile “… interwoven as-
pects of a single cyclic process…“ (Shapiro et al. 2006,
S. 375) sind.
Gerade in der Psychologie ist es jedoch of so, dass
Konstrukte nicht verbal definiert werden, sondern sich di-
rekt ber den pragmatischen Weg ihrer Messung definie-
ren, im Sinn z.B. von ,Intelligenz ist was der Test misst. In
diesem Zusammenhang ist es natrlich interessant einen
Blick auf die Fragebçgen zu werfen, die den Anspruch er-
heben ,Achtsamkeit oder vielleicht besser die ,Selbstzu-
schreibungen von Achtsamkeit zu messen. Inzwischen
sind elf solcher Fragebçgen publiziert worden, von denen
viele auch ins Deutsche bersetzt sind. Im Falle unseres
eigenen Fragebogens, dem Freiburger Fragebogen zur
Achtsamkeit (FFA, Heidenreich, Strçhle & Michalak,
2006; Kohls, Sauer & Walach, 2009; Sauer et al., 2012;
Walach, Buchheld, Buttenmller, Kleinknecht & Schmidt,
2004, 2006), handelt es sich sogar um ein Instrument, das
auf Deutsch entwickelt wurde und erst danach ins Engli-
sche bertragen wurde. Ein detaillierte bersicht ber die
vorliegenden Verfahren und den gegenwrtigen Stand und
die Probleme bei der fragebogenbasieren Messung findet
sich bei Sauer et al. (2012). Hinsichtlich des konzeptionel-
len Aspekts muss jedoch festgestellt werden, dass diese
Instrumente leider nur wenig berlappen und damit eher zu
einer Verwsserung des Konzepts als zu einer Erklrung
fhren. Grossman (Grossman & Van Dam, 2011; Gross-
man, 2008) argumentiert darber hinaus, dass es aus meh-
reren Grnden grundstzlich nicht mçglich ist, Achtsam-
keit mithilfe von Fragebçgen zu messen. Da die Fragebç-
gen auch an Stichproben ausgegeben werden, die keinerlei
Vorerfahrung mit Achtsamkeit haben (hier wird oft der
Begriff dispositional mindfulness verwendet siehe z. B.
Creswell, Way, Eisenberger & Lieberman, 2007), kann es
sein, dass das Ergebnis fr die Selbstzuschreibung von
Achtsamkeit so gut wie gar nichts mit dem ursprnglich
buddhistischen Konzept oder der Praxis innerhalb der
Achtsamkeitsmeditation zu tun hat. Bezglich des Frei-
burger Fragebogens zur Achtsamkeit konnten wir mittels
sogenannter Kognitiver Interviews schlssig zeigen, dass
Personen, die keine Vorerfahrung mit der Praxis der
Achtsamkeit hatten, die einzelnen Fragen des Bogens
maßgeblich anders verstehen als Praktizierende (Belzer,
2010; Belzer et al., 2013). So wird z. B. das Wort ,Erfahrung
im einen Kontext als Lebenserfahrung (achtsamkeits-naiv)
im anderen jedoch als ,momentane Erfahrung (achtsam-
keits-erfahren) interpretiert.
Weiterhin ist bei diesem Zugangsweg zu beachten, dass
all diese Konstrukte und Definitionen aus einer Dritten-
Person-Perspektive entsprechend dem westlichen wis-
senschaftlichen Ansatz gebildet wurden. Die buddhisti-
sche Praxis hingegen rumt jedoch der Erfahrung der
Meditierenden (im Sinne einer Erste-Person-Perspektive)
stets Prioritt ein. Die Art der persçnlichen Erfahrung
ndert sich wie bereits erwhnt mit zunehmender Praxis
und sie kann auch nicht unmittelbar mit anderen ausge-
tauscht werden. Daher widersetzt sich Achtsamkeit
immer, wenn sie in ihrer Ursprnglichkeit ernst genom-
men wird, bis zu einem gewissen Grad einer wissen-
schaftlichen Definition.
S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption 17
SUCHT 60 (1) 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Persönliches Autorenexemplar (e-Sonderdruck)
Der moderne westliche Kontext von
Achtsamkeit
Wenn Achtsamkeit heutzutage in unserer westlichen Kul-
tur praktiziert wird, dann ist die Motivation dies zu tun
nicht mehr unbedingt identisch mit dem ursprnglichen
buddhistischen-spirituellen Kontext. Bedingt durch die
drei Momente Kulturtransfer, Skularisierung und Spezi-
fizierung der Anwendungsfelder gibt es nun eine Vielzahl
unterschiedlichster Motive, aus denen heraus Menschen
Achtsamkeit formal oder informell praktizieren. So kçn-
nen z.B. folgende Motive Anlass fr eine Praxis sein:
– Stressbewltigung
– Entspannung
– Umgang mit (chronischen) Erkrankungen
– Verbesserung der Arbeitsqualitt
– Selbstregulation
– Selbsterfahrung
– Interesse an Psychologie oder çstlicher Philosophie
– Interesse an Spiritualitt
– Transformation des Selbst
– Praxis im Rahmen eines spirituellen Weges
Auch im spezifischen Kontext der Suchttherapie kann die
Achtsamkeit gut eingesetzt werden. Hier sind achtsam-
keitsbasierte Interventionen mit mehreren Zielsetzungen
anwendbar, wie Stressreduktion, Erwerb von Kompeten-
zen zur Emotionsregulation oder dem Aufbau einer posi-
tiven Beziehung zu sich selbst. Im Fokus der momentanen
Entwicklungen der Suchttherapie liegt jedoch der Einsatz
achtsamkeitsbasierter Verfahren zur Rckfallprophylaxe.
Bahnbrechend sind hier die Arbeiten von Marlatt, Bowen
und Kollegen, die zur Entwicklung des Mindfulness-based
Relapse Prevention Program MBRP (dt. Achtsamkeitsba-
sierte Rckfallprvention bei Substanzabhngigkeit)
(Bowen, Chawla, & Marlatt, 2011, 2012).
Sieht man nun in all diesen unterschiedlichen Kontex-
ten die Praxis der Achtsamkeit aus ihrer jeweiligen Moti-
vation heraus, dann stellt sich die spannende Frage, inwie-
weit diese Ausgangsmotivation die Praxis auch verndert
oder bestimmt. Oder andersherum, wenn die eine Person
Achtsamkeitsmeditation im Rahmen ihres spirituellen
buddhistischen Transformationsprozesses mit dem Ziel der
letztendlichen Befreiung bt und die andere dies tut, weil
sie ihre Fhrungsqualitten in einem schwierigen Arbeits-
kontext strken mçchte, machen dann beide das gleiche?
Kann die ursprngliche spirituelle Praxis des Ostens mit
einer skularen und meist indirekt anwendungsbezogenen
Praxis verglichen werden?
Es zeigt sich bei einer nheren Analyse hier, dass die
Intention fr die Praxis der Achtsamkeit, also die Motiva-
tion dies zu tun ein entscheidender Faktor ist. Sowohl die
çstlichen Lehren als auch wissenschaftliche Arbeiten be-
sttigen, dass diese Intention zentral mit der Ausrichtung
der Praxis und damit auch mit dem Erlangen mçglicher
Ziele in Verbindung steht (siehe z.B. Shapiro, 1992). Im
den oben erwhnten Modell von Shapiro et al. (2006) wird
dies sogar explizit in die Konzeption der Achtsamkeits-
praxis aufgenommen. Nimmt man dieses Hineintragen der
persçnlichen Motivation in die Praxis der Achtsamkeit
ernst, dann wird deutlich, dass momentan in unsere Kultur
eine neue Ausrichtung der Achtsamkeit entsteht, die nicht
unbedingt, auch wenn dies wnschenswert wre, mit der
ursprnglichen Praxis gleichgesetzt werden kann.
Die Grnde fr den Achtsamkeitsboom liegen nach
meinem Dafrhalten tief in den Entwicklungen unserer
Kultur. Die Spt- oder Postmoderne zeichnet sich durch die
Merkmale der zunehmenden Funktionalisierung, Indivi-
dualisierung, Rationalisierung, Kapitalisierung, Globali-
sierung und Beschleunigung (Rosa, 2012) aus. Die damit
verbundenen Anforderungen an den Einzelnen werden
zunehmend als inhuman erlebt (Schmidt, 2011). Die Po-
pularitt der Achtsamkeit lsst sich somit auch als eine
kollektive Selbstregulation unserer Kultur interpretieren.
In einer immer schnelleren, stressigeren und zerstreuteren
Umwelt suchen die Menschen nach Ruhe, Auszeiten, Ent-
funktionalisierung, Entschleunigung und vor allem nach
einer inneren Ausrichtung und Haltung, mit der sie dieser
Kultur begegnen kçnnen. Das Konzept der Achtsamkeit
bietet hier aus mehren offensichtlichen Grnden einen gute
Passung.
Damit ist aber auch die hier vorgefundene Achtsam-
keitspraxis stark von den Merkmalen und Bedrfnissen
unserer Kultur geprgt. Und dies ist vermutlich auch nur
der Anfang einer Entwicklung, die noch weiter reichen
wird. Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger (2008)
thematisiert mit Begriff Bewusstseinskultur einen Diskurs
um die Frage, mit welcher Grundhaltung, oder anders
ausgedrckt, in welchem Bewusstsein wir in unserer Kultur
leben wollen. Damit stellt sich auch die Frage wie wir un-
seren jeweiligen Bewusstseinszustand auch individuell
oder kulturell beeinflussen und gegebenenfalls gezielt
verndern. Bei einer solchen Intention kann die Praxis der
Achtsamkeit, skularisiert oder spirituell, als eine sehr
hilfreiche Methode im Sinne eines universellen Werkzeu-
ges auf dem jeweiligen Weg verstanden werden.
Deklaration konkurrierender Interessen
Es bestehen keine konkurrierenden Interessen im Zu-
sammenhang mit der Erstellung dieser Publikation.
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18 S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption
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Stefan Schmidt
Stefan Schmidt ist Psychologe und lehrt als Junior-
professor an der Universitt Viadrina im Masterstu-
diengang ,Kulturwissenschaften – Komplementre
Medizin. In Freiburg leitet er an der Uniklinik eine
Forschungsgruppe zu Meditation und Achtsamkeit.
Prof. Dr. Stefan Schmidt, Dipl. Psych.
Sektion komplementrmedizinische Evaluationsforschung
Zentrum fr Psychische Erkrankungen
Klinik fr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universittsklinikum Freiburg
Hauptstr. 8
79104 Freiburg
Deutschland
stefan.schmidt@uniklinik-freiburg.de
Eingereicht: 11. 02.2013
Angenommen nach Revision: 09.12.2013
S. Schmidt: Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption 19
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