Das Buch "Lebenswelt und Didaktik" trat nie mit dem Anspruch auf, etwas übergreifend und zu allen Zeiten Anwendbares und Wiederholbares entworfen zu haben. Es ging darum, die pädagogische Perspektive zu erweitern und den bis dahin an den Universitäten gelehrten Handlungsmodellen etwas hinzuzufügen, was es bis dahin nicht gab. Ich war mir bereits beim Niederschreiben des besonderen Anspruchs bewusst, den das Ganze hatte. Wer so etwas im Feld der angewandten Pädagogik selbst machen wollte, musste schon eine vergleichbare Begeisterung für bildhafte, symbolische, alltagsästhetische und jugendkulturelle Themen und Phänomene haben, wie ich sie eben in jenen Jahren hatte, von 1989 bis 1996, der Zeit also, aus der die ausgewerteten Materialien stammen. Wer selbst so etwas machen wollte, musste zugleich von bestimmten theoretischen Diskursen, etwa von den Texten von Jean-Paul Sartre, Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder Paul Virilio, inspiriert sein und musste vielleicht sogar Pasolinis "Ragazzi di Vita" oder Burgess‘ "A Clockwork Orange" gelesen haben. Wer so etwas wie die Lebensweltorientierte Didaktik anwenden wollte, brauchte nicht nur viel Mut, sich immer wieder aufs Neue einzulassen, auf herausfordernde Themen und Kommunikationen, die oftmals, hinsichtlich ihres philosophischen Tiefgangs, weit über das an Schulen Übliche hinausgingen, ferner bedurfte es Empathie und Imagination, wenn es um das Verstehen der jugendlichen Lebenswelten ging, aber auch Entschlossenheit und didaktischen Einfallsreichtum, wenn es galt, von hier aus neue und andere Formen eines curricularen Unterrichts zu entwickeln, handlungsbezogen, projektorientiert. Nun kamen Verlag und Autor überein, den Text noch einmal neu bereitzustellen und in die Diskussion zu bringen, zum einen als Open Access Version, zum anderen in Form eines gedruckten Buches. Es sollten dabei nur formale Aktualisierungen vorgenommen werden, bei gleichgebliebenem Inhalt und identischen Literaturbezügen. Alles andere hätte eine vollständige Neubearbeitung erfordert, bei der allerdings der besondere Sound der 1990er Jahre verlorengegangen wäre. Leider ließen sich so die, noch in Ansätzen vorhandenen, Störungsbegriffe, wie sie zu der Zeit noch unhinterfragt üblich waren und verwendet wurden, nicht aus dem Text tilgen, wenngleich ich die damalige Praxis der Etikettierung, Kategorisierung und Pathologisierung bereits in der Erstauflage von 1997 einer deutlichen Kritik unterzogen habe. Doch der Text enthält, trotz allem, noch die längst überholten Bezeichnungen für das Fachgebiet, wie auch für die Schulform, um die es geht. Immerhin konnte das Wort „verhaltensauffälligen“ im Untertitel, nun bei der Neuauflage, kursiv gesetzt werden, um meine heutige Distanz zu dieser Art von sprachlicher Benennung und Zuschreibung immerhin deutlich zum Ausdruck zu bringen. Um den Text, der vor 25 Jahren entstanden ist, mit der Gegenwart zu verbinden und zugleich einen Ausblick in die Zukunft zu geben, habe ich ein Nachwort verfasst und dieser Neuauflage hinzugefügt. Ist Lebenswelt und Didaktik nun also als ein historisches Modell zu betrachten? Hat das Buch noch eine Relevanz für die Gegenwart und die Zukunft der Pädagogik und Didaktik der emotionalen und sozialen Entwicklung? Zunächst ist zu sagen, dass die sieben Jahre an Schulen, aus denen das Material, auf dem das Buch aufgebaut ist, stammt, nicht voll umfänglich in dem Buch enthalten sind. Die gesamte inhaltliche Komplexität dessen, was die damalige schulische und pädagogische Realität war, konnte natürlich nicht in dieses Buch eingehen. Es gab auch andere Versuche, andere Themen, andere Problemstellungen, etwa das Thema Leitung einer Schule, Schulorganisation, kollektive Lern- und Reflexionsprozesse, Themen, die ich später, in anderen Publikationen, aufgegriffen und bearbeitet habe. Es gab auch Fragmenthaftes und Gescheitertes. Das Problem in den Bildungswissenschaften ist, dass wir häufig meinen, einen schönen, in sich abgerundeten Modellentwurf liefern zu müssen. Wir bauen dann alles so zusammen, dass es abgerundet, stimmig und in sich geschlossen erscheint, weil das anscheinend so von uns erwartet wird oder weil das, zumindest in den 90er Jahren, noch so üblich zu sein schien. Nach 1997 kamen auf meiner Seite andere pädagogische Felder hinzu, mit anderen Anforderungen, unter anderem im Bereich der inklusiven Beschulung, aber auch die konfrontative Pädagogik, autoritäre, paramilitärische Schulkulturen u. a. Etwas Vergleichbares wie in den Jahren, in denen "Lebenswelt und Didaktik" entstand, begann jedoch im Spätsommer 2004 und endete im Frühjahr 2006, weil ich dann den Weg Richtung Schulleitung ging. Was ich in dieser spezialisierten Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung erlebte, diesmal in einer großen deutschen Metropole, hatte aber, im Vergleich zu dem, was ich aus den 90er Jahren und den mittelgroßen Städten oder Kleinstädten kannte, in denen ich bis dahin gearbeitet hatte, eine neue und andere Qualität. Die jungen Männer, die ich hier unterrichtete, konfrontierten mich mit noch massiveren Themen und Verhaltensweisen, und zwar mit einer solchen Wucht, dass es so ohne Weiteres gar nicht möglich gewesen wäre, einfach mit dem in "Lebenswelt und Didaktik" entwickelten Modell fortzufahren und lediglich einige zeitbezogene Aktualisierungen und Ergänzungen hinzuzufügen. Diese Jugendlichen sprengten zunächst den gesamten pädagogischen und schulischen Rahmen und ich fing in sehr kleinen Schritten an, mit den jungen Männern gemeinsam einen neuen Weg zu suchen und zu gehen, mit vielen Rückschritten und kleinen Fortschritten, die viel Zeit brauchten.
Natürlich spielte auch hier der Lebensweltbezug eine sehr wichtige Rolle, aber es sollte so ohne Weiteres keine vorzeigbaren Unterrichtsergebnisse, keine am Schreibtisch durchgeplanten und dann in die pädagogische Praxis umgesetzten didaktischen Handlungsrahmen, keine in sich abgerundeten Lehr-Lern-Prozesse geben, die etwa als Best Practice-Beispiele für Seminare hätten dienen können, die ich ja all die Jahre parallel an Universitäten gab, in Gießen, Köln, Hamburg, München und Halle. Was ich hier erlebte, schien eher dafür zu sprechen, dass die Zeit in sich geschlossener Handlungsmodelle endgültig vorbei war. Das ist auch die Schlussfolgerung, die ich am Ende des Nachworts ziehe. Doch was haben wir dann in der Hand? Woran können wir uns orientieren und wie können wir in Zukunft in diesem Feld pädagogisch und didaktisch arbeiten? Ich habe abschließend eine Reihe von Perspektiven definiert und beschrieben, aus denen wir auf die pädagogische Arbeit blicken können, um die es hier geht. Ich teile nicht alle, in dieser Übersicht dargelegten, Perspektiven, Paradigmen und Modelle in gleicher Weise. Bei manchen von ihnen regt sich bei mir auch Widerspruch, doch die Erfahrung aus fast zwei Jahrzehnten an den verschiedenen Schulen, und, daraus resultierend, die Überzeugung, dass es bedeutsam ist, die Lebenswelten der heutigen Jugendlichen, bei denen emotionale und soziale Thematiken besonders hervortreten, gemeinsam zu erkunden, mit Empathie und didaktischem Einfallsreichtum, um dann Übergänge in die Welt des curricularen Lernens schrittweise zu schaffen, bleiben. Darüber hinaus benötigen wir aber deutlich mehr und andere Perspektiven, um der Komplexität des Ganzen gerecht zu werden, im Reflektieren und im Handeln. Ich freue mich auf eine kritische und kontroverse Diskussion meiner Thesen, mit den Studierenden an der Europa-Universität Flensburg, auch mit den Lehrer_innen, Schulleiter_innen, Schulpsycholog_innen und Schulsozialpädagog_innen, während der gemeinsamen konzeptionellen Arbeit und Reflexionsprozesse an den Schulen, die ich seit einigen Jahren begleite und berate. Was unter anderem auch von der Lebensweltorientierten Didaktik bleibt, ist die Erfahrung, dass es sinnvoller ist, kulturelle Bezüge über die pädagogische Arbeit herzustellen, statt additiv zum Unterricht, quasi um diesen abzusichern, psychologische Interventionen zu implementieren, wie es oftmals im Wissenschaftsbetrieb gelehrt wird. Im Feld der Kultur, und dazu wären dann ja auch all die Räume zu rechnen, in denen sich junge Menschen von sich aus bewegen, können sie sich ausdrücken und spiegeln, vielleicht mit der Zeit tiefergehend erkennen und, nach und nach, ihr Leben anders betrachten und gestalten, als sie es bisher getan haben, wenn sie dabei weitblickende pädagogische Begleitung haben und die hier stattfindenden Kommunikationen als sinnhaft erfahren. Kultur und Raum waren im Grunde die handlungsleitenden Konzepte von "Lebenswelt und Didaktik", und sind es noch.