Content uploaded by Joachim Broecher
Author content
All content in this area was uploaded by Joachim Broecher on Oct 18, 2020
Content may be subject to copyright.
,,Ab in den Trainingsraum!"
Joachim Bröcher . Nümbrecht
Zur Kritik der,,neuen" Disziplinierungspädagogik
Ursprünge, Ziele und Methoden des
Tra i n i n gs rau m-Prog ram m s
Der Ursprung des Tiainingsraumprogramms liegt in Phoenix,
Arizona. Dort wurde es zuerst 1994 von dem Sozialarbeiter
Edward E. Ford auf der Basis der Wahrnehmungskontroll-
theorie vonWilliamT. Powers (2.8. 1998) eingefuhrt. Mittler-
weile erfreut sich das Programm wachsender Beliebtheit in
Amerika, Australien und seit 1996 auch in Deutschland. Der
Ausgangspunkt dieser, sich auch über Internetauftritte immer
stärker ausweitenden , Bewegung ist der sicher nachvollzieh-
bare und verständliche Wunsch von nervlich überstrapazier-
ten oder verzweifelten Lehrkräften, endlich in Ruhe unter-
richten zu können. Dazu müssen, in der Sichtweise des Tlai-
ningsraum-Modells, Störenfriede zur Vernunft gebracht, dis-
zipliniert und auf ,,eigenverantwortliches Handeln" verpflich-
tet werden.
Das Programm verfolgt zweiZiele. Erstens müssen lernbe-
reite Schüler die Möglichkeit erhalten, entspannt und unge-
stört zu lernen. Zweitens erhalten auffällige Kinder, um es
einmal so zu formulieren wie die Apologeten des Tiainings-
raum-Programms selbst es tun, die Chance, ihr Sozialverhal-
ten zv verbessern. S. Balke gilt als deutscher Erfinder des
Tiainingsraums. Erstmals richtete 1996 eine Bielefelder
Schule unter seiner Regie einenTiainingsraum für wiederholt
störende und undisziplinierte Schüler ein. Seitdem verbreitet
sich das Tiainingsraumprogramm an immer mehr deutschen
Schulen. Die Lehrperson in der Klasse entscheidet nun, quasi
als Schiedsrichter, wann ein Schüler refffür denTiainingsraum
ist. Stört ein Schüler, ermahnt die Lehrperson ihn zunächst
und weist auf die bestehenden Regeln hin. Andert das Kind
sein Verhalten nicht, schickt der Lehrer es in den Tiainings-
raum. Dort muss der ÜbettäterseinVerhalten reflektieren, ob
er will oder nicht.
Vor der Ausweisung aus der Klasse muss der Schüler Rede
undAntwort stehen. Dies geschieht durch einen rituellen Fra-
geprozess. Das Kind oder der Jugendliche wird jeweils
gefragt, ob es/er im Unterricht verbleiben und sein Störver-
halten aufgeben oder stattdessen den Tiainingsraum aufsu-
chen will. Dieser Tlainingsraum ist ein von Lehrkräften oder
Sozialpädagogen betreuter Raum. Die Schüler erarbeiten
dort unter Anleitung einen Plan, der erstens die Störsituation
beleuchtet und zweitens Besserungsvorschläge enthalten
muss, damit das Kind oder der Jugendliche in die Klasse
zurückkehren darf. In der Klasse fuhrt die Lehrperson dann
ein Gespräch mit dem Rückkehrer, in dessen Verlauf sie mit-
teilt, ob sie nach Kenntnisnahme des Plans, mit der Wieder-
aufnahme des aus dem Unterrichtsgeschehen ausgegliederten
Schülers in die Klasse einverstanden ist oder nicht. Kommt es
erneut zu Störungen, wiederholt sich der gesamte Ablauf.
Die Eltern derjenigen Schüler, die drei Mal in den Tiai-
ningsraum eingewiesen wurden, erhalten eine schriftliche
Mitteilung der Schulleitung, in der auf das Störverhalten des
Kindes hingewiesen wird. Zugleich müssen sie die Schule ver-
lassen und mit ihren Eltern spätestens am nächsten Tag zt
e_iner Tiainingsraumkonferenz erscheinen, die während der
Offnungszeiten des Tlainingsraums stattfindet. Weigert sich
ein Schüler, in denTiainingsraum zu gehen und dort konstruk-
tiv an seiner Rückkehr in die Klasse zu arbeiten, wird er sofort
der Schule verwiesen, in bestimmten Fällen werden auch die
Eltern angerufen und aufgefordert, ihr Kind unverzüglich von
der Schule abzuholen. Die Schülerin oder der Schüler darf
erst dann wieder am Unterricht teilnehmen, wenn eine Tiai-
ningsraumkonferenz stattgefunden hat und das Kind oder der
Jugendliche eingelenkt hat und Besserung verspricht.
Das Tiainingsraum-Programm will die Lehrkräfte von stän-
digen Konflikt- und Streitgesprächen im Unterricht entlasten
und lernwillige Schüler schützen. Die Ressourcen für den
Tiainingsraum bringen Schulen auf unterschiedlichste Weise
auf, bestenfalls, wenn vorhanden, tiber spezielle Projektmit-
tel, in der Regel jedoch wohl eher durch das Streichen von
Förderstunden oder die Vergrößerung der Lerngruppen, um
die Lehrerstunden für den Tiainingsraum zusammenntbe-
kommen. Eine ausführliche Ubersicht zum gesamten Pro-
gramm sowie über Schulen mitTiainingsraum bietet die Inter-
netseite www.trainingsraum.de. Das Programm wird in den
Büchern ,,Die Spielregeln im Klassenzimmer" (S. Balke,
2003) und ,,Die Tiainingsraum-Methode (H. Bründel & E.
Simon, 2003) ausführlich beschrieben.
Liberty dies by inches.
Zur Kritik der,,neuen" Disziplinierungspädagogik
Das Basisprogramm, ich folge einmal der Darstellung von
Bründel & Simon, besteht zunächst darin, dass in den Klassen
drei Regeln mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet und
diese Regeln groß und deutlich im Klassenzimmer ausgehängt
werden. Diese lauten erstens: ,,Jeder Lehrer und jede Lehre-
rin hat das Recht, ungestört zu unterrichten und die Pflicht,
PF:ue ' Nr.3/2005 139
für einen guten Unterrichtzusorgen." Zweitens: Jeder Schü-
ler und jede Schülerin hat das Recht, guten Unterricht zu
bekommen und die Pflicht, für einen störungsfreien Unter-
richtzusorgen." Drittens: ,,Alle müssen die Rechte der ande-
ren akzeptören und ihre Pflichten erfüllen" (a. a' O', 38)' Wer
wollte däm widersprechen, denn es handelt sich bei diesen
Grundsätzen nicht um eine Neuerfindung, sondern um allge-
meines pädago gisches, j ahrhundertealtes Grrt'
Doch schauen wir etwas genauer hin: Geht es w guten
Unterricht oder um angemeisenen Unterricht? Vor dem Hin-
tergrund der aktuellenEntwicklungen insbesondere auf dem
Geäiet des inklusiven, die spezifischen Besonderheiten ein-
zelner Lerner berücksichtigenden lJnterrichts, muss aller-
dings die Frage erlaubt sein,twas hier untergu/em Unterricht
verJtanden rierden soll? Müsste nicht vielmehr von einem
Unterricht gesprochen werden, der den Schülerinnen und
Schülern in iLrer aktuellen Lernausgangslage angemessen ist?
Denn, was eine einzelne Lehrkraft f.üt guten Unterricht hält,
ihre diesbezüglichen Konzepte, Evaluationen und Selbstdeu-
tungen, dies Jlles kannja dennoch an der Realität der Lernen-
den"oder zumindest einzelner Lerner, insbesondere derjeni-
gen mit Lern- und Verhaltensproblemen, Verweigerungsten-
ä.n "n, psychosoziafen Belastungshintergründen, Behinde-
,rrrg".r ri*. vollständig vorbeigehen . Was.
-B ründel & Simon
untär ,,gutem Unterricht" verstehen, bleibt völlig vage und
offen. EIs werden keinerlei Kriterien dafür genannt. Es ist aus
der Sicht der Tiainingsraum-Befürworter quasi selbstver-
ständlich, dass der Unterricht gulist und wer darin als Schüle-
rin oder Schüler nicht ordentlich funktioniert, geht eben raus'
B. Hoffschulte (2003) schrieb ihre zweite Staatsarbeit über
den ,,Ttainingsraum für verantwortliches Denken und Han-
delnii an einär Schule für Lernbehinderte, kündigt im Titel
auch eine ,,Evaluation" an, die jedoch reichlich affirmativ und
methodenkonform ausfällt und auf Umsetzungsschwierigkei
ten und Grenzen der Methode gar nicht zu sprechen kommt,
weil es sie in diesem gedanklichen Horizont auch nicht gibt
oder nicht geben darf. Entsprechend selbstbewusst wird diese
Staatsarbei-t ins Netz gestellt. Tiainingsraumanhänger zeich-
nen sich offenbar dadurch aus, dass ihnen keine Zweifel über
die Richtigkeit ihres pädagogischenTuns kommen' Die kom-
plexe pädägogische Realität wird auf ein Disziplinproblem
ieduziärt. MogHche Zwelfelan der eigenen Richtung werden
vielleicht auclidadurch beseitigt, dass darauf verwiesen wird,
wer sonst alles diesen Weg beschritten hat. Hunderte von
Schulen, vom Gymnasium bis hin zur Sonderschule, outen
sich bereits im world wide web. Die öffentlich zur Schau
gestellte Zugehörigkeit zur Tlainingsraum-Geme-rnde stärkt
den Rücken.
Über die inhaltliche Angemessenheit, besonders dann,
wenn wir über die Beschulung der offenbar immer größer
werdenden Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Lern-
und Verhalten§problemen oder Verweigerungstendenzen
reden, sagt das freilich noch nichts aus.
Die Tiäiningsraumphilosophie baut zunächst einmal ein
recht defizitärös und negatives Bild der jungen Menschen auf
und zieht dieses Konstrukt dann als Begründung für die nach-
folgenden und zwingend notwendig erscheinenden Interven-
tionen heran.
Eas von Brü ndel & Simonpropagierte Programm zeigt nun
in erster Linie eine Fixierung auf Regeln und Regelverstöße'
Die Tiainingsraum-Methode lenkt die Wahrnehmung entspre-
chend auf das Einhalten von Regeln und auf das konsequente
Ahnden von Regelverstößen. In dem Moment, wo sich Lehr-
kräfte ,,gestört ftihlen oder bemerken, dass andere Schüler
sich gestärt fühlen, rufen sie den störenden Schüler auf und
frageln: 'Was machst dtfl' letzt soll der Schüler seinVerhalten
beiennen, z.B. sagen: 'Ich habe mit meinem Nachbarn
gesprochen.' Dann fragt ihn der Lehrer, gegen welche Regel
är verstoßen hat. DiesJmuss der Schüler dann benennen und
kann dabei auf das in der Klasse hängende Plakat schauen'
Wenn er die Regel benannt hat, fragt ihn der Lehrer danach,
was geschieht, wenn er gegen eine der.Regeln verstößt' Der
SchüIer weiß, dass er sich dlnn entscheiden kann, ob er in der
Klasse bleiben oder gleich in den Tiainingsraum gehen
möchte ..." (Bründel & Simon, S. 42). Die Lehrkraft durch-
läuft, noch einmal zusammenfassend dargestellt, den fo1g9n-
den Frageprozess: ,,'Was machst du? Wie lautet die Regel? Was
ges"friefrt, *enn du'gegen die Regel verstößt? Wofur entschei-
äest du di"frt W"r.t du wieder störst, was passiert dann?"
(ebd.).
' Brändet & Simon scheinen allein einen lehrerzentrierten,
leistungsorientierten Unterricht vor Augen zu haben' Es
,,domiriiert das Pensum, die Leistung, die geschafft werden
äuss, und als Konsequenz der Lernmaximierung Disziplin
und Kontrolle" (Wehr1998, 5). Die visualisierten Verhaltens-
regeln, auf eineÄ der vielen für die Klassenwände vorgesehe-
nä piat ate lauten denn auch: ,,Ich bin leise und höre zu!"
(S. 81), womit wir wieder bei der Instruktions- und Beleh-
irrgtpiOugogik angekommen wären, bei der die Lehrkraft
rpriättt, eiiei Sacfrinhalt präsentiert und das-.Kind oder der
lugenatcne passiv und stiil dasitzt und das Wissen nach dem
Tiichtermodell in sich aufnimmt'
Weiterhin kommt es hier zu einer Delegation des struktu-
rell bedingten Störpotenzials allein an das Kind' Folgendes
,,Klassenpfakat" soil aufgehängt werden: Es trägt die Ube^r-
schrift,,Ünterrichtsstörungen im Klassenraum" (Bründel &
Simon,'S. 45). Darauf ist Zu lesen: ,,Wenn du im Unterricht
g"g", i«utt"nregeln verstößt, werden dir Fragen gestellt: Was
i"it a, gerade? ätc. 1...] Möchtest du imTrainingsraum über
dein Veihalten nachdenken oder möchtest du dein Störver-
halten aufgeben und in der Klasse bleiben? Deine Entschei-
dung! Unä fails du doch wieder störst, was passiert.dann?
Wen-"n du nach diesen Fragen noch einmal störst, hast du dich
durch diese Störung entschieden, in den TlainingsrauT " "
gehen ...". Liberty dies by inches, die Freiheit stirbt zentime-
terweise.
Dass den jungen Menschen in einem pädagogisch betreuten
Rahmen auherLalb der Klasse eine Auszeit angeboten wird,
um vielleicht zur Ruhe zu kommen, über ihr Verhalten usw'
nachzudenken, ist ja an sich ein durchaus begrüßenswerter
Ansatz. Nur unter welcher Prämisse geschieht dies? Es wird
offenbar immerzu und stillschweigend Yorausge§etzt, dass es
das Kind oder der Jugendliche ist, das oder der sich ändern
muss und soll.
Was wären denn die eigentlich zu stellenden Fragen?
Anstelle der von Btündel & Simongebetsmühlenartig wieder-
holten Fragen im sogenannten Frageprozess (,,Was-t":l 9ll.
Gegen welöhe Regel verstößt du? Wie entscheidest du dich? "
usvf) müssten doch im Grunde die folgenden Fragen gest?.lT.
*"rd:"r, vorausgesetzt, eine Lehrkraft übernimmt einen Tbil
derVeräntwortring für das in bestimmten Bereichen unfrucht-
bare und unprodiktive Unterrichtsgeschehen, was ja nicht
bedeutet, dass sie die komplette Verantwortung für de,ssen
Gelingen bzw. Misslingen übernehmen.muss: Wat der Unter-
icht äem Kind angemessen? Bot ich ihm auch austeichend
Gelegenheit, sich-in den [Jnterticht einbringen? Entsptach
der Ünterricht seinem Lerntyp, seinen besondercn Lernvor-
aussetzungen? Hatte der Jugendliche Mitgestaltungsmöglich-
keiten?
Lägen auf einer solchen Ebene nicht die eigentlich interes-
santei Fragen? Die ,,Authentizität des Lehrenden besteht
(dann) in äiner Ehrlichkeit, Lebendigkeit, und Direktheit,
äem §chuler zu kritisch-aufgeklärtem Denken zu verhelfen
und er selbst zu sein" (Wehr 1998, 13). ,,IJngehorsam von
140 PF:ue ' Nr.3/2005
q*4
{
i
tl
ti
t
,\\\
\
Die Heranwachsenden Zeichrrung: B ernd Günther
L/
&
t
.a
t
\
/
//
{
Seiten des Schülers darf nicht stigmatisiert werden, wenn er rn
der Selbsttreue des Schülers zum eigenen Dasein seine Ursa-
"h" trut" (ebd., mit Bezug auf E. Fromm 1963, GA IX'
367tf .).
- -Müsste nicht eher darüber nachgedacht werden, zumindest
in Anteilen anders zu unterrichten? Solche Fragen schließen
naturlich eine Veränderungsbereitschaft von Lehrkräften ein
,rrrJ r"tr"n ein Denken in Lebenswelterkundungen, pädago-
ni*"t un Beziehungsaufnahmen und didaktischen Variationen
Isrö.t.r l9g1 ,2d01.,2004) voraus. Auch wäre ja möglich, zu
-J. g*pp"n- und handlungsorientierten Methoden überzu-
e"herirrttält sgesamt mehr Äbwechslung in den Unterricht zu
Bii.rg"", den Ünterricht stärker als prozesshaftes Geschehen
," UEt.u"ftt"", unter Einbeziehung der konkreten Vorschläge
und Mitgestaltungspotenziale der Lernenden'
In dä theore--tischen Begründung des Tiainingsraum-
Modells werden von Bründe| & Simon (S' 19) nun diverse
etrt"it "" gemacht, etwa beim Konstruktivismus' ,,Realität ist
ein subjekiives Konstrukt" oder ,,Die Umwelt, so wie wir sie
wahrnehmen, ist unsete Erfindung (v' Foerster)"' Oder: "Es
gibt keine objektiven Störungen, sie sind immer Deutungen
itt p"ttot "r" 1Btürd"l & Simon zitiercn hier R' Miller'
2Oiß0, 37 ft.) . Doih werden solche den ansonster spröde-, blut-
teer u.ra mächanisch wirkenden Text etwas auflockernde und
äekorierende Leitsätze auch nur im Ansatz mit Blick auf das
lu p."pugi"rende Konzept umgesetzt? Mitnichten, denn die
f-eÄrt<iafä in der Ttainingsraum-Schulwelt hinterfragen ja
ihre Konstruktionen einer besdmmten pädagogischen Reali-
tät, ihreieweiligen Konstruktionen, was eine Störung, was ein
Regelveistoß iit, was eine Verhaltensnorm ist, in keinster
Welse. Das starre institutionelle Gipsbett des Tlainingsrau-
mes, in das die jungen Menschen, dieiich zu Störungen verlei-
ten lassen, ttnäin§ezwungen werden , ist zwar tatsächlich nur
eine Konsiruktioi, man 6ücke darauf nur einmal aus großer
Höhe, etwa von einem anderen Planeten herab zu-den eigen-
itiUi"n", institutionellen Organisationsformen, die auf der
Erde ersonnen werden, doch diese Tatsache wird offenbar
verdrängt oder verleugnet. Stattdessen wird die Konstruktion
,,Tiainin"gsraum" als äine unverrückbare Realität mit natür-
licher Eiistenzberechtigung zementiert.
Überragbar auf die Sonder- und
lnteg rationsPädagog i k?
Nun lässt sich Btündel & Simon diese Frage im Prinzip nicht
direkt stellen, weil sie ihr Konzept nicht explizit für den son-
der- und integrationspädagogisChen Bereich veröffentlicht
haben. Indem sie aber Disziplinschwierigkeiten ausmerzen
wollen, nähern sie sich natürHöh dem Bereich der Erziehungs-
hilfe- und Verhaltensauffälligenpädagogik in großen Schritten
an. Auch weisen die Autorinnen an keiner Stelle darauf hin'
iuss Oer Tlainingsraum sich ebet nicht für die sonder- und
integrationspädfiogische Arbeit eignet. Sie schreiben für a1le
und"richten iich in alte. Und dass natürlich die personell sehr
knapp ausgestatteten Lernbehindertenschulen, die ohnehin
untäi Oen-anwachsenden Verhaltensschwierigkeiten einer
äußerst heterogenen Schülerschaft leiden, händeringend
nach dem rettenden Strohhalm greifen, wen sollte das wun-
dern? Ein Konzept wie der Tiainingsraum verheißt schnelle
Hilfe und die Ausiicht auf Ruhe, Disziplin, Ordnung in Anbe-
tiacht des in diesen pädagogischen Grenzwelten zur Normali-
tät gewordenen Chaos.
üie Grundannahmen der Eigenverantwortlichkeit und der
Selbststeuerungsfähigkeit können jedoch in der sonder- und
integrationspaiagogiichen Welt kaum vorausgesetzt und
dahär dort nicht ödär nur in kleinen Ansätzen gelten'
Es muss mit einer Begünstigung von Schulverweigerung
und Schulschwänzen durch das Tiainingsraum-Programm
g"t;"h""t werden. Werden für eskapistische Verhaltenswei-
ien, Schulverweigerung und Schulschwänzen anfällige Schü-
i;;;;"" und Schiler drirch ein solches institutionelles Macht-
*i"i. aut die Defizite und Schwierigkeiten immer nur bei
iÄ""" t"iU"t sucht, nicht endgültig auf aie Straße getrieben?
viele Beobachtungen aus der-Praiis sprechen dafi.ir. Die Tiai-
ni"!tÄ"* nupholie entpuppt sich am Ende als Milchmäd-
chenrechnung.
Ünterricht"*ird u["i, definiert als fachliche Unterweisung'
pie äiAattische Bearbeitung von Beziehungs- und Konflikt-
It "-", bleibt außen vor. Aridieser Stelle wird nun endgültig
ä""tii"fr, "- welch eingeengtes Modell von Unterricht es sich
t i* fruna"f" muss. DiäReflexion vonVerhaltens- und Erleb-
nisweisen, die Klärung von kommunikativen Problemen usw'
iri:, fr"gtt akzeptierier Bestandteil der allermeisten moder-
""i Ü"tär.i"htskonzeptionen, doch,,abfragbare Fakten sind
leichter zu kontrollieren, als in Gesprächen gewonnene
i"t""tr"t""unte Erkenntnisse" (Wehr 1998, 4)' In einem
Ü"i"ä.nt, der Schülerinnen und Schüler zum Mitplanen und
frrfitg"rt"ft,i" einlädt, sind regelmäßige Refl exionen sozialer'
t "rrir"""itutiver unä affekti'ier Art längst Alltag, etwa- inspi-
,ilit A"t"f, das Modell der ,,Themenzenttiefien Interaktion"
vonRuth Cohn.
Was ist das für ein Unterricht, der nun partout überhaupt
nicht mehr für solche Klärungsprozesse unterbrochen werden
äu.tf S"brt auf dem höchsien fachlichen Niveau arbeiten
i*Ä". noch Menschen miteinander' Und wo Menschen
,"tu*-"" lernen oder arbeiten entstehen kommunikative'
;;;i;i;, emotionale Ptozesse, darin natürlich auch Konflikte'
die beachtet und bearbeitet werden wollen' Auf diese Weise
körn"r, sich doch erst soziale Kompetenzen wie Zuhören'
Nu"t tiug"", Teamfähigkeit usw. aus6ilden' Und wieso kom-
*e.t anjer" Schülerinien und Schüler nicht zu ihrem Recht'
*""n ti"f, die Lehrkraft den menschlichen Anliegen eines
Ei.rrelre.t zuwendet und versucht, die Lerninteressen oder
Daseinsprobleme dieses Kindes oder Jugendlichen herauszu-
nnaent.ciuteshieretwamiterlebend,innerlichnachvollzie.
il""J, t*f, einfühlend, nichts zu lernen, auch für die anderen?
Nattiitcfr setzt dies voraus, dass es nicht um ein kleinliches
Scharmtltzel zwischen Lehrkraft und Schülerin oder Schüler
geht, in dem sich beide aggressiv beharken'
" Wädurch wird nun Le[ierfreude frustriert: durch Schüler
lrrJ *rt tportanes, mitunter quer schießendes Verhalten oder
J"i"fr tlgla" Unterrichtskoniepte? Das -Tiainingsraum-Pro-
üiuÄ- tigrulisiert nichts anderä§ah das Ende der Schulpäd-
ägogik, värsteht man diese in erster Linie als Vermittlungsun-
t&n"ehmen zwischen Sache / Inhalt und Kind' Weil die Sache
ir-,rrt"t", gesellschaftlichen Gegenwart-nun durch die Lehr-
kraft nichtinehr ohne weiteres rübergebracht werden kann
und zusatzHch ein kollektiver Stoßseufzer wegen zu geringer
Schulleistungen durchs Land gegangen ist, wird nun im gro-
ßen Stil ein bisziplinierungsinstrumentarium installiert' um
die Kinder und Jugendlichen gegenüber der Sachvermittlung
wieder neu gefügigzu machen'
Doch koämeä ki.rd", to ru relevanten Erkenntnissen über
Sachzusammenhänge? Müssten unserer Bemühungen nicht
efr"r a.rf die kreatiie, spielerische, entdeckende, handelnde'
,iutt""a versuchende" (Freinet) I ernaktivität der jungen
ivt"rt"t ", abzielen,in denen sie ielbst etwas über die Dampf-
-ut"fri"", ein Gedicht oder das Hebelgesetz herausfinden?
Wäre es nicht besser, den pädagogischen Blick grundsätz]ich
aui subjektiv relevante unä signititante Lernprozesse.zu rich'
tenzsomanctresDisziplinpro-blemwurdesichdannvielleicht
von selber lösen.
142 PF:ue Nr.3/2005
=
=
=
Lehrkräfte haben auch nicht alles in der Hand. Selbst wenn
ich mich weitgehend optimal auf eine Lerngruppe einstelle,
bleibt, je nach Schultyp, Projektart, Gruppenzusammenset-
zung usw. ein gewisses Potenzial an zunächst unüberwindba-
ren Schwierigkeiten bestehen. Doch ist die Tiainingsraum-
Methode nicht ein Bumerang, der auf mich selbst zurückfällt?
,,Der Lehrer wird im Sinne seiner gesellschaftlichen Funktio-
nalisierung (nun erst recht, J. B.) auf seine Aufsichtsführung,
seine Selektions- und Vermittlungsrolle festgelegt. Er wird
eher zum Stundenhalter und Lehrerbürokraten als zum Bera-
ter, Helfer, Moderator oder Sozial{herapeuten. Seine genuin
pädagogisch-kommunikativen Intentionen treten in den Hin-
tergrund. Viele Lehrer werden wegen des Konfliktes zwischen
den eigenen Intentionen und Bedürfnissen und der offiziellen
Rollenfestlegung orientierungslos und gleichgültig [...] Des-
halb greifen sie häufig auf einfach strukturierte Alltagstheo-
rien (wie den Tiainingsraum-Ansatz, J.B.) und Vorurteile
zurück, um im komplexen Unterrichtsgeschehen handlungs-
fähigzrl bleiben" (Wehr 1998,4).
Der Tiainingsraum und seine apparativen Mechanismen
verheißen nun Rettung. Die auf Fremdsteuerung basierende
Macht wird kaschiert. Etwas seltsam erscheint die Abhand-
lung des Themas ,,Druck erzerogl Gegendruck" (S. 13). Die
Autorinnen raten widersprüchlicherweise von der scharfen
oder harten Reaktion auf Störungen ab, weil Druck eben
Gegendruck erze:uge und ,,Kontrolle zu Gegenkontrolle"
führe, zum anderen wird jedoch äußerst rigide und hartnäckig
darauf bestanden, dass ein Schüler den Klassenraum verlässt,
weil er ,,sich" für den Tiainingsraum ,,entschieden" hat. Selt-
sam mutet auch der nachfolgende Abs atz alni ,,Die Erkenntnis
daraus lautet, dass Konflikte immer dann entstehen, wenn
einer den anderen zwingl, etwas zu tun, was dieser nicht will
oder ihn daran hindert, etwas zu tun, was dieser tun möchte.
Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich von der Überzeu-
gung verabschieden, das Verhalten ihrer Schülerinnen und
Schüler gegen derenWillen dauerhaft beeinflussen zu können
[...] Gegen denWillen eines Schülers können Lehrer nur mit
Druck und dann auch nur kurzfristig etwas erreichen. Dauer-
hafte und stabile Einstellungs- und Verhaltensänderungen
sind nicht über Fremdbestimmung zu erzielen" (S. 13).
Die Anhänger des Tiainingsraum-Modells geben vor, kei-
nen Druck und keine Macht auszuüben, dabei basiert die
ganze Vorgehensweise doch vor allem auf der subtilen Aus-
übung von Druck und negativer Macht. ,,Es wird angestrebt,
das Schülerbewusstein fur Regeln, Regeleinhaltung und
Regelverletzung zu stärken und sie zu verantwortlichem Han-
deln zu motivieren" (S. 31). Wer muss hier nicht unweigerlich
an ein radikales und bis ins kleinste Detail ausgefeiltes Kondi-
tionierungsprogramm denken?
Das Ziel ist Verhaltensanpassung und Ablenken von den
komplexen Zusammenhängen unterrichtlicher und institutio-
neller wie gesellschaftlicher Wirklichkeiten, in denen die Bil-
dungsbiographien von jungen Menschen stehen. ,,Das Ziel
des Tiainingsraumes heißt Förderung und Hilfe" (S. 31).
Wirklich? Balke (2001,102) empfiehlt gar für den Fall, dass
sich ein Schüler weigert, in den Tiainingsraum zu gehen, was
im Sonderschulbereich oder bei Jugendlichen mit ausgepräg-
tem Verweigerungsverhalten zumeist der Normalfall sein
dürfte, einen anderen oder mehrere andere Kollegen oder die
Schrilleitung herbeizurufen oder gar die Polizei zur Hilfe ztt
holen. Bründel & Simon (S. 15) distanzieren sich zwar von
einer solch rabiatenVorgehensweise, doch erscheint ihr eige-
ner Weg kaum offener oder variabler. Auf die Frage: ,,Was
mache ich, wenn der Schüler nicht geht, sondern sich weigert,
nach der zweiten Störung in den Tiainingsraum zt gehen?"
antworten die Autorinnen: ,,Dann bitten Sie ihn erneut in
ruhigem, aber festemTon zu gehen. Folgt er IhrerAnweisung
nicht, fragen Sie ihn, was passiert, wenn er sich weigert. Der
Schüler weiß, dass er sich damit entscheidet, nach Hause zu
gehen und am nächsten Täg mit seinen Eltern zu einem
Gespräch zur Schule zu kommen. Fragen Sie ihn, ob er das
möchte. Meistens lenken die Schüler an diesem Punkt ein"
(s. 47).
Auf welche, nicht näher angegebene, pädagogische Tiadi-
tion wird sich hier also bezogen? Welche pädagogischen Leit-
bilder, welche erziehungsgeschichtlichen und erziehungsphi-
losophischen Gründe (oder Abgründe) lassen sich denn zur
Legitimation einer solch rigiden Praxis bemühen? Das einer-
seits durch Freiheit, Selbstbestimmung, Emanzipation, Auto-
nomie (vgl. Rousseau) und andererseits durch Selbstverant-
wortung, Selbstdisziplin und Selbstbeschränkung (vgl. Kant)
gekennzeichnete Bildungsideal, wie es durch die Aufklärung
inspiriert wurde und wie es sich im Zeitalter der Klassik in den
verschiedensten Entwürfen von Schiller bis Fichte konkreti-
sierte, kann es im Falle des Tlainingsraum-Programms wohl
kaum sein.
Statt Freiheit gibt es im Zttge der hier vorherrschenden
apparativen Ratio immerhin Freundlichkeif. Doch was ist
diese Freundlichkeit wirklich wert und wie ist sie gemeint?
,,Dies alles sollte in freundlicher Atmosphäre geschehen,
sodass die Weichen für ein offenes Gespräch gestellt werden.
Der Schüler soll sich von Anfang an wohlfuhlen und nicht das
Gefühl haben, dass ihn im Tiainingsraum Vorwürfe oder
Sanktionen erwarten" (S. 50). Wie stimmig, authentisch, auf-
richtig ist das? Es ist die mechanistische Freundlichkeit der
schönen neuen (Schul)Welt, in der die Subjekte schrittweise
entmündigt werden. Die gesamte Argumentation, der
gesamte Freundlichkeits-Diskurs gerät daher zur Farce. Der
Ausschluss aus der Klasse erfolgt schließlich beinhart, und ist
daher fast immer kränkend, genauso wie der Ausschluss aus
der Schule nach der dritten oder funften Tiainingsraumein-
weisung, je nach dem, worauf sich ein Kollegium geeinigt hat.
Das alles setzt schon soviel Selbststeuerung und Selbstrefle-
xion auf Seiten eines Schülers voraus, Dinge, die bei Kindern
und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen, Lernschwierig-
keiten, ADHS u. a. ja erst sehr langfristige Lernziele darstel-
len. Lehrperson und Schülerin oder Schüler treffen dann
anhand des Rückkehrplanes eine Vereinbarung. Aber hat der
aus dem Karzer zur Klasse zurückkehrende Schüler wirklich
etwas zu verhandeln und zu vereinbaren? Die meisten Schüle-
rinnen und Schüler, die ich in der Schulpraxis beobachtete,
schrieben unterwürfig (und in dem Moment glauben sie viel-
leicht wirklich daran), dass sie bereit wären sich zu bessern, ab
sofort still zrt sitzen, nicht mehr unaufgefordert zu sprechen
usw. , um nun ja wieder in die Klasse aufgenommen zu werden
und dem Stigma des Draußen-Seins zu entrinnen. Wieder
zurück im Klassenraum, kommt es schon bald zu den gewohn-
tenVerhaltensmustern. Göppel (2002,52) wendet denn auch
zu Recht gegen diese Rückkehrverhandlungen ein, dass sie
keine wirklichen Verhandlungen seien, sondern dass durch
solche Vorgehensweisen die Kinder und Jugendlichen zu
,,Bittstellern herabgewürdigt" werden.
Bei Störungen im Tiainingsraum erfolgt schließlich die
Rückgabe des Kindes an die Eltern. Die Lehrkräfte fühlen
sich nicht mehr zuständig. Es kommt zum Ausschluss aus der
Schule. Der Schüler erhält einen Benachrichtigungsbrief für
die Eltern durch die Tiainingsraumlehrkraft und meldet sich
anschließend im Sekretariat. Dort werden die Eltern telefo-
nisch über den Ausschluss informiert. Anschließend geht die
Schülerin oder der Schüler nach Hause oder wird von den
Eltern abgeholt. Die Rückkehr erfolgt nur mit den Erzie-
hungsberechtigten über den Tiainingsraum während der Tiai-
ningsraumzeiten. Dies bedeutet für berufstätige Eltern eine
erhebliche Belastung. Wieso besteht keine Bereitschaft, mit
PF:ue Nr.3/2005 143
Eltern auch nachmittags einen Gesprächstermin zu vereinba-
ren, um sie nicht in ihrem Berufsleben zu kompromittieren
und in die Enge zu treiben? Ein Machtspiel, das nichts als
Unfrieden sät und neue Spannungen produziert, die auf
Umwegen wieder zu den Lehrkräften und in Form neuer Kon-
flikte in das Klassengeschehen zurückkommen werden. Ein
unproduktiver Kreislauf .
Bei der Tiainingsraum-Methode findet sich keine Passung
vonWeg undZiel. Bfindel & Simon (S. 135) schreiben: ,,Es
geht daium, so Göppel, dem Schüler (und jetzt beginnt der
Text von R. Göppel) ein 'klareres Bewusstsein von sich selbst
als handelndem ünd entscheidendem Subjekt zu vermitteln'
(ZitatGöppel Ende) - und genau dieses Zielverfolgen wir mit
unserem Piogramm." Nur das die Rechnungvon Btündel &
Simonnicht aufgeht. Das, wofür auch Göppelplädiert, näm-
lich das aktiv handelnde Subjekt und seine Befähigung zur
selbstverantworteten Freiheit, wird durch das Tiainingsraum-
Programm systematisch verhindert und korrumpiert. Das sich
selbst zur Geltung bringende Subjekt wird aufgrund seiner
Verhaltensweisen und Problemlösungsmuster, auf die es ja
deshalb zurückgreift, weil ihm in dem Moment nur diese und
noch keine anderen zurVerfügung stehen, zum Störer abqua-
lifiziert und diszipliniert. Das Kind oder der Jugendliche kann
sich innerhalb dieses Programms und innerhalb eines Unter-
richts, der sich in seinertberholtheit und Überheblichkeit
auf dieses hinsichtlich seiner erziehungsgeschichtlichen und
erziehungsphilosophischen Grundlagen mehr als fragwürdige
Tiainingsraum-Programm abzustützen versucht, gar nicht als
handelndes Subjekt behaupten.
Die den Kindern im Tiainingsraum beizubringende Selbst-
reflexion ist in ihrer Formulierung überdies negativ und defi-
zitär ausgerichtet: ,,Was habe ich gemacht?" (Die Kinder
müssen jetzt ankreuzen) ,,Ich habe geärgert. Ich bin herumge-
laufen. Ich habe Geräusche gemacht. Ich habe mich gestrit-
ten. Ich habe geredet oder in die Klasse gerufen. Ich habe mit
dem Stuhl gekippelt." Oder: ,,Wessen Rechte habe ich ver-
letzt?" (Die Kinder müssen jetzt ankreuzen) ,,Ich habe die
Gruppe beim Lernen gestört. Ich habe den Lehrer beim
Untärrichten gestört" (S. 83). ,,Wie lautet die Regel? Was
geschieht, wenn du gegen die Regel verstößt? Wofür entschei-
dest du dich? Wenn du wieder störst, was passiert dann?"
(s. 1s7)?
Wäre es nicht sinnvoller, positive Verhaltensansätze hervor-
zuheben und zu verstärken? Statt einer Förderung seines kla-
ren Denkens kommt es zur geistigen Deformation des jungen
Menschen. ,,Wenn du nach diesen Fragen noch einmal störst,
hast du dich durch diese Störung entschieden, in den Tiai-
ningsraum zu gehen [...] Et ist deine Entscheidung, wo du
sein möchtest" (S. 159). Erstens muss doch gefragt werden,
wer hier was entschieden hat? Die Lehrkraft hat eindeutig für
das Kind oder den Jugendlichen entschieden. Dies indem sie
den Schülerinnen und Schülern, imVerbund mit den anderen
Kolleginnen und Kollegen, erst einmal das Tiainingsraum-
Programm, sicherlich ohne das Einverständnis der Schüler
einholen zu wollen oder zu müssen, vorgesetztbzw. überge-
stülpt hat. Das einzelne Kind, sofern es überhaupt frei ist von
Behinderungen, emotionalen Tiaumatisierungen oder hirnor-
ganischen Besonderheiten und sich von daher auch wirklich
voll selbstverantwortlich im Verhalten steuern kann, findet
sämtliche Systemzwänge, inklusive des Tlainingsraum-Pro-
gramms bereits vor. Es wurde nicht gefragt. Daher hat es sich
auch nicht bewusst entschieden, die Klasse zu verlassen, weil
sein Verhalten nicht passt.
Die Grundlage desTtainingsraum-Programms, seine innere
Struktur, das Ineinander von Ziel, Methode und Praktiken,
die Etikettierung der Subjekte, die Personalisierung von
Unterrichtsproblemen, die Operationalisierung, Archivie-
rung usw. in den Praktiken, die ausgefeilten Mechanismen der
ÜbJrwachung und Kontrolle, dies alles trägt totalitäre Zige.
Das hier vorausgesetzte Menschenbild ist dunkel und pessimi-
stisch. In der Tladition eines Machiavelli oder Hobbes wird
der Mensch implizit als ein von Leidenschaften getriebenes
Wesen, die Geiellschaft als ein Feld von unversöhnlichen
Machtkonflikten, der starke Staat inklusive seiner pädagogi-
schen Institutionen als Garant von Frieden und Sicherheit
angesehen. Lässt sich im Namen der Freiheit die Freiheit ein-
sch-ränken? Wäre es nicht sinnvoller, das Kind, den Jugend-
lichen als Suchende ernst zu nehmen und ihre ,,störenden Pro-
vokationen" einer ,,Bntzifferung zugänglich zu machen"
(Wehr 1998, 14), ,,ausgehend von der Erfahrung im Hierund
ietzt, die Lebens- :urrrdZeitetfahrung des Schülers antizipie-
rend und zum Ausgangspunkt der Lernprozesse zu machen?"
(ebd.).
Im Zuge der Tiainingsraum-Installierung entsteht auch
Druck auf Lehrkräfte, die ihren pädagogischen Eigensinn
kultivieren und sich von einer solchen Strömung abgtenzen.
Besonders fragwürdig ist in diesem Zusammenhang die For-
derung der Tiäiningsraumbefurworter, dass das ganze Kolle-
gium an der Maßnahme teilnimmt. Gewünscht ist ein ,,für alle
Lehrerinnen und Lehrer verbindliches und festgelegtes Vor-
gehen bei Unterrichtsstörungen" (S. 193). Der hier inten-
äierte Prozess der GTeicäschaltung versucht, die durchaus
unterschiedlichen pädagogischen Auffassungen, und didakti-
schen Herangehensweisen der Lehrkräfle, ihre pädagogi-
schen Leitbilder und erziehungsgeschichtlichen Orientierun-
gerr, zrt vereinheitlichen.
- In der Praxis wird mitunter über mehrheitliche Konferenz-
beschlüsse auch enormer Druck auf einzelne, ihren pädagogi-
schen Eigensinn verteidigende Lehrkräfte ausgeübt, entwe-
der am Tiainingsprogramm zt pattiztpieren oder sich verset-
zer- z1t lassen. Solche Ausgrenzungsstrategien werden zum
Teil sehr subtil eingesetzt, indem schulintern etwa die Rede in
Umlauf gesetzt wird, bei der sich gegenüber demTiainings-
raum veiweigernden Lehrkraft gehe es in der Klasse ja dru7-
ter und drübbr. Auf diese Weise wird die pädagogische Arbeit
der Abweichler, thr anderer Weg als sinnvolle Möglichkeit
entwertet. Die inneren Zweifel an der Richtigkeit des eigenen
Vorpreschens in Richtung Disziplinierungsmaschinerie lassen
sich nun ungehindert abspalten. Im Prinzip wird auf der kolle-
gialen Ebene derselbe Machtkampf geführt wie zwischen den-
lenigen Lehrkräften, die das Trainingsraum-Programm mit
Leidenschaft anwenden und ihren Schülern. Wer nicht
kuscht, geht. Dies alles ist gekoppelt, wie selbst aus der Nähe
miterlebt, mit einer extrem hohen Resistenz gegenüber
Supervision, Reflexion, Selbstkritik und der fehlenden
Bereitschaft, sich in andere Standpunkte und Perspektiven
hineinzudenken.
Eine interessante Frage für die Schul- und Unterrichtsfor-
schung wäre etwa, in welchen Ländern sich das Tiainings-
raum-Programm, oder vergleichbare Methoden, durchsetzen
(lassen) und aufgrund welcher gesellschaftlicher, historischer,
kultureller, sozialer, politischer Bedingungen und Mentalitä-
ten sie sich dort durchsetzen können oder eben nicht. Die
Impulse zum Tiainingsraum-Programm, wie es jetzt für den
deutschsprachigen Raum publiziert worden ist, gingen von
den USA aus, doch warum konnte eine solche Methode
gerade in Deutschland auf derart fruchtbaren Boden fallen?
Eine international vergleichende Studie diesbezüglich wäre
sicherlich hochinteressant und aufschlussreich. Gibt es etwa
vergleichbare Programme in Skandinavien, in Italien? Wür-
den-sie zur italieniichen Lebensart des attangiatsi, zut Scuola
dellÄutonomLa passen?
144 PF:ue ' Nr.3/2005
Eine mögliche Tiansformation ins Produktive
Doch versuchen wir abschließend eine mögliche Transforma-
tion der Tiainingsraum-Idee ins Produktive, geht es doch
nicht um schwarz oder weiß, entweder oder. Dass das Tiai-
ningsraum-Programm in reiner Form mit Blick auf Lern- und
Verhaltensprobleme, Unterrichtsstörungen, kommunikative
Konflikte zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und
Schülern, Konflikte zwischen den Lernenden usw. nicht der
Königsweg sein kann und auch die Lehrerkollegien eher spal-
ten als einen wird, liegt wohl auf der Hand. Doch welche Ele-
mente dieser Methode ließen sich vielleicht nutzbringend für
Neuentwicklungen übernehmen, variieren, abwandeln oder
mit etwas anderem kombinieren?
Angenommen, die didaktischen Variationen (Bröcher
2004), die vielleicht helfen könnten, in der Klasse mit uner-
warteten Verhaltensweisen und besonderen Lernausgangsla-
gen von Schülern klarzukommen, angenommen diese didak-
tischen Variationen könnten von bestimmten Lehrkräften
oder auf Grund besonders stark verfestigter Schwierigkeiten
bezüglich bestimmter Schüler nicht geleistet werden und es
müsste wirklich daran gedacht werden, Kinder und Jugend-
liche vorübergehend aus der Klasse herauszunehmen, wäre
nicht auch die Einrichtung einer sozialpädagogisch-therapeu-
tischen Werkstatt oder Auffangstelle möglich, in der vielleicht
die Schulsozialarbeiter präsent sind, in der auch eine Lehr-
kraft bereit steht, die sich mit Kommunikation, Entwicklung,
individueller Potenzialförderung / Coaching und Veränderung
auskennt und in der subjektiv relevante Gespräche mit den
Kindern und Jugendlichen geführt werden, die im Augenblick
nicht im Unterricht zurechtkommen?
Möglich wäre auch ein situatives gestaltungs-, spiel- oder
beschäftigungstherapeutisches, vielleicht auch bewegungsori-
entiertes Angebot fur die Kinder, eine ArtTeestube mit Musik
für die Jugendlichen. Es ginge dabei um eine Anlaufstelle, die
parallel zum gesamten Schulvormittag geöffnete wäre, wie
der Tiainingsraum auch, eine Anlaufstelle, in die Schülerin-
nen und Schüler in Krisen auch freiwillig kommen könnten
und die sie, nach erfolgter Stabilisierung wiederum verlassen
könnten. Dies alles ginge vonstatten, ohne die vielen Formu-
lare und Passierscheine auszufüllen und zu archivieren und
ohne neue Spannungen in den Familien zu erzeugen. Mit
Wehr (1998, 21), der sich am Werk von E. Fromm orientiert,
plädiere ich daher für eine ,,Ermutigungs- und Wachstums-
pädagogik, statt für eine ,,Pathologie der Normalität"
(Fromm). Dem klassischen Bildungsideal einer selbstverant-
worteten Freiheit wären wir dann jedenfalls näher.
Literatur
Balke, S. (2001): Die Spielregeln im Klassenzimmer. DasTiainings-
raum-Programm. Ein Programm zur Lösung von Disziplinproble-
men in der Schule. Bielefeld: Karoi-Verlag 2003,2. Attfl.
Bono, E. de (1967, engl. Orig.): Laterales Denken. Reinbek 1971
Bono, E. de (1978, engl. Orig.): Chancen. Das Tiainingsmodell für
erfolgreiche Ideensuche. Düsseldorf & Wien 1992
Bröcher, J.: Lebenswelt und Didaktik. Unterricht mit verhaltensauf-
fälligen Jugendlichen auf der Basis ihrer (alltags) ästhetischen
Produktionen. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, Edition
s. t997
Bröcher, J.: Unterrichtcn aus Lcidcnschaft? Einc Anleitung zurl
Umgang mit Lcrnblockaden, wiclerständigem Verhalten uncl insti-
tutionellen Strukturen. Hcidclbcrg: Universitätsverlag C. Wintcr
2001
Bröcher, J.: Didaktische Variationen bei Verhaltensproblcmcn uncl
Schulverweigerung. lmpulsc für Unterricht und sozialpädagogi-
sche Projektc. Nicbüll: Verlag Vicleel 2004
Bründel. H. & E. Simon: Die Tiair-ringsraum-Mcthocle. Weinheim:
Bclrz 2003
Cohn. R.: Von clcr Psvchoanalyse zur thcmenzentrierten lntcrar'-
tion. Stuttgart: Klett-Cotta 1980
Dreikurs, R.: Psvchologie im Klassenzimmer. Stuttgat: Klett 1967
Ford, E.E.: Disciplinc for }Iome and School. Scottsclale, Arizotra
1994
Garz, H.-G.: Sorgenkind Schulc für Erziehungshilfe Pädagogische
und psychologischc Perspektiven zum Umgang mit schwierigen
Kindern. In: Zeitschrift für Heilpäclagogik.55. Jg, H. 1.2004,
t7 23
Goctze, H. & S. van Bockern: Das Konzept 'Reclairning Youth at
Risk' ein innovativcr Ansatz zur päclagogischen Bcgcgnung rnit
Risikojugcndlichen. Sonderpädagogik 32. Jg.. 2002,I1. 3/4, 165
t72
Goppel, R.: ,.Arizona" - ein Programm zur Fördcrung clcr ..Eigen-
vcrantwortung" oder ein Disziplinicrungsinstrument'l Betr:rch
tungen aus der Perspektivc dcr psychoanalytischerr Pädagogik. In:
Institut fürWeiterbildung der PH Heiclelberg. Informationsschrifi
Nr. 26, Sornmersemcstcr 2002
Hoflschulte, B.: Tiainingsraum für verantwortliches Dcnkcn und
Handeln. Evaluation und Möglichkeiten cler Fortfiihrung an dcr
WRS (StL) in Marl, Hausarbeit, Zwcitcs Staatscxamcn. April
2003
Miller, R.: Den Schulalltag meistern. Bd. l: Gesund blcibcn in der
Scl.rule. Scelzc: Fricclrich Vcriag 2000
Porvers. W. T.: Making Sense of Behavior. The Meaning of Control.
Benchmark Publication Inc. . New Canaan i Connecticut 1 998
Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und dic Schulc cles Lebens.
Hcidclbcrg: Spektrum AkademischerVerlag 2002
Thimm. K.: Schulvcrdrosscnheit uncl Schulverweigerung. Phäno-
mene, Hintergründe und Ursachcn. Bcrlin: Wisscnschaft * Tech-
nikVcrlag 1998
Wehr, H.: Reflerionen zur Humanisicrung dcr Schule. Ins Internet
gcstclltcr Tcxt, 1998
Winkel. R. (1976): Dcr gcstörtc Unterricht (3. riberarb. Aufl.),
Kamp Vcrlag. Bochum 1983 (jetzt überar-b. Auflage Baltmanns-
weiler: Schneider Verlag Hohcngchrcn 2005)
PF:ue Nr.3/2005 145
Die Langfassung dieses Textes mit einer umfangreichen Argumenta-
tion finden Sie im Internet unter www.paedagogik.delPF und geben
dort die Kennnummer 1115.